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Spenglers These, Heideggers Antithese,
Jüngers Synthese.
Spenglers These: Spenglers kulturmorphologische Geschichtsphilosophie.
Oswald Spenglers kulturmorphologische Geschichtsphilosophie
geht zurück auf die morphologische Lehre Goethes und die willensmetaphysische
Philosophie Nietzsches (Wille zur Macht, ewige
Wiederkehr des Gleichen, Übermensch, Umwertung
aller Werte, also Nihilimus). Martin Heideggers fundamentalontologisch
und seins-/seynsgeschichtlich zu verstehende Existenz(ial)philosophie
hat zwar Wurzeln in der Phänomenolgie Husserls, jedoch stecken
diese Wurzeln längst nicht so tief und fest im Boden wie die
genannten Wurzeln der kulturmorphologischen Geschichtsphilosophie
Spenglers - mit anderen Worten: Heideggers Philosophie ist weniger
beeinflußt als Spenglers. Ernst Jüngers Werke zeigen
einerseits mehr Ähnlichkeit mit der Spenglers als mit der Heideggers,
andererseits aber, nämlich besonders im Hinblick auf Jüngers
Hauptwerk Der Arbeiter, mehr Ähnlichkeit
mit der Heideggers als mit der Spenglers. Alle drei haben Großes
und Außergewöhnliches geleistet. Heidegger ist der philosphischste
unter ihnen. Sein Werk ist wirklich reine Philosophie, weil er von
einer der Grundfragen der Philosophie überhaupt ausgeht und
sich damit zeitlebens beschäftigt hat, und diese Grundfrage
betrifft das Sein. Angesichts der immer philosophieärmer werdenden
Moderne kann man Heideggers philosophische Leistung gar nicht hoch
genug einschätzen. Er gilt nicht als der größte
Philosoph der Geschichte, auch nicht als der größte Philosoph
der modernen Geschichte, aber immerhin und ganz sicher als
der größte Philosoph eines Teils der modernen Geschichte,
nämlich des 20. Jahrhunderts. Diese Würdigung muß
sein. Trotz dieser Tatsache ist es nicht unter der entsprechenden
Würde, ihn mit weniger philosophisch ausgerichteten, aber dennoch
auch als Philosophen zu bezeichnenden Menschen wie Spengler und
Jünger zu vergleichen, zumal diese beiden auch Ähnlichkeiten
zu Heidegger aufweisen.
Spenglers Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte
- nicht zufällig der Untertitel seines Hauptwerkes Der
Untergang des Abendlandes - haben Spengler auf Grund seiner
Forschungen zu der Schlußfolgerung geführt, nämlich
eben der, die der Titel seines Hauptwerkes ausdrücken soll:
Untergang des Abendlandes. Jedenfalls soll das konsequente
Programm (**),
das Spengler diesbezüglich genannt hat, hier als Spenglers
These verstanden werden:
Mir schwebt eine
rein abendländische Art, Geschichte im höchsten Sinne
zu erforschen, vor, die bisher noch nie aufgetaucht ist und
die der antiken und jeder andern Seele fremd bleiben mußte.
Eine umfassende Physiognomie des gesamten Daseins, eine Morphologie
des Werdens aller Menschlichkeit, die auf ihrem Wege
bis zu den höchsten und letzten Ideen vordringt; die Aufgabe,
das Weltgefühl nicht nur der eignen, sondern das aller
Seelen zu durchdringen, in denen große Möglichkeiten
überhaupt bisher erschienen und deren Ausdruck im Bilde
des Wirklichen die einzelnen Kulturen sind. Dieser philosophische
Blick, zu dem die analytische Mathematik, die kontrapunktische
Musik, die perspektivische Malerei uns und uns allein das Recht
geben, setzt über die Anlagen des Systematikers weit hinausgehend
das Auge eines Künstlers voraus, und zwar das eines Künstlers,
der die sinnliche und greifbare Welt ringsum sich in eine tiefe
Unendlichkeit geheimnisvoller Beziehungen vollkommen auflösen
fühlt. So fühlte Dante, so Goethe. **
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Spenglers These bedeutet also nicht nur Spenglers
rein abendländische Art, Geschichte im höchsten
Sinne zu erforschen, ... und auch nicht nur seine Aufgabe,
das Weltgefühl nicht nur der eignen, sondern das aller
Seelen zu durchdringen, ... deren Ausdruck ... die einzelnen Kulturen
sind, sondern bedeutet eben auch, daß der philosophische
Blick durchaus als Anspruch auf Philosophie und Spengler,
als Morphologe und Physiognomiker über die Anlagen des
Systematikers weit hinausgehend, mit seinem philosophischen
Blick folglich auch als ein über das Auge eines Künstlers
verfügender Philosoph gedeutet werden darf.
Also auch unabhängig davon, daß Spengler einmal gesagt
haben soll, die Philosophie um ihrer selbst willen zu verachten,
muß der Aspekt, daß Spengler sein Hauptwerk durchaus
als Philosophie verstanden hat, berücksichtigt werden.
Begrüßenswert ist Spenglers Absicht, die Geschichte
... vom persönlichen Vorurteil des Betrachters zu lösen,
das sie in unserem Falle wesentlich zur Geschichte eines Fragments
der Vergangenheit mit dem in Westeuropa festgestellten Zufällig-Gegenwärtigen
als Ziel und den augenblicklich gültigen Idealen und Interessen
als Maßstäbe für die Bedeutung des Erreichten und
zu Erreichenden macht das ist die Absicht alles Folgenden
(**).
Ob eine solche Absicht völlig verwirklicht werden kann oder
nicht, wird hier nicht gesagt, ist aber eine entscheidende Frage,
wenn es nicht nur um die Philosophie bzw. den Ästheten mit
dem philosophischen Blick und dem Auge des Künstlers, sondern
besonders auch um diejenigen Wissenschaftdisziplinen gehen soll,
die von Objektivität im Sinne davon, sich stets vom
persönlichen Vorurteil des Betrachters zu lösen,
zwar auszugehen vorgeben, dies aber spätestens seit der Zeit,
als sie sich von anderen Interessen abhängig machten, nicht
mehr garantieren können, geschweige denn sagen können,
inwiefern denn eine Subjekt-Objekt-Beziehung wirklich gewährleisten
kann, daß das Objekt nicht vom Subjekt mißbraucht wird.
Haben Sie bemerkt, daß wir uns Heidegger
nähern?
Heideggers Antithese: Verneinung der These
Spenglers.
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Heideggers
Schwerpunkte und Wirkung
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Heideggers Antithese in ihrer phänomenologisch-fundamentalontogischen
Version (siehe Abbildung rechts [**])
besagt, daß die Weise, wie eine Zeit (das jeweilige
Heute) die Vergangenheit (ein oder sein vergangenes Dasein) sieht
und anspricht, behält und aufgibt, ... das Anzeichen dafür,
wie eine Gegenwart zu ihr selbst steht, wie es als Dasein in ihrem
»Da« ist (**),
sei. Dieses Kriterium selbst sei nur eine bestimmte Formel
für einen Grundcharakter der Faktizität, ihre Zeitlichkeit
(**).
Die Standart unseres Heute zur Vergangenheit kann sich an
den historischen Geisteswissenschaften bewähren
(**).
Nun repräsentiert Heidegger zufolge Spengler ... das
heutige geschichtliche Bewußtsein (**),
die Fachwissenschaft sei zusehends mehr unter den Einfluß
Spenglers (**)
gekommen, die historischen Geisteswissenschaften merken nicht,
daß sie sich an einer ganz bestimmten Möglichkeit ihrer
selbst, d.h. der Kunstgeschichte, vergreifen, d.h. in der Nachäffung
dieser sich eine höhere »Geistigkeit« geben, statt
wie diese jeweils sich auf ihren eigenen Gegenstand, seinen Seinscharakter
und die angemessene Zugangs- und Bestimmungsmöglichkeit zu
besinnen (**).
Die Nachäffung der Kunstgeschichte sei ein Mißbrauch
dieser, d.h. eine Geringschätzung, d.i. ein Mißverstehen
(**).
Diese Sätze zur heutigen Ausgelegtheit des Heute wurden
1923 veröffentlicht. 1929 erschienen Sätze zur Weckung
der Grundstimmung: Vier Deutungen unserer heutigen Lage:
der Gegensatz von Leben (Seele) und Geist bei Oswald Spengler, Ludwig
Klages, Max Scheler, Leopold Ziegler. Also eine
Gundstimmung wecken! Sogleich erwächst die Frage: Welche
Stimmung sollen wir wecken bzw. in uns wachwerden lassen? Eine Stimmung,
die uns von Grund aus durchstimmt? Wer sind wir denn?
Wie meinen wir uns, wenn wir jetzt »uns« sagen?
(**).
Und: Die bekannteste und kurze Zeit erregende Deutung unserer
Lage ist diejenige geworden, die sich ausdrückt in dem Schlagwort
»Untergang des Abendlandes« (O. Spengler, Der Untergang
des Abendlandes, Band 1, 1918, Band 2, 1922). Das Wesentliche
ist für uns das, was als Grundthese dieser »Prophezeiung«
zugrundeliegt. Es ist - auf eine Formel gebracht - dieses: Untergang
des Lebens am und durch den Geist. Was der Geist, zumal als Vernunft
(ratio), sich bildet und geschaffen hat in der Technik, Wirtschaft,
im Weltverkehr, in der ganzen Umbildung des Daseins, symbolisiert
durch die Großstadt, das wendet sich gegen die Seele, gegen
das Leben und erdrückt sie und zwingt die Kultur zu Niedergang
und Verfall. (**).
Kein Wunder also, daß Heidegger sich mit seiner Kritik an
den Verhältnissen seines Heute auf Spengler beziehen
mußte, der dieses Heute ja schon seit dem Erscheinen
des ersten Bandes seines Hauptwerkes maßgeblich mitbestimmte.
Auch kein Wunder, daß gemäß Heidegger Nietzsche
die Quelle für die genannten Deutungen ist (**)
und die tiefe Langeweile als die verborgene Grundstimmung
der kulturphilosophischen Deutungen unserer Lage (**)
zu deuten ist.
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Heideggers
Schwerpunkte und Wirkung
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Heideggers Antithese in ihrer seins-/seynsgeschichtlichen
Version (siehe Abbildung rechts [**])
bezieht ihre Argumente zwar immer noch, jedoch nicht mehr ganz so
sehr wie vorher aus der Phänomenologie und Fundamentalontologie
(**),
sondern mehr aus dem sich aus Heideggers Erforschungen der Seins-/Seynsgeschichte
ergebenden anderen Anfang (**).
(Beachte: Beide Versionen gehören zusammen, sind von Heidegger
bis an sein Lebensende vertreten worden!) Welche Offenbarung
war es vor zwei Jahrzehnten (1918) für die Menge derer, die
mit dem wirklichen Denken und seiner reichen Geschichte unvertraut
sind, als Spengler erstmals entdeckt zu haben glaubte, daß
jedes Zeitalter und jede Kultur ihre eigene Weltanschauung haben!
Gleichwohl war alles nur eine sehr geschickte und geistreiche Popularisierung
von Gedanken und Fragen, die längst - und zuletzt von Nietzsche
- tiefer gedacht, aber keineswegs bewältigt wurden und bis
zur Stunde nicht bewältigt sind. Der Grund dafür ist ebenso
einfach wie schwerwiegend und schwer zu durchdenken. - Bei all diesem
Für die Vermenschung und Wider die Vermenschung
glaubt man nämlich im voraus zu wissen, was der Mensch sei,
von dem diese handgreifliche Vermenschung herkommt. Man vergißt,
diejenige Frage zu stellen, die zuvor entschieden sein muß,
wenn das Bedenken der Vermenschung ein Recht und wenn die Widerlegung
dieses Bedenkens eine Sinn haben soll. Von Vermenschung zu reden,
ohne entschieden, d.h. gefragt zu haben, was der Mensch sei, ist
in der Tat ein Gerede und bleibt dieses auch dann, wenn es zur Veranschaulichung
die ganze Weltgeschichte und die ältesten Kulturen der Menschen
vorführt, die niemand nachzuprüfen vermag. (**).
Wieder hat Heidegger Spengler auf Nietzsche reduziert. Am schärfsten
ist Heideggers Kritk an Spengler in den erst postum veröffentlichten
Überlegungen VIII, die wahrscheinlich entweder 1938
oder 1939 geschrieben wurden. Spengler - in ihm wird
Nietzsches Umkehrung des Platonismus zur bloßen Herrschaft
der bloßen »Tatsache« gegenüber der Ohnmacht
der »Wahrheiten«, als welche er »Allgemeinheiten«
des bloßen Meinens nimmt. Die Verherrlichung der »Tatsache«,
die vielleicht die ödeste und zugleich blindeste »Romantik«
darstellt, die für Spengler das Verächtlichste ist, führt
zum letzten Austrag der Anpreisung des Römertums und Cäsarismus
- der halbseitige Nietzsche, nur historischer und entschiedener
als jener biologisch-sumpfige von Klages. Ein fruchtloses Beginnen
bliebe es, Spengler auf seine Selbstwidersprüche abzusuchen.
Seine Blindheit gegen das, was seinen Darlegungen (und angeblichen
»Erfahrungen«, die doch auch nur der historischen »Literatur«
entnommen sind) gleichwohl die anstößige Kraft gibt,
läßt sich dadurch nicht beseitigen. Er kann nur als das
genommen werden, als was er nach seiner eigenen »Lehre«
genommen werden muß, als eine Erscheinung seines Zeitalters,
das er freilich nur in seiner »Perspektive« sieht, die
er für die »absolute« hält. (**).
Kann je einer von der Geschichte wissen und gar über
sie verbindlich sprechen wollen, dem der Mensch eine »zoologische
Größe« ist? (Nicht »der
Mensch«, sondern »die Menschheit« war für
Spengler eine »zoologische Größe«; HB.)
Geschichte und der Vorrang der Unwahrheit der historischen Erklärung:
man kann immer mithilfe von sogenannten »Tatsachen«
zeigen, daß »große historische Ereignisse«
»Künstler« und »Denker« beeinflußt
und zu »Werken« geführt haben; man kann nie
in der entsprechenden Weise »zeigen«, daß die
Vollzieher jener Ereignisse nur durch Dichter und Denker möglich
wurden. Also: ist deren Nachträglichkeit, wenn nicht gar Überflüssigkeit
erwiesen. Allerdings. Aber für wen? Für jene, die meinen,
Geschichte lasse sich erklären durch »Tatsachen«.
(**).
Der »Sinn« ist die Wahrheit, darin je das Seiende
als ein solches ruht. Der »Sinn« der Geschichte aber
ist das Wesen der Wahrheit, darin jeweils das Wahre der Zeitalter
der Menschentümer gegründet bleibt. Was das Wesen des
Wahren sei, erfahren wir nur aus dem Wesen der Wahrheit, die je
ein Wahres das Wahre sein läßt, das es ist.
(**).
Wenn wir aber schon von »untergegangenen« Völkern
und vom »untergegangenen« Griechentum reden, was wissen
wir denn vom Wesen des geschichtlichen Untergangs? Wie, wenn der
Untergang des Griechentums jenes Ereignis wäre, wodurch das
anfängliche Wesen des Seins und der Wahrheit in seine eigene
Verborgenheit zurückgeborgen und damit erst zukünftig
wird? Wie, wenn »Untergang« nicht Ende, sondern Anfang
sein müßte? Jede griechische Tragödie sagt den Untergang.
Jeder dieser Untergänge ist ein Anfang und Aufgang des Wesenhaften.
Wenn Spengler, ganz im Gefolge der Metaphysik Nietzsches und diese
überall noch vergröbernd und verflachend, vom »Untergang
des Abendlandes« redet, dann redet er nicht und nirgends von
der Geschichte. Denn er hat im voraus die Geschichte zu einem »biologischen
Prozeß« herabgewürdigt und aus der Geschichte ein
Gewächshaus von »Kulturen« gemacht, die pflanzenhaft
gedeihen und verkümmern. Spengler denkt, wenn er überhaupt
denkt, die Geschichte geschichtslos. Er versteht »Untergang«
im Sinne des bloßen Zuendegehens, d.h. als biologisch vorgestellte
Verendung. Tiere »gehen unter«, indem sie verenden.
Geschichte geht unter, sofern sie in der Verborgenheit des Anfangs
zurückgeht -, d.h. sie geht, im Sinne der Verendung gedacht,
deshalb gerade nicht unter, weil sie so nie »untergehen«
kann. Wenn wir hier zur Aufhellung des daimonion
das Wesen des griechischen Göttertums andeuten, dann meinen
wir nicht antiquarische Sachen und nicht Gegenstände der Historie,
sondern Geschichte. Es ist das Ereignis der Wesensentscheidung des
Wesens der Wahrheit, welches Ereignis stets das Kommende ist und
nie das Vergangene. Im Vergessen aber sind wir am härtesten
an das Vergangene verknechtet. (**).
Das hat gesessen! Oder?
Bezüglich Heideggers Kritiken (**)
an Spengler fällt auf, daß Heidegger in seiner ersten
veröffentlichten Spengler-Kritik (1923)
kaum Negatives, sondern eher Neutrales und Positives über Spenglers
Hauptwerk gesagt hat, was größtenteils auch noch für
seine nächsten beiden veröffentlichten Spengler-Kritiken
(1929
und 1930)
gilt, und daß er aber in seinen später veröffentlichten
Spengler-Kritiken (1936-39,
1938/39,
1942/43)
dieses Verhältnis umgekehrt, ja mehr als umgekehrt zu haben
scheint, nämlich kaum Positives, sondern etwas Neutrales und
sehr viel Negatives über Spenglers Hauptwerk gesagt hat.
Wie ist es zu diesem Wechsel gekommen?
Heidegger fing Mitte der 1930er Jahre an, sich intensiver als
zuvor mit Nietzsche auseinanderzusetzen - eine Auseinandersetzumg,
die bis 1946 andauern sollte - und sagte öffentlich, daß
das meiste von dem, was Spengler in seinem Hauptwerk sage, von Nietzsche
stamme, daß also im Grunde in Spenglers Hauptwerk Nietzsches
Metaphysik des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen
und damit der vollendete, aber eben nicht überwundene Nihilismus
spreche.
Nietzsche hat ja, entgegen seiner Behauptungen, seines Willens,
seines Wunsches, den Nihilismus nicht überwunden - ebenfalls
hat Nietzsche die Metaphysik nicht überwunden und sich auch
nie ganz von Schopenhauer und Wagner trennen können.
Wenn man aber Spengler nur als Nietzscheaner deutet, dann nimmt
man seinem Hauptwerk etwa 70%, jedenfalls mehr als 50%; denn Spenglers
Hauptwerk geht in erster Linie auf Goethe zurück. Die vergleichende
Methode (vgl. z.B. Analogie und Homologie) als das Wichtigste an
Spenglers Geschichts- und Kulturphilosophie geht zurück auf
jene Morphologie, wie sie Goethe entwickelt hat.
Jüngers Synthese: Verneinung der Antithese
Heideggers durch Bejahung der These Spenglers.
Jüngers Synthese besteht nicht so sehr in einer
unmittelbaren als in einer mittelbaren Verneinung der Antithese
Heideggers, und die Mittelbarkeit besteht in der ziemlich starken
Bejahung der These Spenglers. Jedoch hat Heidegger recht,
wenn er sowohl Spengler als auch Jünger im Gefolge von Nietzsche
sieht, und zwar selbst dann, wenn dies zu relativieren ist, und
es ist zu relativieren, wenn auch nicht so sehr und die beiden entschuldigt
sind, weil keiner der beiden ein so großer Philosoph
wie Heidegger ist (**). Ernst
Jüngers Werk »Der Arbeiter« hat Gewicht, weil es
auf eine andere Art wie Spengler, das leistet, was bisher alle Nietzsche-Literatur
nicht vermochte, nämlich eine Erfahrung des Seienden und dessen,
wie es ist, im Lichte von Nietzsches Entwurf des Seienden als Wille
zur Macht zu vermitteln. Freilich ist damit Nietzsches Metaphysik
keineswegs denkerisch begriffen, nicht einmal die Wege dahin sind
gewiesen; im Gegenteil: statt im echten Sinne fragwürdig, wird
die Metaphysik selbstverständlich und scheinbar überflüssig.
(**).
Heidegger sähe in Spengler und Jünger sicherlich lieber
Heideggerianer als Nietzscheaner, was man nur begrüßen
kann, obwohl gerade Spengler und Jünger es durchaus vermocht
haben, eigene Ianer um sich zu sammeln: Spenglerianer
und Jüngerianer.
Wir können ... Oswald Spengler nicht zustimmen in seiner
Aufforderung an die neue Generation: sich der Technik statt der
Lyrik, der Marinie statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntnistheorie
zuzuwenden« - obwohl man gewiß vorm Sprung das Überflüssige
ablegen muß. Wir alle haben es, mehr oder weniger widerstrebend,
gemußt. (**).
Jünger setzt hier also zwar ein Obwohl dazu, ist
aber doch der Meinung, die ihn eher auf der Seite Heidgegers als
auf der Seite Spenglers vermuten läßt. Auch das spricht
für Jünger als Synthetiker in diesem Fall,
denn gemäß Hegels Dialektik werden ja sowohl die These
als auch die Antithese nicht beseitigt, sondern lediglich aufgehoben
(**).
Jünger zufolge ist Spenglers Geschichtsbild, vor allem
hinsichtlich der Kulturprognose, mit Recht pessimistisch. Es führt
von der Vorstellung der linearen und eo ipso aufsteigenden Entwicklung
zu zyklischen Konfigurationen zurück. Dadurch übt es großen
und wachsenden Einfluß aus. Daß auch
dieses Geschichtsbild letzthin nicht befriedigt, berührt eine
der Schattenseiten seiner Vorzüge. Es ist ein organisches Geschichtsbild:
die Kulturen werden in ihm gezeichnet als mächtige Bäume;
ihr Leben wird verfolgt vom unbewußten Keim bis zur bewußten
Reife und zum Tode, den ein langes Absterben einleitet. Sie sind
nicht weiter ausdeutbare Urbilder. Sie haben »keine Fenster«,
wie Leibniz von der Monade sagt. Im Anblick endet die Frage nach
dem Warum. Wir fragen auch nicht, warum ein Baum an einer bestimmten
Stelle wächst und alt wird und warum dieser Baum gerade ein
Ahorn oder eine Linde ist, obwohl zwischen Art und Standort Relationen
in Menge bestehen. Zuweilen verstärkt sich
dieser Eindruck, wie beim Gang über eine Wiese, auf der Pilze
in großen Individuen oder auch in Ringen aufwachsen und über
Nacht vergehen. Der Anblick läßt fragen: Was war der
Anflug, wo kommen die Sporen her? Die Weltgeschichte
wird so zu einer Reihe von Auftritten, die einander nach unerklärlichem
Belieben folgen und ohne inneren Zusammenhang. Das Verbindende liegt
in der Periodizität der Abläufe und ihrer morphologischen
Ähnlichkeit, die der physiognomische Blick erfaßt. Da
wird auch Bedeutendes und Überraschendes gesehen, und zwar
in einer Fülle, die sogleich verrät, daß es sich
weniger um neue Funde handelt als um eine neue Optik, einen neuen
Blick. (**).
Wenn Spengler in der Einleitung zu seinem Hauptwerk sagt:
»Das Mittel, lebendige Formen zu erkennen, ist die Analogie«,
so rührt er damit das Wesen der physiognomischen Methodik an.
Durch den Analogieschluß läßt sich in der Tat viel
erreichen, unter anderem die Erfassung und Ordnung historischer
Figuren unter der bloßen Oberflächenähnlichkeit
der zeitlichen Gewänder und ferner die Einsicht in noch bevorstehende
Abläufe aus der Kenntnis der Periodizität heraus: als
Voraussage. Hier gewinnt der physiognomische Instinkt des Hinzutretenden
prophetische Kraft. (**).
Welch eine Ähnlichkeit!
Zu den Verdiensten Spenglers gehört, daß er
eine Generation vom Vorurteil der Einmaligkeit, der Einzigartigkeit
ihrer historischen Erscheinung und ihrer historischen Lage befreit
hat, von jener Vorstellung des Niedagewesenen, wie sie besonders
mit der Entwicklung der Technik und ihren überraschenden Phänomenen
verbunden war. Insofern verrät sein vergleichender
Blick, etwa auf ein Fußballstadion von 1914 oder die Feststellung,
daß es sich bei dem Weltkrieg nicht um eine der üblichen
Auseinandersetzungen zwischen Völkern handelte, sondern um
den Typus einer Zeitwende, die seit Jahrhunderten ihren vorbestimmten
Platz hatte, eine Lagebeurteilung, die dem bloßen Wechsel
der Prospekte innerhalb des historischen Bewußtseins weit
überlegen ist. Das war von besonderer Wirkung zu einem Zeitpunkt,
da seit langem die philosophische, vor allem die erkenntniskritische,
Disziplin aus den Einzelwissenschaften geschwunden war, gewichen
der Überschätzung empirischer Abläufe und experimenteller
Phänomene - von theologischen Erwägungen ganz abgesehen.
(**).
Spengler hat ohne Zweifel einen Turnus erfaßt, obwohl,
wie gesagt, sein pluralistisches Bild in letzter Instanz nicht befriedigen
kann. Es war daher vorauszusehen, daß es an Versuchen nicht
fehlen würde, die Einheit der Weltgeschichte in der Betrachtung
wiederherzustellen. Das wird der Geschichtschreibung aus eigenen
Mitteln nicht möglich sein, wie es ihr auch niemals möglich
gewesen ist. Sie muß dazu einen außerhalb der Geschichtswelt
gelegenen archimedischen Punkt finden, sei es in der Theologie,
sei es in der Metaphysik, sei es in der Materie.
Der morphologischen Feststellung, die auch in unserem Zeitalter
Wiederkehrendes erblickt, kann nur mit Einschränkung zugestimmt
werden - insofern nämlich als, falls es sich um Wiederkehrendes
handelt, der Turnus der historischen Zyklen dafür zu kurz ist
und somit unsere geschichtliche Erfahrung zum Wiedererkennen nicht
genügt. (**).
Diese kleine Einschränkung stellt keineswegs eine
Verneinung, sondern lediglich einen Verbesserungsvorschlag der von
Jünger bejahten These Spenglers dar.
Es bleibt aber evident, daß über die Möglichkeit
des morphologischen Vergleichens und Wiedererkennens hinaus neuartige
Elemente eintreten. Das läßt vermuten, daß zugleich
mit dem historischen Turnus eine Spanne abgelaufen ist, die seinen
Maßstab übergreift. Man kann sich
das durch Zahlen veranschaulichen: Zugleich mit einem Jahrzehnt
kann ein Jahrtausend, ein Jahrzehntausend oder ein noch größerer
Turnus abgelaufen sein. Will man es räumlich sehen, so kann
man sich vorstellen, daß ein Grenzbewohner mit einem Schritte
sowohl aus seinem Zimmer wie aus seinem Hause und sogar aus seinem
Lande heraustreten kann. (**).
Sollte etwa der Einschnitt, der so offensichtlich unsere Jahre
zeichnet, nicht nur zwei Epochen menschlicher Geschichte trennen,
sondern zugleich sowohl den Ablauf als auch den Beginn eines größeren
Zyklus ankünden? Das würde bedeuten, daß selbst
zur Erfassung grober Fakten die Mittel der Geschichtsbetrachtung
nicht ausreichen. Das würde bereits der Fall sein, wenn es
sich um einen verhältnismäßig kleinen Zyklus, etwa
von zehn- oder zwanzigtausend Jahren, handelte. Ein solcher Zyklus
ist winzig, verglichen etwa mit einem indischen Götterjahr
oder auch mit den Abläufen, die unsere Astronomie, Geologie
oder Paläontologie berücksichtigen.
Ferner: Gab es immer, solange Menschen auf der Welt sind, Weltgeschichte
in unserem Sinn? Ohne Zweifel nicht, da wir von Vor- und Urgeschichte
sprechen, die wir entweder aus unserer Geschichtsbetrachtung ausklammern
oder als Vorsaal in sie einbeziehen. (**).
Der Mechanismus des Unterganges wird verschieden gesehen
es ist viel Temperamentssache dabei. Die Neptunisten haben
andere Vorstellungen als die Plutonisten; im Ergebnis ist kein großer
Unterschied. Die Unterhöhlung, etwa durch Auslaugung oder Auswaschung,
kann lange unbemerkt bleiben. Wenn sie genug gewirkt hat, kommt
es zum Einsturz, zur Katastrophe von tektonischer Gewalt. Nun sucht
man die Schuldigen und hält sich an Strohmänner.
Die Untergangsvorstellungen anläßlich des Erscheinens
des Halleyschen Kometen, 1910 .... Der Schock, den zwei Jahre später
der Untergang der »Titanic« hervorrief .... Um diese
Zeit muß Spengler den Satz konzipiert haben: »Der Untergang
des Abendlandes ist nichts Geringeres als das Problem der Zivilisation.«
Seitdem hat sich die Bedrohung durch die technische Katastrophe
immer enger dem Bewußtsein der Völker und der Einzelnen
verknüpft. Ununterbrochen ist die Zahl der Opfer angewachsen,
die so gebracht werden. Auch kollektive Vorgänge wie Kriege,
Bürgerkriege und Großexperimente nehmen die Form der
technischen Katastrophen an. Da liegt es nahe, daß auch der
Weltuntergang in dieser Form begriffen wird (**). Die
grauenvollste Aussicht ist die der Technokratie, einer kontrollierten
Herrschaft, die durch verstümmelte und verstümmelnde Geister
ausgeübt wird. (**).
Die Verfeinerung von Darwins Anschauung, der Einbau von
neuen Elementen in ihr Gerüst, betrifft im wesentlichen nicht
den Stammbaum als solchen, sondern seine Verzweigung und ihren Periodus.
Hier wirkt offenbar ein ähnlicher Wechsel der Auffassung wie
jener, der Spenglers Geschichtsbild zugrunde liegt. Er betrifft
weniger die Inhalte als den Wandel ihrer Abläufe. Hier wie
dort fällt die Anwendung von Vergleichen auf, die dem vegetativen
Leben entnommen sind. Die Pflanze folgt sichtbarer den kosmischen
Bewegungen, hat feinere Organe für ihre Abläufe als Mensch
und Tier. Fechner hat das vorzüglich beobachtet.
Daß dieser Wechsel der Anschauung sich alten Universaltheorien
zu nähern scheint, geschichtsphilosophisch Herderschen, zoologisch
Cuvierschen Auffassungen, ist nicht als Rücklauf zu betrachten,
sondern gehört zu den Erscheinungen des Spiralganges, der das
Fortschreiten des menschlichen Denkens kennzeichnet. Die großen
Ideen wiederholen sich in stets erneuter Abwandlung und folgen damit
einem Grundprinzip der organischen Bildung überhaupt, wie denn
auch Einzelorgane, etwa Flossen und Flügel, aus den verschiedensten
Stämmen immer wieder hervortreiben. (**).
Der Untergang des römischen Reiches hat ja von jeher
als Schulbeispiel gedient. Es gibt allerdings eine Reihe von Merkmalen,
die übereinstimmen: Cäsarismus, Bedrohung des Bauernstandes,
Latifundienwirtschaft, Sittenverfall, wachsende Konzentration und
Unwiderruflichkeit der großen Entscheidungen, hellenistische
Kunstwerke und technische Großbauten; das sind Gesichtspunkte.
Verändert sich jedoch der Standort des Beobachters um ein Geringes,
so eröffnen sich Perspektiven, die durchaus nicht in Spenglers
System passen. Hier tauchen nicht weniger zwingende Anzeichen einer
Frühzeit auf. Daß Rußland, dessen Stand er dem
des Reiches Karls des Großen vergleicht, auszuklammern sei,
hat Spengler scharfsichtig bemerkt. Es handelt sich indessen nicht
um regionale Unterschiede, sondern um das Auftreten eines neuen
Typus, der die Nationen und selbst die Rassen formt. Dem entspricht
auch das herrschende Welt- und Lebensgefühl, der wachsende
Optimismus des Arbeiters, sein theoretisch so dürftig gestütztes
Vertrauen auf seine zeitwendende Macht, das dennoch von Grund auf
berechtigt ist und prognostischen Wert besitzt. (**).
Für die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts sagt
Spengler schwere Kämpfe zwischen Weißen und Farbigen
voraus .... Heute, nach dreißig Jahren, ist nicht zu leugnen,
daß sich in diese Visionen konkrete Züge einzeichneten.
Was in Afrika, vom Nordrand bis zur Südspitze, in Ost- und
Südasien, in Nord- und Südamerika in so kurzer Spanne
geschah und geschieht - in China, Algerien, Indien, Ägypten,
am Kongo, auf Kuba, um einige Brennpunkte zu nennen - das geht weit
über eine Reihe von Aufständen und Befreiungskämpfen
hinaus. Das Feuer, das nicht mehr, und vor allem nicht mit Blut,
zu löschen ist, greift indessen auch über den Gegensatz
von Weißen und Farbigen hinaus. Es trägt alle Kennzeichen
des Weltbrandes. Nicht diese oder jene Rasse, die Spezies wird in
Frage gestellt. Diesen seinen wahren Umfang, aus dessen Kenntnis
allein nicht nur richtige Schlüsse, sondern auch Entschlüsse,
Entscheidungen, zu gewinnen sind, hat Spengler nicht gesehen. Er
konnte ihn nicht sehen und würde, wenn er noch lebte, heute
weniger denn je dazu imstande sein. Er sah Symptome, und da diese
sich inzwischen krisenhaft verstärkten, würden sie ihm
die Diagnose bestätigen. Wenn ein so scharfsinniger Kopf den
Umfang eines Phänomens verkennt, so kann das nicht an seiner
Intelligenz, es muß an seiner Position liegen. Er gleicht
dem Jäger auf seinem Anstand, von dem aus er die Ungeheuer
früher als die meisten anderen auftauchen sieht und mit passionierter
Schärfe erkennt. Aber sie ziehen in ungeahnter Richtung vorbei
und verlieren sich in unerforschten Dickichten. Trotzdem wurde ein
Abschnitt der großen Jagd in ungewöhnlichem Denkstil
erfaßt. Das gilt auch für Spenglers System. Die Kulturen
werden im Nach- und Nebeneininder gesehen, nicht aber, wie von Herder,
Goethe, Hegel, architektonisch und symphonisch oder, wie von Nietzsche,
als Ouvertüre eines neuen Weltalters. Entscheidung, Kampf um
die Vormacht, Zeitalter der kämpfenden Staaten - das alles
ist nicht der Sinn; es sind die Wehen, in denen die Erde eine ihrer
großen metahistorischen Phasen abschließt und eine andere
beginnt. Dann werden die Grenzen fallen und auch räumlich »Orient
und Okzident ... nicht mehr zu trennen« sein. (**).
Wozu eine solche Dialektik?
Es ist nicht nur so, daß Spenglers Philosophie und Jüngers
Philosophie Ähnlichkeiten aufweisen, sondern auch so, daß
beide mit Heideggers Philosophie, wenn auch weniger, Ähnlichkeiten
haben. Der Grund dafür, daß Heidegger einigermaßen
herablassend über Spenglers Philosophie geurteilt hat, ist
einerseits die unbestrittene philosophische Größe, die
der körperlich kleine Heidegger erreicht hat und die die beiden
anderen eben nicht erreicht haben, und andererseits die Art und
Weise, wie Heidegger, der von bestimmten anderen Menschen auch als
Denkwebel verspottet worden ist, Abweichler
zu bestrafen scheint, als wären sie Fahnenflüchtige
und er die Mutter der Kompanie gewesen, obwohl er in
Wirklichkeit einfach nur davon überzeugt gewesen ist, daß
an seiner Philosophie - und das bedeutet in erster Linie: an der
Seinsfrage - kein Weg vorbeiführen kann und folglich
davon Abweichende auf dem falschen Weg Herumirrende nur sein können.
Wer als Grund nur die Wahrheit, das Sein bzw. den Versuch zur Beantwortung
der Seinsfrage gelten läßt, der ist ein Philosoph und
vor allem, wie Heidegger jetzt sagen würde, ein Denker. Ihm
zufolge ist die Geschichte der Wandel des Wesens der Wahrheit, die
Seinsgeschichte. So jemand kann einen anderen Weg des Philosophierens
bzw. Denkens nicht zulassen. Das ist völlig klar. Darum noch
einmal: Hut ab vor Heideggers Leistung! Er hat oft genug erklärt,
warum er so und nicht anders vorzugehen gedenkt und dann auch vorgeht.
Von daher ist seine Kritik an Spengler berechtigt.
Aber Spengler hat eben einen ganz anderen Ansatz versucht - aus
Heideggers Sicht einen auf Nietzsches Metaphysik zurückgehenden
nihilistischen Ansatz, und gemäß Heidegger ist unsere
Metaphysik seit ihrem Anfang, also seit Platon, der sie begründet
hat, und bis Nietzsche (einschließlich) ein Nihilismus, nämlich
ein Platonismus, zu dem auch der von Nietzsche angestrebte umgekehrte
Platonismus gehört. Auch damit hat Heidegger wohl recht;
doch bleibt da noch Spenglers von Goethe geerbte morphologische
Methode, die Spengler zufolge für dessen Ansatz sehr viel wichtiger
ist als Nietzsches Fragestellungen und Augenblick,
aus dem er - Spengler - einen Überblick gemacht
habe (**|**);
aber auf diesen Hinweis Spenglers ist Heidegger gar nicht eingegangen,
weil es ihm zufolge auf die Wahrheit bzw. das Sein, und zwar zunächst
phänomenologisch, dann fundamentalontologisch und zuletzt seins-
bzw. seynsgeschichtlich, ankommt und dafür keinerlei Morphologie
benötigt wird. Zu Spenglers Lebzeiten reagierte Heidegger noch
nicht so gelassen, wie er es später - als Spätdenker
- tun sollte.
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Allein die Tatsache, daß Spengler, Heidegger und Jünger
in der Zeit, um die es hier hauptsächlich geht - nämlich
die, in der die philosophischen Hauptwerke dieser drei erarbeitet
wurden und anschließend erschienen: von 1911 (als Spengler
mit dem Schreiben seines Hauptwerkes anfing [**])
bis 1932 (als Jüngers Hauptwerk erschien) -, ähnliche
Erfahrungen gemacht und ähnliche Folgerungen daraus gezogen
haben, zeigt eine Gemeinsamkeit. Auf ähnliche Weise nämlich
erlebten und beurteilten die drei das Vorspiel zum 1. Weltkrieg,
den 1. Weltkrieg, der zumindest aus deutscher Sicht völlig
unnötig und deshalb auch von Deutschen nicht gewollt war (Deutschland
war schon seit langem in allem Weltmeister, es hatte keine Schulden,
dafür Studierende aus aller Welt, Deutsch war seit langem und
blieb noch bis zum Ende der 1950er Jahre die führende Wissenschaftssprache
[**|**]),
die Revolution und in Reaktion darauf die Konservative
Revolution während der Weimarer Republik, auch das
Weimarer Symptom oder schlicht Das System
genannt.
Es wundert da schon zunächst, wieso Heidegger auf Spenglers
Philosophie nicht so gut zu sprechen war, doch, wie gesagt, dies
hatte zu tun mit Heideggers Anspruch, den er, um es noch einmal
zu sagen, auch mit Recht haben konnte. Der späte
Heidegger wäre mit Spengler, der aber schon zur Zeit des mittleren
Heideggers gestorben war, gelassener umgegangen, nämlich so,
wie es der späte Heidegger mit Jünger (der
übrigens den 5½ Jahre älteren Heidegger noch um
22 Jahre überleben sollte) getan tat. Da Spengler 40 Jahre
vor Heidegger gestorben war (**),
in der Zeit des späteren Heidegger also ein Kontakt
zu Spengler nicht mehr, dafür aber zu Jünger möglich
war und auch gepflegt wurde, eine geistige Verbundenheit zwischen
Heidegger und Jünger zeitlebens bestehen und außerdem
Jünger Spengler zeitlebens geistig treu blieb, darum kann man
in Jünger den Vermittler zwischen Spengler und Heidegger finden
und ein geistiges Experiment versuchen, für das ich das Wort
Dialektik gewählt habe.
Als auf die erste und die zweite als eine dritte die nationalsozialistische
Revolution folgte, da zeigte sich, daß Heidegger, der am 3.
Mai 1933 der NSDAP beigetreten war, doch ein bißchen anders
war als die anderen beiden, daß er nämlich zwar einerseits
der größere Philosoph, andererseits aber der politisch
Naivere war, denn er glaubte in dem ersten Jahr der nationalsozialistischen
Machthaber daran, die aus seiner Sicht nötig gewordene Reform
der Universitäten in seinem Sinne verwirklichen zu können.
(Daß Heideggers Philosophie in der späteren Bundesrepublik
Deutschland gerade auch bei der Partei mit dem Namen Die Grünen
so gut ankam und vertreten werden sollte, ist kein Zufall, denn
Heidegger war, von den Anfängen innerhalb der Deutschen Romantik
abgesehen, der erste Philosoph, der das Ökologische an oberster
Stelle in seiner Philosophie hatte, so daß man sie auch Ökosophie
nennen kann [**].)
Heidegger war für das Grüne, das Ländliche, gegen
das Städtische. Vielleicht kann man so weit gehen und
ihn einen Anti-Urbanisten nennen. In diesem Sinne lassen
sich auch seine Vorbehalte gegenüber der Technik als der Machenschaft
(des Gestells), die ihm zufolge auf dem Subjektivismus
beruht, deuten. Spengler dagegen hatte in seinem 1918 veröffentlichten
ersten Band seines Hauptwerkes gesagt: Wenn unter dem Eindruck
dieses Buches sich Menschen der neuen Generation der Technik statt
der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik
zuwenden, so tun sie, was ich wünsche, und man kann ihnen nichts
Besseres wünschen. (**).
Ein Satz wie dieser mußte Heidgger Schmerzen bereiteten -
aus den genannten Gründen. Und später sollte es so aussehen,
als hätte Jünger sich an Heideggers Schmerzen erinnert,
denn in seinem 1959 erschienenen Buch An der Zeitmauer,
in dem er ansonsten Spengler eher huldigt als kritisiert, steht
zu lesen: Wir können ... Oswald Spengler nicht zustimmen
in seiner Aufforderung an die neue Generation: sich der Technik
statt der Lyrik, der Marinie statt der Malerei, der Politik statt
der Erkenntnistheorie zuzuwenden« - obwohl man gewiß
vorm Sprung das Überflüssige ablegen muß. Wir alle
haben es, mehr oder weniger widerstrebend, gemußt. (**|**).
Wenn man die Technik und das Städtische im Zusammenhang sehen
muß, und das muß man wohl, dann war Spengler Heideggers
zufolge ein Anhänger der Technik und des Städtischen,
also ein Urbanists, doch wenn man Spenglers Hauptwerk gut gelesen
hat, fällt auf, daß auch Spengler eher ein Gegner denn
ein Anhänger des Städtischen, auf jenen Fall ein Gegner
oder, wohl richtiger, kein Anhänger von Groß-
und Weltststadt war (**|**).
Ein Geschichtsphilosoph sollte gegenüber seinen Gegenständen
(Objekten) genauso neutral bleiben wie ein Geschichtswissenschaftler
oder Historiker, und Spengler hat auch genau das als seine Absicht
verkündet: die Geschichte ... vom persönlichen Vorurteil
des Betrachters zu lösen (**).
Doch gemäß dem diese Absicht Spenglers sogar zitierenden
Heidegger (**)
steckt hinter der Objektivität nur der die Objekte mißbrauchende
Subjektivismus und sind Spenglers Texte ja lediglich ein Anhängsel
der Texte Nietzsches und Nietzsches Texte ein, wenn auch nicht eingestandenes,
also eher unbewußtes (?!), Geständnis zur abendländischen
Metaphysik, d.h. zur Seinsvergessenheit, zum Platonismus - ob umgestülpt
oder nicht -, d.h. zum Nihilismus und den darin immer mehr zur Macht
gekommenen Subjektivismus, der gemäß Heidegger, wie gesagt,
die Technik als Machenschaft (das Gestell) auf dem Gewisen
hat, alles Objektive sich vorstellt, hinstellt, aufstellt,
bestellt usw., der Berechnung und der Machenschaft zur Verfügung
stellt. Und es ist Heidegger zufolge Nietzsche, der diesen
Subjektivismus sogar noch zur Spitze getrieben hat, die von Hegel
schon begonnene Vollendung des Nihilismus weitergetrieben und damit
die Vergessenheit des Seins, dessen Verlassenheit, die Verstellung
der Wahrheit, der Geschichte, d.h. des Wandels des Wesens der Wahrheit,
also all das, worauf es gerade einem Philosophen - und erst recht
einem Geschichtsphilosophen - ankommen muß, extremisiert hat.
Und dies reichte Heidegger für die Deutung der Texte Spenglers
aus - denn einen Nietzscheaner kann man nach Heideggers Dafürhalten
mit ruhigem Gewissen übergehen, weil ein Nietzscheaner nur
Nietzsche nachäfft und es folglich ausreicht, Nietzsches Texte
zu kennen. Allein, Spengler war in erster Linie ein Goetheaner und
erst in zweiter Linie ein Nietzscheaner (**|**).
Dies hätte Heidegger mehr berücksichtigen müssen.
Auch in einer Welt mit und nach Nietzsche muß
das möglich sein.
Heidegger hat aber auch recht mit der folgenden Aussage: Bei
all diesem Für die Vermenschung und Wider die
Vermenschung glaubt man ... im voraus zu wissen, was der Mensch
sei, von dem diese handgreifliche Vermenschung herkommt. Man vergißt,
diejenige Frage zu stellen, die zuvor entschieden sein muß,
wenn das Bedenken der Vermenschung ein Recht und wenn die Widerlegung
dieses Bedenkens eine Sinn haben soll. Von Vermenschung zu reden,
ohne entschieden, d.h. gefragt zu haben, was der Mensch sei, ist
in der Tat ein Gerede und bleibt dieses auch dann, wenn es zur Veranschaulichung
die ganze Weltgeschichte und die ältesten Kulturen der Menschen
vorführt, die niemand nachzuprüfen vermag. (**).
Niemand weiß, was der Mensch sei! Darum sind Heidegger zufolge
auch alle anthropologischen Wissenschaftsdisziplinen verdächtig.
Das, was den Menschen am meisten von den Tieren unterscheidet, ist
sein Geist, und der ist das komplexeste unter den bekannten Gebilden
dieser Welt, dazu kommt; daß alles andere mit dem Geist in
Verbindung steht und immer nur individuell daherkommt; also haben
wir es nicht nur einerseits mit einer Komplexität höchsten
Grades, sondern auch andererseits mit einer Individualität
höchsten Grades zu tun. So ist eine genaue Bestimmung des Menschen
nicht möglich, auch dann nicht, wenn alle Computer das Berechnen
übernehmen, denn mit dem Berechnen allein ist es ja nicht getan,
wie ja auch Heidegger immer wieder betont hat.
Aber sollen deswegen alle Versuche, die Bestimmung des Menschen
zu finden, verboten werden? Heideggers Versuch zur Bestimmung dessen,
was Menschen sei, ist der bei der Phänomenologie angefangene
und über die Fundamentalontogie (Daseinsanalyse, weil das Sein
nur über das Dasein [womit der Mensch zwar gemeint, aber eben
gerade noch nicht bestimmt ist] zugänglich wird) sowie
die Seins-/Seynsgeschichte (mit dem anderen Anfang [**])
weiterzuverfolgende Weg (Vgl. auch die Titel einiger seiner
Bücher: Wege zur Aussprache, Feldweg-Gespräche,
Der Feldweg, Unterwegs zur Sprache,
Holzwege, Wegmarken, Reden
und andere Zeugnisse eines Lebensweges). Der
Weg ist das Ziel, ist man versucht zu sagen, aber noch
zutreffender ist: Der Weg bleibt solange das Ziel,
bis das Ziel entgegenkommt. Wege, nicht Werke,
soll Heidegger über seine Werke gesagt haben. Heideggers Denk-Wege
sind vornehmlich solche des Fragens. Das fragende Denken
ist deutlich zu unterscheiden von einer thetischen Systematik
und auch einer provozierenden Aphoristik im Sinne Nietzsches.
Auch das ist ein Grund, weshalb Heidegger Spengler, den er ja als
Nietzscheaner nur verstand, kritisierte. Daß nicht
gefragt wird, ist Heidegger zufolge eine Not der Notlosigkeit
(**|**|**|**|**|**|**|**|**|**),
während das Fragen ein Suchen ist - daher die vielen Wege.
Das, was Heidegger als Philosoph getan hat, ist gar nicht genug
zu würdigen. Ein Philosoph kann sich nur mit den für die
Philosophie relevanten Fragen beschäftigen, und diese relavanten
Fragen der Philosophie können nur die Grundfragen der Philosophie
sein: Was ist Wahrheit? Was ist wahr? Was kann ich wissen? Was
bedeutet das Verb ist in diesem Satz? Ist
das Sein? Oder west (Heidegger) das Sein? Was ist das
Wesen des Seins? Was ist das Wesen der Wahrheit? Hat sich die Wahrheit
verändert? Hat sich deren Wesen verändert? Hat sich das
Sein verändert? Hat sich dessen Wesen verändert? Bedeuten
Wahrheit und Sein dasselbe? Was beduetet das Dasein? Ist der Mensch
das Dasein? Was bedeutet das Da in dem Wort Dasein?
Kann so etwas nur der Mensch wissen? Weiß er so etwas überhaupt?
Warum weiß der Mensch nicht, wer oder was er ist? Warum weiß
der Mensch nicht, was das, was ihn umgibt, in seinem (Bezug zum)
Sein (oder nur Dasein?) ist, sondern nur, daß
es das ist, was in der Philosophie das Seiende genannt
wird, und das zu sein hat, was in der Philosophie das Objekt
genannt wird, weil er, der in der Philosophie das Subjekt
genannt wird, es braucht und gebraucht, aber eben auch verbraucht
und mißbraucht? Das sind alles metaphysische, ontologische,
erkenntnistheoretische, also philosphische Fragen. Andere philosophische
Fragen sind hier absichtlich nicht erwähnt.
Spengler hat ebenfalls viel geleistet, aber seine Stärke
nicht in der Philosophie gehabt, wenn man darunter die eben erwähnten
Grundfragen versteht. Man sollte das, was Spengler geleistet hat,
nicht dadurch herabwürdigen, daß man es z.B. als zu
wenig philosophisch oder sogar unphilosophisch
abstempelt. Übrigens ist z.B. die Ästhetik auch eine philosophische
Disziplin, und in dieser scheint Spengler größer als
Heidegger gewesen zu sein.
Jünger ist Spengler auch nach dessen Tod (**)
treu geblieben, hat aber auch den Kontakt zu Heidegger nicht abgebrochen,
sondern sogar intensiviert und die Freie Heroengemeinschaft
(**)
gebildet: eine enge Zusammenarbeit eines aus ihm, seinem Bruder
Friedrich Georg Jünger (**),
genannt Fritz, und eben Heidegger bestehenden Dreiergespanns.
*
Ein Manuskript oder eine sonstige Quelle für den am 14. April
1920 von Heidegger in Wiesbaden gehaltenen Vortrag ist anscheinend
nicht mehr zu finden. Immerhin jedoch ist in den von Heideggers
Nichte Gertrud herausgegebenen Briefen Heideggers an seine Frau
Elfride ein Kommentar Gertruds enthalten: Ende März
.... Martin bereitet den Vortrag »Oswald Spengler und sein
Werk« vor, den er im Rahmen der »Wissenschaftlichen
Woche« in Wiesbaden am 14. April halten wird. (Gertrud
Heidegger, Mein liebes Seelchen - Briefe Martin Heideggers
an seine Frau Elfride 1915-1970, 2005, S. 105). Ob wir vermuten
dürfen, daß Heidegger bei diesem Vortrag im
Rahmen der »Wissenschaftlichen Woche« in Wiesbaden
am 14. April 1920 Spenglers Werk anders beurteilt hat?
Die mir bekannten diesbezüglichen Beurteilungen stammen aus
Heideggers Büchern aus den Jahren 1923 (Ontologie
(Hermeneutik der Faktizität)), 1936-1938 (Nietzsche
I), 1938/39 (Überlegungen VII-XI),
1939 (Vom Wesen und Begriff der fusiV
bei Aristoteles), 1942/43 (Parmenides),
1955 (Zur Seinsfrage [urspünglich:
Über »Die Linie« - Festschrift für Ernst Jünger
zum 60. Geburtstag]) (**).
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Heidegger über Spengler.
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Die heutige Ausgelegtheit des Heute.
Das öffentliche Zunächst der Ausgelegtheit des Heute soll
gefaßt werden, so zwar, daß es möglich wird, durch
den auslegenden Rückgang von diesem Ansatz her einen Seinscharakter
der Faktizität in den Griff zu bekommen, d.h. als Existenzial
durchsichtig zu machen, um damit einen ersten ontologischen Zugang
zur Faktizität auszubilden. Die Ausgelegtheit
des Heute sei nach zwei Auslegungsrichtungen verfolgt. Sie lassen
sich kennzeichnen als 1. das geschichtliche Bewußtsein im
Heute, 2. die Philosophie im Heute. .... Die
Vornahme des geschichtlichen Bewußtseins als Exponent der
Angelegenheit des Heute ist von dem folgenden Kriterium her motiviert:
Die Weise, wie eine Zeit (das jeweilige Heute) die Vergangenheit
(ein oder sein vergangenes Dasein) sieht und anspricht, behält
und aufgibt, ist das Anzeichen dafür, wie eine Gegenwart zu
ihr selbst steht, wie es als Dasein in ihrem »Da« ist.
Dieses Kriterium selbst ist nur eine bestimmte Formel für einen
Grundcharakter der Faktizität, ihre Zeitlichkeit.
Die Standart unseres Heute zur Vergangenheit kann sich an den historischen
Geisteswissenschaften bewähren. Sie präsentieren sich
als die Wegform, in der geschichtliche Erfahrung vergangenes Leben
zugänglich macht, sie geben auch die führende Anweisung
für die Weise der theoretisch-wissenschaftlichen Vergegenständlichung
des Vergangenen. Sie geben geschichtliche Vergangenheit charakterisiert
in ihrem bestimmt gefaßten Aussehen und als besprochen in
bestimmten Hinsichten an das »Bildungsbewußtsein«
(ein Wie der öffentlichen Ausgelegtheit) als fertigen Besitz
ab. Vergangenheit, vergangenes Leben als Gegenstandsgebiet der Wissenschaft.
Als was wir nun vergangenes Dasein in
diesen Wissenschaften im vorhinein genommen? In welchem Gegenstandscharakter
ist es für sie da? Die Kunst. Literatur, Religion, Sitte, Gesellschaft,
Wissenschaft und Wirtschaft stehen in einer aller jeweiligen konkreten
Befragung und Betsimmung als führend vorweglaufenden Charakterisierung:
sie beginnen als »Ausruck«, Objektivationen von Subjektivem,
eines in ihnen zu Gestalt drängenden Kulturlebens (Kulturseele).
Die durchherrschende Einheitlichkeit, in der
dieses Leben einer Kultur zum Ausdruck gelangt, darin sich hält
und veraltet, wird bestimmt als der jeweilige Stil der Kultur.
Daß dem Seinscharakter dessen, wovon die Kulturgebilde Ausdruck
sind, nicht weiter nachgefragt wird, macht deutlich, wie sehr das
verstehende Interesse auf die Ausdrucksgestalten als solche im Wie
ihres Ausdruckseins abzielt. Die letzte und einzige Seinsbestimmung
ist: Kultur ist Organismus, eigenständiges Leben (Entfaltung,
Blüte, Absterben). Spengler (Der
Untergang des Abendlandes - Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte,
I. Bd.: Gestalt und Wirklichkeit) hat dieser Weise, Vergangenheit
zu sehen, den konsequenten und überlegenen Ausdruck verschafft.
Die sterile Aufgeregtheit der Philosophie und der Fachwissenschaften
ist längst still geworden. Man ist inzwischen heimlich dabei,
allerwärts - sogar für die Theologie - »Kapital
zu schlagen«. Gewiß haben Nietzsche, Dilthey, Bergson,
die Wiener kunstgeschichtliche Schule (Karl Lamprecht) vorgearbeitet.
Das Entscheidende liegt aber daran, daß Spengler all
das, was hier unsicher und verängstigt zu einem Ende drängte,
wirklich von der Stelle brachte. Vor Spengler hatte niemand
den Mut, die in Ursprung und Entwicklung des neuzeitlichen geschichtlichen
Bewußtseins gelegene bestimmte Möglichkeit rücksichtslos
wirklich zu machen. Man darf den »neuen« Schritt nicht
übersehen. Alles Unerquickliche und Halbe, das Dilettantische
im Grundsätzlichen und begrifflichen Habitus darf nicht den
rein feststellenden Blick verdecken. Wirkungskräfte, die die
Ordinarienphilosophie, das heulende Elend in gestelzter leerer Vornehmtuerei,
überdauern. Er hat gespürt, was vorgeht. Die anderen tun
so, als wäre alles in bester Ordnung. Die nächste Frage
ist: In welcher Weise wird die so als Gestaltwerdung und Ausdrucksein
vergegenständlichte Vergangenheit Thema einer theoretischen
Erkenntnisaufgabe (Wissenschaft) und welcher? Eine Kultur (Mannigfaltigkeit
solcher Kulturen) ist als geschlossener Organismus eigenen Lebens
auf sich selbst gestellt. In der Mannigfaltigkeit der in der Überlieferung
in bestimmter Auslegung andrängenden Kulturen ist jede ihrem
eigensten Seinscharakter nach der anderen (als Pflanze) gleichgestellt.
Kein vergangenes Dasein hat seinsmäßig vor dem anderen
irgendeinen Vorrang. Wie die eine Kultur, so muß die andere
vergegenwärtigt werden. Aus dem Gegenstands- und Seinscharakter
der so gesehenen Vergangenheit her ist daher die Universalität
der Geschichtsbetrachtung notwendig mitgegeben. Gerade aus dem Gegenstand
selbst ist nicht das mindeste Motiv zu einer kurzsichtigen Beschränkung
auf eine Kultur und deren Erforschung auszumitteln. Demnach weitet
sich das Gegenstandsfeld der Geschichtsbetrachtung so, daß
darin das »Werden[s] aller Menschlichkeit« (a.a.O.,
S. 208) verfolgbar sein muß. Welches ist nun die aus der Gegenstands-
und Seinsart der so gegenständlichen Vergangenheit entspringende
Weise der theoretischen Erfassung, Explikation und begrifflichen
Durchbildung derselben? Es ist kein Zufall, daß heute unter
den historischen Geisteswissenschaften die Kunstgeschichte
am weitesten ausgebildet ist und daß die anderen Wissenschaften
die Tendenz haben, es ihr, soweit das möglich ist, nachzumachen.
Die Hinsicht, das Woraufhin des An-sehens, in die jede Kultur
gestellt wird, ist das jeweilige Wie des Ausdruckseins ihrer Gebilde;
sie wird befragt auf ihren Stil, d.h., ihre Ausdrucksgestalten werden
auf eine Grundgestalt von »Seelen und Menschentum« zurückgeleitet.
(Einheitlichkeit ihres So-seins; heißt?) Die Art der theoretischen
Explikationen des Vergangenen ist Abhebung der Gestaltcharaktere
des Gestalthaften - Morphologie. Es begegnet aufgrund des
betreffenden ontologischen Ansatzes eine in sich ontisch gleichgestellte
Mannigfaltigkeit von Kulturen, d. h. aber, diesem Gegenstandszusammenhang
angemessen ist die morphologische Betrachtung durchzuhalten. Die
Mannigfaltigkeit selbst ist auf ihr Gestalthaftes zu befragen, sie
ist selbst noch gestalthaft zugänglich zu machen. Die eine
Kultur ist gestalthaft an die andere zu halten. Es erwächst
so die Methode einer universalen Gestaltvergleichung. Die
Verhältniskategorien der Homologie, Analogie, Gleichzeitigkeit,
Parallelität treten ins Spiel. Das so gesehene explizierte
Ganze der geschichtlichen Vergangenheit schlägt sich nieder
in einem geschlossenen gestalthaften Zusammenhang von Gestalten
(bzw. es vermag sich niederzuschlagen; Niederschlag, in einem
Blick beherrschbar, bestimmt laufend). Es wird faßbar in Tafeln
und Rubriken, in denen die Vergleichungsbahnen geordnet festgelegt
sind. Die leitende Vorwegnahme des Gegenstandscharakters der Vergangenheit
als stileinheitlicher Ausdrucksgestalt jeweilig eigenständiger
Kulturen motiviert sowohl aus dem so gesehenen Gegenstandsfeld wie
aus ihrer eigensten Zugangshaltung eine bestimmte Weise geschichtlicher
Explikation: des gestaltvergleichenden Ordnens. (Ordnung
- Gestalterfassung. 1. Ordnung, 2. Ordnung, und schärfer: Idee
von Kultur überhaupt; Konsequenz; Gegenpol.)
Martin
Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität),
Vorlesung, Sommersemester 1923, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 63, S. 35-39 |
Das konsequente Programm in umfassender Durchführung gibt Spengler:
»Mir schwebt eine spezifisch abendländische Art, Geschichte
im höchsten Sinne zu erforschen, vor, die bisher noch nie aufgetaucht
ist und die der antiken und jeder andern Seele fremd bleiben mußte.
Eine umfassende Physiognomik des gesamten Daseins, eine Morphologie
des Werdens aller Menschlichkeit, die auf ihrem Wege bis
zu den höchsten und letzten Ideen vordringt; die Aufgabe, das
Weltgefühl nicht nur der eigenen, sondern das aller
Seelen zu durchdringen, in denen große Möglichkeiten
überhaupt bisher erschienen und deren Verkörperung im
Bereiche des Wirklichen die einzelnen Kulturen sind. Dieser philosophische
Aspekt, zu dem die analytische Mathematik, die kontrapunktische
Musik, die perspektivische Malerei uns das Recht geben, uns erzogen
haben, setzt, über die Talente des Systematikers ... weit hinausgehend,
das Auge eines Künstlers voraus, und zwar das eines Künstlers,
der die sinnliche und greifbare Welt um sich in eine tiefe Unendlichkeit
geheimnisvoller Beziehungen sich vollkommen auflösen fühlt.
So fühlte Dante, so Goethe.« (A.a.O., S.
207-208). (Nachträgliche Anwendung in der üblichen Geschichte.
Religionsgeschichte usf.. Umwegig, ohne Verhältnis dazu ein-
und nachgeredet.)
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 39 |
Spengler betont als bisherigen Mangel der Geschichtsbetrachtung
und Wissenschaft, daß ihr noch nie gelang, was sie anstrebt, »objektiv
zu sein«. Geschichtswissenschaft ist erst dann objektiv, wenn es ihr gelingt,
»ein Bild der Geschichte zu entwerfen, das nicht mehr vom zufälligen
Standort des Betrachters in irgendeiner - seiner - »Gegenwart
... abhängig ist« (a.a.O., S. 125). Was in den Naturwissenschaften
längst erreicht war - die Distanz vom Gegenstand, so daß er rein
für sich selbst spricht- fehlte bislang gegenüber der geschichtlichen
Welt. Es gilt also, »noch einmal die Tat des Kopernikus« (a.a.O.,
S. 126) der Geschichte gegenüber zu vollbringen, d. h. die Befreiung vom
Augenschein und dem Standort des Betrachters, »die Geschichte also von
den persönlichen Vorurteilen des Betrachters zu lösen, der sie in
unserem Falle wesentlich zur Geschichte eines Fragments des Vergangenen mit
dem in Westeuropa fixierten Zufällig-Gegenwärtigen als Ziel und den
augenblicklichen öffentlichen Idealen und Interessen als Wertmessern für
die Entwicklung des Erreichten und zu Erreichenden macht - das ist die Absicht
alles Folgenden.« (A.a.O., S. 126-127). Diese Selbstauslegung des geschichtlichen Bewußtseins stellt dieses
sonach in die Aufgabe, »die ganze Tatsache Mensch« zu überschauen,
d.h. menschliches Dasein absolut objektiv in den Blick zu bringen. Eine neue
Aufgabe dergestalt, daß sich eine neue und eigentliche Möglichkeit
des Daseins und der Daseinserfassung als einer objektiven bietet. Diese Selbstauslegung gibt nicht einfach zur Kenntnis, was das geschichtliche
Bewußtsein ist, sondern gibt sich bekannt in der Weise, daß es sich
selbst, d.h. die Ausgelegtheit seines Heute, in das Verweilen hineindrängt,
in dem Vergangenheit objektiv ohne Augenverblendung begegnet. Die Selbstauslegung
kommt selbst dem zu erfassenden Gegenstand und dem von diesem ausgehenden Zug
zu ihm entgegen, d. h., die Neugier als eine gezogene drängt in ihr selbst
in die Richtung des Zuges. Die Auslegungsweise spricht in ihrer Selbstpräsentation mit
für die in ihr selbst zu vollziehende Erwerbung und Behauptung des
so gesehenen Daseins. Dieses geschichtliche Bewußtsein hat in seiner objektiven
Distanz zur Vergangenheit ebenso objektiv die Gegenwart des Daseins,
d.h. aber, im Sinne des angesetzten Gegenstandscharakters des Geschichtlichen:
»schon« seine Zukunft. Die Vorausberechnung dieser, der »Untergang
des Abendlandes«, ist keine Marotte von Spengler und kein billiger
Witz für die Masse, sondern der konsequente Ausdruck dafür, daß
sich das uneigentliche geschichtliche Bewußtsein in seiner eigensten,
ihm vorgezeichneten Möglichkeit zu Ende gedacht hat. (Das Noch-nicht,
an sich als Gegenwart in der Rechnung; vergleichende Ablesung.)
Martin
Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität),
Vorlesung, Sommersemester 1923, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 63, S. 55-56 |
Spengler repräsentiert das heutige geschichtliche
Bewußtsein, so wie es sich nach seinen eigenen Möglichkeiten
nehmen muß. Die Opposition der Fachwissenschaft fällt
dabei grundsätzlich nicht ins Gewicht, sofern sie (in
anderer Hinsicht belangreiche) Fehlinterpretationen oder Vernachlässigung
relevanter Tatbestände nachweist. In der grundsätzlichen,
wenn auch nicht ausdrücklichen Haltung kommt sie zusehends
mehr unter den Einfluß Spenglers. Wo sie daher grundsätzlich
opponiert, verrät sie nur, daß sie sich selbst nicht
versteht; d.h., die historischen Geisteswissenschaften merken nicht,
daß sie sich an einer ganz bestimmten Möglichkeit ihrer
selbst, d.h. der Kunstgeschichte, vergreifen, d.h. in der Nachäffung
dieser sich eine höhere »Geistigkeit« geben, statt
wie diese jeweils sich auf ihren eigenen Gegenstand, seinen Seinscharakter
und die angemessene Zugangs- und Bestimmungsmöglichkeit zu
besinnen. Die Nachäffung der Kunstgeschichte ist ein Mißbrauch
dieser, d.h. eine Geringschätzung, d.i. ein Mißverstehen.
Die übrigen Geisteswissenschaften, sofern sie diese nachahmen,
verstehen diese damit sowenig wie sich selbst. (Warum Kunstgeschichte
in diesem Betracht (Stil, Gestalt, Ausdruck) echt? Ihr Gegenstand
aber auch das »Ordnen«! Hier noch Unklarheit; hier deutlich,
vor welchen Aufgaben.) Religion ist im Kern ihres Daseins mißverstanden,
wenn die Religionsgeschichte heute sich die billige Spielerei leistet,
Typen, d.h. Stilformen der Frömmigkeit auf eine unterhaltsame
Bildertafel zu zeichnen. Das Analoge gilt von der Wirtschaftsgeschichte,
der Philosophie- und der Rechtsgeschichte. Diese jeweilig echten
Möglichkeiten kommen nicht ins konkrete Dasein dadurch, daß
den historischen Wissenschaften ein philosophisch ausgeklügeltes
System der Kultursysteme als Operationsplan vorgelegt wird, sondem
einzig so, daß jeweils innerhalb dieser Wissenschaft der rechte
Mann am rechten Platz zur rechten Zeit entscheidend eingreift. (Was
dazu die Philosophie beitragen soll, darüber ist nicht zu »reden«.)
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 56-57 |
A) Vier Deutungen unserer heutigen Lage: der Gegensatz von
Leben (Seele) und Geist bei Oswald Spengler, Ludwig Klages, Max
Scheler, Leopold Ziegler. Also eine Gundstimmung
wecken! Sogleich erwächst die Frage: Welche Stimmung
sollen wir wecken bzw. in uns wachwerden lassen? Eine Stimmung,
die uns von Grund aus durchstimmt? Wer sind wir denn?
Wie meinen wir uns, wenn wir jetzt »uns« sagen? Wir,
diese Anzahl von Menschenindividuen, die hier in diesem Raum zusammengekommen
sind? Oder »uns«, sofern wir hier an der Universität
vor bestimmten Aufgaben des Studiums der Wissenschaften stehen?
Oder »uns«, sofern wir, als der Universität zugehörig,
zugleich in den Prozeß der Bildung des Geistes einbezogen
sind? Und diese Geschichte des Geistes - ist sie nur als deutsche
oder als ein abendländisches und weiterhin europäisches
Geschehen? Oder sollen wir den Kreis dessen, worin wir stehen, noch
weiter ziehen? »Uns« meinen wir, aber in welcher Lage,
in welcher Aus- und Abgrenzung dieser Lage? Je weiter wir für
diese Lage die Perspektive nehmen, um so verblaßter wird der
Horizont, um so unbestimmter die Aufgabe. Und doch -wir spüren,
je weiter wir die Perspektive nehmen, um so brennender und entscheidender
faßt sie uns - jeden von uns - an. Damit drängt sich
uns aber auch eine klare Aufgabe näher, der wir offenbar nicht
mehr ausweichen können. Wenn wir in uns eine Grundstimmung
wecken sollen und wollen, dann müssen wir uns hierzu unserer
Lage versichern. Welche Stimmung aber ist für uns heute
zu wecken? Diese Frage können wir nur beantworten, wenn
wir unsere Lage selbst hinreichend kennen, um daraus zu entnehmen,
von welcher Grundstimmung wir durchherrscht sind. Da es sich doch
offenbar bei der Weckung der Grundstimmung und deren Absicht um
etwas Wesentliches und Letztes handelt, muß diese unsere Lage
in der größtmöglichen Weite gesehen werden. Wie
sollen wir dieser Forderung genügen? Wenn wir näher zusehen,
dann erweist sich die Forderung der Kennzeichnung unserer Lage nicht
nur nicht neu - diese Aufgabe ist auch in mannigfacher Weise schon
erfüllt. Für uns wird es sich nur darum handeln, die Kennzeichnung
unserer Lage auf ihren einheitlichen Charakter zu bringen
und ihren durchgehenden Grundzug festzuhalten. Wenn wir uns
nach den in Frage kommenden ausdrücklichen Kennzeichnungen
(Deutungen, Darstellungen) unserer heutigen Lage umsehen, dann können
wir deren vier herausneben und in aller Kürze kenntlich
machen. Die Auswahl bleibt in solchen Fällen nie frei von Willkür.
Diese wird jedoch unschädlich durch den Gewinn.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929, S. 103-105 |
Die bekannteste und kurze Zeit erregende Deutung
unserer Lage ist diejenige geworden, die sich ausdrückt in
dem Schlagwort »Untergang des Abendlandes« (O. Spengler,
Der Untergang des Abendlandes, Band 1, 1918, Band 2, 1922).
Das Wesentliche ist für uns das, was als Grundthese dieser
»Prophezeiung« zugrundeliegt. Es ist - auf eine Formel
gebracht - dieses: Untergang des Lebens am und durch den Geist.
Was der Geist, zumal als Vernunft (ratio), sich bildet und geschaffen
hat in der Technik, Wirtschaft, im Weltverkehr, in der ganzen Umbildung
des Daseins, symbolisiert durch die Großstadt, das wendet
sich gegen die Seele, gegen das Leben und erdrückt sie und
zwingt die Kultur zu Niedergang und Verfall.
.... Wir wissen nur, daß Nietzsche die Quelle für
die genannten Deutungen ist. .... Die tiefe Langeweile
als die verborgene Grundstimmung der kulturphilosophischen Deutungen
unserer Lage.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929, S. 105 und 111 |
In der milden Strenge und strengen Milde ihres Seinlassens
des Seienden als solchen im Ganzen wird die Philosophie zu einem
Fragen, das sich nicht einzig an das Seiende halten, aber auch keinen
Machtspruch von außen zulassen kann. Diese innerste Not des
Denkens hat Kant geahnt; denn er sagt von der Philosophie: »Hier
sehen wir nun die Philosophie in der Tat auf einen mißlichen
Standpunkt gestellt, der fest sein soll, unerachtet er weder im
Himmel noch auf der Erde an etwas gehängt oder woran gestützt
wird. Hier soll sie ihre Lauterkeit beweisen als Selbsthalterin
ihrer Gesetze, nicht als Herold derjenigen, welche ihr ein eingepflanzter
Sinn oder wer weiß welche vormundschaftliche Natur einflüstert
....« (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,
in: Werke, IV, 425). Bei dieser Wesensdeutung der Philosophie blickt
Kant, dessen Werk die letzte Wendung der abendländischen Metaphysik
einleitet, in einen Bereich hinaus, den er gemäß seiner
metaphysischen Grundstellung in der Subjektivität zwar nur
aus dieser begreifen konnte und als Selbsthalten eigener Gesetze
begreifen mußte. Dieser Wesensblick in die Bestimmung der
Philosophie ist dennoch weit genug, um jede Verknechtung ihres Denkens
zu verwerfen, deren hilfloseste Art in der Ausflucht sich versteckt,
die Philosophie als eine »Ausdruck« der »Kultur«
(Spengler) und als Zierde eines schaffenden Menschentums gerade
noch gelten lassen.
Martin
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, in: Wegmarken,
S. 199-200 |
Schopenhauer hat die Tatsache, daß er nun eifrig von
den Gebildeten gelesen wurde, als einen philosophischen Sieg über
den deutschen Idealismus angesehen. Aber Schopenhauer kam in der
Philosophie um diese Zeit nicht deshalb obenauf, weil seine Philosophie
den deutschen Idealismus philosophisch besiegte, sondern weil die
Deutschen vor dem deutschen Idealismus erlagen, seiner Höhe
nicht mehr gewachsen waren. (Spengler zum
Erfolg Schopenhauers: »Nicht umsonst war Schopenhauer ...
zu den englischen Sensualisten in die Lehre gegangen. Dort lernte
er Kant im Geiste der großstädtischen, aufs Zweckmäßige
gerichteten Modernität mißverstehen. Der Intellekt als
Werkzeug des Willens zum Leben [auch der moderne Gedanke, daß
die unbewußten, triebhaften Lebensakte Vollkommenes bewirken,
während es der Intellekt nur zu stümperhaften Leistungen
bringt, findet sich bei ihm {in: Die Welt als Wille und Vorstellung,
1818, Band II, Kap. 30}], als Waffe im Kampf ums Dasein, das, was
Shaw in eine groteske dramatische Formel gebracht hat (in »Mensch
und Übermensch«, 1903), dieser Weltaspekt Schopenhauers
war es, der ihn beim Erscheinen von Darwins Hauptwerk [1859] mit
einem Schlage zum Modephilosophen machte. Er war im Gegensatz zu
Schelling, Hegel und Fichte der einzige, dessen metaphysische Formeln
dem geistigen Mittelstand ohne Schwierigkeit eingingen. Seine Klarheit,
auf die er stolz war, ist in jedem Augenblick in Gefahr, sich als
Trivialität zu enthüllen. Hier konnte man, ohne auf Formeln
zu verzichten, die eine Atmosphäre von Tiefsinn und Exklusivität
um sich breiteten, die gesamte zivilisierte Weltanschauung sich
zu eigen machen. Sein System ist antizipierter Darwinismus,
dem die Sprache Kants und die Begriffe der Inder nur zur Verkleidung
dienten. In seinem Buche »Über den Willen in der Natur«
(1835) finden wir schon den Kampf um die Selbstbehauptung in der
Natur, den menschlichen Intellekt als die wirksamste Waffe in ihm,
die Geschlechtsliebe als die unbewußte Wahl aus biologischem
Interesse. [Im Kapitel »Zur Metaphysik der Geschlechtsliebe«
{in: Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, Band II, Kapitel
44} ist der Gedanke der Zuchtwahl als des Mittels zur Erhaltung
der Gattung in vollem Umfang vorweggenommen.] Es ist die Ansicht,
welche Darwin auf dem Umweg über Malthus mit unwiderstehlichem
Erfolg in das Bild der Tierwelt hineingedeutet hat.« [Oswald
Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 473-474.])
Dieser Verfall machte Schopenhauer zum großen Mann, was zur
Folge hatte, daß die Philosophie des deutschen Idealismus,
von den Gemeinplätzen Schopenhauers aus gesehen, etwas Befremdliches
und Absonderliches wurde und in Vergessenheit geriet. Nur auf Um-
und Abwegen finden wir in dieses Zeitalter des deutschen Geistes
zurück. Aber wir sind weit entfernt von einem wahrhaft geschichtlichen
Bezug zu unserer Geschichte. Nietzsche spürte, daß hier
eine »grandiose Initiative« des metaphysischen Denkens
am Werk war. Doch bei solcher Ahnung ist es für ihn geblieben,
mußte es bleiben; denn das eine Jahrzehnt des Schaffens am
Hauptwerk ließ ihm nicht die Ruhe des Verweilens in den weiträumigen
Bauten der Werke Hegels und Schellings.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 60 |
Die wesentlichen Haltungen gegenüber der an sich für
unüberwindbar gehaltenen Vermenschung sind demnach die beiden
folgenden: Entweder findet man sich damit ab und bewegt sich in
der scheinbaren Überlegenheit des Zweiflers an allem, der sich
auf nichts einläßt und seine Ruhe haben will; oder man
bringt sich dahin, daß man die Vermenschung vergißt
und sie damit für beseitigt hält und auf diese Weise seine
Ruhe hat. Überall demnach, wo das Bedenken der Vermenschung
als unüberwindliches vorgebracht wird, bleibt man jedesmal
in einer Oberflächlichkeit stecken, so leicht diese Überlegungen
bezüglich der Vermenschung sich auch den Anschein geben, als
seien sie im höchsten Grade tiefsinnig und vor allem »kritisch«.
Welche Offenbarung war es vor zwei Jahrzehnten (1918) für die
Menge derer, die mit dem wirklichen Denken und seiner reichen Geschichte
unvertraut sind, als Spengler erstmals entdeckt zu haben glaubte,
daß jedes Zeitalter und jede Kultur ihre eigene Weltanschauung
haben! Gleichwohl war alles nur eine sehr geschickte und geistreiche
Popularisierung von Gedanken und Fragen, die längst - und zuletzt
von Nietzsche - tiefer gedacht, aber keineswegs bewältigt wurden
und bis zur Stunde nicht bewältigt sind. Der Grund dafür
ist ebenso einfach wie schwerwiegend und schwer zu durchdenken.
- Bei all diesem Für die Vermenschung und Wider
die Vermenschung glaubt man nämlich im voraus zu wissen, was
der Mensch sei, von dem diese handgreifliche Vermenschung herkommt.
Man vergißt, diejenige Frage zu stellen, die zuvor entschieden
sein muß, wenn das Bedenken der Vermenschung ein Recht und
wenn die Widerlegung dieses Bedenkens eine Sinn haben soll. Von
Vermenschung zu reden, ohne entschieden, d.h. gefragt zu haben,
was der Mensch sei, ist in der Tat ein Gerede und bleibt dieses
auch dann, wenn es zur Veranschaulichung die ganze Weltgeschichte
und die ältesten Kulturen der Menschen vorführt, die niemand
nachzuprüfen vermag. Um also das Bedenken der Vermenschung,
seine Bejahung gleich wie seine Zurückweisung, nicht oberflächlich
und nur scheinbar zu erörtern, muß zuerst die Frage aufgenommen
werden: Wer ist der Mensch? Geschickte Literaten haben sich denn
auch, kaum das diese Frage deutlicher wurde, sogleich ihrer bemächtigt.
Aber die Frage steht für sie lediglich als Fragesatz auf dem
Buchtitel; gefragt wird nicht; man hat seine dogmatische Antwort
längst im sicheren Besitz. Dagegen ist nichts zu sagen; nur
soll man nicht so tun, als würde man fragen. Denn so
harmlos und über Nacht zu erledigen ist diese Frage, wer der
Mensch sei, nicht; diese Frage ist, wenn die Daseinsmöglichkeiten
zum Fragen noch bestehen bleiben sollten, die künftige Aufgabe
Europas in diesem und im künftigen Jahrhundert. Sie kann nur
durch vorbildliche und maßgebliche Geschichtsgestaltung einzelner
Völker im Wettkampf mit anderen ihre Antwort finden. - Doch
wer anders stellt und beantwortet die Frage, wer der Mensch sei,
als wieder nur der Mensch selbst? Gewiß; aber folgt daraus,
daß die Bestimmung des Wesens des Menschen auch nur eine Vermenschung
des Menschenwesens ist? Das mag sein; es ist sogar notwendig eine
Vermenschung, nämlich in dem Sinne, daß die Wesensbestimmung
des Menschen vom Menschen vollzogen wird. Aber die Frage bleibt,
ob die Wesensbestimmung des Menschen diesen vermenschlicht oder
entmenschlicht. Die Möglichkeit besteht, daß der Vollzug
der Bestimmung des Wesens des Menschen immer und notwendig Sache
des Menschen bleibt und insofern menschlich ist, daß aber
die Bestimmung selbst, ihre Wahrheit, den Menschen über sich
hinaushebt und somit entmenschlicht und damit auch dem menschlichen
Vollzug der Wesensbestimmung des Menschen ein anderes Wesen zuspricht.
Die Frage, wer der Mensch sei, muß erst als nötige Frage
erfahren werden, und dazu muß die Not dieser Frage über
den Menschen mit aller Macht und in jeder Gestalt hereinbrechen.
Mit der Notwendigkeit dieser Frage ist es freilich nicht getan,
wenn nicht vor allem gefragt wird, was dieser Frage erst die Möglichkeit
verschafft: woher und von wo aus soll das Wesen des Menschen bestimmt
werden?
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 321-323 |
Spengler - in ihm wird Nietzsches Umkehrung des Platonismus zur
bloßen Herrschaft der bloßen »Tatsache« gegenüber
der Ohnmacht der »Wahrheiten«, als welche er »Allgemeinheiten«
des bloßen Meinens nimmt. Die Verherrlichung der »Tatsache«,
die vielleicht die ödeste und zugleich blindeste »Romantik«
darstellt, die für Spengler das Verächtlichste ist, führt zum
letzten Austrag der Anpreisung des Römertums und Cäsarismus - der
halbseitige Nietzsche, nur historischer und entschiedener als jener biologisch-sumpfige
von Klages. Ein fruchtloses Beginnen bliebe es, Spengler auf seine Selbstwidersprüche
abzusuchen. Seine Blindheit gegen das, was seinen Darlegungen (und angeblichen
»Erfahrungen«, die doch auch nur der historischen »Literatur«
entnommen sind) gleichwohl die anstößige Kraft gibt, läßt
sich dadurch nicht beseitigen. Er kann nur als das genommen werden, als was
er nach seiner eigenen »Lehre« genommen werden muß, als eine
Erscheinung seines Zeitalters, das er freilich nur in seiner »Perspektive«
sieht, die er für die »absolute« hält.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 137-138 |
In Spenglers Lehre ist weder der »Pessimismus«,
noch der »Relativismus«, noch der »Zoologismus«
(»Menschheit ist für mich eine zoologische Größe«
[in: Ders., Pessimismus?, 1921, S. 14]) das »Gefährliche«;
hier gibt es überhaupt nichts Gefährliches mehr, sondern
nur die sehr handfeste Folgerichtigkeit eines Nachgekommenen, für
den die gröbsten Schläge der eigenen Hand ins eigene Gesicht
nichts mehr bedeuten, weil alles nur auf die Wirkung der »Tatsachen«
und ihre Schicksalhaftigkeit ankommt. »Es gibt im ganzen 19.
Jahrhundert nicht eine Frage, welche die Scholastik nicht schon
als eines ihrer Probleme entdeckt, durchdacht und in eine glänzende
Fassung gebracht hätte« (ebd.). Spenglers Begeisterung
für die »Tatsachen« scheint hier auszusetzen, denn
sonst müßte er wissen (aber was ist für einen schreibenden
»Tatsachen«menschen schon das »Wissen«),
daß die »Scholastik« nicht nur überhaupt
keine »Probleme« kannte, sondern auch vom 19. Jahrhundert
so weit, so anders entfernt war, daß sie niemals auf dessen
»Probleme« verfallen konnte. Aber solche Sätze,
wie der angeführte, mögen unwissenden »Tatsachen«menschen
(Bankdirektoren und Technikern) einen »Eindruck« machen,
sie mögen von apologetisch geschulten Kaplänen mit einem
Schmunzeln verzeichnet werden, sie zeigen doch nur die Geschichtslosigkeit
dieses Urbildes aller heutigen »Historiker«. Davor steht
der Satz: »Es gibt keinen wirklich neuen Gedanken in einer
so späten Zeit.« Welche verblüffende [?] Ehrlichkeit
und Bescheidung! Aber sogleich folgen seitenlange Aufzählungen
dessen, was Spengler »Neues geschaffen«. Aber das Sich-widersprechen
- so grobschlächtig es sich darbietet - bleibt hier ohne Bedeutung;
denn dies gehört zu dieser Art »Philosophie«, die
vor den »Tatsachen«, dem Seienden die Waffen streckt,
sofern ihr überhaupt solche zugestanden werden können.
Dieses völlige Versinken in den Platonismus (daß
es der umgestülpte ist, ändert nichts an seinem Wesen),
dieses unwissende Ausrufen der Seinsverlassenheit des Seienden nimmt
solcher Denkweise, besser, versagt ihr, jede Gefährlichkeit.
Im Gefolge dieser Harmlosigkeit geht dann jenes Verfahren mit, das
sich als »Gegner« immer nur das Schwache und Beiläufige
und Nachträgliche und Unschöpferische nimmt -; man spottet
über gleichgültige »Hochschulphilosophie«
und bleibt ahnungslos gegenüber den allerersten Voraussetzungen,
die etwa eine Auseinandersetzung mit Kant forderte (auch darin ist
Spengler eine verschlechterte Ausgabe eines halbseitigen Nietzsche).
Am wenigsten erstaunt aber, daß das Versinken im Platonismus
gegen die »Romantik« poltert und alles, was »Entwurf«
heißt, als Idealismus, d.h. »Vorsichherschlendern«
verspottet. Wie soll auch der Platonismus, zumal wenn er noch auf
dem Kopf steht, sich selbst erkennen, in dem, was er vergißt
und nie zu begreifen vermag, weil ihm schon der »Begriff«
nur noch ein »Begriff« sein kann.
Hier in dieser Gefahr- und Notlosigkeit eines gedankenlosen Denkens
wird nie erfahrbar werden, daß der Entwurf ursprünglich ist die
Eröffnung der Wahrheit des Seyns, weder ein bloßes »Programm«,
noch eine »Perspektive«, noch eine »über« dem »Leben«
schwebende bloße Vorstellung.
Martin
Heidegger, Überlegungen, VII-XI, 1938/39,
in: Ders., Gesamtausgabe, Band 95, S. 138-139 |
Wie kommt es aber, daß Spengler in der Zeitkritik Vieles trifft
und im Verneinen so sicher geht? Auch hier spricht Nietzsche - aber nur wieder
ein Vordergrund Nietzsches, nicht einmal der eigentliche »Nihilismus«
Nietzsches, der von seiner »Metaphysik« und somit vom Platonismus
nicht zu lösen ist. Die Geschichtslosigkeit dieses »Geschichtsphilosophen«
wird vielleicht durch nichts so deutlich belegt wie durch die Meinung, über
Hölderlin etwas gesagt zu haben, wenn er sich darüber lustig macht,
daß - dazu noch in sehr fragwürdiger Weise - der Georgekreis sich
bei Hölderlin ein Bild der Hellenen suchte - statt das Römertum zu
bejahen.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 139-140 |
Allein - alle Bedenken gegen Spengler haben nur
dann ein Gewicht, wenn zugegeben ist, daß in ihm eine echte
Kraft seines Zeitalters zu Wort kam, die durch allen gelehrtenhaften
Widerspruch, den sie erfuhr, hindurchgewirkt hat gerade auf diejenigen,
die nachher seinen Pessimismus und die »Untergangsstimmung«
ablehnen und überwunden zu haben glauben. Spengler half, wenn
auch sehr vordergründlich, zum mindesten einen Vordergrund
von Nietzsches Denken den handelnden Menschen zugänglich zu
machen. Daß es geschah mit der Folge einer nun erst recht
gesicherten Verachtung der »Philosophie«, darf nicht
verwundern, da gerade Spengler ein »Ausdruck« der heutigen
»Kulturseele« ist in seinem Nichtbegreifen dessen, was
sich philosophisch metaphysisch in Nietzsches Denken ereignete.
Doch aus diesem Grunde ist es gerade verkehrt, zu meinen, mit gelehrten
Widerlegungen Spengler »erledigen« zu können; er
ist nicht zu erledigen, solange nicht der Bereich der Besinnung
auf Nietzsches Denken vorverlegt wird, und dann wird die Rede vom
»Erledigen« ohnedies sinnlos. Kann je einer von der
Geschichte wissen und gar über sie verbindlich sprechen
wollen, dem der Mensch eine »zoologische Größe«
ist? (Nicht »der Mensch«, sondern
»die Menschheit« war für Spengler eine »zoologische
Größe«; HB.) Geschichte und der Vorrang
der Unwahrheit der historischen Erklärung: man kann immer
mithilfe von sogenannten »Tatsachen« zeigen, daß
»große historische Ereignisse« »Künstler«
und »Denker« beeinflußt und zu »Werken«
geführt haben; man kann nie in der entsprechenden Weise
»zeigen«, daß die Vollzieher jener Ereignisse
nur durch Dichter und Denker möglich wurden. Also: ist deren
Nachträglichkeit, wenn nicht gar Überflüssigkeit
erwiesen. Allerdings. Aber für wen? Für jene, die meinen,
Geschichte lasse sich erklären durch »Tatsachen«.
Der Gipfel der Verwirrung aber ist erreicht, wenn die Verehrer der
»Tatsachen« meinen, das Schicksalhafte der Geschichte
gegenüber dem »Kausalismus« des Ableitens aus »Ideen«
und »Programmen« begriffen zu haben. Das eigentlich
Schicksalhafte der Geschichte offenbart sich gerade darin, daß
es sich diesem Auf-dem-Bauche-liegen vor den »Tatsachen«
entzieht und ihm versagt, etwas vom Ursprung der »Tatsachen«
zu wissen, der freilich nicht in den »Ideen« zu suchen
ist. Und »Schicksal« - wenn dieser Begriff nur der letzte
Ausweg der Historie wäre - der Ausweg in das Weglose, die Verleugnung
jeder Besinnung?
Martin
Heidegger, Überlegungen, VII-XI, 1938/39,
in: Ders., Gesamtausgabe, Band 95, S. 140-141 |
Ausschließlich auf dem Boden der Metaphysik Nietzsches
und ohne jeden ursprünglichen metaphysischen Gedanken
hat im Beginn des 20. Jahrhunderts der Schriftsteller O. Spengler
eine »Bilanz« der abendländischen Geschichte aufgestellt
und den »Untergang des Abendlandes« verkündet.
Heute wie damals 1918, als das anspruchsvolle Buch dieses Titels
erschien, schnappen alle Gierigen nur nach dem Ergebnis dieser »Bilanz«,
ohne sich jemals darauf zu besinnen, auf welchen Grundvorstellungen
von der Geschichte diese billige, bei Nietzsche schon klar vorgerechnete
und gleichwohl anders und in anderen Dimensionen gedachte Untergangsbilanz
aufgemacht ist. Zwar hat die Zunft der ernsten Forscher dem Buch
»Unrichtigkeiten« nachgerechnet. Aus diesem Geschäft
ergab sich dann aber das Bemerkenswerte, daß seitdem die Historie
selbst sich mehr und mehr in den Hinsichten und Schemata des Spenglerschen
Geschichtsbildes bewegt, auch dort, wo sie natürlich »richtigere«
und »exaktere« Feststellungen macht. Nur einem Zeitalter,
das jede Möglichkeit denkender Besinnung schon preisgegeben
hatte, durfte ein Schriftsteller ein Werk anbieten, bei dessen Ausführung
ein glänzender Scharfsinn, eine riesige Belesenheit, eine starke
Begabung zum Typisieren, eine ungewöhnliche Anmaßlichkeit
des Urteils, eine seltene Oberflächlichkeit des Denkens und
eine durchgängie Brüchigkeit der Fundamente sich die Waage
halten. Bei der verwirrenden Halbwisserei und Flüchtigkeit
des Denkens entsteht dann die sonderbare Sachlage, daß dieselben
Menschen, die sich über den Vorrang der biologischen Denkweise
in der Metaphysik Nietzsches empören, bei den Untergangsperspektiven
des Spenglerschen Geschichtsbildes sich wohl fühlen, das überall
und nur auf eine grobschlächtige bilogische Deutung der Geschichte
gegründet ist.
Martin
Heidegger, Parmenides, 1942/43,
in: Ders., Gesamtausgabe, Band 54, S. 82-83 |
Neuzeitliches Meinen über die Geschichte spricht seit dem 19. Jahrhundert
gern von der »Sinngebung«. Man tut so, als ob der Mensch von sich
aus der Geschichte einen »Sinn« »verleihen« könnte,
als ob der Mensch überhaupt etwas auszuleihen hätte, als ob die Geschichte
erst einer solchen Beleihung bedürfte, was alles doch voraussetzt, daß
die Geschichte »an sich« und zunächst sinnlos sei und jedesmal
auf die »Sinngebung« durch den Menschen gefälligst warten müßte.
Was der Mensch im Verhältnis zur Geschichte vermag, ist, darauf zu achten
und darob in der Sorge zu sein, daß die Geschichte ihren Sinn dem Menschen
nicht verbirgt und versagt. Der Mensch hat aber den Sinn der Geschichte bereits
verloren, wenn er sich selbst, wie der Fall Spengler zeigt, der Möglichkeit
beraubt, auch nur darauf zu denken, was das überhaupt sei, was man in der
Eile der Aufstellung »historischer« »Bilanzen« mit dem
Wort »Sinn« belegt. Der »Sinn« ist die Wahrheit, darin
je das Seiende als ein solches ruht. Der »Sinn« der Geschichte aber
ist das Wesen der Wahrheit, darin jeweils das Wahre der Zeitalter der
Menschentümer gegründet bleibt. Was das Wesen des Wahren sei, erfahren
wir nur aus dem Wesen der Wahrheit, die je ein Wahres das Wahre sein
läßt, das es ist. Dem Wesen der Wahrheit versuchen wir hier und jetzt
in einigen Schritte nachzudenken.
Martin
Heidegger, Parmenides, 1942/43,
in: Ders., Gesamtausgabe, Band 54, S. 83 |
»Über-mensch« ist ein wesentlich metaphysisch-geschichtlicher
Begriff und bedeutet den in den Wesensbereich des Willens zur Macht
als der Wirklichkeit alles Wirklichen übergegangenen bisherigen
Menschen, der immer schon als animal rationale bestimmt worden ist.
Deshalb kann Nietzsche sagen, der noch nicht zum Über-menschen
gewordene Mensch sei das »noch nicht festgestellte Tier«,
d.h. das Tier, dessen Wesen noch nicht endgültig metaphysisch
entschieden ist. Gemäß dieser letzten metaphysischen
Bestimmung des Menschen schrieb O. Spengler in der viel gelesenen
Schrift »Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie
des Lebens«, 1931, S. 54: »Der Charakter des freien
Raubtieres ist in wesentlichen Zügen vom einzelnen auf das
organisierte Volk übergegangen, das Tier mit einer Seele
und vielen Händen.« Anmerkungsweise wird dem Satz
beigefügt: »Und mit einem Kopf, nicht mit vielen.«
Martin
Heidegger, Parmenides, 1942/43,
in: Ders., Gesamtausgabe, Band 54, S. 101 |
In unserer Frage handelt es sich nicht darum, ob die beiden Wesensformen
des Blickens, der begegnende und der erfassende, bekannt sind oder nicht, sondern
die Frage geht dahin, welches Blicken, ob der Blick der Anwesung oder der Blick
des Erfassens den wesenhaften Vorrang hat bei der Auslegung des Erscheinens,
und von woher dieser Rang bestimmt bleibt. Gemäß dem Vorrang der
Subjektivität im neuzeitlichen Menschentum ist hier das Blicken als Akt
des Subjekts entscheidend. Sofern nach Nietzsche der Mensch das als der Übermensch
festgestellte Tier ist, das im Willen zur Macht sein Wesen findet, ist der Blick
des Subjekts der Blick des rechnend vorgehenden, d.h. erobernden, überlistenden,
überfallenden Wesens. Der Blick des modernen Subjekts ist, wie Spengler
in der Nachfolge Nietzsches gesagt hat, der Raubtierblick: das Spähen.
Martin Heidegger,
Parmenides, 1942/43, in: Ders., Gesamtausgabe, Band
54, S. 159 |
Wenn wir aber schon von »untergegangenen« Völkern und vom
»untergegangenen« Griechentum reden, was wissen wir denn vom Wesen
des geschichtlichen Untergangs? Wie, wenn der Untergang des Griechentums jenes
Ereignis wäre, wodurch das anfängliche Wesen des Seins und der Wahrheit
in seine eigene Verborgenheit zurückgeborgen und damit erst zukünftig
wird? Wie, wenn »Untergang« nicht Ende, sondern Anfang sein müßte?
Jede griechische Tragödie sagt den Untergang. Jeder dieser Untergänge
ist ein Anfang und Aufgang des Wesenhaften. Wenn Spengler, ganz im Gefolge der
Metaphysik Nietzsches und diese überall noch vergröbernd und verflachend,
vom »Untergang des Abendlandes« redet, dann redet er nicht und nirgends
von der Geschichte. Denn er hat im voraus die Geschichte zu einem »biologischen
Prozeß« herabgewürdigt und aus der Geschichte ein Gewächshaus
von »Kulturen« gemacht, die pflanzenhaft gedeihen und verkümmern.
Spengler denkt, wenn er überhaupt denkt, die Geschichte geschichtslos.
Er versteht »Untergang« im Sinne des bloßen Zuendegehens,
d.h. als biologisch vorgestellte Verendung. Tiere »gehen unter«,
indem sie verenden. Geschichte geht unter, sofern sie in der Verborgenheit des
Anfangs zurückgeht -, d.h. sie geht, im Sinne der Verendung gedacht, deshalb
gerade nicht unter, weil sie so nie »untergehen« kann.
Wenn wir hier zur Aufhellung des daimonion das Wesen
des griechischen Göttertums andeuten, dann meinen wir nicht antiquarische
Sachen und nicht Gegenstände der Historie, sondern Geschichte. Es ist das
Ereignis der Wesensentscheidung des Wesens der Wahrheit, welches Ereignis stets
das Kommende ist und nie das Vergangene. Im Vergessen aber sind wir am härtesten
an das Vergangene verknechtet.
Martin
Heidegger, Parmenides, 1942/43,
in: Ders., Gesamtausgabe, Band 54, S. 167-168 |
Im Winter 1939 auf 1940 erläuterte ich in einem kleinen
Kreis von Universitätslehrern den »Arbeiter«. Man
staunte, daß ein so hellsichtiges Buch seit Jahren vorlag
und man selber noch nicht gelernt hatte, einmal den Versuch zu wagen,
den Blick auf die Gegenwart in der Optik des »Arbeiters«
sich bewegen zu lassen und planetraisch zu denken. Man spürte,
daß hierfür auch die universalhistorische Betrachtung
der Weltgeschichte nicht zureiche. Man las damals eifrig die »Marmorklippen«,
aber, wie mir schien, ohne den hinreichend weiten, d. h. planetarischen
Horizont. Man war aber auch nicht überrascht, daß ein
Versuch, den »Arbeiter« zu erläutern, überwacht
und schließlich unterbunden wurde. Denn es gehört zum
Wesen des Willens zur Macht, das Wirkliche, das er be-mächtigt,
nicht in der Wirklichkeit erscheinen zu lassen, als welche
er selber west. Sie erlauben mir, daß ich
eine Aufzeichnung aus dem genannten Erläuterungsversuch wiedergebe.
Es geschieht deshalb, weil ich hoffe, in diesem Brief einiges deutlicher
und freier sagen zu können. Diese Notiz
lautet:
»Ernst Jüngers Werk »Der
Arbeiter« hat Gewicht, weil es auf eine andere Art wie
Spengler, das leistet, was bisher alle Nietzsche-Literatur
nicht vermochte, nämlich eine Erfahrung des Seienden
und dessen, wie es ist, im Lichte von Nietzsches Entwurf des
Seienden als Wille zur Macht zu vermitteln. Freilich ist damit
Nietzsches Metaphysik keineswegs denkerisch begriffen, nicht
einmal die Wege dahin sind gewiesen; im Gegenteil: statt im
echten Sinne fragwürdig, wird die Metaphysik selbstverständlich
und scheinbar überflüssig.« |
Martin
Heidegger, Zur Seinsfrage (urspünglich: Über Die Linie - Festschrift für Ernst Jünger
zum 60. Geburtstag), 1955, in: Ders., Wegmarken, S. 390 |
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Jünger über Spengler und über Heidegger.
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Paris, 7. Oktober 1942. - Aus den Zeitungen:
»Ein Buch, das eine Auflage von einer Million erreicht, ist
in jedem Falle etwas Ungewöhnliches - ein ungewöhnliches
Ereignis in der geistigen Welt. - Man erkennt, daß hier eine
tiefe Notwendigkeit am Werke ist. Der Erfolg des Mythus
ist eines der Zeichen, an denen der verborgene Wille eines kommenden
Zeitalters abgelesen werden kann.« Also der weise Kastor im
»Völkischen Beobachter« vom 7. Oktober 1942 über
den »Mythus« von Rosenberg, die platteste Sammlung von
flüchtig abgeschriebenen Gemeinplätzen, die man sich denken
kann. Derselbe Kastor argumentierte an der gleichen Stelle vor nunmehr
fast zehn Jahren: »Ja, hat denn Herr Spengler nicht die Zeitungen
gelesen?« Also ein Philosoph, der einen anderen Philosophen
als Erkenntnisquelle auf die Zeitungen verweist, und das in Deutschland,
und zwar expressis verbis -, das dürfte doch so schlicht noch
nie zum Ausdruck gekommen sein. Und wohlgemerkt gilt dieser als
der erste in seinem Fache, als Überphilosoph heroischer Geschichtsauffassung
und ähnliches. Dies als kleines Beispiel für die Luft,
in der man lebt. - Leute wie dieser Kastor gehören übrigens
zum Typus der Trüffelschweine, dem man in jeder Revolution
begegnen wird. Da ihre groben Gesinnungsgenossen unfähig sind,
die exquisiten Gegner festzustellen, bedienen sie sich korrumpierter
Intelligenzen höheren Ranges, um sie herauszuschnüffeln
und sichtbar zu machen und dann womöglich auf eine Art zu attackieren,
die der Polizei Handhaben bieten kann. Jedesmal wenn ich merkte,
daß er sich mit mir beschäftigte, machte ich mich auf
eine Haussuchung gefaßt. Auch gegen Spengler rief er nach
der Polizei, und es gibt Eingeweihte, die behaupten, daß er
ihn auf dem Gewissen hat.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 144 |
Paris, 16. Oktober 1943. - Daß er mit dem rationalistisch
erworbenen Elan des Denkens in metaphyische Gebiete eilt. Das fiel
mir bereits an Spengler auf und zählt zu den günstigen
Vorzeichen. Summarisch gesprochen war das 19. Jahrhundert ein rationales,
während das 20. ein kultisches ist.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S, 332 |
Kirchhorst, 1. April 1945. - Wenn Spengler vor jedem
Eindringen nach Rußland aus Raumgründen warnte, so hatte
er, wie wir inzwischen gesehen haben, recht.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 489 |
Als Widerspruch zu diesem Optimismus ist nicht der Pessimismus
anzusehen. Die Katastrophe ist von pessimistischen, insbesondere
von kulturpessimistischen Strömungen umringt. Der Pessimismus
kann sich, wie bei Burckhardt, als Ekel äußern vor dem,
was man heraufkommen sieht - man wendet dann die Augen auf schönere,
wenngleich vergangene Bilder ab. Dann gibt es Umschwünge zum
Optimismus, wie etwa bei Bernanos - das Licht glänzt auf, wenn
es ganz dunkel geworden ist. Gerade die absolute Übermacht
des Feindes spricht gegen ihn. Endlich gibt es den Pessimismus,
der, obwohl wissend, daß das Niveau sich senkte, auch auf
der neuen Ebene Größe für möglich hält
und insbesondere der Beharrung, dem Halten des verlorenen Postens
den Preis erteilt. Darin liegt Spenglers Verdienst.
Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 8 |
Der große Einschnitt liegt darin, daß die Vernichtung
zunächst leidend empfunden wird. Das bringt oft eine letzte
Schönheit wie in den Wäldern der erste Frost, auch eine
Feinheit, die klassischen Zeiten nicht gegeben ist. Dann schlägt
das Thema um, zum Widerstande; es stellt sich die Frage, wie der
Mensch im Angesichte der Vernichtung, im nihilistischen Soge bestehen
kann. Das ist die Wendung, in der wir begriffen sind; es ist das
Anliegen unserer Literatur. Das läßt sich mit zahlreichen
Namen belegen - ... (genannt werden hier u.a.
die Namen Spengler und Benn; HB) .... Gemeinsam ist ihnen
allen das Experimentelle, das Provisorische der Haltung und die
Kenntnis der gefährlichen Lage, der großen Bedrohung;
das sind zwei Daten, die über Sprachen, Völker und Reiche
hinweg den Stil bestimmen - denn daß ein solcher bestehe und
nicht nur in der Technik lebe, darüber kann kein Zweifel sein.
Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 19 |
Wir können ... Oswald Spengler nicht zustimmen in seiner
Aufforderung an die neue Generation: sich der Technik statt der
Lyrik, der Marinie statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntnistheorie
zuzuwenden« - obwohl man gewiß vorm Sprung das Überflüssige
ablegen muß. Wir alle haben es, mehr oder weniger widerstrebend,
gemußt.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 407 |
Eine Ordnung der Menschheitsgeschichte unter Richtpunkten, die
außerhalb der Kultur- und Völkergeschichte liegen, also etwa
den astrologischen ähneln würden, scheint heute besonders schwierig,
auch abgesehen von dem großen Anfall an Tatsachen. Dieser besteht
nicht nur darin, daß sich, vor allem durch die Ausbildung der Archäologie,
unsere Kenntnis der Frühgeschichte erweitert hat und noch fortwährend
ausdehnt, so daß nicht nur neues Licht auf die uns bekannten Kulturen
fällt, sondern auch ganz unbekannte auftauchen. Dazu kommt der erstaunliche
Einblick in die Vorgeschichte, der nicht nur ein neues Feld, sondern eine
neue Dimension erschließt. Je mehr Tatsachen anfallen, desto entschiedener
muß der Geist auf seinem Herrschaftsanspruch, auf Ordnung und Benennung,
bestehen. Vielleicht ist bereits der Andrang von Tatsachen ein Symptom
der Schwächung, ein hellenistischer Zug. Der Geist wird zum Museumsdirektor,
zum Kustos unkontrollierbarer Sammlungen. Bereits aus diesem Grunde ist
Spenglers System mit seiner Einteilung in acht Kulturen dem Toynbees vorzuziehen,
das sich auf deren einundzwanzig stützt. Auch diese Zahl könnte
durch archäologische Ergebnisse und feinere Einteilung vermehrt werden.
Es bleibt aber richtig, daß der Geist der Forschung die Aufträge
erteilt, nicht umgekehrt. Tatsachen schaffen Belege, nicht Wahrheiten.
Wo geforscht wird, wurde das Feld bereits durch geistige Vetos und Placets
abgesteckt. Was gefunden wird, ist daher nicht zufällig.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke,
2. Abteilung, Band 8, S. 453 |
Spengler bezeichnet seine morphologische Geschichtslehre als »kopernikanische
Entdeckung« im Reich der Geschichte. Dem läßt sich zustimmen,
was ihren Rang, nicht aber, was die Qualität betrifft. Hinsichtlich
dieser ist Spenglers Auffassung anderen Systemen, wie dem tychonischen
näher verwandt. Vor allem fehlt ihm die Unendlichkeit des kopernikanischen
Raumes, den der Lichtstrahl geradlinig, ohne eine Grenze zu finden, durchfliegt.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke,
2. Abteilung, Band 8, S. 453-454 |
Spenglers Verdienst liegt darin, daß
er den großen Gedanken der Entwicklung, wie Herder und Goethe
sie verstanden, auf sein Geschichtsbild anwendet, und das zu einem
Zeitpunkt, an dem dieser Gedanke durch Mißverständnis
und Verflachung der Hegelschen Geschichtsphilosophie nicht nur im
historischen Selbstbewußtsein der Gebildeten, sondern bis
in die politische Praxis hinein zu einer Art von optimistischem
Religionsersatz vereinfacht worden war. Demgegenüber ist Spenglers
Geschichtsbild, vor allem hinsichtlich der Kulturprognose, mit Recht
pessimistisch. Es führt von der Vorstellung der linearen und
eo ipso aufsteigenden Entwicklung zu zyklischen Konfigurationen
zurück. Dadurch übt es großen und wachsenden Einfluß
aus. Daß auch dieses Geschichtsbild letzthin
nicht befriedigt, berührt eine der Schattenseiten seiner Vorzüge.
Es ist ein organisches Geschichtsbild: die Kulturen werden in ihm
gezeichnet als mächtige Bäume; ihr Leben wird verfolgt
vom unbewußten Keim bis zur bewußten Reife und zum Tode,
den ein langes Absterben einleitet. Sie sind nicht weiter ausdeutbare
Urbilder. Sie haben »keine Fenster«, wie Leibniz von
der Monade sagt. Im Anblick endet die Frage nach dem Warum. Wir
fragen auch nicht, warum ein Baum an einer bestimmten Stelle wächst
und alt wird und warum dieser Baum gerade ein Ahorn oder eine Linde
ist, obwohl zwischen Art und Standort Relationen in Menge bestehen.
Zuweilen verstärkt sich dieser Eindruck,
wie beim Gang über eine Wiese, auf der Pilze in großen
Individuen oder auch in Ringen aufwachsen und über Nacht vergehen.
Der Anblick läßt fragen: Was war der Anflug, wo kommen
die Sporen her? Die Weltgeschichte wird so zu
einer Reihe von Auftritten, die einander nach unerklärlichem
Belieben folgen und ohne inneren Zusammenhang. Das Verbindende liegt
in der Periodizität der Abläufe und ihrer morphologischen
Ähnlichkeit, die der physiognomische Blick erfaßt. Da
wird auch Bedeutendes und Überraschendes gesehen, und zwar
in einer Fülle, die sogleich verrät, daß es sich
weniger um neue Funde handelt als um eine neue Optik, einen neuen
Blick.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 454-455 |
Wenn Spengler in der Einleitung zu seinem Hauptwerk sagt:
»Das Mittel, lebendige Formen zu erkennen, ist die Analogie«,
so rührt er damit das Wesen der physiognomischen Methodik an.
Durch den Analogieschluß läßt sich in der Tat viel
erreichen, unter anderem die Erfassung und Ordnung historischer
Figuren unter der bloßen Oberflächenähnlichkeit
der zeitlichen Gewänder und ferner die Einsicht in noch bevorstehende
Abläufe aus der Kenntnis der Periodizität heraus: als
Voraussage. Hier gewinnt der physiognomische Instinkt des Hinzutretenden
prophetische Kraft. Nun aber gehört es zu
den Eigentümlichkeiten des menschlichen Geistes, daß
ihn die Anordnung und Anreihung des Ähnlichen zwar stark beschäftigt,
doch nicht befriedigt, solange die Frage nach der Quelle der Vergleiche
und nach der gemeinsamen Komposition der Akte und Auftritte des
großen Schauspiels offen bleibt. Die reine Vergleichung schafft
Relationen, nicht Maßstäbe. Es bleibt die Frage nach
der inneren Einheit der mannigfaltigen Erscheinungen und Abläufe
über die Ähnlichkeit hinaus. Die Ähnlichkeit ist
ja nicht nur ein unerschöpfliches Feld der Deutung, sondern
weist auch auf unerschöpfliche Bedeutung hin, auf Schöpfung
selbst.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 455 |
Dieser zweiten Frage versagt sich Spengler; wir suchen vergebens
eine Antwort bei ihm. So gleicht seine Morphologie der Weltgeschichte
einem vorzüglichen Gruppenbild von acht Brüdern, die sowohl
untereinander verschieden als einander ähnlich sind. Dürfte
man noch den Vater kennen oder auch nur auf ihn schließen,
so hätte man das innere Band. Die Frage
nach dem Weltplan oder dem Weltsinn, sei er göttlicher, sittlicher
oder materieller Natur, wird also von Spengler nicht beantwortet.
Seine Morphologie gleicht einem Palast, dem das oberste Stockwerk
fehlt. Das nimmt ihr nichts von ihrer morphologischen Größe,
führt aber nicht aus dem Vergleichbaren ins Unvergleichliche
hinaus. Von dort, so vermuten wir, kommen die Aufträge.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 455-456 |
Das Wort »Weltplan« wird von Spengler in Anführungszeichen
gesetzt. Er wirft den Philosophen vor, daß sie als dessen
Urheber »Gott bemühen«. Trotzdem bleibt der Weltplan
der große Gedanke, der Herders Geschichtsbild sinnvoll zusammenhält.
Das gleiche gilt für Hegels Deutung der Geschichte als der
Selbstentfaltung des Weltgeistes. In solchen
Konzeptionen liegt mehr als die Befriedigung der betrachtenden Vernunft
durch letzte Siegel - sie besitzen einen weisenden, fordernden Zug,
der sie mit dem Verhalten des Menschen sinnvoll verknüpft,
ihm Bahn und Richtung gibt. Diese Überlegenheit
ist an Hegels System zu verfolgen bis zu den materialistischen Schulen,
die sich von ihm abzweigen. Das ist einer der Gründe, aus denen
der materialistische Optimismus sich im politischen Machtkampf den
Kräften gegenüber durchsetzt, die ihr theoretisches Rüstzeug
aus biologischen Vorstellungen beziehen. Eines festen Punktes, wie
Archimedes, bedarf auch der, der die politische Welt aus den Angeln
heben will, und diese Voraussetzung kündet sich bereits in
den Denkstilen an.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 456-457 |
Die Astrologie gibt das Muster einer Methodik, die das Leben
mit größeren Abläufen verknüpft. Sie greift
weit über die biologisch-historische Erfassung sowohl der Einzelnen
als auch der Kulturen hinaus. Ihre Vorstellung, ihr Symbol, das
Horoskop, ist zyklisch, und da es sich auf den größten
und ältesten Umlauf bezieht, den wir kennen, genügt ihr
eine einzige und unveränderliche Uhr zur Ablesung dessen, »was
die Stunde geschlagen hat«. Dieser Zyklus setzt dem Astrologen
zugleich die meßbare astronomische und die zu deutende Schicksalszeit.
Logos und Nomos werden in Beziehung gesetzt, ja ausgetauscht, und
schmelzen für den deutenden Blick ineinander ein.
Die Zuversicht auf Wiederkehr bestätigt das Sein und auch die
Sicherheit in ihm ganz anders als das Bild der endlosen, sei es
auch aufsteigenden, Bahn. Sie läßt vermuten, daß
andere Maße, andere Pläne als die der menschlichen Berechnung
mitbestimmen, mitwirken und daß sich der menschliche Plan
in einem größeren Rahmen bewegt. Das ist besonders wichtig
in Zeiten, in denen die Bewegung uferlos und höchst gefährlich
zu werden scheint. Auch darin liegt ein Hinweis auf die wachsende
Anziehungskraft der Sterndeutung. Eine nicht
näher zu berührende Frage ist die nach den Mächten,
die die Deutung bestimmen oder von denen der Deuter bestimmt zu
werden glaubt. Gleichviel ob er Gesetze oder prägende Mächte
aus der Umdrehung des Schicksalsrades zu erraten meint - sein Blick
richtet sich auf eine zwar verschleierte, doch ohne Zweifel wirksame
Welt. Das ist erstaunlich in einer Zeit, in der die Theologie in
immer größerem Umfang sich der reinen Ethik zuzuwenden
beginnt. Noch erstaunlicher ist der Umstand, daß es sich nicht
um wie Schnee in der Sonne der praktischen Vernunft dahinschmelzende
Reste, um »Tibetanisches«, handelt, sondern um Auswachsendes.
An das Erscheinen, nicht an die Erscheinung dieser
Bewegung knüpft sich die Untersuchung an, also an ihren Standort,
der selbst ein sich regender ist, wie ein Grund, der aus der Tiefsee
sich in die Höhe wölbt. Demgegenüber ist unbedeutend,
was auf ihm wächst. Mißverständnissen läßt
sich dabei nicht ausweichen. Der eigentliche
Wert einer solchen Bewegung, einer solchen Beunruhigung liegt nicht
darin, daß sie »stimmt«. Er liegt vielmehr darin,
daß Geisteskräfte ins Treffen geführt werden, die
lange brachgelegen haben, ja weithin verkümmert sind und deren
Absterben den Planeten zu veröden droht.
Darin, und nicht in der physischen Bedrohung, die sekundär
ist, oft sogar heilsam, liegt die Gefahr. Zu
den Verdiensten Spenglers gehört, daß er eine Generation
vom Vorurteil der Einmaligkeit, der Einzigartigkeit ihrer historischen
Erscheinung und ihrer historischen Lage befreit hat, von jener Vorstellung
des Niedagewesenen, wie sie besonders mit der Entwicklung der Technik
und ihren überraschenden Phänomenen verbunden war.
Insofern verrät sein vergleichender Blick, etwa auf ein Fußballstadion
von 1914 oder die Feststellung, daß es sich bei dem Weltkrieg
nicht um eine der üblichen Auseinandersetzungen zwischen Völkern
handelte, sondern um den Typus einer Zeitwende, die seit Jahrhunderten
ihren vorbestimmten Platz hatte, eine Lagebeurteilung, die dem bloßen
Wechsel der Prospekte innerhalb des historischen Bewußtseins
weit überlegen ist. Das war von besonderer Wirkung zu einem
Zeitpunkt, da seit langem die philosophische, vor allem die erkenntniskritische,
Disziplin aus den Einzelwissenschaften geschwunden war, gewichen
der Überschätzung empirischer Abläufe und experimenteller
Phänomene - von theologischen Erwägungen ganz abgesehen.
In dieser Hinsicht bleibt unumstößlich Prediger 1, Vers
9, 10.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 457-459 |
Spenglers Geschichtsbild wurde vor dem Ersten Weltkrieg
konzipiert. Inzwischen haben Beschleunigung und Anfall von Tatsachen
sich weiterhin gesteigert, und das in einem Maße, das den
Strom der Zeit und ihres Geschehens zuweilen als Katarakt erscheinen
läßt, der die Schiffe weniger trägt als mitreißt
und bedroht. Die Weisheit des Ben Akiba, daß
alles schon dagewesen sei, wird durch die Ereignisse und Gebilde,
die sich vorstellen, auf das härteste erprobt. Damit erhöht
sich die Verantwortung des betrachtenden und ordnenden Geistes und
seiner Lagebeurteilung. Es wirft sich, unter anderem, die Frage
auf, ob es sich überhaupt noch um ein Geschehen handelt, das
durch historische Betrachtung und aus historischer Erfahrung heraus
beurteilt werden kann. Auch dann wäre das Wort Ben Akibas nicht
hinfällig. Es müßte aber außerhalb der Geschichte
belegt werden: Wir würden dann Dinge wiederholen, für
die der historische Vorgang fehlt. Immerhin war
es eine gute Feststellung, daß wir nicht »im Zeitalter
der Punischen Kriege«, wie viele glaubten, sondern in dem
der Schlacht von Actium stehen, und ein politisches Genie, das mit
zwingender Schärfe die Konsequenzen durchdacht hätte,
würde uns wahrscheinlich viel Unangenehmes, und vor allem Umwege,
erspart haben. »Ab 2000« würden
wir demnach in einem weltfriedlichen Zeitalter mit Riesenstädten,
hellenistischen Kunstwerken und machtvoll perfektionierter Technik
stehen. Zum ersten Male wäre der Erdball in einer Hand; es
gäbe keine »Ränder« im alten Sinne mehr. Die
Parther dieses Imperiums würden an anderen, nur vermutbaren,
Orten auftauchen. Schon Nietzsche sieht den Weltstaat und dann seinen
Verfall voraus. Es kann nicht anders sein. Denn alles, was entsteht,
// Ist wert, daß es zugrunde geht. Daher sind den Auskünften,
die die reine Geschichtsbetrachtung gewähren kann, Grenzen
gesetzt.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 459-460 |
Spengler hat ohne Zweifel einen Turnus erfaßt, obwohl,
wie gesagt, sein pluralistisches Bild in letzter Instanz nicht befriedigen
kann. Es war daher vorauszusehen, daß es an Versuchen nicht
fehlen würde, die Einheit der Weltgeschichte in der Betrachtung
wiederherzustellen. Das wird der Geschichtschreibung aus eigenen
Mitteln nicht möglich sein, wie es ihr auch niemals möglich
gewesen ist. Sie muß dazu einen außerhalb der Geschichtswelt
gelegenen archimedischen Punkt finden, sei es in der Theologie,
sei es in der Metaphysik, sei es in der Materie.
Der morphologischen Feststellung, die auch in unserem Zeitalter
Wiederkehrendes erblickt, kann nur mit Einschränkung zugestimmt
werden - insofern nämlich als, falls es sich um Wiederkehrendes
handelt, der Turnus der historischen Zyklen dafür zu kurz ist
und somit unsere geschichtliche Erfahrung zum Wiedererkennen nicht
genügt. Es ist freilich immer gut und zeugt
für geistigen Abstand, wenn man sich angesichts des Anfalls
von Aktualitäten mit dem »Nil admirari« des Horaz
oder dem »Alles ist dagewesen« des Ben Akiba rüstet,
obwohl zugegeben werden muß, daß dieser Anfall, schon
quantitativ gesehen, enorm ist, sowohl was die Masse als auch was
den Schauplatz der Ereignisse betrifft. Dazu kommt ihre Beschleunigung
in einer geometrischen Progression, die, wie der Sog eines Kataraktes,
seit über hundertfünfzig Jahren die Ereignisse immer schneller,
immer zwingender einander folgen läßt.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 460 |
Noch beunruhigender wirkt die Feststellung, daß dieser
Anfall von Tatsachen ohne Zweifel auch eine qualitative Färbung
besitzt. Die Dinge werden befremdend in einem Maße, für
das der Vorgang fehlt. Das Wort »beunruhigend« ist hier
nicht im gängigen Sinne gemeint; es muß zunächst
von der Gefahr abstrahiert werden. Erst wo das gelingt, kann Stichfestes
zur Zeit gesagt werden. Die Furcht vernebelt die Kontur. Auch Faszinierendes
ist beunruhigend. Daß weite Gebiete durch
Kriege verheert, entvölkert oder von Unholden beherrscht werden,
ist kein historisches Novum, und auch die Mittel, deren man sich
dazu bedient, kann man als akzidentell ansehen. Tamerlan dürfte
so leicht nicht zu überbieten sein. Die Wirkungen des Dreißigjährigen
Krieges auf die betroffenen Völker und ihre Kultur waren verhängnisvoller
als die beider Weltkriege, während deren die Vermehrung der
Erdbevölkerung sich fortsetzte und die Kapazität der zivilisatorischen
Mittel und Methoden sich sprunghaft steigerte. Dieser Unterschied
ist nicht zufällig. Beunruhigend im Sinne
des Erstaunlichen und »Eintretenden« sind andere Wahrnehmungen,
wie etwa, um ein Beispiel zu nennen, jene, daß sich die Spezies
sowohl an sich als auch im Verhältnis der Geschlechter offensichtlich
zu verändern beginnt, und das in einer Weise, für die
es weder im historischen Nacheinander noch im ethnographischen Nebeneinander
Vorgänge gibt. Das deutet auf Veränderungen, die im Turnus
nicht zu belegen sind, falls sie sich nicht auf Kreisläufen
abzeichnen, deren Bewegungen langfristiger als die der Kulturen
oder überhaupt der Geschichtszeit sind.
Dem widerspricht nicht, daß auch der von Spengler aufgezeigte
Turnus »stimmen« kann. Es bleibt aber evident, daß
über die Möglichkeit des morphologischen Vergleichens
und Wiedererkennens hinaus neuartige Elemente eintreten. Das läßt
vermuten, daß zugleich mit dem historischen Turnus eine Spanne
abgelaufen ist, die seinen Maßstab übergreift.
Man kann sich das durch Zahlen veranschaulichen: Zugleich mit einem
Jahrzehnt kann ein Jahrtausend, ein Jahrzehntausend oder ein noch
größerer Turnus abgelaufen sein. Will man es räumlich
sehen, so kann man sich vorstellen, daß ein Grenzbewohner
mit einem Schritte sowohl aus seinem Zimmer wie aus seinem Hause
und sogar aus seinem Lande heraustreten kann. Wir geben uns über
solche Verhältnisse meist wenig Rechenschaft. Wir können
die Wirbel eines Tieres durchzählen, ohne wahrzunehmen, daß
sie hier einen Teil des Kopf - und dort des Rücken- oder Schwanzskeletts
ausmachen. Je mechanischer wir zählen, desto weniger bemerken
wir Übergänge dieser Art. Ähnlich verhält es
sich mit dem Wechsel der Schicksalszeit unterhalb der Chronologie.
Wir zählen weiter, ohne zu bemerken, daß sich nicht nur
die Zahl, sondern auch das Wesen der Jahre verändert hat. Sie
folgen sich, aber sie gleichen sich nicht mehr.
Haben wir das Gefühl, in einer Spätzeit zu stehen? Das
ist wohl vorbei; es war um 1900 stärker ausgeprägt. Es
gibt nur noch wenige Orte auf der Welt, an denen man sich den Luxus
der decadence leisten kann. Heut heißt es: »Friß,
Vogel, oder stirb«. Der ungeheure Zug,
den wir erleiden, kann nicht allein aus schärferer Durchdenkung
der Welt entspringen; er treibt andere Symptome hervor als der cäsarische
Altersstil. Nach dieser Theorie müßten die Söldnerheere
zunehmen; ihr widerspricht die Totale Mobilmachung. Der Gebildete
würde sich durch einen ganz anderen Abstand von den Dingen
auszeichnen, durch geistige Gelassenheit, sei es im Sinn der Stoa
oder Epikurs. Die Machtfragen würden weniger mit Moralfragen
verquickt werden, und umgekehrt. Im allgemeinen würde man angenehmer
leben, wie fast immer in Spät- und Verfallszeiten.
Von solcher Herbst- und Abendstimmung ist wenig zu bemerken - die
Jahre fordern sowohl den Pessimismus wie den Optimismus stärker
heraus. Auf der einen Seite werden sie nicht als Spät-, sondern
als Endzeit gesehen, auf der anderen mit einem Jubel, einem Opfermut
begrüßt, der nicht zu erklären, geschweige denn
zu widerlegen ist. Beides zusammen deutete auf eine ungewöhnliche
Zäsur.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 461-463 |
Sollte etwa der Einschnitt, der so offensichtlich unsere
Jahre zeichnet, nicht nur zwei Epochen menschlicher Geschichte trennen,
sondern zugleich sowohl den Ablauf als auch den Beginn eines größeren
Zyklus ankünden? Das würde bedeuten, daß selbst
zur Erfassung grober Fakten die Mittel der Geschichtsbetrachtung
nicht ausreichen. Das würde bereits der Fall sein, wenn es
sich um einen verhältnismäßig kleinen Zyklus, etwa
von zehn- oder zwanzigtausend Jahren, handelte. Ein solcher Zyklus
ist winzig, verglichen etwa mit einem indischen Götterjahr
oder auch mit den Abläufen, die unsere Astronomie, Geologie
oder Paläontologie berücksichtigen.
Ferner: Gab es immer, solange Menschen auf der Welt sind, Weltgeschichte
in unserem Sinn? Ohne Zweifel nicht, da wir von Vor- und Urgeschichte
sprechen, die wir entweder aus unserer Geschichtsbetrachtung ausklammern
oder als Vorsaal in sie einbeziehen. Eine Person, eine Begebenheit
muß ganz bestimmte Eigenschaften aufweisen, um »geschichtlich«
zu sein. Dazu gehört sowohl die geschichtsbildende Kraft als
auch die Fähigkeit, Gegenstand der Geschichtschreibung und
des in ihr waltenden Eros, Objekt der historischen Anschauung zu
sein. Diese heftet sich an bestimmte, nicht an beliebige Zeiten
und Vorgänge. Das war nicht immer der Fall. Wir nennen Herodot
den »Vater der Geschichtschreibung«. In der Tat bietet
er eine ungewöhnliche Lektüre; man durchwandert seine
Bücher wie ein von der Morgenröte bestrahltes Land. or
ihm war etwas anderes, war mythische Nacht. Diese Nacht war aber
nicht dunkel, sondern eher Traum und kannte eine andere Verknüpfung
der Menschen und Ereignisse als das historische Bewußtsein
und seine sondernde Kraft. Das bringt die Morgenröte in Herodots
Werk. Er steht auf dem Grat eines Gebirges, dasTag und Nacht trennt:
nicht nur zwei Zeiten, sondern zwei Zeitarten, zwei Arten von Licht.
Ein wenig später, schon bei Thukydides, ist die Morgenröte
verblaßt. Auf Menschen und Dinge fällt das klare Licht
historischen Wissens, historischer Wissenschaft. Es fragt sich nun:
Hat auch dieses Licht seine Zeit? Stehen wir in einer ähnlichen
Wende wie Herodot oder in einer noch bedeutsameren? Sind die Ereignisse,
die sich darbieten, nicht mehr auf jene Art verknüpft, die
wir gewöhnt sind, Geschichte zu nennen, sondern auf eine andere,
die wir noch nicht benannt haben? .... Aus der
Welt verschwindet mit den historischen Bindungen und Landschaften
auch das Verhalten, das sich nach geschichtlichen Vorbildern beurteilen
und prognostizieren läßt. Daher beginnen auch Wörter
trügerisch zu werden, die zum eisernen Bestand des geschichtlichen
Handelns und der Verträge gehörten, wie »Krieg«
und »Frieden«, »Volk«, »Staat«,
»Familie«, »Freiheit«, »Recht«.
- In dieser babylonischen Verwirrung sucht die Geschichtschreibung
Anleihen zumachen, sei es bei der Theologie, der Mythologie und
Dämonologie, sei es bei der Psychologie und Moral, oder sei
es einfach bei der Politik. In der Tat kann man kaum noch ein Buch
zur Zeitgeschichte aufschlagen, bei dem nicht sein politischer Standort,
und damit mehr Absicht als Ansicht, sogleich durchleuchtet. Es muß
aber dem, der wissen will, was vorgeht, mehr an einer Typologie
unserer Welt und ihrer Vorgänge als an ihrer polemischen Beleuchtung
gelegen sein. Die groben Einbrüche, die an vielen Stellen die
Geschichtslandschaften in elementare verwandeln, verhüllen
Veränderungen feinerer, aber durchdringenderer Art. Bedenklicher
ist, daß sich der Mensch in seinem Wesen, als Wesen, zu verändern
beginnt. Es tritt etwas Neues und Fremdartiges in ihn ein, und zwar
generell, über Nationen, Rassen und Bildungsstufen hinweg,
auf planetarische Art. Diese Veränderungen sind unsichtbarer
als die der Technik, obwohl sie mit ihr zusammenhängen, und
sind ursächlicher. .... Von Jahr zu Jahr
wird beklemmender, mächtiger spürbar, daß Dinge
im Werden sind, vor denen auch Ben Akiba erstaunen würde
eben deshalb, weil sie im Geschichtlichen nicht unterzubringen sind.
Das eben bezeugt auch die Tatsache der astrologischen Beunruhigung,
von der wir ausgegangen sind. Daß Millionen ihr Horoskop verfolgen,
mag als Faktum unwichtig sein. Das ändert wenig oder nichts.
Höchst aufschlußreich dagegen ist es als Symptom. Wenn
wir annehmen, daß wir uns am Abschluß eines Zyklus befinden,
der die Geschichte, ja vielleicht die menschliche Existenz auf dieser
Erde übergreift und daß bereits ein neuer Zeitgroßraum
auf den Menschen einwirkt, so dürfen wir folgern, daß
Erscheinungen eintreten werden oder bereits eingetreten sind, wie
sie geschichtlich oder selbst anthropologisch noch nicht fixiert
wurden. Da Erdgeschichte aber die Menschengeschichte weit überdauert,
könnte aus ihr als einer umfassenden Kategorie vielleicht Vergleichbares
geschöpft werden. Dabei ergibt sich eine nur anzudeutende Schwierigkeit.
Es wiederholt sich die Lage des Herodot mit umgekehrten Vorzeichen.
Herodot blickte aus dem historischen Raum, den er soeben betreten
hatte, auf den mythischen zurück. Er tat es mit Scheu. Die
gleiche Scheu ist heute dort geboten, wo sich jenseits der Zeitmauer
Zukünftiges abzeichnet. In jeder Benennung schlummert Gefahr.
Wo Herodot sich, etwa während seiner Reise nach Ägypten,
in die Mysterien, die noch überall begangen wurden, einweihen
ließ, erwähnt er die Tatsache, aber verschweigt, was
er erfahren hat. Das Mythische ist eine Macht für ihn, die
sich in die Heiligtümer zurückgezogen hat, doch deren
Grenzen zu beachten sind. Übrigens setzt sich dieses Verhältnis,
wenn nicht in der späteren Geschichtschreibung, so doch in
der Geschichte fort. Die Bilder, Personen, Ereignisse im Geschichtsfeld
sind immer in Gefahr, vom Mythos angestrahlt und überwältigt
zu werden, und das gerade in Augenblicken, in denen das Historische
zu kulminieren scheint. Eine der großen Anstrengungen der
nachherodotischen, also der abendländischen Kultur im weiteren
(nicht im Spenglerschen) Sinne besteht daher in der Wahrung ihrer
geschichtlichen Struktur, sei es der des Staates, des Denkens oder
der Person und ihres Freiheitsanspruchs, gegen den Angriff mythischer
Mächte und ihrer Wiederkehr. Das, und nicht der Kampf zwischen
Nationen und Wirtschaftsformen, gehört zur wesentlichen Erfassung
des Abschnittes, der hinter uns liegt. Von Geschichtswahrung, von
Geschichtsbewußtsein überhaupt in diesem Sinne, kann
nur in ihm die Rede sein. Diese Geschichtswahrung
ist das große Thema der abendländischen Kultur. Das unterscheidet
sie von allen anderen. Ihr gegenüber wird die Streitfrage,
ob Geschichte als Staaten- und Kriegs- oder als Kulturgeschichte
im engeren Sinn behandelt werden sollte, zweiten Ranges das
Wesentliche ist die Wahrung eines eigentümlichen Nomos, eines
So-Seins, das sich in der Kultur bestätigt, im Kampf verteidigt
wird.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 465-469 |
Wenn wir nun das Erzene Zeitalter des Hesiod auf unsere
Bronzezeit bezogen, so liegt die Frage nahe, ob nicht auch für
das Goldene Zeitalter ein ähnlicher Bezug zu finden sei? Ihm,
als der frühesten Epoche des Hesiod, böte sich dann die
älteste der wissenschaftlichen Vorstellungen, die Steinzeit,
an. In der Tat wurde das Goldene Zeitalter, wie der geschichtliche
Mensch es zu erkennen glaubte, gern dort vermutet, wo steinzeitliche
Kulturen bis auf unsere Tage erhalten geblieben sind. Der Einfluß,
den die Südseereisen Cooks und Forsters auf die französische
Revolution und ihr Menschenbild ausgeübt haben, ist bekannt.
Die Gleichzeitigkeit ist hier ebensowenig zufällig wie die
Tatsache, daß aus der Welt der Südseevölker grundlegende
Begriffe in die Psychologie übergegangen, oder wie jene andere,
daß die uralten Höhlen des Steinzeitmenschen gerade in
unseren Tagen sichtbar geworden sind. Solchen Funden und solcher
Art der Sichtbarwerdung geht anderes voran. Steinzeit:
das ist nicht nur ein zeitlicher, sondern auch ein morphologischer
Begriff. Steinzeit ist gegenwärtig, und zwar nicht nur ethnographisch,
sondern auch individuell. Wenn Spengler daher sagte, daß man
»den Neandertaler« in jeder Volksversammlung trifft,
so war das eine richtige Feststellung. Ärgerlich daran ist
nur der polemische Bezug, der beiden Parteien unrecht tut. Verglichen
mit der unseren war die Steinzeit wahrscheinlich ein Goldenes Zeitalter.
Vermutlich konnte man sich unendlich glücklicher fühlen,
auch sicherer. Es gab weder Polis noch Politik. Das räumen
selbst Autoren ein, die dem »Primitiven« gegenüber
ein zivilisatorisches Grauen hegen, wie es der Reisende des 18.
Jahrhunderts und noch Darwin gegenüber dem Feuerländer
empfand. So sagt der Epikuräer Lucretius Carus in seinem Lehrgedicht
über die Natur der Dinge, nachdem er ein düsteres Bild
der Schutzlosigkeit des frühen Menschen gegenüber den
Elementen und den reißenden Tieren entworfen hat: »Aber
Tausende führte noch nicht ein Tag zum Verderben // Unter den
Fahnen dahin; es wurden Männer und Schiffe // Nicht, von den
stürmenden Wogen zerschellt, an Klippen geschleudert, // Denn
die verderbliche Kunst der Schiffahrt war noch verborgen.«
Die Stelle ist auch deshalb bemerkenswert, weil sie bereits den
Unfall in Rechnung zieht.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 487-488 |
Der Mechanismus des Unterganges wird verschieden
gesehen es ist viel Temperamentssache dabei. Die Neptunisten
haben andere Vorstellungen als die Plutonisten; im Ergebnis ist
kein großer Unterschied. Die Unterhöhlung, etwa durch
Auslaugung oder Auswaschung, kann lange unbemerkt bleiben. Wenn
sie genug gewirkt hat, kommt es zum Einsturz, zur Katastrophe von
tektonischer Gewalt. Nun sucht man die Schuldigen und hält
sich an Strohmänner. Die Untergangsvorstellungen
anläßlich des Erscheinens des Halleyschen Kometen, 1910
.... Der Schock, den zwei Jahre später der Untergang der »Titanic«
hervorrief .... Um diese Zeit muß Spengler den Satz konzipiert
haben: »Der Untergang des Abendlandes ist nichts Geringeres
als das Problem der Zivilisation.« Seitdem hat sich die Bedrohung
durch die technische Katastrophe immer enger dem Bewußtsein
der Völker und der Einzelnen verknüpft. Ununterbrochen
ist die Zahl der Opfer angewachsen, die so gebracht werden. Auch
kollektive Vorgänge wie Kriege, Bürgerkriege und Großexperimente
nehmen die Form der technischen Katastrophen an. Da liegt es nahe,
daß auch der Weltuntergang in dieser Form begriffen wird.
.... Die grauenvollste Aussicht ist die der Technokratie,
einer kontrollierten Herrschaft, die durch verstümmelte und
verstümmelnde Geister ausgeübt wird.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 525-526 und 528 |
Die Welt wird von Uhren erfüllt, wird selbst zum Uhrwerk;
die Zeit wird kostbarer und unerträglicher. All diese Uhren
zählen und messen, aber sie sind auch, wie die Furcht vermutet,
auf eine Stunde gestellt. Die Technik ist in
diesem Sinne Umstand, Kulisse, ist, nach dem Ausdruck von Martin
Heidegger, Gestell. Ihre ökonomische, lokomotorische und ihre
Machtseite ist ohne innere Bedeutung für den Menschen; ihre
eigentliche Aufgabe ist einweisend und hinleitend. Dazu rechnet
auch die Zerstörung, die man ihr vorwirft, die Verflachung,
das Entleerende. Es hängt eng mit der Monotonie zusammen, jedoch
im Sinne einer Umgruppierung, eines Schwundes, dem nachzuforschen
ist. Der Raum wird ohne Zweifel leerer, unfreundlicher zugleich
verstärkt sich das Pochen an der Tür.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 539 |
Die Verfeinerung von Darwins Anschauung, der Einbau von
neuen Elementen in ihr Gerüst, betrifft im wesentlichen nicht
den Stammbaum als solchen, sondern seine Verzweigung und ihren Periodus.
Hier wirkt offenbar ein ähnlicher Wechsel der Auffassung wie
jener, der Spenglers Geschichtsbild zugrunde liegt. Er betrifft
weniger die Inhalte als den Wandel ihrer Abläufe. Hier wie
dort fällt die Anwendung von Vergleichen auf, die dem vegetativen
Leben entnommen sind. Die Pflanze folgt sichtbarer den kosmischen
Bewegungen, hat feinere Organe für ihre Abläufe als Mensch
und Tier. Fechner hat das vorzüglich beobachtet.
Daß dieser Wechsel der Anschauung sich alten Universaltheorien
zu nähern scheint, geschichtsphilosophisch Herderschen, zoologisch
Cuvierschen Auffassungen, ist nicht als Rücklauf zu betrachten,
sondern gehört zu den Erscheinungen des Spiralganges, der das
Fortschreiten des menschlichen Denkens kennzeichnet. Die großen
Ideen wiederholen sich in stets erneuter Abwandlung und folgen damit
einem Grundprinzip der organischen Bildung überhaupt, wie denn
auch Einzelorgane, etwa Flossen und Flügel, aus den verschiedensten
Stämmen immer wieder hervortreiben.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 588 |
Die verändernde Macht kann unter, mit oder über
der Intelligenz angreifen. Offenbar aber geht sie, wie der Strom
durch einen Transformator, durch sie hindurch. Es sei hier an das
erinnert, was über die antaiische und insbesondere über
die atmosphärische Unruhe gesagt wurde. Hinsichtlich des Punktes,
an dem unsere Untersuchung sich befindet, heißt das, daß
sich der Mensch auch unabhängig vom genetischen Experiment
verändern wird. Es wäre müßig, Einflüsse
der Umwelt, wie sie soziologisch als Milieu, faunistisch als Biotop,
kulturhistorisch als Stil bezeichnet werden, zur Erklärung
heranzuziehen. Das alles gehört dazu, mit seiner Technik, seiner
Ökonomie. Mit dem, was die Astrologen als den Eintritt in ein
Neues Haus bezeichnen, verändert sich auch die Einrichtung.
Gewiß wird das hier früher, dort später offenbar.
Das läßt sich schon bei Ortswechseln beobachten. In Städten
und Landschaften, in denen sich die speziellen Arbeitscharaktere
der Perfektion nähern, verändert sich deutlich außer
der Lebensform und -führung der Habitus, und zwar nicht nur
physiognomisch und charakterologisch, sondern auch auf anthropologisch
meßbare Art. Wie etwa im Zuge der Klimaänderung das Abschmelzen
der Gletscher meßbar geworden ist, so sind es hier anatomische
und morphologische Details, vom Psychologischen ganz abgesehen.
Hier wäre nochmals die Frage zu streifen, inwieweit es sich
um Erscheinungen der Spätzeit handelt, um weltstädtische
Kennzeichen. Der Untergang des römischen Reiches hat ja von
jeher als Schulbeispiel gedient. Es gibt allerdings eine Reihe von
Merkmalen, die übereinstimmen: Cäsarismus, Bedrohung des
Bauernstandes, Latifundienwirtschaft, Sittenverfall, wachsende Konzentration
und Unwiderruflichkeit der großen Entscheidungen, hellenistische
Kunstwerke und technische Großbauten; das sind Gesichtspunkte.
Verändert sich jedoch der Standort des Beobachters um ein Geringes,
so eröffnen sich Perspektiven, die durchaus nicht in Spenglers
System passen. Hier tauchen nicht weniger zwingende Anzeichen einer
Frühzeit auf. Daß Rußland, dessen Stand er dem
des Reiches Karls des Großen vergleicht, auszuklammern sei,
hat Spengler scharfsichtig bemerkt. Es handelt sich indessen nicht
um regionale Unterschiede, sondern um das Auftreten eines neuen
Typus, der die Nationen und selbst die Rassen formt. Dem entspricht
auch das herrschende Welt- und Lebensgefühl, der wachsende
Optimismus des Arbeiters, sein theoretisch so dürftig gestütztes
Vertrauen auf seine zeitwendende Macht, das dennoch von Grund auf
berechtigt ist und prognostischen Wert besitzt.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 605-606 |
Was Spengler die »Zweite Religiosität«
nannte, ist eng mit der décadence verflochten .... Es gibt
nicht nur eine zweite Religiosität; es gibt auch eine zweite
décadence. In ihrer ersten Phase beschleunigt décadence
die Katastrophe, indem die feineren Geister in ihrer Verantwortung
ermatten und sich von den Führungsdisziplinen abwenden. Sie
wenden sich esoterischen und exotischen Dingen zu und folgen höheren
Spieltrieben. Huysmans »A Rebours« ist dafür
eine Fundgrube. Ohne Zweifel hat Plato aus solchen Gründen
den Künstler ungern in seinem Staate gesehen. Spengler folgt
ihm darin. In ihrer zweiten Phase jedoch, nach den Kulminationspunkten,
nimmt die décadence retardierenden Charakter an. .... In
dieser zweiten Phase sträubt sich die decadence dagegen, daß
alles bis in die letzte Faser politisiert und in Bewegung verwandelt
wird Sie trägt durch ihrWerk dazu bei. Einfach gesprochen:
die Müdigkeit ist vor Mittag bedenklich, amAbend begrüßenswert.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 624 |
Der echte Partner der Erde ist nicht der Verstand mit seinen
titanischen Plänen, sondern der Geist als kosmische Macht.
Bei allen Erwägungen des Zeitgeschehens spielt daher eine große
Rolle die mehr oder minder ausgesprochene Hoffnung, daß höhere
Geisteskräfte die gewaltige Bewegung zügeln und sich ihrer
wohltätig bemächtigen. In diesem Zusammenhange
stößt man immer wieder auf einen der großen Seher
des Abendlandes, Joachim von Fiore, und seine Lehre von den Weltaltern.
Joachim von Fiore lebte von 1130 bis 1202. Seine Weissagung hat
auf theologische und geschichtsphilosophische Systeme, bis zu dem
von Spengler, bedeutend gewirkt. Den großen Zeitaltern des
Vaters und des Sohnes soll ein drittes folgen, in dem der Geist
als neue, unmittelbare Manifestation des Göttlichen auf das
Geschehen wirkt. Erst dieser dritten Phase, die große Wirren
einleiten, folgt das Weltende. In dieser joachitischen Dreizeitenlehre
beginnt die initiatio einer Epoche bereits um viele Generationen
früher, so die des Geistes mit den abendländischen Mönchsorden.
In der ersten Phase der Trilogie geschehen die Dinge carnaliter,
in der zweiten literalter und in der dritten spiritualiter.
Für die erste gilt das Alte, für die zweite das Neue Testament,
während der dritten Phase das geschriebene Evangelium fehlt.
In unserem Zusammenhang ließe sich für »literaliter«
das Wort »historisch« einsetzen.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 644 |
Zunächst muß das Wort »Arbeiter«
neu konzipiert, es muß in und hinter ihm die Mutation erkannt
werden, die viele Begriffe und Einrichtungen des 19. Jahrhunderts
erleiden - eine Verwandlung, die der Entfaltung der Imago aus der
Puppe gleicht. Allerdings ist es viel leichter, einem denkenden
Menschen einen neuen Gedanken mitzuteilen als die Ansicht eines
Bildes, das überraschend erscheint. Er sieht dasselbe, doch
nicht auf gleiche Art. Das gilt auch für Köpfe vom Range
Oswald Spenglers, wie ich durch einen Brief vom 25. September 1932
erfuhr, der inzwischen in seiner Korrespondenz veröffentlicht
worden ist. Er beurteilte darin den »Arbeiter« vom antimarxistischen,
also von einem überholten, Standort aus, indem er sich speziell
auf den Bauern und dessen Zukunft berief. Das war wohl mehr als
eine Generationsfrage. Es ist ein Unterschied von Anbeginn, ob man
Ideen oder Gestalten sieht. Dessen haben mich die dreißig
Jahre, die seit dem Erscheinen des Buches verstrichen sind, zur
Genüge belehrt. Der Hinweis auf den Bauern gab mir insofern
zu denken, als er Spenglers System und dessen Grundzügen widersprach.
Jedes imperialistische Wollen muß sich wohl oder übel
mit der Aufopferung des Bauernstandes abfinden. Weltmacht verwirklicht
sich auf dessen Kosten, wie man es in Rom und England erfahren hat
und heute nicht nur in Rußland erfährt, sondern, der
Entwicklung zum Weltstaat gemäß, auch in den entferntesten
Winkeln der Erde, in jedem Hof und jeder Eingeborenenhütte,
an jedem Pflug und jedem Pferd. Hier stellt sich
die Zwischenfrage, auf wen denn im Falle des Weltstaates die grobe
Arbeit abzuwälzen sei? In ihm kann es seiner Natur nach weder
Kolonien noch Ausbeutung eroberter Kornkammern noch den Unterschied
zwischen »weißer« und »farbiger« Arbeit
geben - all jenen Gewinn, den seit der Antike hochentwickelte Staaten
dank ihrer technischen, militärischen und politischen Überlegenheit
aus den Ernten und Produkten eroberter Gebiete ziehen: Vorteile
aus schlecht- oder unbezahlter Arbeit mit einem Wort. In dieser
Frage begegnen sich politische und moralische, technische und wirtschaftliche
Systeme; sie wird noch über den Rest des Jahrhunderts hinaus
nicht nur die Geister, sondern auch den Willen beschäftigen.
Als Modell der sich aus ihr entwickelnden Händel darf man den
amerikanischen Sezessionskrieg betrachten - das macht sein Studium
lehrreich, ja fast unumgänglich auf ähnliche Weise, wie
das der Dreyfusaffäre unentbehrlich ist zur Beurteilung der
Imponderabilien innerhalb der modernen Demokratie. Daß die
Frage der Abwälzung der Sklavenarbeit auf technische Art gelöst
werden wird, und zwar quantitativ durch die Entwicklung von Robotern
und Automaten, qualitativ durch eine Verfeinerung und Verwandlung
der Rohprodukte auf eine Weise, deren Ziel und Umfang noch kaum
zu ahnen sind - das muß als eine der möglichen Leistungen
unter vielen begriffen werden, doch nicht als Absicht, sondern als
eines der Mittel der sich bildenden Welt. Es zählt zum Eingebrachten,
zur Mitgift der Gestalt des Arbeiters. Das Ziel der Technik ist
Erdvergeistigung. Die Reduktion des Bauernstandes ist der spürbarste
Ausdruck dafür, daß der angestammte Nomos, die eingesessene
Rasse aufs Spiel gesetzt werden. Jede räumliche Ausdehnung
zehrt an ihr, wie das im Lauf der römischen Geschichte Zug
um Zug zu verfolgen ist.
Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 373-374 |
Innerhalb der Arbeitswelt wird nicht nur die Mechanik,
sondern auch die Chemie in ungeahnter Weise zu dieser Reduktion
beitragen - nicht mehr Böden werden erschlossen, sondern Erde
schlechthin. Die Kriegsverluste, selbst die von Cannä, fallen
weniger ins Gewicht als die Verwässerung einerseits durch Expansion,
andererseits durch das Hereinströmen des Fremdartigen. Die
Besiegten bringen nicht nur ihre Arbeitskraft, sie bringen auch
ihre Eigenart, ihre Sitten, ihre Kulte und ihren Luxus mit. Die
Sklaven haben eine eiserne Stirn; sie beobachten scharf und sind
schwer zu durchschauen. Wer erobert, wird selbst erobert - das ahnten
die Makedonen bei Alexanders Hochzeit mit Roxane, in der er zugleich
die Verschmelzung Europas mit Asien feierte. Für die zweite
Hälfte unseres Jahrhunderts sagt Spengler schwere Kämpfe
zwischen Weißen und Farbigen voraus: »Sie nehmen das
Schwert auf, wenn wir es niederlegen. Sie haben den Weißen
einst gefürchtet, sie verachten ihn nun. .... Der Farbige durchschaut
den Weißen, wenn er von Menschheit redet ....
Wie, wenn sich eines Tages Klassenkampf und Rassenkampf zusammenschließen?
.... Das schwarze Frankreich würde in einem solchen Falle nicht
zögern, die Pariser Szenen von 1792 und 1871 zu übertreffen.
Und würden die weißen Führer des Klassenkampfes
je verlegen sein, wenn farbige Unruhen ihnen den Weg öffneten
....?« Heute, nach dreißig Jahren,
ist nicht zu leugnen, daß sich in diese Visionen konkrete
Züge einzeichneten. Was in Afrika, vom Nordrand bis zur Südspitze,
in Ost- und Südasien, in Nord- und Südamerika in so kurzer
Spanne geschah und geschieht - in China, Algerien, Indien, Ägypten,
am Kongo, auf Kuba, um einige Brennpunkte zu nennen - das geht weit
über eine Reihe von Aufständen und Befreiungskämpfen
hinaus. Das Feuer, das nicht mehr, und vor allem nicht mit Blut,
zu löschen ist, greift indessen auch über den Gegensatz
von Weißen und Farbigen hinaus. Es trägt alle Kennzeichen
des Weltbrandes. Nicht diese oder jene Rasse, die Spezies wird in
Frage gestellt. Diesen seinen wahren Umfang, aus dessen Kenntnis
allein nicht nur richtige Schlüsse, sondern auch Entschlüsse,
Entscheidungen, zu gewinnen sind, hat Spengler nicht gesehen. Er
konnte ihn nicht sehen und würde, wenn er noch lebte, heute
weniger denn je dazu imstande sein. Er sah Symptome, und da diese
sich inzwischen krisenhaft verstärkten, würden sie ihm
die Diagnose bestätigen. Wenn ein so scharfsinniger Kopf den
Umfang eines Phänomens verkennt, so kann das nicht an seiner
Intelligenz, es muß an seiner Position liegen. Er gleicht
dem Jäger auf seinem Anstand, von dem aus er die Ungeheuer
früher als die meisten anderen auftauchen sieht und mit passionierter
Schärfe erkennt. Aber sie ziehen in ungeahnter Richtung vorbei
und verlieren sich in unerforschten Dickichten. Trotzdem wurde ein
Abschnitt der großen Jagd in ungewöhnlichem Denkstil
erfaßt. Das gilt auch für Spenglers System. Die Kulturen
werden im Nach- und Nebeneininder gesehen, nicht aber, wie von Herder,
Goethe, Hegel, architektonisch und symphonisch oder, wie von Nietzsche,
als Ouvertüre eines neuen Weltalters. Entscheidung, Kampf um
die Vormacht, Zeitalter der kämpfenden Staaten - das alles
ist nicht der Sinn; es sind die Wehen, in denen die Erde eine ihrer
großen metahistorischen Phasen abschließt und eine andere
beginnt. Dann werden die Grenzen fallen und auch räumlich »Orient
und Okzident ... nicht mehr zu trennen« sein.
Für die Gestalt des Arbeiters, des mächtigsten Sohnes
der Erde, ist der Aufstand der farbigen Rassen ein antaiischer Akt
unter anderen; er gleicht der Einberufung einer Reservearmee. Gebührend
zu würdigen wird das erst im Ergebnis sein, also innerhalb
der Gesamtrechnung. Verständlich ist, daß zunächst
die Negativposten ins Auge fallen, die Verluste und Einbußen,
der Rückfall in primitive Denkformen, die virulent werden.
Das gilt auch für andere, nahe verwandte Erscheinungen, wie
das sprunghafte Anwachsen der Erdbevölkerung. Es hat seine
Gründe, warum gerade China sich dem im »Untergang des
Abendlandes« entworfenen Schema der Spätkultur entzieht.
Das alles kann behutsam gedeutet, vielleicht sogar beeinflußt,
doch nicht gemeistert, geschweige denn gehemmt werden.
.... Es ist ein Unterschied, ob man mit ererbtem, erspartem, geliehenem
oder fiktivem Geld handelt und ob man die Geschäfte, aus denen
man Gewinn zieht, mit Augen sieht, ob sie entfernt liegen oder in
der Luft hängen.
Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche
Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 374-377 |
Was den »Arbeiter« angeht, so ist das von Ihnen
berührte Problem oft bedacht worden, nicht nur von mir und
meinen Freunden, sondern auch von anderen. Es stehen Publikationen
bevor, die sich auch mit dem Seminar beschäftigen, das Martin
Heidegger über das Buch gehalten hat. Wohin das führen
wird, weiß ich nicht.
Ernst
Jünger, Brief vom 24.03.1980, in: Sämtliche Werke,
2. Abteilung, Band 8, S. 393 |
Nach Heidegger hat die Metaphysik ihr Ende erreicht. Das
von ihr Gemeinte oder Anvisierte kann indessen nicht verschwinden;
ein Indiz dafür ist die gesteigerte Bedeutung der Physik, die
ihrerseits irrational zu werden beginnt.
Ernst
Jünger, Brief vom 10.10.1980, in: Sämtliche Werke,
2. Abteilung, Band 8, S. 395 |
Wilflingen, 1. November 1992. - Historisch gesehen,
geht dem Weltstaat ein »Actium« voraus. Darin sind sich
die Auguren einig, und diese Erwartung hat zu den ungeheuren Rüstungen
der Großreiche während der zweiten Hälfte unseres
Jahrhunderts geführt.
Allerdings scheint sich die Vermutung, die ich vor kurzem in der
»Schere« notiert habe, daß Actium vielleicht »flach
ausfallen« werde, durch die überraschende Beendigung
des »Kalten Krieges« zu bestätigen.
Das könnte bedeuten, daß der Übergang zum Weltstaat,
ohne daß er wahrgenommen wurde, bereits stattgefunden hat.
Die Politik ist durch die Naturwissenschaft überholt und durch
die Technik uniformiert worden. »Die Technik ist die Uniform
des Arbeiters« (»Der Arbeiter«, 1932).
Daß ein Actium, nicht nur zur See, auf dem Lande und in der
Luft, sondern auch im Universum uns hoffentlich erspart bleiben
wird, setzt freilich nicht der Gewalt ein Ende, sondern verlagert
sie. Das ist ein Kapitel für sich.
Einer der Gründe für Nietzsches Wahnisinn könnte
darin liegen, daß ihm die Vision des einundzwanzigsten Jahrhunderts
zu stark wurde.
Neben der Geschichtsperiodik in Spenglers Sinne gibt es auch rein
kausale Einschübe. Die Begegnung mit einem riesigen Boliden
soll sich innerhalb einer Million von Jahren wiederholen, wenn man
den Astronomen gluaben darf. Selbst Meteore von mittlerer Größe
verändern schon die Natur. Ebensowenig läßt sich
das Auftreten von Genies und Propheten voraussagen, von Göttern
ganz abgesehen. Wo die Geschichte endet, führt sie zur Natur
oder zum Mythos zurück . mit oder ohne menschliche Präsenz.
Bis zur Erschöpfung geführten Bürgerkriegen folgt
brutalisierende Konformität mit dynamischen Effekt. In dieser
Hinsicht ist das heutige Europa chronologisch dem Rom vor Actium,
doch morphologisch dem Griechenland nach dem Peleponnesischen Kriege
verwandt.
Er hat die Polis, insbesondere Athen und Sparta, politisch und moralisch
ruiniert. Für Alexander und dann für Cäsar was das
Feld planiert. Unsere heutigen Händel entsprechen den Diadochenkriegen
- sie werden als Bürgerkriege in einem zwar nicht politisch,
doch bereits praktisch bestehenden Weltstaat geführt - zum
Teil noch unter nationalen Vorzeichen. Das ließe ich bis zu
den kämpfenden Staaten ud sogar personell ausführen.
Oswald Spengler beschränkt seine zyklische Betrachtung auf
die Geschichte und im besonderen auf die Kulturen - also auf eine
winzige Spanne, verglichen mit jenen der belebten oder gar unbelebten
Natur. Es ist aber möglich und sogar wahrscheinlich, daß
größere Zyklen rotieren ....
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 95-96 |
Wilflingen, 1. Januar 1993. - »Lieber Eric
Jacolliot, Sie bitten mich um quelques mots de votre main
als Vorwort zu meiner Schrift Über die Linie, deren
Übersetzung bei Christian Bourgois erschienen ist und deren
Neuausgabe Sie beabsichtigen. Um diesem Wunsche wenigstens in bescheidenem
Maß entsprechen zu können, mußte ich mich zunächst
bei mir selbst informieren und meinen Text von 1950 nebst den ihn
betreffenden bibliographischen Notizen zu Rate ziehen. Schließlich
sind über vierzig Jahr verflossen seit jener Zeit. Und sie
waren an Ereignissen reich.
Die Lektüre war weniger eine Wiederholung als eine Neuentdeckung
verlorener Zeit. Der Essay war mir so weit aus dem Gedächtnis
entschwunden, daß ich ihn für den kurzen Beitrag zu einer
Festschrift gehalten hatte, wie man sich dessen unter Autoren mehr
oder minder pflichtgemäß unterzieht - diesmal anläßlich
des 60. Geburtstages von Martin Heidegger.
Vielleicht hatte ich mir besondere Mühe gegeben, denn die Angriffe
gegen den Philosophen gewannen bereits an Form. Daß er vor dem
Kriege ein Seminar über meinen Arbeiter gehalten
hatte, war mir damals noch nicht bekannt.
Immerhin verwunderte mich der Umfang der Linie im Vergleich
zum vergänglichen Anlaß - es handelte sich dabei also wohl
auch um ein eigenes Anliegen.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 97 |
Wilflingen, 20. Juni 1994. - Abgesehen davon, daß
der »Arbeiter« zu den Büchern gehört, die
mehr kritisiert als gelesen werden, paßten solche Thesen weder
in den Rahmen des Nationalsozialismus noch der Weimarer Demokratie.
Sie stießen aber auch auf das Befremden von Geistern, auf
deren Urteil ich Wert legte. Sowohl Carl Schmitt wie Oswald Spengler
lehnten die Gestalt des Arbeiters als eine »Lobpreisung des
Proleten« ab. Das war insofern ein Mißverständnis,
als sie ihr den marxistischen Maßstab anlegten. Marx hat den
Begriff der Arbeit für eine Klasse usurpiert. Als Gestalt repräsentiert
der Arbeiter jedoch weder eine ökonomische Klasse noch eine
biologische Rasse, sondern bildet in planetarischer Auslese einen
Typus aus. Sein Reich ist die Erde mit der Technik als Weltsprache.
Diese Gestalt durchdringt und zerstört die alten Stände,
also das Priester-, Krieger- und Bauerntum. Es hat mich verwundert,
daß ausgerechnet Spengler sich in seinem Brief auf den Bauern
als Gegenfigur berief. Ihm, der den Cäsarismus wiederkehren
sah, konnte die Verwandtschaft der Kollektive mit den antiken Latifundien
nicht entgangen sein. Allerdings ist das Wort »Arbeiter«
im bürgerlichen Zeitalter zu einem Stigma geworden, das auch
dieser geniale Historiker nicht überwunden hat.
Als einzige Koryphäe hat Martin Heidegger der »Gestalt«
von Anfang an Beachtung gezollt. Er hat auch ein Seminar darüber
abgehalten; ich hörte davon nur die Tatsache. Nicht vergessen
will ich jedoch ein bedeutsames Gespräch mit Leopold Ziegler
in Überlingen; die Zustimmung des Philosophen (»Gestaltwandel
der Götter«) berührte den Kern.
Die Aufnahme des Buches durch kleine Zirkel von jungen und älteren
Lesern war impulsiv. Sie beschränkte sich zunächst auf
Debatten und Briefe - so von meinen Brüdem Hans und Friedrich
Georg, Hugo Fischer, Gerhard Nebel, Friedrich Hielscher, Paul Weinreich
und Benno Ziegler von der Hanseatischen Verlagsanstalt. Einen besonderen
Fürsprecher gewann »Der Arbeiter« in Ernst Niekisch
im » Widerstand«. Im großen und ganzen blieb das
Echo verworren, obwohl es bald zu einer zweiten Auflage kam.
An speziell dem Thema gewidmeten Büchern sind zu erwähnen
Marcel Decombis »Le Travailleur« (Paris 1943)
und ein gründliches Werk von Erich Brock, dem, wie er sagte,
»Der Arbeiter« die Augen öffnete. Es wurde kurz
nach Stalingrad in Basel veröffentlicht und vom Verleger als
die »endgültige Entlarvung eines Faschisten« präsentiert.
So schwanken die Meinungen.
Habent sua fata libelli - das erfuhr ich auch von Freunden in diesem
Fall. Heinrich von Stülpnagel, der das Buch für nationalbolschewistisch
hielt, sagte mir vor meinem Kommando an die Ostfront, das ich aus
verschiedenen Gründen antreten sollte: ich würde nun auch
erfahren, wie das in Wirklichkeit aussehe.
Auch heut hat sich, wie gesagt, das Urteil nicht präzisiert.
Ich möchte das eigene nicht ausschließen. Damals bin
ich mehr einer Ahnung als einem Plan gefolgt. Wie ist die Drohung
apokalyptischer Katastrophen mit einem Fortschritt, der in der Naturwissenschaft
und der Technik jede Utopie übertrifft, zu vereinigen? »Ist
es auch Wahnsinn, hat es " doch Methode« - es muß
eine ordnende Kraft dahinter - ; stehen. Hier bietet sich dem Denken
die neuplatonische Wendung an.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 146-148 |
Wilflingen, 20. Februar 1995. - An Dr. Domenico Conte:
»Ich danke Ihnen für die Zusendung Ihrer wichtigen Schrift.
Sie haben recht in der Vermutung, daß Oswald Spengler einen
bedeutenden Einfluß auf meine geistige Entwicklung ausgeübt
hat. Meinem Bruder Friedrich Georg, der nach seiner schweren Verwundung
Muße zum Lesen gefunden hatte, verdanke ich den ersten Hinweis
auf den Untergang des Abendlandes. Auch mich hat die
Lektüre fasziniert. Die Folge war ein Brief an den Autor, dem
ich auch mein Kriegstagebuch sandte - er lud mich daraufhin nach
München ein. Ich war damals sehr beschäftigt - daß
ich der Einladung nicht gefolgt bin, bedauere ich noch heut.
Im Herbst 1932 kam es noch zu einem kurzen Briefwechsel anläßlich
meines Buches »Der Arbeiter«. Spengler hat das Wort
im Sinn des 19. Jahrhunderts, also des Klassenkampfes, verstanden
- damit war ihm, ähnlich wie Carl Schmitt, schon der Titel
suspekt. Beide hielten die Absicht des Werkes für ein Lob des
Proleten im marxistischen Sinne - für mich ist es ein neuplatonischer
Rückgriff auf die prometheische Substanz. Das wird mir erst
heute deutlicher. Dazu empfehle ich Ihnen die Lektüre des großartigen
Kapitels, das mein Bruder Friedrich Georg in seinen Griechischen
Mythen dem Prometheus gewidmet hat. Die Götter schöpfen
aus der Fülle - Prometheus schafft. Prometheus ist stolz
auf die Werke seines Geistes und seiner Hand, und dieser Stolz kehrt
bei dem prometheischen Menschen wieder, bis in die Verkrümmung
hinein, bis in jene Selbsteinschätzung der Arbeit und des Arbeiters,
die den Sisyphismus wieder in das Leben einführt.«
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 165-166 |
Wilflingen, 24. Februar 1995. - An Albrecht Kiel:
»Zu Ihrer Anfrage: Karl Jaspers bin ich nur einmal begegnet
- war es in Basel oder in Konstanz?
Das Datum kann ich bestimmen, weil er mir damals seine Psychopathologie
schenkte: am 5. Oktober 1949.
Seine Äußerung bezog sich auf Schüler und auf Sekretäre
speziell. Damit war aber nicht Armin Mohler gemeint, dessen Promotion
er ja gegen den Widerstand der Fakultät durchsetzte.
Wir unterhielten uns in einem ziemlich großen Raume, und Jaspers
setzte sich in eine Ecke - vielleicht, weil er eine Ansteckung befürchtete.
Der allgemeine Eindruck: timid. Auch darin ein Gegensatz zu Heidegger,
der annäherungsfreudig war.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 166 |
Wilflingen, 9. November 1995. - Heideggers »Gestell
möchte ich das »Geschirr« zuordnen. Das Sein in
der Ruhe und in der Bewegung.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 198 |
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