Wir
werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir
nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung
gekommen sind, daß die Fortentwickelung der Kunst an die Duplizität
des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher
Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem
Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. Diese Namen
entlehnen wir von den Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung
zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt
dem Einsichtigen vernehmbar machen.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 20 |
An
ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntnis,
daß in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und
Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen
Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide so verschiedne Triebe gehen
nebeneinander her, zumeist im offnen Zwiespalt miteinander und sich gegenseitig
zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes
Gegensatzes zu perpetuieren, den das gemeinsame Wort »Kunst« nur scheinbar
überbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des
hellenischen »Willens«, miteinander gepaart erscheinen und in dieser
Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen
Tragödie erzeugen.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 20 |
Um
uns jene beiden Triebe näherzubringen, denken wir sie uns zunächst als
die getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches; zwischen
welchen physiologischen Erscheinungen ein entsprechender Gegensatz wie zwischen
dem Apollinischen und dem Dionysischen zu bemerken ist. Im Traume traten zuerst,
nach der Vorstellung des Lukretius, die herrlichen Göttergestalten vor die
Seelen der Menschen, im Traume sah der große Bildner den entzückenden
Gliederbau übermenschlicher Wesen, und der hellenische Dichter, um die Geheimnisse
der poetischen Zeugung befragt, würde ebenfalls an den Traum erinnert und
eine ähnliche Belehrung gegeben haben, wie sie Hans Sachs in den Meistersingern
gibt:»Mein
Freund, das grad ist Dichters Werk, daß er sein Träumen deut' und
merk'. Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn wird ihm im Traume aufgetan: all
Dichtkunst und Poeterei ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.« | Der
schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler
ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden,
einer wichtigen Hälfte der Poesie. Wir genießen im unmittelbaren Verständnisse
der Gestalt, alle Formen sprechen zu uns, es gibt nichts Gleichgültiges und
Unnötiges. Bei dem höchsten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir
doch noch die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins: wenigstens ist
dies meine Erfahrung, für deren Häufigkeit, ja Normalität, ich
manches Zeugnis und die Aussprüche der Dichter beizubringen hätte. Der
philosophische Mensch hat sogar das Vorgefühl, daß auch unter dieser
Wirklichkeit, in der wir leben und sind, eine zweite ganz andre verborgen liege,
daß also auch sie ein Schein sei; und Schopenhauer bezeichnet geradezu die
Gabe, daß einem zuzeiten die Menschen und alle Dinge als bloße Phantome
oder Traumbilder vorkommen, als das Kennzeichen philosophischer Befähigung.
Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit des Daseins, so verhält sich der künstlerisch
erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes; er sieht genau und gern zu: denn
aus diesen Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgängen übt
er sich für das Leben.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 20-21 |
Und
so möchte von Apollo in einem exzentrischen Sinne das gelten, was Schopenhauer
von dem im Schleier der Maja befangenen Menschen sagt, Die Welt als Wille und
Vorstellung 1, § 63, S. 368-369: »Wie auf dem tobenden Meere, das, nach
allen Seiten unbegrenzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn
ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer
Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das
principium individuationis.« Ja es wäre von Apollo zu sagen,
daß in ihm das unerschütterte Vertrauen auf jenes principium und das
ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe,
und man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des principii
individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze
Lust und Weisheit des »Scheines« samt seiner Schönheit, zu uns
spräche. An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen geschildert,
welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnisformen
der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgendeiner seiner Gestaltungen,
eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung
hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis
aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so tun wir einen
Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie
des Rausches gebracht wird.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 22-23 |
Der
Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um
überhaupt leben zu können, mußte er vor sie hin die glänzende
Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes ungeheure Mißtrauen gegen die
titanischen Mächte der Natur, jene über allen Erkenntnissen erbarmungslos
thronende Moira, jener Geier des großen Menschenfreundes Prometheus, jenes
Schreckenslos des weisen Ödipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der
Orest zum Muttermorde zwingt, kurz jene ganze Philosophie des Waldgottes, samt
ihren mythischen Exempeln, an der die schwermütigen Etrurier zugrunde gegangen
sind wurde von den Griechen durch jene künstlerische Mittelwelt
der Olympier fortwährend von neuem überwunden, jedenfalls verhüllt
und dem Anblick entzogen.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 30 |
Um
leben zu können, mußten die Griechen diese Götter, aus tiefster
Nötigung, schaffen: welchen Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, daß
aus der ursprünglichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch
jenen apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Übergängen die
olympische Götterordnung der Freude entwickelt wurde: wie Rosen aus dornigem
Gebüsch hervorbrechen. Wie anders hätte jenes so reizbar empfindende,
so ungestüm begehrende, zum Leiden so einzig befähigte Volk das
Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie
umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 30-31 |
Derselbe
Trieb, der die Kunst ins Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende
Ergänzung und Vollendung des Daseins, ließ auch die olympische Welt
entstehen, in der sich der hellenische »Wille« einen verklärenden
Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie
es selbst leben die allein genügende Theodizee! Das Dasein unter dem
hellen Sonnenscheine solcher Götter wird als das an sich Erstrebenswerte
empfunden, und der eigentliche Schmerz der homerischen Menschen bezieht
sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem auf das baldige Abscheiden: so daß
man jetzt von ihnen, mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte,
»das Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste,
überhaupt einmal zu sterben.« Wenn die Klage einmal ertönt, so
klingt sie wieder vom kurzlebenden Achilles, von dem blättergleichen Wechsel
und Wandel des Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit. Es ist des
größten Helden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterleben zu sehnen,
sei es selbst als Tagelöhner. So ungestüm verlangt, auf der apollinischen
Stufe, der »Wille« nach diesem Dasein, so eins fühlt sich der
homerische Mensch mit ihm, daß selbst die Klage zu seinem Preisliede wird.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 31 |
Hier
muß nun ausgesprochen werden, daß diese von den neueren Menschen so
sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen mit der Natur,
für die Schiller das Kunstwort »naiv« in Geltung gebracht hat,
keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher
Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Kultur, als einem Paradies der Menschheit
begegnen müßten: dies konnte nur eine Zeit glauben, die den
Emil Rousseaus sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen
solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil gefunden zu haben wähnte.
Wo uns das »Naive« in der Kunst begegnet, haben wir die höchste
Wirkung der apollinischen Kultur zu erkennen: welche immer erst ein Titanenreich
zu stürzen und Ungetüme zu töten hat und durch kräftige Wahnvorspiegelungen
und lustvolle Illusionen über eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung
und reizbarste Leidensfähigkeit Sieger geworden sein muß.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 31-32 |
Vielleicht
gewinnen wir einen Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung hinstelle,
daß sich der Satyr, das fingierte Naturwesen, zu dem Kulturmenschen in gleicher
Weise verhält, wie die dionysische Musik zur Zivilisation. Von letzterer
sagt Richard Wagner, daß sie von der Musik aufgehoben werde wie der Lampenschein
vom Tageslicht.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 50 |
Mit
diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum zartesten und schwersten
Leiden einzig befähigte Hellene, der mit schneidigem Blicke mitten in das
furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, ebenso wie in die
Grausamkeit der Natur geschaut hat und in Gefahr ist, sich nach einer buddhistischen
Verneinung des Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet
ihn sich das Leben.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 51 |
Die
leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der unglückselige Ödipus,
ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der zum Irrtum und zum
Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber am Ende durch sein ungeheures
Leiden eine magische segensreiche Kraft um sich ausübt, die noch über
sein Verscheiden hinaus wirksam ist. Der edle Mensch sündigt nicht, will
uns der tiefsinnige Dichter sagen: durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche
Ordnung, ja die sittliche Welt zugrunde gehen, eben durch dieses Handeln wird
ein höherer magischer Kreis von Wirkungen gezogen, die eine neue Welt auf
den Ruinen der umgestürzten alten gründen.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 60 |
Es
ist eine unanfechtbare Überlieferung, daß die griechische Tragödie
in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum Gegenstand hatte,
und daß der längere Zeit hindurch einzig vorhandene Bühnenheld
eben Dionysus war. Aber mit der gleichen Sicherheit darf behauptet werden, daß
niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tragische Held zu sein,
sondern daß alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne,
Prometheus, Ödipus usw. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus
sind. Daß hinter allen diesen Masken eine Gottheit steckt, das ist der eine
wesentliche Grund für die so oft angestaunte typische »Idealität«
jener berühmten Figuren. Es hat -ich weiß nicht wer - behauptet, daß
alle Individuen als Individuen komisch und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen
wäre, daß die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen
Bühne nicht ertragen konnten. In der Tat scheinen sie so empfunden
zu haben: wie überhaupt jene platonische Unterscheidung und Wertabschätzung
der »Idee« im Gegensatze zum »Idol«, zum Abbild, tief
im hellenischen Wesen begründet liegt. Um uns aber der Terminologie Platos
zu bedienen, so wäre von den tragischen Gestalten der hellenischen Bühne
etwa so zu reden: der eine wahrhaft reale Dionysus erscheint in einer Vielheit
der Gestalten, in der Maske eines kämpfenden Helden und gleichsam in das
Netz des Einzelwillens verstrickt. So wie jetzt der erscheinende Gott redet und
handelt, ähnelt er einem irrenden strebenden leidenden Individuum: und daß
er überhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deutlichkeit erscheint,
ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinen dionysischen Zustand
durch jene gleichnisartige Erscheinung deutet. In Wahrheit aber ist jener Held
der leidende Dionysus der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich
erfahrende Gott, von dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von
den Titanen zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus
verehrt werde: wobei angedeutet wird, daß diese Zerstückelung, das
eigentlich dionysische Leiden, gleich einer Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und
Feuer sei, daß wir also den Zustand der Individuation als den Quell und
Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten hätten.
Aus dem Lächeln dieses Dionysus sind die olympischen Götter, aus seinen
Tränen die Menschen entstanden. In jener Existenz als zerstückelter
Gott hat Dionysus die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dämons und
eines milden sanftmütigen Herrschers. Die Hoffnung der Epopten ging aber
auf eine Wiedergeburt des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation
ahnungsvoll zu begreifen haben: diesem kommenden dritten Dionysus erscholl der
brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur in dieser Hoffnung gibt es einen Strahl
von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen zertrümmerten
Welt: wie es der Mythus durch die in ewige Trauer versenkte Demeter verbildlicht,
welche zum ersten Male wieder sich freut, als man ihr sagt, sie könne den
Dionysus noch einmal gebären. In den angeführten Anschauungen haben
wir bereits alle Bestandteile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung
und zugleich damit die Mysterie nlehre der Tragödie zusammen: die Grunderkenntnis
von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes
des Übels, die Kunst als die freudige Hoffnung, daß der Bann der Individuation
zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 66-67 |
»Wenn
ich etwas Trauriges sage, füllen sich meine Augen mit Tränen; ist aber
das, was ich sage, schrecklich und entsetzlich, dann stehen die Haare meines Hauptes
vor Schauder zu Berge, und mein Herz klopft.« Hier merken wir nichts mehr
von jenem epischen Verlorensein im Scheine, von der affektlosen Kühle des
wahren Schauspielers, der, gerade in seiner höchsten Tätigkeit, ganz
Schein und Lust am Scheine ist. Euripides ist der Schauspieler mit dem klopfenden
Herzen, mit den zu Berge stehenden Haaren; als sokratischer Denker entwirft er
den Plan, als leidenschaftlicher Schauspieler führt er ihn aus. Reiner Künstler
ist er weder im Entwerfen noch im Ausführen. So ist das euripideische Drama
ein zugleich kühles und feuriges Ding, zum Erstarren und zum Verbrennen gleich
befähigt; es ist ihm unmöglich, die apollinische Wirkung des Epos zu
erreichen, während es andererseits sich von den dionysischen Elementen möglichst
gelöst hat und jetzt, um überhaupt zu wirken, neue Erregungsmittel braucht,
die nun nicht mehr innerhalb der beiden einzigen Kunsttriebe, des apollinischen
und des dionysischen, liegen können. Diese Erregungsmittel sind kühle
paradoxe Gedanken an Stelle der apollinischen Anschauungen
und feurige Affekte an Stelle der dionysischen Entzückungen
und zwar höchst realistisch nachgemachte, keineswegs in den Äther
der Kunst getauchte Gedanken und Affekte.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 79 |
Haben
wir demnach so viel erkannt, daß es Euripides überhaupt nicht gelungen
ist, das Drama allein auf das Apollinische zu gründen, daß sich vielmehr
seine undionysische Tendenz in eine naturalistische und unkünstlerische verirrt
hat, so werden wir jetzt dem Wesen des ästhetischen Sokratismus schon
näher treten dürfen, dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet:
»Alles muß verständig sein, um schön zu sein«; als
Parallelsatz zu dem sokratischen »nur der Wissende ist tugendhaft«.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 79 |
Das,
was Sophokles von Äschylus gesagt hat, er tue das Rechte, obschon unbewußt,
war gewiß nicht im Sinne des Euripides gesagt: der nur soviel hätte
gelten lassen, daß Äschylus, weil er unbewußt schaffe,
das Unrechte schaffe. .... Euripides unternahm es, wie es auch Plato unternommen
hat, das Gegenstück des »unverständigen« Dichters der Welt
zu zeigen, sein ästhetischer Grundsatz »alles muß bewußt
sein, um schön zu sein«, ist, wie ich sagte, der Parallelsatz zu dem
sokratischen »alles muß bewußt sein, um gut zu sein«.
Demgemäß darf uns Euripides als der Dichter des ästhetischen Sokratismus
gelten.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 82 |
Daß
Sokrates eine enge Beziehung der Tendenz zu Euripides habe, entging dem gleichzeitigen
Altertume nicht; und der beredteste Ausdruck für diesen glücklichen
Spürsinn ist jene in Athen umlaufende Sage, Sokrates pflege dem Euripides
im Dichten zu helfen. Beide Namen wurden von den Anhängern der »guten
alten Zeit« in einem Atem genannt, wenn es galt, die Volksverführer
der Gegenwart aufzuzählen: von deren Einflusse es herrühre, daß
die alte marathonische vierschrötige Tüchtigkeit an Leib und Seele immer
mehr einer zweifelhaften Aufklärung, bei fortschreitender Verkümmerung
der leiblichen und seelischen Kräfte, zum Opfer falle. .... m berühmtesten
ist aber die nahe Zusammenstellung beider Namen in dem delphischen Orakelspruche,
welcher Sokrates als den Weisesten unter den Menschen bezeichnete, zugleich aber
das Urteil abgab, daß dem Euripides der zweite Preis im Wettkampfe der Weisheit
gebühre.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 83 |
Während
doch bei allen produktiven Menschen der Instinkt gerade die schöpferisch-affirmative
Kraft ist, und das Bewußtsein kritisch und abmahnend sich gebärdet:
wird bei Sokrates der Instinkt zum Kritiker, das Bewußtsein zum Schöpfer
eine wahre Monstrosität per defectum!Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 85 |
Wirklich
hat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen Kunstform gegeben,
das Vorbild des Romans: der als die unendlich gesteigerte äsopische
Fabel zu bezeichnen ist, in der die Poesie in einer ähnlichen Rangordnung
zur dialektischen Philosophie lebt, wie viele Jahrhunderte hindurch dieselbe Philosophie
zur Theologie: nämlich als ancilla. Dies war die neue Stellung der
Poesie, in die sie Plato unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 88 |
Schon
bei Sophokles zeigt sich jene Verlegenheit in betreff des Chors ein wichtiges
Zeichen, daß schon bei ihm der dionysische Boden der Tragödie zu zerbröckeln
beginnt. Er wagt es nicht mehr, dem Chor den Hauptanteil der Wirkung anzuvertrauen,
sondern schränkt sein Bereich dermaßen ein, daß er jetzt fast
den Schauspielern koordiniert erscheint, gleich als ob er aus der Orchestra in
die Szene hineingehoben würde: womit freilich sein Wesen völlig zerstört
ist, mag auch Aristoteles gerade dieser Auffassung des Chors seine Beistimmung
geben. Jene Verrückung der Chorposition, welche Sophokles jedenfalls durch
seine Praxis und, der Überlieferung nach, sogar durch eine Schrift anempfohlen
hat, ist der erste Schritt zur Vernichtung des Chors, deren Phasen in Euripides,
Agathon und der neueren Komödie mit erschreckender Schnelligkeit aufeinanderfolgen.
Die optimistische Dialektik treibt mit der Geißel ihrer Syllogismen die
Musik aus der Tragödie: d.h. sie zerstört das Wesen der Tragödie,
welches sich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung dionysischer Zustände,
als sichtbare Symbolisierung der Musik, als die Traumwelt eines dionysischen Rausches
interpretieren läßt.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 89-90 |
Haben
wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende antidionysische Tendenz anzunehmen,
die nur in ihm einen unerhört großartigen Ausdruck gewinnt: so müssen
wir nicht vor der Frage zurückschrecken, wohin denn eine solche Erscheinung
wie die des Sokrates deuteDers., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 90 |
Haben
wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende antidionysische Tendenz anzunehmen,
die nur in ihm einen unerhört großartigen Ausdruck gewinnt: so müssen
wir nicht vor der Frage zurückschrecken, wohin denn eine solche Erscheinung
wie die des Sokrates deute ....Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 90 |
An
diesem ausgeführten historischen Beispiel haben wir klarzumachen gesucht,
wie die Tragödie an dem Entschwinden des Geistes der Musik ebenso gewiß
zugrunde geht, wie sie aus diesem Geiste allein geboren werden kann.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 97 |
Im
Gegensatz zu allen denen, welche beflissen sind, die Künste aus einem einzigen
Prinzip, als dem notwendigen Lebensquell jedes Kunstwerks, abzuleiten, halte ich
den Blick auf jene beiden künstlerischen Gottheiten der Griechen, Apollo
und Dionysus, geheftet und erkenne in ihnen die lebendigen und anschaulichen Repräsentanten
zweier in ihrem tiefsten Wesen und ihren höchsten Zielen verschiedenen Kunstwelten.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 98 |
Apollo
steht vor mir als der verklärende Genius des principii individuationis,
durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist: während
unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt
wird und der Weg zu den Müttern des Seins, zu dem innersten Kern der Dinge
offenliegt.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 98 |
Dieser
ungeheure Gegensatz, der sich zwischen der plastischen Kunst als der apollinischen
und der Musik als der dionysischen Kunst klaffend auftut, ist einem einzigen der
großen Denker in dem Maße offenbar geworden, daß er, selbst
ohne jene Anleitung der hellenischen Göttersymbolik, der Musik einen verschiedenen
Charakter und Ursprung vor allen anderen Künsten zuerkannte, weil sie nicht,
wie jene alle, Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens
selbst sei und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu
aller Erscheinung das Ding an sich darstelle. (Vgl. Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, I, S. 310.) Auf diese wichtigste Erkenntnis
aller Ästhetik, mit der, in einem ernsteren Sinne genommen, die Ästhetik
erst beginnt, hat Richard Wagner, zur Bekräftigung ihrer ewigen Wahrheit
seinen Stempel gedrückt, wenn er im »Beethoven« feststellt, daß
die Musik nach ganz anderen ästhetischen Prinzipien als alle bildenden Künste
und überhaupt nicht nach der Kategorie der Schönheit zu bemessen sei
....Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 98 |
Es
gibt nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sklavenstand, der seine Existenz
als ein Unrecht zu betrachten gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für
sich, sondern für alle Generationen Rache zu nehmen.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 112 |
Das
ist ja das Merkmal jenes »Bruches«, von dem jedermann als von dem
Urleiden der modernen Kultur zu reden pflegt, daß der theoretische Mensch
vor seinen Konsequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt, sich dem
furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen: ängstlich läuft er
am Ufer auf und ab. Er will nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichen
Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das optimistische Betrachten verzärtelt.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 114 |
Genug,
wenn wir erkannt haben, wie der eigentliche Zauber und damit die Genesis dieser
neuen Kunstform in der Befriedigung eines gänzlich unästhetischen Bedürfnisses
liegt, in der optimistischen Verherrlichung des Menschen an sich, in der Auffassung
des Urmenschen als des von Natur guten und künstlerischen Menschen: welches
Prinzip der Oper sich allmählich in eine drohende und entsetzliche Forderung
umgewandelt hat, die wir, im Angesicht der sozialistischen Bewegungen der Gegenwart,
nicht mehr überhören können. Der »gute Urmensch« will
seine Rechte: welche paradiesischen Aussichten!Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 117 |
Der
kunstohnmächtige Mensch erzeugt sich eine Art von Kunst, gerade dadurch,
daß er der unkünstlerische Mensch an sich ist.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 118 |
Aus
dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die
mit den Urbedingungen der sokratischen Kultur nichts gemein hat und aus ihnen
weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Kultur als
das Schrecklich-Unerklärliche, als das Übermächtig-Feindselige
empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen
Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 122 |
Vor
der deutschen Musik aber mag sich der Lügner und Heuchler in acht nehmen:
denn gerade sie ist, inmitten aller unserer Kultur, der einzig reine, lautere
und läuternde Feuergeist, von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des
großen Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreisbahn bewegen:
alles, was wir jetzt Kultur, Bildung, Zivilisation nennen, wird einmal vor dem
untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 122-123 |
Erinnern
wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen strömenden Geiste der deutschen
Philosophie, durch Kant und Schopenhauer, es ermöglicht war, die zufriedne
Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen,
zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eine unendlich tiefere und ernstere Betrachtung
der ethischen Fragen und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die
in Begriffe gefaßte dionysische Weisheit bezeichnen können:
wohin weist uns das Mysterium dieser Einheit zwischen der deutschen Musik und
der deutschen Philosophie, wenn nicht auf eine neue Daseinsform, über deren
Inhalt wir uns nur aus hellenischen Analogien ahnend unterrichten können?Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 123 |
Ja,
meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die Wiedergeburt
der Tragödie.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 122 |
Die
Musik ist die eigentliche Idee der Welt, das Drama nur ein Abglanz dieser Idee,
ein vereinzeltes Schattenbild derselben.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 133 |
Das
Drama ... erreicht als Ganzes eine Wirkung, die jenseits aller apollinischen
Kunstwirkungen liegt. In der Gesamtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische
wieder das Übergewicht; sie schließt mit einem Klange, der niemals
von dem Reiche der apollinischen Kunst her tönen könnte. Und damit erweist
sich die apollinische Täuschung als das, was sie ist, als die während
der Dauer der Tragödie anhaltende Umschleierung der eigentlichen dionysischen
Wirkung: die doch so mächtig ist, am Schluß das apollinische Drama
selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit dionysischer Weisheit zu
reden beginnt und wo es sich selbst und seine apollinische Sichtbarkeit verneint.
So wäre wirklich das schwierige Verhältnis des Apollinischen und des
Dionysischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu
symbolisieren: Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schließlich
die Sprache Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst
überhaupt erreicht ist.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 134-135 |
Ohne
Mythus aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig:
erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung
zur Einheit ab.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 140 |
Und
gerade nur so viel ist ein Volk wie übrigens auch ein Mensch
wert, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag:
denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewußte innerliche
Überzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d.h. der
metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegenteil davon tritt ein, wenn ein Volk
anfängt, sich historisch zu begreifen und die mythischen Bollwerke um sich
herum zu zertrümmern: womit gewöhnlich eine entschiedene Verweltlichung,
ein Bruch mit der unbewußten Metaphysik seines früheren Daseins, in
allen ethischen Konsequenzen, verbunden ist.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 143 |
Wir
halten so viel von dem reinen und kräftigen Kerne des deutschen Wesens, daß
wir gerade von ihm jene Ausscheidung gewaltsam eingepflanzter fremder Elemente
zu erwarten wagen und es für möglich erachten, daß der deutsche
Geist sich auf sich selbst zurückbesinnt. Vielleicht wird mancher meinen,
jener Geist müsse seinen Kampf mit der Ausscheidung des Romanischen beginnen:
wozu er eine äußerliche Vorbereitung und Ermutigung in der siegreichen
Tapferkeit und blutigen Glorie des letzten Krieges erkennen dürfte, die innerliche
Nötigung aber in dem Wetteifer suchen muß, der erhabenen Vorkämpfer
auf dieser Bahn, Luthers ebensowohl als unserer großen Künstler und
Dichter, stets wert zu sein. Aber nie möge er glauben, ähnliche Kämpfe
ohne seine Hausgötter, ohne seine mythische Heimat, ohne ein »Wiederbringen«
aller deutschen Dinge, kämpfen zu können! Und wenn der Deutsche zagend
sich nach einem Führer umblicken sollte, der ihn wieder in die längst
verlorne Heimat zurückbringe, deren Wege und Stege er kaum mehr kennt
so mag er nur dem wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen, der
über ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 144 |
Kultur
ist, vor allem, die Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen
eines Volkes.Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872 |
In
irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen
Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden.
Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der »Weltgeschichte«;
aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das
Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. So könnte jemand
eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben,
wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig
sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt. Es gab Ewigkeiten,
in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben
haben. Denn es gibt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über
das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer
und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten.
Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden
wir vernehmen, daß auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und
in sich das fliegende Zentrum dieser Welt fühlt.Ders., Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn,
1872, in: Werke in drei Bänden, 3. Band, S. 3 |
Im
Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung,
das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden,
das Repräsentieren, das im erborgten Glanze leben, das Maskiertsein, die
verhüllende Konvention, das Bühnenspiel vor anderen und vor sich selbst,
kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr
die Regel und das Gesetz, daß fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter
den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.Ders., Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn,
1872, S. 4 |
Zwischen zwei absolut verschiedenen
Sphären, wie zwischen Subjekt und Objekt, gibt es keine Kausalität,
keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches
Verhalten, ich meine eine andeutende Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung
in eine ganz fremde Sprache: wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und
frei erfindenden Mittelsphäre und Mittelkraft bedarf. Ders., Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn,
1872, S. 11 |
»Wenn ein Handwerker
gewiß wäre, jede Nacht zu träumen, volle zwölf Stunden hindurch,
daß er König sei, so glaube ich«, sagt Pascal, »daß
er ebenso glücklich wäre als ein König, welcher alle Nächte
während zwölf Stunden träumte, er sei Handwerker.« Der wache
Tag eines mythisch erregten Volkes, etwa der älteren Griechen, ist durch
das fortwährend wirkende Wunder, wie es der Mythus annimmt, in der Tat dem
Traume ähnlicher als dem Tag des wissenschaftlich ernüchterten Denkers.
Wenn jeder Baum einmal als Nymphe reden oder unter der Hülle eines Stieres
ein Gott Jungfrauen wegschleppen kann, wenn die Göttin Athene selbst plötzlich
gesehn wird, wie sie mit einem schönen Gespann in der Begleitung des Pisistratus
durch die Märkte Athens fährt und das glaubte der ehrliche Athener
, so ist in jedem Augenblicke wie im Traume alles möglich, und die
ganze Natur umschwärmt den Menschen, als ob sie nur die Maskerade der Götter
wäre, die sich nur einen Scherz daraus machten, in allen Gestalten den Menschen
zu täuschen.Ders., Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn,
1872, S. 14 |
Ȇbrigens
ist mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit
zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.« Dies sind Worte Goethes, mit
denen, als mit einem herzhaft ausgedrückten Ceterum censeo, unsere
Betrachtung über den Wert und den Unwert der Historie beginnen mag. In derselben
soll nämlich dargestellt werden, warum Belehrung ohne Belebung, warum Wissen,
bei dem die Tätigkeit erschlafft, warum Historie als kostbarer Erkenntnis-Überfluß
und Luxus uns ernstlich, nach Goethes Wort, verhaßt sein muß - deshalb,
weil es uns noch am Notwendigsten fehlt, und weil das überflüssige der
Feind des Notwendigen ist.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 154 |
Gewiß,
wir brauchen die Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte
Müßiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm
auf unsere derben und anmutslosen Bedürfnisse und Nöte herabsehen. Das
heißt, wir brauchen sie zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr
vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen
Lebens und der feigen und schlechten Tat. Nur soweit die Historie dem Leben dient,
wollen wir ihr dienen: aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben, und eine
Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet: ein
Phänomen, welches an merkwürdigen Symptomen unserer Zeit sich zur Erfahrung
zu bringen jetzt ebenso notwendig ist, als es schmerzlich sein mag.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 154 |
Es
ist wahr: erst dadurch, daß der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend,
trennend, zusammenschließend jenes unhistorische Element einschränkt,
erst dadurch, daß innerhalb jener umschließenden Dunstwolke ein heller,
blitzender Lichtschein entsteht, - also erst durch die Kraft, das Vergangne zum
Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird
der Mensch zum Menschen: aber in einem Übermaße vom Historie hört
der Mensch wieder auf, und ohne jede Hülle des Unhistorischen würde
er nie angefangen haben und anzufangen wagen. Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S.. 160-161 |
Wie
der Handelnde, nach Goethes Ausdruck, immer gewissenlos ist, so ist er auch immer
wissenlos, so vergißt das Meiste, um Eins zu tun, er ist ungerecht gegen
das, was hinter ihm liegt, und kennt nur Ein Recht, das Recht dessen, was jetzt
werden soll.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 162 |
Sie
wissen gar nicht, wie unhistorisch sie trotz aller ihrer Historie denken und handeln,
und wie auch ihre Beschäftigung mit der Geschichte nicht im Dienste der reinen
Erkenntnis, sondern des Lebens steht.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 163 |
Mag
unsere Schätzung des Historischen nur ein okzidentales Vorurteil sein; wenn
wir nur wenigstens innerhalb dieser Vorurteile fortschreiten und nicht stillestehen!
Wenn wir nur diese gerade immer besser lernen, Historue zum Zwecke des Lebens
zu treiben! Dann wollen wir den Überhistorischen gerne zugestehen, daß
sie mehr Weisheit besitzen als wir; falls wir nämlich nur sicher sein dürfen,
mehr Leben als sie zu besitzen: denn so wird jedenfalls unsre Unweisheit mehr
Zukunft haben als ihre Weisheit.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 164-165 |
Die
Geschichte als reine Wissenschaft gedacht und souverän geworden, wäre
eine Art von Lebens-Abschluß und Abrech nung für die Menschheit. Die
historische Bildung ist vielmehr nur im Gefolge einer mächtigen neuen Lebensströmung,
einer werdenden Kultur zum Beispiel, etwas Heilsames und Zu kunfts-Verheißendes,
also nur dann, wenn sie von einer höheren Kraft beherrscht und geführt
wird und nicht selber herrscht und führt.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 165 |
Die
Historie, sofern sie im Dienste des Lebens steht, steht im Dienste einer unhistorischen
Macht und wird deshalb nie, in dieser Unterordnung, reine Wissenschaft, etwa wie
die Mathematik es ist, werden können und sollen. Die Frage aber, bis zu welchem
Grade das Leben den Dienst der Historie überhaupt brauche, ist eine der höchsten
Fragen und Sorgen in betreff der Gesundheit eines Menschen, eines Volkes, einer
Kultur. Denn bei einem gewissen Übermaß derselben zerbröckelt
und entartet das Leben, und zuletzt auch wieder, durch diese Entartung, selbst
die Historie. Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 165 |
Daß
das Leben aber den Dienst der Historie brauche, muß ebenso deutlich begriffen
werden als der Satz, der später zu beweisen sein wird - daß ein Übermaß
der Historie dem Lebendigen schade.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 166 |
In
dreierlei Hinsicht gehört die Historie dem Lebendigen: sie gehört ihm
als dem Tätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden,
ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen. Dieser Dreiheit von
Beziehungen entspricht eine Dreiheit von Arten der Historie: sofern es erlaubt
ist, eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische
Art der Historie zu unterscheiden.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 166 |
Die
Geschichte gehört vor Allem dem Tätigen und Mächtigen, dem, der
einen großen Kampf kämpft, der Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht
und sie unter seinen Genossen und in der Gegenwart nicht zu finden vermag. So
gehörte sie Schillern: denn unsre Zeit ist so schlecht, sagte Goethe, daß
dem Dichter im umgebenden menschlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begegnet.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 166 |
Mit
der Rücksicht auf den Tätigen nennt zum Beispiel Polybius die politische
Historie die rechte Vorbereitung zur Regierung eines Staates und die vorzüglichste
Lehrmeisterin, als welche durch die Erinnerung an die Unfälle Anderer uns
ermahne, die Abwechslungen des Glückes standhaft zu ertragen. Wer hierin
den Sinn der Historie zu erkennen gelernt hat, den muß es verdrießen,
neugierige Reisende oder peinliche Mikrologen auf den Pyramiden großer Vergangenheiten
herumklettern zu sehen; dort, wo er die Anreizungen zum Nachahmen und Bessermachen
findet, wünscht er nicht dem Müßiggänger zu begegnen, der,
begierig nach Zerstreuung oder Sensation, wie unter den gehäuften Bilderschätzen
einer Galerie herumstreicht.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 166 |
Aber
Eines wird leben, das Monogramm ihres eigensten Wesens, ein Werk, eine Tat eine
seltene Erleuchtung, eine Schöpfung: es wird leben, weil keine Nachwelt es
entbehren kann. In dieser verklärtesten Form ist der Ruhm doch etwas mehr
als der köstliche Bissen unsrer Eigenliebe, wie ihn Schopnehauer genannt
hat, es ist der Glaube an die Zusammengehörigkeit und Kontinuität des
Großen aller Zeiten, es ist ein Protest gegen den Wechsel der Geschlechter
und doe Vergänglichkeit.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 168 |
Im
Grunde ja könnte das, was einmal möglich war, sich nur dann zum zweiten
Male als möglich einstellen, wenn die Pythagoreer recht hätten zu glauben,
daß bei gleicher Konstellation der himmlischen Körper auch auf Erden
das Gleiche, und zwar bis aufs Einzelne und Kleine, sich wiederholen müsse:
so daß immer wieder, wenn die Sterne eine gewisse Stellung zueinander haben,
ein Stoiker sich mit einem Epikureer verbinden und Cäsar ermorden und immer
wieder bei einem anderen Stande Kolumbus Amerika entdecken wird. Nur wenn die
Erde ihr Theaterstück jedesmal nach dem fünften Akt von neuem anfinge,
wenn es feststünde, daß dieselbe Verknotung von Motiven, derselbe Deus
ex machina, dieselbe Katastrophe in bestimmten Zwischenräumen wiederkehrten,
dürfte der Mächtige die monumentale Historie in voller ikonischer Wahrhaftigkeit,
das heißt jedes Faktum in seiner genau geschilderten Eigentümlichkeit
und Einzigkeit begehren: wahrscheinlich also nicht eher, als bis die Astronomen
wieder zu Astrologen geworden sind. Bis dahin wird die monumentale Historie jene
volle Wahrhaftigkeit nicht brauchen können: immer wird sie das Ungleiche
annähern, verallgemeinern und endlich gleichsetzen.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 169 |
Jede
der drei Arten von Historie, die es gibt, ist nur gerade auf Einem Boden und unter
Einem Klina in ihrem Rechte: auf jedem anderen wächst sie zum verwüstenden
Unkraut heran. Wenn der Mensch, der Großes schaffen will, überhaupt
die Vergangenheit braucht, so bemächtigt er sich ihrer vermittelst der monumentalischen
Historie; wer dagegen im Gewohnten und Altverehrten beharren mag, pflegt das Vergangne
als antiquarischer Historiker; und nur der, dem eine gegenwärtige
Not die Brust beklemmt, und der um jeden Preis die Last von sich abwerfen will,
hat ein Bedürfnis zur kritischen, das heißt richtenden und verurteilenden
Historie.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 172 |
Wie
könnte die Historie dem Leben besser dienen, als dadurch, daß sie auch
die minder begünstigten Geschlechter und Bevölkerungen an ihre Heimat
und Heimatsitte anknüpft, seßhaft macht und sie abhält, nach dem
Besseren in der Fremde herumzuschweifen und um dasselbe wetteifernd zu kämpfen?Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 174 |
Hier
wird es deutlich, wie notwendig der Mensch, neben der monumentalischen und antiquarischen
Art, die Vergangenheit zu betrachten, oft genug eine dritte Art nötig hat,
die kritische: und zwar auch diese wiederum im Dienste des Lebens. Er muß
die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen
und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, daß
er sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert und endlich verurteilt; jede Vergangenheit
aber ist wert, verurteilt zu werden, denn so steht es nun einmal mit den menschlichen
Dingen: immer ist in ihnen menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen.
Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger
die Gnade, die hier das Urteil verkündet: sondern das Leben allein, jene
dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 177 |
»Denn
Alles, was entlsteht, ist wert, daß es zugrunde geht. Drum besser wär's,
daß nichts entstünde.« Es gehört sehr viel Kraft dazu, leben
zu können und zu vergessen, inwiefern leben und ungerecht sein Eins ist.
Luther selbst hat einmal gemeint, daß die Welt nur durch eine Vergeßlichkeit
Gottes entstanden sei; wenn Gott nämlich an das »schwere Geschütz«
gedacht hätte, er würde die Welt nicht geschaffen haben. Mitunter aber
verlangt eben dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung
dieser Vergessenheit; dann soll es eben gerade klar werden, wie ungerecht die
Existenz irgendeines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum
Beispiel, ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 177-178 |
Dann
wird seine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man mit dem Messer an
seine Wurzeln, dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg.
Es ist immer ein gefährlicher, nämlich für das Leben selbst gefährlicher
Prozeß: und Menschen oder Zeiten, die auf diese Weise dem Leben dienen,
daß sie eine Vergangenheit richten und vernichten, sind immer gefährliche
und gefährdete Menschen und Zeiten. Denn da wir nun einmal die Resultate
früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen,
Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich, sich
ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurteilen und
uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Tatsache nicht beseitigt, daß
wir aus ihnen herstammen.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 178 |
Wir
bringen es im besten Falle zu einem Widerstreite der ererbten, angestammten Natur
und unsrer Erkenntnis, auch wohl zu einem Kampfe einer neuen strengen Zucht gegen
das von alters her Anerzogne und Angeborne, wir pflanzen eine neue Gewöhnung,
einen neuen Instinkt, eine zweite Natur an, so daß die erste Natur abdorrt.
Es ist ein Versuch, sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben,
aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt: immer
ein gefährlicher Versuch, weil es so schwer ist, eine Grenze im Verneinen
des Vergangnen zu finden, und weil die zweiten Naturen meistens schwächlicher
als die ersten sind. Es bleibt zu häufig bei einem Erkennen des Guten, ohne
es zu tun, weil man auch das Bessere kennt, ohne es tun zu können. Aber hier
und da gelingt der Sieg doch, und es gibt sogar für die Kämpfenden,
für die, welche sich der kritischen Historie zum Leben bedienen, einen merkwürdigen
Trost: nämlich zu wissen, daß auch jene erste Natur irgendwann einmal
eine zweite Natur war und daß jede siegende zweite Natur zu einer ersten
wird.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 178 |
Dies
sind die Dienste, welche die Historie dem Leben zu leisten vermag; jeder Mensch
und jedes Volk braucht je nach seinen Zielen, Kräften und Nöten eine
gewisse Kenntnis der Vergangenheit, bald als monumentalische, bald als
antiquarische, bald als kritische Historie: aber nicht wie eine
Schar von reinen, dem Leben nur zusehenden Denkern, nicht wie wissensgierige,
durch Wissen allein zu befriedigende Einzelne, denen Vermehrung der Erkenntnis
das Ziel selbst ist, sondern immer nur zum Zweck des Lebens und also auch unter
der Herrschaft und obersten Führung dieses Lebens.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 179 |
Daß
dies die natürliche Beziehung einer Zeit, einer Kultur, eines Volkes zur
Historie ist - hervorgerufen durch Hunger, reguliert durch den Grad des Bedürfnisses,
in Schranken gehalten durch die innewohnende plastische Kraft - daß die
Kenntnis der Vergangenheit zu allen Zeiten nur im Dienste der Zukunft und Gegenwart
begehrt ist, nicht zur Schwächung der Gegenwart, nicht zur Entwurzelung einer
lebenskräftigen Zukunft: das Alles ist einfach, wie die Wahrheit einfach
ist, und überzeugt sofort auch den, der dafür nicht erst den historischen
Beweis sich führen läßt.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 179 |
Und
nun schnell einen Blick auf unsre Zeit! Wir erschrecken, wir fliehen zurück:
wohin ist alle Klarheit, alle Natürlichkeit und Reinheit jener Beziehung
von Leben und Historie, wie verwirrt, wie übertrieben, wie unruhig flutet
jetzt dies Problem vor unsren Augen! Liegt die Schuld an uns, den Betrachtenden?
Oder hat sich wirklich die Konstellation von Leben und Historie verändert,
dadurch daß ein mächtig feindseliges Gestirn zwischen sie getreten
ist? Mögen Andere zeigen, daß wir falsch gesehen haben: wir wollen
sagen, was wir zu sehen meinen. Es ist allerdings ein solches Gestirn, ein leuchtendes
und herrliches Gestirn dazwischengetreten, die Konstellation ist wirklich verändert
- durch die Wissenschaft, durch die Fordernng, daß die Historie Wissenschaft
sein soll. Jetzt regiert nicht mehr allein das Leben und bändigt das
Wissen um die Vergangenheit: sondern alle Grenzpfähle sind, umgerissen und
alles, was einmal war, stürzt auf den Menschen zu. So weit zurück es
ein Werden gab, soweit zurück, ins Unendliche hinein, sind auch alle Perspektiven
verschoben. Ein solche unüberschaubares Schauspiel sah noch kein Geschlecht,
wie es jetzt die Wissenschaft des universalen Wissens, die Historie, zeigt: freilich
aber zeigt sie es mit der gefährlichen Kühnheit ihre wahlspruches: fiat
veritas pereat vita.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 179-180 |
Der
moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen
mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln,
wie es im Märchen heißt.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 180 |
Der
moderne Mensch leidet an einer geschwächten Persönlichkeit.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 187 |
Der
Wahrheit dienen Wenige in Wahrheit, weil nur Wenige den reinen Willen haben, gerecht
zu sein, und selbst von diesen wieder die Wenigsten die Kraft, gerecht sein zu
können.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 195 |
Wie
unwahrscheinlich ist ... die Häufigkeit des historischen Talentes!Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 197 |
Glaubt
einer Geschichtsschreibung nicht, wenn sie nicht aus dem Haupte der seltensten
Geister herausspringt ....Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 202 |
Wer
nicht Einiges größer und höher erlebt hat als Alle, wird auch
nichts Großes und Hohes aus der Vergangenheit zu deuten wissen.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 202 |
Fragt
nicht bei der Geschichte an, daß sie euch das Wie? das Wohin? zeige. Wenn
ihr euch dagegen in die Geschichte großer Männer hineinlebt, so werdet
ihr aus ihr ein oberstes Gebot lernen, reif zu werden, und jenem lähmenden
Erziehungsbanne der Zeit zu entfliehen, die ihren Nutzen darin sieht, euch nicht
reif werden zu lassen, um euch, die Unreifen, zu beherrschen und auszubeuten.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 203 |
Die
historische Gerechtigkeit, selbst wenn sie wirklich und in reiner Gesiinung geübt
wird, ist ... eine schreckliche Tugend, weil sie immer das Lebendige untergräbt
und zu Falle bringt: ihr Richten ist immer ein Vernichten.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 203 |
Eine
Religion zum Beispiel, die in historisches Wissen, unter dem Walten der reinen
Gerechtigkeit, umgesetzt werden soll, eine Religion, die durch und durch wissenschaftlich
erkannt werden soll, ist am Ende dieses Weges zugleich vernichtet.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 204 |
Was
man am Christentum lernen kann, daß es unter der Wirkung einer historisierenden
Behandlung blasiert und unnatürlich geworden ist, bis endlich eine vollkommen
historische ... Behandlung es in reines Wissen um das Christentum auflöst
und dadurch vernichtet, das kann man an allem, was Leben hat, studieren; daß
es aufhört zu leben, wenn es zu Ende seziert ist und schmerzlich und krabkhaft
lebt, wenn man anfängt, an ihm die historische Sezierübungen zu machen.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 205 |
Alles
Lebendige braucht um sich eine Atmosphäre, einen geheimnisvollen Dunstkreis;
wenn man ihm diese Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein Genie
verurteilt, als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über
das schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbar-Werden nicht mehr wundern. So ist
es nun einmal bei allen großen Dingen, »die nie ohn' ein'gen Wahn
gelingen«, wie Hans Sachs in den Meistersingern sagt.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 206 |
Aber
selbst jedes Volk, ja jeder Mensch, der reif werden will, braucht einen
solchen umhüllenden Wahn, eine solche umschützende und umschleiernde
Wolke; jetzt aber haßt man das Reifwerden überhaupt, weil man die Historie
mehr als das Leben ehrt. Ja man triumphiert darüber, daß jetzt »die
Wissenschaft anfange über das Leben zu herrschen«: möglich, daß
man das erreicht; aber gewiß ist ein derartige beherrschtes Leben nicht
viel wert, weil es viel weniger Leben ist und viel weniger Leben für
die Zukunft verbürgt als das ehemals nicht durch das Wissen, sondern durch
Instinkte und kräftige Wahnbilder beherrschte Leben.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 206 |
So
..., wie der junge Mensch durch die Geschichte läuft, so laufen wir Modernen
durch die Kunstkammern, so hören wir Konzerte. Man fühlt wohl, das klingt
anders als jenes, das wirkt anders als jenes: dies gefühl der Befremdung
immer mehr zu verlieren, über nichts mehr übermäßig zu erstaunen,
endlich alles sich gefallen zu lassen - das nennt man dann wohl den historischen
Sinn, die historische Bildung.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 207 |
Die
gediegene Mittelmäßigkeit wird immer mittelmäßiger, die
Wissenschaft im ökonomischen Sinne immer nutzbarer.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 208-209 |
Schafft
euch den Begriff eines »Volkes«; den könnt ihr nie edel und hoch
genug denken. Dächtet ihr groß vom Volke, so wäret ihr auch barmherzig
gegen dasselbe und hütetet euch wohl, euer historisches Scheidewasser ihm
als Lebens- und Labetrank anzubieten. Aber ihr denkt im tiefsten Grunde von ihm
gering, weil ihr vor seiner Zukunft keine wahre und sicher gegründete Achtung
haben dürft, und ihr handelt als praktische Pessimisten, ich meine als Menschen,
die die Ahnung eines Unterganges leietet und die dadurch gegen das fremde, ja
gegen das eigne Wohl gleichgültig und läßlich werden. Wenn uns
nur die Scholle noch trägt! Und wenn sie uns nicht mehr trägt, dann
soll es auch recht sein: - so empfinden sie und leben eine ironische Existenz.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 210 |
Uns
ziemt jede Ungereimtheit, jener Aberglaube ..., uns, den Spätgekommenen,
den abgeblaßten letzten Sprossen mächtiger und frohmütiger Geschlechter,
und, auf die Hesiods Prophezeiung zu deuten ist, daß die Menschen einst
sogleich graubehaart geboren würden, und das Zeus dies Geschlecht vertilgen
werde, sobald jenes zeichen an ihm sichtbar geworden sei. Die historische Bildung
ist auch wirklich eine Art angeborner Grauhaarigkeit ....Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 211 |
Steckt
nicht ... in diesem lähmenden Glauben an eine bereits abwelkende Menschheit
das Mißverständnis einer, vom Mittelalter her vererbten, christlich
theologischen Vorstellung, der Gedanke an das nahe Weltende, an das bänglich
erwartete Gericht?Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 212 |
Das
Christentum ... erreicht ... doch ebenfalls sein Ziel, wenn es sich mit der historischen
Bildung, meistens sogar ohne deren Mitwissen, verbündet und nun, aus ihr
heraus redend, alles Werdende achselzuckend ablehnt und darüber das Gefühl
des gar zu Überspäten und Epigonenhaften, kurz der angebornen Grauhaarigkeit
ausbreitet. Die herbe und tiefsinnig ernste Betrachtung über den Unwert alles
Geschenen, über das Zum-Gericht-Reifsein der Welt, hat sich zu dem skeptischen
Bewußtsein verflüchtigt, daß es jedenfalls gut sei, alles Geschehene
zu wissen, weil es zu spät dafür sei, etwas Besseres zu tun. So macht
der historische Sinn seine Diener passiv und retrospektiv ....Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 213 |
Ich
glaube, daß es keine gefährliche Schwankung oder Wendung der deutschen
Bildung in diesem Jahrhundert gegeben hat, die nicht durch die ungeheure, bis
diesen Augenblick fortströmende Einwirkung dieser Philosophie, der Hegelischen,
gefährlicher geworden ist. Wahrhaftig, lähmend und verstimmend ist der
Glaube, ein Spätling der Zeiten zu sein: furchtbar und zerstörend muß
es aber erscheinen, wenn ein solcher Glaube eines Tages mit kecker Umstülpung
diesen Spätling als den wahren Sinn und Zweck alles früher Geschehenen
vergöttert, wenn sein wissendes Elend einer Vollendung der Weltgeschichte
gleichgesetzt wird. Eine solche Betrachtungsart hat die Deutschen daran gewöhnt,
vom »Weltprozeß« zu reden und die eigne Zeit als das notwendige
Resultat dieses Weltprozesses zu rechtfertigen; eine solche Betrachtungsart hat
die Geschichte an Stelle der andern geistigen Mächte, Kunst und Religion,
als einzig souverän gesetzt, insofern sie »der sich selbst realisierende
Begriff«, insofern sie »die Dialektik der Völkergeister«
und das »Weltgericht« ist.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 216 |
Man
hat diese Hegelisch verstandene Geschichte mit Hohn das Wandeln Gottes auf der
Erde genannt, welcher Gott aber seinerseits erst durch die Geschichte gemacht
wird. Dieser Gott aber wurde sich selbst innerhalb der Hegelischen Hirnschalen
durchsichtig und verständlich und ist bereits alle dialektisch möglichen
Stufen seines Werdens, bis zu jener Selbstoffenbarung, emporgestiegen: so daß
für Hegel der Höhepunkt und der Endpunkt des Weltprozesses in seiner
eignen Berliner Existenz zusammenfielen. Ja er hätte sagen müssen, daß
alle nach ihm kommenden Dinge eigentlich nur als eine musikalische Coda des weltgeschichtlichen
Rondos, noch eigentlicher, als überflüssig zu schätzen seien. Das
hat er nicht gesagt: dafür hat er in die von ihm durchsäuerten Generationen
jene Bewunderung vor der »Macht der Geschichte« gepflanzt, die praktisch
alle Augenblicke in nackte Bewunderung des Erfolges umschlägt und zum Götzendienste
des Tatsächlichen führt: für welchen Dienst man sich jetzt die
sehr mythologische und außerdem recht gut deutsche Wendung »den Tatsachen
Rechnung tragen« allgemein eingeübt hat.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 216-217 |
Wer
aber erst gelernt hat, vor der »Macht der Geschichte« den Rücken
zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt chinesenhaft-mechanisch
sein »Ja« zu jeder Macht, sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche
Meinung oder eine Zahlen-Majorität, und bewegt seine Glieder genau in dem
Takte, in dem irgendeine »Macht« am Faden zieht. Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 217 |
Enthält
jeder Erfolg in sich eine vernünftige Notwendigkeit, ist jedes Ereignis der
Sieg des Logischen oder der »Idee« - dann nur hurtig nieder auf die
Knie und nun die ganze Stufenleiter der »Erfolge« abgekniet!Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 217 |
Was,
es gäbe keine herrschenden Mythologien mehr? Was, die Religionen wären
im Aussterben? Seht euch nur die Religion der historischen Macht an, gebt
acht auf die Priester der Ideen-Mythologie und ihre zerschundenen Knie! Sind nicht
sogar alle Tugenden im Gefolge dieses neuen Glaubens? Oder ist es nicht Selbstlosigkeit,
wenn der historische Mensch sich zum objektiven Spiegelglas ausblasen läßt?
Ist es nicht Großmut, auf alle Gewalt im Himmel und auf Erden zu verzichten,
dadurch, daß man in jeder Gewalt die Gewalt an sich anbetet? Ist es nicht
Gerechtigkeit, immer Waagschalen in den Händen zu haben und fein zuzusehen,
welche als die stärkere und schwerere sich neigt? Und welche Schule der Wohlanständigkeit
ist eine solche Betrachtung der Geschichte!Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 217 |
So
wird die Geschichte zu einem Kompendium der tatsächlichen Unmoral. Wie schwer
würde sich der irren, der die Geschichte zugleich als Richterin dieser tatsächlichen
Unmoral ansähe! Es beleidigt zum Beispiel die Moral, daß ein Raffael
sechsunddreißig Jahr alt sterben mußte: solch ein Wesen sollte nicht
sterben. Wollt ihr nun der Geschichte zu Hilfe kommen, als Apologeten des Tatsächlichen,
so werdet ihr sagen: er hat alles, was in ihm lag, ausgesprochen, er hätte,
bei längerem Leben, immer nur das Schöne als gleiches Schönes,
nicht als neues Schönes schaffen können, und dergleichen. So seid ihr
die Advokaten des Teufels, und zwar dadurch, daß ihr den Erfolg, das Faktum
zu eurem Götzen macht: während das Faktum immer dumm ist und zu allen
Zeiten einem Kalbe ähnlicher gesehen hat als einem Gotte. Als Apologeten
der Geschichte souffliert euch überdies die Ignoranz: denn nur weil ihr nicht
wißt, was eine solche natura naturans, wie Raffael, ist, macht es
euch nicht heiß, zu vernehmen, daß sie war und nicht mehr sein wird.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 218 |
Über
Goethe hat uns neuerdings jemand belehren wollen, daß er mit seinen 82 Jahren
sich ausgelebt habe: und doch würde ich gern ein paar Jahre des »ausgelebten«
Goethe gegen ganze Wagen voll frischer hochmoderner Lebensläufe einhandeln,
um noch einen Anteil an solchen Gesprächen zu haben, wie sie Goethe mit Eckermann
führte, und um auf diese Weise vor allen zeitgemäßen Belehrungen
durch die Legionäre des Augenblicks bewahrt zu bleiben. Wie wenige Lebende
haben überhaupt, solchen Toten gegenüber, ein Recht zu leben! Daß
die Vielen leben und jene Wenigen nicht mehr leben, ist nichts als eine brutale
Wahrheit, das heißt eine unverbesserliche Dummheit, ein plumpes »es
ist einmal so« gegenüber der Moral »es sollte nicht so sein«.
Ja, gegenüber der Moral!Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 218 |
Dicht
neben dem Stolze des modernen Menschen steht seine Ironie über sich
selbst, sein Bewußtsein, daß er in einer historisierenden und gleichsam
abendlichen Stimmung leben muß ....Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 219 |
Hier
und da geht man noch weiter, ins Zynische, und rechtfertigt den Gang der Geschichte,
ja der gesamten Weltentwicklung ganz eigentlich für den Handgebrauch des
modernen Menschen, nach dem zynischen Kanon: gerade so mußte es kommen,
wie es gerade jetzt geht, so und nicht anders mußte der Mensch werden, wie
jetzt die Menschen sind, gegen dieses Muß darf sich keiner auflehnen.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 220 |
In
das Wohlgefühl eines derartigen Zynismus flüchtet sich der, welcher
es nicht in der Ironie aushalten kann; ihm bietet überdies das letzte Jahrzehnt
eine seiner schönsten Erfindungen zum Geschenke an, eine gerundete und volle
Phrase für jenen Zynismus: sie nennt seine Art, zeitgemäß und
ganz und gar unbedenklich zu leben, »die volle Hingabe der Persönlichkeit
an den Weltprozeß«.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 220 |
Die
Persönlichkeit und der Weltprozeß! Der Weltprozeß und die Persönlichkeit
des Erdflohs! Wenn man nur nicht ewig die Hyperbel aller Hyperbeln, das Wort:
Welt, Welt, Welt hören müßte, da doch Jeder, ehrlicherweise, nur
von Mensch, Mensch, Mensch reden sollte! Erben der Griechen und Römer? des
Christentums? Das scheint Alles jenen Zynikern nichts; aber Erben des Weltprozesses!
Spitzen und Zielscheiben des Weltprozesses! Sinn und Lösung aller Werde-Rätsel
überhaupt, ausgedrückt im modernen Menschen, der reifsten Frucht am
Baume der Erkenntnis! - das nenne ich ein schwellendes Hochgefühl; an diesem
Wahrzeichen sind die Erstlinge aller Zeiten zu erkennen, ob sie auch gleich zuletzt
gekommen sind.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 220 |
So
weit flog die Geschichtsbetrachtung noch nie, selbst nicht, wenn sie träumte;
denn jetzt ist die Menschengeschichte nur die Fortsetzung der Tier- und Pflanzengeschichte;
ja in den untersten Tiefen des Meeres findet der historische Universalist noch
die Spuren seiner selbst, als lebenden Schleim; den ungeheuren Weg, den der Mensch
bereits durchlaufen hat, wie ein Wunder anstaunend, schwindelt dem Blicke vor
dem noch erstaunlicheren Wunder, vor dem modernen Menschen selbst, der diesen
Weg zu übersehen vermag. Er steht hoch und stolz auf der Pyramide des Weltprozesses:
indem er oben darauf den Schlußstein seiner Erkenntnis legt, scheint er
der horchenden Natur rings umher zuzurufen: »wir sind am Ziele, wir sind
das Ziel, wir sind die vollendete Natur.«Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 220-221 |
Überstolzer
Europäer des 19. Jahrhunderts, du rasest! Dein Wissen vollendet nicht die
Natur, sondern tötet nur deine eigne. Miß nur einmal deine Höhe
als Wissender an deiner Tiefe als Könnender. Freilich kletterst du an den
Sonnenstrahlen des Wissens aufwärts zum Himmel, aber auch abwärts zum
Chaos. Deine Art zu gehen, nämlich als Wissender zu klettern, ist dein Verhängnis;
Grund und Boden weicht ins Ungewisse für dich zurück; für dein
Leben gibt es keine Stützen mehr, nur noch Spinnefäden, die jeder neue
Griff deiner Erkenntnis auseinanderreißt. - Doch darüber kein ernstes
Wort mehr, da es möglich ist, ein heiteres zu sagen.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 221 |
Das
rasend-unbedachte Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente, ihre Auflösung
in ein immer fließendes und zerfließendes Werden, das unermüdliche
Zerspinnen und Historisieren alles Gewordenen durch den modernen Menschen, die
große Kreuzspinne im Knoten des Weltall-Netzes - das mag den Moralisten,
den Künstler, den Frommen, auch wohl den Staatsmann beschäftigen und
bekümmern; uns soll es heute einmal erheitern, dadurch, daß wir dies
alles im glänzenden Zauberspiegel eines philosophischen Parodisten
sehen, in dessen Kopfe die Zeit über sich selbst zum ironischen Bewußtsein,
und zwar deutlich »bis zur Verruchtheit« (um Goethisch zu reden),
gekommen ist.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 221 |
Hegel
hat uns einmal gelehrt, »wenn der Geist einen Ruck macht, da sind wir Philosophen
auch dabei«: unsre Zeit machte einen Ruck, zur Selbstironie, und siehe!
da war auch E. von Hartmann dabei und hatte seine berühmte Philosophie
des Unbewußten - oder um deutlicher zu reden - seine Philosophie der
unbewußten Ironie geschrieben. Selten haben wir eine lustigere Erfindung
und eine mehr philosophische Schelmerei gelesen als die Hartmanns; wer durch ihn
nicht über das Werden aufgeklärt, ja innerlich aufgeräumt
wird, ist wirklich reif zum Gewesensein.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 221 |
Anfang
und Ziel des Weltprozesses, vom ersten Stutzen des Bewußtseins bis zum Zurückgeschleudert-Werden
ins Nichts, samt der genau bestimmten Aufgabe unsrer Generation für den Weltprozeß,
alles dargestellt aus dem so witzig erfundenen Inspirations-Borne des Unbewußten
und im apokalyptischen Lichte leuchtend, alles so täuschend und zu so biederem
Ernste nachgemacht, als ob es wirkliche Ernst-Philosophie und nicht nur Spaß-Philosophie
wäre.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 221-222 |
Ein
solches Ganze stellt seinen Schöpfer als einen der ersten philosophischen
Parodisten aller Zeiten hin: opfern wir also auf seinem Altar, opfern wir ihm,
dem Erfmder einer wahren Universal-Medizin, eine Locke - um einen Schleiermacherischen
Bewunderungs-Ausdruck zu stehlen. Denn welche Medizin wäre heilsamer gegen
das Übermaß historischer Bildung als Hartmanns Parodie aller Welthistorie
?Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 222 |
Wollte
man recht trocken heraussagen, was Hartmann von dem umrauchten Dreifuße
der unbewußten Ironie her uns verkündet, so wäre zu sagen: er
verkündet uns, daß unsre Zeit nur gerade so sein müsse, wie sie
ist, wenn die Menschheit dieses Dasein einmal ernstlich satt bekommen soll: was
wir von Herzen glauben. Jene erschreckende Verknöcherung der Zeit, jenes
unruhige Klappern mit den Knochen - wie es uns David Strauß naiv als schönste
Tatsächlichkeit geschildert hat - wird bei Hartmann nicht nur von hinten,
ex causis efficientibus, sondern sogar von vorne, ex causa finali,
gerechtfertigt; von dem jüngsten Tage her läßt der Schalk das
Licht über unsre Zeit strahlen, und da findet sich, daß sie sehr gut
ist, nämlich für den, der möglichst stark an Unverdaulichkeit des
Lebens leiden will und jenen jüngsten Tag nicht rasch genug heranwünschen
kann.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 222 |
Zwar
nennt Hartmann das Lebensalter, dem die Menschheit sich jetzt nähert, das
»Mannesalter«: das ist aber, nach seiner Schilderung, der beglückte
Zustand, wo es nur noch »gediegene Mittelmäßigkeit« gibt
und die Kunst das ist, was »dem Berliner Börsenmanne etwa abends die
Posse« ist, wo »die Genies kein Bedürfnis der Zeit mehr sind,
weil es hieße, die Perlen vor die Säue werfen, oder auch weil die Zeit
über das Stadium, welchem Genies gebührten, zu einem wichtigeren fortgeschritten
ist«, zu jenem Stadium der sozialen Entwicklung nämlich, in dem jeder
Arbeiter »bei einer Arbeitszeit, die ihm für seine intellektuelle Ausbildung
genügende Muße läßt, ein komfortables Dasein führe«.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 222-223 |
Schalk
aller Schalke, du sprichst das Sehnen der jetzigen Menschheit aus: du weißt
aber gleichfalls, was für ein Gespenst am Ende dieses Mannesalters der Menschheit,
als Resultat jener intellektuellen Ausbildung zur gediegenen Mittelmäßigkeit,
stehen wird - der Ekel.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 223 |
Sichtbar
steht es ganz erbärmlich, es wird aber noch viel erbärmlicher kommen,
»sichtbar greift der Antichrist weiter und weiter um sich« - aber
es muß so stehen, es muß so kommen, denn mit dem Allen sind wir auf
dem besten Wege - zum Ekel an allem Daseienden. »Darum rüstig vorwärts
im Weltprozeß als Arbeiter im Weinberge des Herrn, denn der Prozeß
allein ist es, der zur Erlösung führen kann!«Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 223 |
Der
Weinberg des Herrn! Der Prozeß! Zur Erlösung! Wer sieht und hört
hier nicht die historische Bildung, die nur das Wort »werden« kennt,
wie sie sich zur parodischen Mißgestalt absichtlich vermummt, wie sie durch
die vorgehaltne groteske Fratze die mutwilligsten Dinge über sich selbst
sagt! Denn was verlangt eigentlich dieser letzte schalkische Anruf der Arbeiter
im Weinberge von diesen? In welcher Arbeit sollen sie rüstig vorwärtsstreben?
Oder um anders zu fragen: was hat der historisch Gebildete, der im Flusse des
Werdens schwimmende und ertrunkene moderne Fanatiker des Prozesses noch übrig
zu tun, um einmal jenen Ekel, die köstliche Traube jenes Weinberges, einzuernten?
-Er hat nichts zu tun als fortzuleben, wie er gelebt hat, fortzulieben, was er
geliebt hat, fortzuhassen, was er gehaßt hat und die Zeitungen fortzulesen,
die er gelesen hat; für ihn gibt es nur Eine Sünde - anders zu leben,
als er gelebt hat.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 223 |
Es
oll dem Verfasser der Philosophie des Unbewußten stets zum Lobe nachgesagt
werden, daß es ihm zuerst gelungen ist, das Lächerliche in der Vorstellung
des »Weltprozesses« scharf zu empfinden und durch den sonderlichen
Ernst seiner Darstellung noch schärfer nachempfinden zu lassen.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 227-228 |
Wie,
die Statistik bewiese, daß es Gesetze in der Geschichte gäbe? Gesetze?
Ja, sie beweist, wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist: soll man die Wirkung
der Schwerkräfte Dummheit, Nachäfferei, Liebe und Hunger Gesetze nennen?
Nun, wir wollen es zugeben, aber damit steht dann auch der Satz fest: soweit es
Gesetze in der Geschichte gibt, sind die Gesetze nichts wert und ist die Geschichte
nichts wert. Gerade diejenige Art der Historie ist aber jetzt allgemein in Schätzung,
welche die großen Massenbetriebe als das Wichtige und Hauptsächliche
in der Geschichte nimmt und alle großen Männer nur als den deutlichsten
Ausdruck, gleichsam als die sichtbar werdenden Bläschen auf der Wasserflut
betrachtet. Da soll die Masse aus sich heraus das Große, das Chaos also
aus sich heraus die Ordnung gebären; am Ende wird dann natürlich der
Hymnus auf die gebärende Masse angestimmt. »Groß« wird
dann alles das genannt, was eine längere Zeit eine solche Masse bewegt hat
und, wie man sagt, »eine historische Macht« gewesen ist. Heißt
das aber nicht recht absichtlich Quantität und Qualität verwechseln?Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 228 |
Wenn
die plumpe Masse irgendeinen Gedanken, zum Beispiel einen Religionsgedanken, recht
adäquat gefunden hat, ihn zäh verteidigt und durch Jahrhunderte fortschleppt:
so soll dann, und gerade dann erst, der Finder und Gründer jenes Gedankens
groß sein. Warum doch! Das Edelste und Höchste wirkt gar nicht auf
die Massen; der historische Erfolg des Christentums, seine historische Macht,
Zähigkeit und Zeitdauer, alles das beweist glücklicherweise nichts in
betreff der Größe seines Gründers, da es im Grunde gegen ihn beweisen
würde: aber zwischen ihm und jenem historischen Erfolge liegt eine sehr irdische
und dunkle Schicht von Leidenschaft, Irrtum, Gier nach Macht und Ehre, von fortwirkenden
Kräften des imperium romanum, eine Schicht, aus der das Christentum
jenen Erdgeschmack und Erdenrest bekommen hat, der ihm die Fortdauer in dieser
Welt ermöglichte und gleichsam seine Haltbarkeit gab.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 228-229 |
Die
reinsten und wahrhaftigsten Anhänger des Christentums haben seinen weltlichen
Erfolg, seine sogenannte »historische Macht« immer eher in Frage gestellt
und gehemmt; denn sie pflegen sich außerhalb »der Welt« zu stellen
....Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 229 |
Ich
vertraue der Jugend, daß sie mich recht geführt hat, wenn sie
mich jetzt zu einem Proteste gegen die historische Jugenderziehung des modernen
Menschen nötigt, und wenn der Protestierende fordert, daß der Mensch
vor allem zu leben lerne und nur im Dienste des erlernten Lebens die Historie
gebrauche. Man muß jung sein, um diesen Protest zu verstehen, ja man kann,
bei der zeitigen Grauhaarigkeit unsrer jetzigen Jugend, kaum jung genug sein,
um noch zu spüren, wogegen hier eigentlich protestiert wird.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 232-233 |
Ja
als ob man so als flüchtiger Spaziergänger in der Historie den Vergangenheiten
ihre Griffe und Künste, ihren eigentlichen Lebensertrag absehen könnte!
Ja also ob das Leben selbst nicht ein Handwerk wäre, das aus dem grunde und
stätig gelernt und ohne Schonung geübt werden muß, wenn es nicht
Stümper und Schwätzer auskriechen lassen soll!Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 235 |
Das
Übermaß von Historie hat die plastische Kraft des Lebens angegriffen,
es versteht nicht mehr, sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung
zu bedienen.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 237 |
Die
Gegenmittel gegen das Historische heißen - das Unhistorische und das
Überhistorische.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 237 |
Soll
nun das Leben über das Erkennen, über die Wissenschaft, soll das Erkennen
über das Leben herrschen? Welche von beiden ist die höhere und
entscheidende? Niemand wird zweifeln: das Leben ist die höhere, die herrschende
Gewalt, denn ein Erkennen, welche das Leben vernichtete, würde sich selbst
mit vernichtet haben.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 238 |
Und
wie kommen wir zu jenem Ziele? werdet ihr fragen. Der Delphische Gott ruft euch,
gleich am Anfang eurer Wanderung nach jenem Ziele, seinen Spruch entgegen: »Erkenne
dich selbst.« Es sit ein schwerer Spruch: denn jener Gott »verbirgt
nicht und verkündet nicht, sondern zeigt nur hin«, wie Heraklit gesagt
hat. Worauf weist er euch hin?Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 240-241 |
Es
gab Jahrhunderte, in denen die Griechen in einer ähnlichen Gefahr sich befanden,
in der wir uns befmden, nämlich an der Überschwemmung durch das Fremde
und Vergangne, an der »Historie« zugrunde zu gehen. Niemals haben
sie in stolzer Unberührbarkeit gelebt: ihre »Bildung« war vielmehr
lange Zeit ein Chaos von ausländischen, semitischen, babylonischen, lydischen,
ägyptischen Formen und Begriffen, und ihre Religion ein wahrer Götterkampf
des ganzen Orients: ähnlich etwa wie jetzt die »deutsche Bildung«
und Religion ein in sich kämpfendes Chaos des gesamten Auslandes, der gesamten
Vorzeit ist. Und trotzdem wurde die hellenische Kultur kein Aggregat, dank jenem
apollinischen Spruche.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 241 |
Die
Griechen lernten allmählich das Chaos zu organisieren, dadurch, daß
sie sich, nach der delphischen Lehre, auf sich selbst, das heißt auf ihre
ächten Bedürfnisse zurückbesannen und die Schein-Bedürfnisse
absterben ließen. So ergriffen sie wieder von sich Besitz; sie blieben nicht
lange die überhäuften Erben und Epigonen des ganzen Orients; sie wurden
selbst, nach beschwerlichem Kampfe mit sich selbst, durch die praktische Auslegung
jenes Spruches, die glücklichsten Bereicherer und Mehrer des ererbten Schatzes
und die Erstlinge und Vorbilder aller kommenden Kulturvölker.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 241 |
Dies
ist ein Gleichnis für jeden Einzelnen von uns: er muß das Chaos in
sich organisieren, dadurch, daß er sich auf seine echten Bedürfnisse
zurückbesinnt. Seine Ehrlichkeit, sein tüchtiger und wahrhaftiger Charakter
muß sich irgendwann einmal dagegen sträuben, daß inmmer nur nachgesprochen,
nachgelernt, nachgeahmt werde; er beginnt dann zu begreifen, daß Kultur
noch etwas Anderes sein kann als Dekoration des Lebens, das heißt im Grunde
doch immer nur Verstellung und Verhüllung; denn aller Schmuck versteckt das
Geschmückte.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 241 |
So
entschleiert sich ihm der griechische Begriff der Kultur -im Gegensatze zu dem
romanischen - der Begriff der Kultur als einer neuen und verbesserten Physis,
ohne innen und außen, ohne Verstellung und Konvention, der Kultur als einer
Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen. So lernt er aus seiner
eignen Erfahrung, daß es die höhere Kraft der sittlichen Natur war,
durch die den Griechen der Sieg über alle andren Kulturen gelungen ist, und
daß jede Vermehrung der Wahrhaftigkeit auch eine vorbereitende Förderung
der wahren Bildung sein muß; mag diese Wahrhaftigkeit auch gelegentlich
der gerade in Achtung stehenden Gebildetheit ernstlich schaden, mag sie selbst
einer ganzen dekorativen Kultur zum Falle verhelfen können.Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 241-242 |
Der
Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören,
gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: »sei
du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst.«Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 6 |
Es
gibt kein öderes und widrigeres Geschöpf in der Natur als den Menschen,
welcher seinem Genius ausgewichen ist und nun nach rechts und nach links, nach
rückwärts und überallhin schielt. Man darf einen solchen Menschen
zuletzt gar nicht mehr angreifen, denn er ist ganz Außenseite ohne Kern,
ein anbrüchiges, gemaltes, aufgebauschtes Gewand, ein verbrämtes Gespenst,
das nicht einmal Furcht und gewiß auch kein Mitleiden erregen kann. Und
wenn man mit Recht vom Faulen sagt, er töte die Zeit, so muß man von
einer Periode, welche ihr Heil auf die öffentlichen Meinungen, das heißt
auf die privaten Faulheiten setzt, ernstlich besorgen, daß eine solche Zeit
wirklich einmal getötet wird: ich meine, daß sie aus der Geschichte
der wahrhaften Befreiung des Lebens gestrichen wird.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 6-7 |
Wie
groß muß der Widerwille späterer Geschlechter sein, sich mit
der Hinterlassenschaft jener Periode zu befassen, in welcher nicht die lebendigen
Menschen, sondern öffentlich meinende Scheinmenschen regierten; weshalb vielleicht
unser Zeitalter für irgendeine ferne Nachwelt der dunkelste und unbekannteste,
weil unmenschlichste Abschnitt der Geschichte sein mag.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 7 |
Ich
gehe durch die neuen Straßen unserer Städte und denke, wie von allen
diesen greulichen Häusern, welche das Geschlecht der öffentlich Meinenden
sich erbaut hat, in einem Jahrhundert nichts mehr steht, und wie dann auch wohl
die Meinungen dieser Häuserbauer umgefallen sein werden. Wie hoffnungsvoll
dürfen dagegen alle die sein, welche sich nicht als Bürger dieser Zeit
fühlen; denn wären sie dies, so würden sie mit dazu dienen, ihre
Zeit zu töten und samt ihrer Zeit unterzugehen, während sie die
Zeit vielmehr zum Leben erwecken wollen, um in diesem Leben selber fortzuleben.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 7 |
Ich
gehöre zu den Lesern Schopenhauers, welche, nachdem sie die erste Seite von
ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, daß sie alle Seiten lesen werden
und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 16-17 |
Mein
Vertrauen zu Schopenhauer war sofort da und ist jetzt noch dasselbe wie vor neun
Jahren. Ich verstand ihn, als ob er für mich geschrieben hätte.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 17 |
Das
war die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs: Vereinsamung.
Die zweite heißt: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden
Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt, vorausgesetzt,
daß er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und
nicht nur eine klappernde Denk-und Rechenmaschine.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 28 |
Denn
so stehe es: die Gründung des neuen Deutschen Reiches sei der entscheidende
und vernichtende Schlag gegen alles »pessimistische« Philosophieren
davon lasse sich nichts abdingen.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 40 |
Es
ist nötig, daß wir einmal recht böse werden, damit es besser wird.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 49 |
Der
Schopenhauersche Mensch nimmt das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich,
und dieses Leiden dient ihm, seinen Eigenwillen zu ertöten und jene völlige
Umwälzung und Umkehrung seines Wesens vorzubereiten, zu der zu führen
der eigentliche Sinn des Lebens ist.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 49 |
Es
gibt eine Art zu verneinen und zu zerstören, welche gerade der Ausfluß
jener mächtigen Sehnsucht nach Heiligung und Errettung ist, als deren erster
philosophischer Lehrer Schopenhauer unter uns entheiligte und recht eigentlich
verweltlichte Menschen trat.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 49-50 |
So
blind und toll am Leben zu hängen, um keinen höhern Preis, ferne davon
zu wissen, daß und warum man so gestraft wird, sondern gerade nach dieser
Strafe wie nach einem Glücke mit der Dummheit einer entsetzlichen Begierde
zu lechzen das heißt Tier sein; und wenn die gesamte Natur sich zum
Menschen hindrängt, so gibt sie dadurch zu verstehen, daß er zu ihrer
Erlösung vom Fluche des Tierlebens nötig ist und daß endlich in
ihm das Dasein sich einen Spiegel vorhält, auf dessen Grunde das Leben nicht
mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint. Doch überlege
man wohl: wo hört das Tier auf, wo fängt der Mensch an? Jener Mensch,
an dem allein der Natur gelegen ist! Solange jemand nach dem Leben wie nach einem
Glücke verlangt, hat er den Blick noch nicht über den Horizont des Tieres
hinausgehoben, nur daß er mit mehr Bewußtsein will, was das Tier im
blinden Drange sucht. Aber so geht es uns allen, den größten Teil des
Lebens hindurch: wir kommen für gewöhnlich aus der Tierheit nicht heraus,
wir selbst sind die Tiere, die sinnlos zu leiden scheinen.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 57-58 |
Jeder
kennt den sonderbaren Zustand, wenn sich plötzlich unangenehme Erinnerungen
aufdrängen, und wir dann durch heftige Gebärden und Laute bemüht
sind, sie uns aus dem Sinne zu schlagen: aber die Gebärden und Laute des
allgemeinen Lebens lassen erraten, daß wir uns alle und immerdar in einem
solchen Zustande befinden, in Furcht vor der Erinnerung und Verinnerlichung.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 59 |
Erst
wenn wir, in der jetzigen oder einer kommenden Geburt, selber in jenen erhabensten
Orden der Philosophen, der Künstler und der Heiligen aufgenommen sind, wird
uns auch ein neues Ziel unserer Liebe und unseres Hasses gesteckt sein
einstweilen haben wir unsre Aufgabe und unsern Kreis von Pflichten, unsern Haß
und unsre Liebe. Denn wir wissen, was die Kultur ist. Sie will, um die Nutzanwendung
auf den Schopenhauerschen Menschen zu machen, daß wir seine immer neue Erzeugung
vorbereiten und fördern, indem wir das ihr Feindselige kennenlernen und aus
dem Wege räumen kurz, daß wir gegen alles unermüdlich ankämpfen,
was uns um die höchste Erfüllung unsrer Existenz brachte, indem es uns
hinderte, solche Schopenhauersche Menschen selber zu werden.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 64-65 |
Mitunter
ist es schwerer, eine Sache zuzugeben als sie einzusehen; und so gerade mag es
den meisten ergehen, wenn sie den Satz überlegen: »die Menschheit soll
fortwährend daran arbeiten, einzelne große Menschen zu erzeugen
und dies und nichts anderes sonst ist ihre Aufgabe.« Wie gerne möchte
man eine Belehrung auf die Gesellschaft und ihre Zwecke anwenden, welche man aus
der Betrachtung einer jeden Art des Tier- und Pflanzenreichs gewinnen kann, daß
es bei ihr allein auf das einzelne höhere Exemplar ankommt, auf das ungewöhnlichere,
mächtigere, kompliziertere, fruchtbarere wie gerne, wenn nicht anerzogne
Einbildungen über den Zweck der Gesellschaft zähen Widerstand leisteten!Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 65 |
Eigentlich
ist es leicht zu begreifen, daß dort, wo eine Art an ihre Grenze und an
ihren Übergang in eine höhere Art gelangt, das Ziel ihrer Entwicklung
liegt, nicht aber in der Masse der Exemplare und deren Wohlbefinden, oder gar
in den Exemplaren, welche der Zeit nach die allerletzten sind, vielmehr gerade
in den scheinbar zerstreuten und zufälligen Existenzen, welche hier und da
einmal unter günstigen Bedingungen zustande kommen; und ebenso leicht sollte
doch wohl die Forderung zu begreifen sein, daß die Menschheit, weil sie
zum Bewußtsein über ihren Zweck kommen kann, jene günstigen Bedingungen
aufzusuchen und herzustellen hat, unter denen jene großen erlösenden
Menschen entstehen können. Aber es widerstrebt ich weiß nicht was alles:
da soll jener letzte Zweck in dem Glück aller oder der meisten, da soll er
in der Entfaltung großer Gemeinwesen gefunden werden; und so schnell sich
einer entschließt, sein Leben etwa einem Staate zu opfern, so langsam und
bedenklich würde er sich benehmen, wenn nicht ein Staat, sondern ein einzelner
dies Opfer forderte.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 65-66 |
Es
scheint eine Ungereimtheit, daß der Mensch eines andern Menschen wegen da
sein sollte; »vielmehr aller andern wegen, oder wenigstens möglichst
vieler!« O Biedermann, als ob das gereimter wäre, die Zahl entscheiden
zu lassen, wo es sich um Wert und Bedeutung handelt! Denn die Frage lautet doch
so: wie erhält dein, des einzelnen Leben den höchsten Wert, die tiefste
Bedeutung? Wie ist es am wenigsten verschwendet? Gewiß nur dadurch, daß
du zum Vorteile der seltensten und wertvollsten Exemplare lebst, nicht aber zum
Vorteile der meisten, das heißt der, einzeln genommen, wertlosesten Exemplare.
Und gerade diese Gesinnung sollte in einem jungen Menschen gepflanzt und angebaut
werden, daß er sich selbst gleichsam als ein mißlungenes Werk der
Natur versteht, aber zugleich als ein Zeugnis der größten und wunderbarsten
Absichten dieser Künstlerin: es geriet ihr schlecht, soll er sich sagen;
aber ich will ihre große Absicht dadurch ehren, daß ich ihr zu Diensten
bin, damit es ihr einmal besser gelinge.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 66 |
Ganz
beglückte Zeiten brauchten den Gelehrten nicht und kannten ihn nicht, ganz
erkrankte und verdrossene Zeiten schätzten ihn als den höchsten und
würdigsten Menschen und gaben ihm den ersten Rang.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 86 |
Und
so hoffe ich auch, daß es einige gebe, welche verstehen, was ich mit der
Vorführung von Schopenhauers Schicksal sagen will und wozu, nach meiner Vorstellung,
Schopenhauer als Erzieher eigentlich erziehen soll.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 91 |
Was
müßte man einem werdenden Philosophen gegenwärtig wünschen
und nötigenfalls verschaffen, damit er überhaupt Atem schöpfen
könne und es im günstigsten Falle zu der, gewiß nicht leichten,
aber wenigstens möglichen Existenz Schopenhauers bringe? Was wäre außerdem
zu erfinden, um seiner Einwirkung auf die Zeitgenossen mehr Wahrscheinlichkeit
zu geben? Und welche Hindernisse müßten weggeräumt werden, damit
vor allem sein Vorbild zur vollen Wirkung komme, damit der Philosoph wieder Philosophen
erziehe? Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 91 |
Die
Natur wirtschaftet nicht klug, ihre Ausgaben sind viel größer als der
Ertrag, den sie erzielt; sie muß sich bei all ihrem Reichtum irgendwann
einmal zugrunde richten. Vernünftiger hätte sie es eingerichtet, wenn
ihre Hausregel wäre: wenig Kosten und hundertfältiger Ertrag, wenn es
zum Beispiel nur wenige Künstler und diese von schwächeren Kräften
gäbe, dafür aber zahlreiche Aufnehmende und Empfangende und gerade diese
von stärkerer und gewaltigerer Art, als die Art der Künstler selber
ist: so daß die Wirkung des Kunstwerks im Verhältnis zur Ursache ein
hundertfach verstärkter Widerhall wäre. Oder sollte man nicht mindestens
erwarten, daß Ursache und Wirkung gleich stark wären; aber wie weit
bleibt die Natur hinter dieser Erwartung zurück! Es sieht oft so aus, als
ob ein Künstler und zumal ein Philosoph zufällig in seiner Zeit
sei, als Einsiedler oder als versprengter und zurückgebliebener Wanderer.
Man fühle nur einmal recht herzlich nach, wie groß, durch und durch
und in allem, Schopenhauer ist und wie klein, wie absurd seine Wirkung!Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 93-94 |
Nichts
kann gerade für einen ehrlichen Menschen dieser Zeit beschämender sein
als einzusehen, wie zufällig sich Schopenhauer in ihr ausnimmt und an welchen
Mächten und Unmächten es bisher gehangen hat, daß seine Wirkung
so verkümmert wurde. Zuerst und lange war ihm der Mangel an Lesern feindlich
...; sodann als die Leser kamen, die Ungemäßheit seiner ersten öffentlichen
Zeugen: noch mehr freilich, wie mir scheint, die Abstumpfung aller modernen Menschen
gegen Bücher, welche sie eben durchaus nicht mehr ernst nehmen wollen; allmählich
ist noch eine neue Gefahr hinzugekommen, entsprungen aus den mannigfachen Versuchen,
Schopenhauer der schwächlichen Zeit anzupassen oder gar ihn als befremdliche
und reizvolle Würze, gleichsam als eine Art metaphysischen Pfeffers einzureiben.
So ist er zwar allmählich bekannt und berühmt geworden ...: und trotzdem
ist er noch ein Einsiedler, trotzdem blieb bis jetzt die Wirkung aus! Am wenigsten
haben die eigentlichen literarischen Gegner und Widerbeller die Ehre, diese bisher
verhindert zu haben, erstens weil es wenige Menschen gibt, welche es aushalten
sie zu lesen, und zweitens weil sie den, welcher dies aushält, unmittelbar
zu Schopenhauer hinführen; denn wer läßt sich wohl von einem Eseltreiber
abhalten, ein schönes Pferd zu besteigen, wenn jener auch noch so sehr seinen
Esel auf Unkosten des Pferdes herausstreicht?Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 94-95 |
Ziel
dahin bestimmen ..., die Wiedererzeugung Schopenhauers, das heißt des philosophischen
Genius, vorzubereiten.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 95 |
Schopenhauer
... hatte das unbeschreibliche Glück, nicht nur in sich den Genius aus der
Nähe zu sehen, sondern auch außer sich, in Goethe: durch diese doppelte
Spiegelung war er über alle gelehrtenhaften Ziele und Kulturen von Grund
aus belehrt und weise geworden. Vermöge dieser Erfahrung wußte er,
wie der freie und starke Mensch beschaffen sein muß, zu dem sich jede künstlerische
Kultur hinsehnt; konnte er, nach diesem Blicke, wohl noch viel Lust übrig
haben, sich mit der sogenannten »Kunst« in der gelehrten oder hypokritischen
Manier des modernen Menschen zu befassen? Hatte er doch sogar noch etwas Höheres
gesehn: eine furchtbare überweltliche Szene des Gerichts, in der alles Leben,
auch das höchste und vollendete, gewogen und zu leicht befunden wurde: er
hatte den Heiligen als Richter des Daseins gesehn.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 99 |
Es
ist gar nicht zu bestimmen, wie frühzeitig Schopenhauer dieses Bild des Lebens
geschaut haben muß, und zwar gerade so, wie er es später in allen seinen
Schriften nachzumalen versuchte; man kann beweisen, daß der Jüngling,
und möchte glauben, daß das Kind schon diese ungeheure Vision gesehn
hat. Alles, was er später aus Leben und Büchern, aus allen Reichen der
Wissenschaft sich aneignete, war ihm beinahe nur Farbe und Mittel des Ausdrucks;
selbst die Kantische Philosophie wurde von ihm vor allem als ein außerordentliches
rhetorisches Instrument hinzugezogen, mit dem er sich noch deutlicher über
jenes Bild auszusprechen glaubte: wie ihm zu gleichem Zwecke auch gelegentlich
die buddhistische und christliche Mythologie diente.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 99-100 |
Damit
sind einige Bedingungen genannt, unter denen der philosophische Genius in unserer
Zeit trotz der schädlichen Gegenwirkungen wenigstens entstehen kann: freie
Männlichkeit des Charakters, frühzeitige Menschenkenntnis, keine gelehrte
Erziehung, keine patriotische Einklemmung, kein Zwang zum Brot-Erwerben, keine
Beziehung zum Staate kurz, Freiheit und immer wieder Freiheit: dasselbe
wunderbare und gefährliche Element, in welchem die griechischen Philosophen
aufwachsen durften.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 101 |
Plato
hielt aus eben den Gründen die Aufrichtung eines ganz neuen Staates für
notwendig, um die Entstehung des Philosophen nicht von der Unvernunft der Väter
abhängig zu machen. Beinahe sieht es nun so aus, als ob Plato wirklich etwas
erreicht habe. Denn der moderne Staat rechnet jetzt die Förderung der Philosophie
zu seinen Aufgaben und sucht zu jeder Zeit eine Anzahl Menschen mit jener »Freiheit«
zu beglücken, unter der wir die wesentlichste Bedingung zur Genesis des Philosophen
verstehen. Nun hat Plato ein wunderliches Unglück in der Geschichte gehabt:
sobald einmal ein Gebilde entstand, welches seinen Vorschlägen im wesentlichen
entsprach, war es immer bei genauerem Zusehen das untergeschobene Kind eines Kobolds,
ein häßlicher Wechselbalg; etwa wie der mittelalterliche Priesterstaat
es war, verglichen mit der von ihm geträumten Herrschaft der »Göttersöhne«.
Der moderne Staat ist nun zwar davon am weitesten entfernt, gerade die Philosophen
zu Herrschern zu machen Gottlob! wird jeder Christ hinzufügen :
aber selbst jene Förderung der Philosophie, wie er sie versteht, müßte
doch einmal darauf hin angesehn werden, ob er sie platonisch versteht,
ich meine: so ernst und aufrichtig, als ob es seine höchste Absicht dabei
wäre, neue Platone zu erzeugen. Wenn für gewöhnlich der Philosoph
in seiner Zeit als zufällig erscheint stellt sich wirklich der Staat
jetzt die Aufgabe, diese Zufälligkeit mit Bewußtsein in eine Notwendigkeit
zu übersetzen und der Natur auch hier nachzuhelfen?Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 102-103 |
Die
Erfahrung belehrt uns leider eines Bessern oder Schlimmern: sie sagt, daß
in Hinsicht auf die großen Philosophen von Natur nichts ihrer Erzeugung
und Fortpflanzung so im Wege steht als die schlechten Philosophen von Staats wegen.
Ein peinlicher Gegenstand, nicht wahr? bekanntlich derselbe, auf den Schopenhauer
in seiner berühmten Abhandlung über Universitätsphilosophie zuerst
die Augen gerichtet hat. .... Genauer zugesehen ist jene »Freiheit«,
mit welcher der Staat jetzt, wie ich sagte, einige Menschen zugunsten der Philosophie
beglückt, schon gar keine Freiheit, sondern ein Amt, das seinen Mann nährt.
Die Förderung der Philosophie besteht also nur darin, daß es heutzutage
wenigstens einer Anzahl Menschen durch den Staat ermöglicht wird, von ihrer
Philosophie zu leben, dadurch, daß sie aus ihr einen Broterwerb machen können:
während die alten Weisen Griechenlands von seiten des Staates nicht besoldet,
sondern höchstens einmal, wie Zeno, durch eine goldene Krone und ein Grabmal
auf dem Kerameikos geehrt wurden.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 103-104 |
Weil
jeder Staat sie fürchtet und immer nur Philosophen begünstigen wird,
vor denen er sich nicht fürchtet. Es kommt nämlich vor, daß der
Staat vor der Philosophie überhaupt Furcht hat, und gerade, wenn dies der
Fall ist, wird er um so mehr Philosophen an sich heranzuziehn suchen, welche ihm
den Anschein geben, als ob er die Philosophie auf seiner Seite habe weil
er diese Menschen auf seiner Seite hat, welche ihren Namen führen und doch
so gar nicht furchteinflößend sind. .... Sollte wohl je ein Universitätsphilosoph
sich den ganzen Umfang seiner Verpflichtung und Beschränkung klargemacht
haben? Ich weiß es nicht; hat es einer getan und bleibt doch Staatsbeamter,
so war er jedenfalls ein schlechter Freund der Wahrheit; hat er es nie getan
nun, ich sollte meinen, auch dann wäre er kein Freund der Wahrheit.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 105-106 |
Die
gelehrte Historie des Vergangnen war nie das Geschäft eines wahren Philosophen,
weder in Indien noch in Griechenland; und ein Philosophieprofessor muß es
sich, wenn er sich mit solcherlei Arbeit befaßt, gefallen lassen, daß
man von ihm, bestenfalls, sagt: er ist ein tüchtiger Philolog, Antiquar,
Sprachkenner, Historiker aber nie: er ist ein Philosoph. Jenes auch nur
bestenfalls, wie bemerkt: denn bei den meisten gelehrten Arbeiten, welche Universitätsphilosophen
machen, hat ein Philolog das Gefühl, daß sie schlecht gemacht sind,
ohne wissenschaftliche Strenge und meistens mit einer hassenswürdigen Langweiligkeit.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 107-108 |
Wie,
wenn dieser Stoßseufzer eben die Absicht des Staates wäre und die »Erziehung
zur Philosophie« nur eine Abziehung von der Philosophie? Man frage sich.
Sollte es aber so stehen, so ist nur eins zu fürchten: daß endlich
einmal die Jugend dahinterkommt, wozu hier eigentlich die Philosophie gemißbraucht
wird. Das Höchste, die Erzeugung des philosophischen Genius, nichts als ein
Vorwand? Das Ziel vielleicht gerade, dessen Erzeugung zu verhindern? Der Sinn
in den Gegensinn umgedreht? Nun dann wehe dem ganzen Komplex von Staats-
und Professoren-Klugheit!Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 109 |
Solange
das staatlich anerkannte Afterdenkertum bestehen bleibt, wird jede großartige
Wirkung einer wahren Philosophie vereitelt oder mindestens gehemmt, und zwar durch
nichts als durch den Fluch des Lächerlichen, den die Vertreter jener großen
Sache sich zugezogen haben, der aber die Sache selber trifft. Deshalb nenne ich
es eine Forderung der Kultur, der Philosophie jede staatliche und akademische
Anerkennung zu entziehn und überhaupt Staat und Akademie der für sie
unlösbaren Aufgabe zu entheben, zwischen wahrer und scheinbarer Philosophie
zu unterscheiden. Laßt die Philosophen immerhin wild wachsen, versagt ihnen
jede Aussicht auf Anstellung und Einordnung in die bürgerlichen Berufsarten,
kitzelt sie nicht mehr durch Besoldungen, ja noch mehr: verfolgt sie, seht ungnädig
auf sie ihr sollt Wunderdinge erleben!Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 114 |
Dem
Staat ist es nie an der Wahrheit gelegen, sondern immer nur an der ihm nützlichen
Wahrheit, noch genauer gesagt, überhaupt an allem ihm Nützlichen, sei
dies nun Wahrheit, Halbwahrheit oder Irrtum. Ein Bündnis von Staat und Philosophie
hat also nur dann einen Sinn, wenn die Philosophie versprechen kann, dem Staat
unbedingt nützlich zu sein, das heißt den Staatsnutzen höher zu
stellen als die Wahrheit.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 115 |
Da
scheint es mir von höchstem Werte, wenn außerhalb der Universitäten
ein höheres Tribunal entsteht, welches auch diese Anstalten in Hinsicht auf
die Bildung, die sie fördern, überwache und richte; und sobald die Philosophie
aus den Universitäten ausscheidet und sich damit von allen unwürdigen
Rücksichten und Verdunkelungen reinigt, wird sie gar nichts anderes sein
können als ein solches Tribunal: ohne staatliche Macht, ohne Besoldung und
Ehren, wird sie ihren Dienst zu tun wissen, frei vom Zeitgeist sowohl als von
der Furcht vor diesem Geiste kurz gesagt, so wie Schopenhauer lebte, als
der Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur. Dergestalt vermag der Philosoph
auch der Universität zu nützen, wenn er sich nicht mit ihr verquickt,
sondern sie vielmehr aus einer gewissen würdevollen Weite übersieht.Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 118-119 |
Schicksal
ich folge dir freiwillig, denn täte ich es nicht, müßte ich es
ja doch unter Tränen tun!Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874 |
Sei
ein Mann und folge mir nicht nach sondern dir! Sondern dir!« Auch
unser Leben soll vor uns selber recht behalten! Auch wir sollen frei und furchtlos,
in unschuldiger Selbstigkeit aus uns selber wachsen und blühen! Und so klingen
mir, bei der Betrachtung eines solchen Menschen, auch heute noch, wie ehedem,
diese Sätze ans Ohr: »daß Leidenschaft besser ist als Stoizismus
und Heuchelei, daß Ehrlichsein, selbst im Bösen, besser ist, als sich
selber an die Sittlichkeit des Herkommens verlieren, daß der freie Mensch
sowohl gut als böse sein kann, daß aber der unfreie Mensch eine Schande
der Natur ist und an keinem himmlischen noch irdischen Troste Anteil hat; endlich,
daß jeder, der frei werden will, es durch sich selber werden muß,
und daß niemandem die Freiheit als ein Wundergeschenk in den Schoß
fällt.Ders., Richard Wagner in Bayreuth, 1875-1876, I, 431 |
Es
ist eine gründliche Kur gegen allen Pessimismus (den Krebsschaden
alter Idealisten und Lügenbolde, wie bekannt ), auf die Art dieser
freien Geister krank zu werden, eine gute Weile krank zu bleiben und dann, noch
länger, noch länger, gesund, ich meine »gesünder« zu
werden. Es ist Weisheit darin, Lebens-Weisheit, sich die Gesundheit selbst lange
Zeit nur in kleinen Dosen zu verordnen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 15 |
»Du
solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden.
Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge neben
andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen
und es verstehn lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren
Zwecke. Du solltest das Perspektivische in jeder Wertschätzung begreifen
lernen die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte
und was alles zum Perspektivischen gehört; auch das Stück Dummheit in
bezug auf entgegengesetzte Werte und die ganze intellektuelle Einbuße, mit
der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht. Du solltest die notwendige
Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit
als unablösbar vom Leben, das Leben selbst als bedingt durch das Perspektivische
und seine Ungerechtigkeit. Du solltest vor allem mit Augen sehn, wo die Ungerechtigkeit
immer am größten ist: dort nämlich, wo das Leben am kleinsten,
engsten, dürftigsten, anfänglichsten entwickelt ist und dennoch nicht
umhin kann, sich als Zweck und Maß der Dinge zu nehmen und seiner Erhaltung
zuliebe das Höhere, Größere, Reichere heimlich und kleinlich und
unablässig anzubröckeln und in Frage zu stellen, du solltest
das Problem der Rangordnung mit Augen sehn, und wie Macht und Recht und
Umfänglichkeit der Perspektive miteinander in die Höhe wachsen. Du solltest«
genug, der freie Geist weiß nunmehr, welchem »du sollst«
er gehorcht hat, und auch, was er jetzt kann, was er jetzt erst
darf ....Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, Vorrede (Band 1),
S. 15-16 |
Dergestalt gibt der
freie Geist in bezug auf jenes Rätsel von Loslösung sich Antwort und
endet damit, indem er seinen Fall verallgemeinert, sich über sein Erlebnis
also zu entscheiden. »Wie es mir erging«, sagt er sich, »muß
es jedem ergehn, in dem eine Aufgabe leibhaft werden und zur Welt kommen
will.«Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, Vorrede (Band 1),
S. 16 |
Der Glaube an die Freiheit des Willens
ist ein ursprünglicher Irrtum alles Organischen, so alt, als die Regungen
des Logischen in ihm existieren; der Glaube an unbedingte Substanzen und an gleiche
Dinge ist ebenfalls ein ursprünglicher, ebenso alter Irrtum alles Organischen.
Insofern aber alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens
abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den
Grundirrtümern des Menschen handelt doch so, als wären es Grundwahrheiten.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 35 |
Die
Zahl. Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des ursprünglich
schon herrschenden Irrtums gemacht, daß es mehrere gleiche Dinge gebe (aber
tatsächlich gibt es nichts Gleiches), mindestens daß es Dinge gebe
(aber es gibt kein »Ding«). Die Annahme der Vielheit setzt immer schon
voraus, daß es etwas gebe, was vielfach vorkommt: aber gerade hier schon
waltet der Irrtum, schon da fingieren wir Wesen, Einheiten, die es nicht gibt.
Unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen,
konsequent geprüft, auf logische Widersprüche. Bei allen wissenschaftlichen
Feststellungen rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Größen:
aber weil diese Größen wenigstens konstant sind, wie zum Beispiel
unsere Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft doch
eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange miteinander; man
kann auf ihnen fortbauen bis an jenes letzte Ende, wo die irrtümliche
Grundannahme, jene konstanten Fehler, in Widerspruch mit den Resultaten treten,
zum Beispiel in der Atomenlehre. Da fühlen wir uns immer noch zur Annahme
eines »Dinges« oder stofflichen »Substrats«, das bewegt
wird, gezwungen, während die ganze wissenschaftliche Prozedur aber die Aufgabe
verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzulösen: wir
scheiden auch hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen
aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem Wesen von
altersher verknotet ist. Wenn Kant sagt »der Verstand schöpft
seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor«, so
ist dies in Hinsicht auf den Begriff der Natur völlig wahr, welchen
wir genötigt sind mit ihr zu verbinden (Natur = Welt als Vorstellung, das
heißt als Irrtum), welcher aber die Aufsummierung einer Menge von Irrtümern
des Verstandes ist. Auf eine Welt, welche nicht unsere Vorstellung
ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlich unanwendbar: diese gelten allein
in der Menschen-WeltDers., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 35-36 |
Mutmaßlicher
Sieg der Skepsis. Man lasse einmal den skeptischen Ausgangspunkt gelten:
gesetzt, es gäbe keine andere, metaphysische Welt und alle aus der Metaphysik
genommenen Erklärungen der uns einzig bekannten Welt wären unbrauchbar
für uns, mit welchem Blick würden wir dann auf Menschen und Dinge sehen?
Dies kann man sich ausdenken, es ist nützlich, selbst wenn dir Frage, ob
etwas Metaphysisches wissenschaftlich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei,
einmal abgelehnt würde. Denn es ist, nach historischer Wahrscheinlichkeit,
sehr gut möglich, daß die Menschen einmal in dieser Beziehung im ganzen
und allgemeinen skeptisch werden; da lautet also die Frage: wie wird sich
dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluß einer solchen Gesinnung,
gestalten? Vielleicht ist der wissenschaftliche Beweis irgendeiner metaphysischen
Welt schon so schwierig, daß die Menschheit ein Mißtrauen gegen ihn
nicht mehr los wird. Und wenn man gegen die Metaphysik Mißtrauen hat, so
gibt es im ganzen und großen dieselben Folgen, wie wenn sie direkt widerlegt
wäre und man nicht mehr an sie glauben dürfte. Die historische
Frage in betreff einer unmetaphysischen Gesinnung der Menschheit bleibt in beiden
Fällen dieselbe.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 37 |
Die
alte Kultur hat ihre Größe und Güte hinter sich und die historische
Bildung zwingt einen, zuzugestehen, daß sie nie wieder frisch werden kann;
es ist ein unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwärmerei
nötig, um dies zu leugnen. Aber die Menschen können mit Bewußtsein
beschließen, sich zu einer neuen Kultur fortzuentwickeln, während sie
sich früher unbewußt und zu fällig entwickelten: sie können
jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung,
Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten,
die Kräfte der Menschen überhaupt gegeneinander abwägen und einsetzen.
Diese neue bewußte Kultur tötet die alte, welche als Ganzes angeschaut
ein unbewußtes Tier- und Pflanzenleben geführt hat ....Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 39-40 |
Privat-
und Weltmoral. Seitdem der Glaube aufgehört hat, daß ein
Gott die Schicksale der Welt im großen leite und trotz aller anscheinenden
Krümmungen im Pfade der Menschheit sie doch herrlich hinausführe, müssen
die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen.
Die ältere Moral, namentlich die Kants, verlangt vom einzelnen Handlungen,
welche man von allen Menschen wünscht: das war eine schöne naive Sache;
als ob ein jeder ohne weiteres wüßte, bei welcher Handlungsweise das
Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswert
seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, daß die
allgemeine Harmonie sich nach eingebornen Gesetzen des Besserwerdens von selbst
ergeben müsse. Vielleicht läßt es ein zukünftiger
Überblick über die Bedürfnisse der Menschheit durchaus nicht wünschenwert
erscheinen, daß alle Menschen gleich handeln, vielmehr dürften im Interesse
ökumenischer Ziele für ganze Strecken der Menschheit spezielle, vielleicht
unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen sein. Jedenfalls
muß, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewußte Gesamtregierung
zugrunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntnis
der Bedingungen der Kultur, als wissenschaftlicher Maßstab für
ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der
großen Geister des nächsten Jahrhunderts.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 40-41 |
Das
Unlogische notwendig. Zu den Dingen, welche einen Denker in Verzweiflung
bringen können, gehört die Erkenntnis, daß das Unlogische für
den Menschen nötig ist, und daß aus dem Unlogischen vieles Gute entsteht.
Es steckt so fest in den Leidenschaften, in der Sprache, in der Kunst, in der
Religion und überhaupt in allem, was dem Leben Wert verleiht, daß man
es nicht herausziehen kann, ohne damit diese schönen Dinge heillos zu beschädigen.
Es sind nur die allzu naiven Menschen, welche glauben können, daß die
Natur des Menschen in eine rein logische verwandelt werden könne; wenn es
aber Grade der Annäherung an dieses Ziel geben sollte, was würde da
nicht alles auf diesem Wege verloren gehen müssen! Auch der vernünftigste
Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heißt seiner unlogischen
Grundstellung zu allen Dingen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 45 |
Ungerechtsein
notwendig.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 45 |
Wir
sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen und können
dies erkennen: dies ist eine der größten und unauflösbarsten
Disharmonien des Daseins.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 46 |
Der
Irrtum über das Leben zum Leben notwendig.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 46 |
Die
Menschheit hat im ganzen keine Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung
des ganzen Verlaufs, nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweiflung.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 47 |
Weil
sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet
er Reue und Gewissensbisse.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 56 |
Der
unveränderliche Charakter. Daß der Charakter unveränderlich
sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heißt dieser beliebte Satz
nur soviel, daß während der kurzen Lebensdauer eines Menschen die einwirkenden
Motive nicht tief genug ritzen können, um die aufgeprägten Schriftzüge
vieler Jahrtausende zu zerstören. Dächte man sich aber einen Menschen
von achzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen
Charakter: so daß eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und
nach aus ihm entwickelte. Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu
manchen irrtümlichen Behauptungen über die Eigenschaften des Menschen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 57 |
Es
gibt keine ewgie Gerechtigkeit.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 65 |
In
der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 68 |
Einen
Rachegedanken haben und ausführen, heißt einen heftigen Fieberanfall
bekommen, der aber vorübergeht: einen Rachegedanken aber haben, ohne Kraft
und Mut ihn auszuführen, heißt ein chronisches Leiden, eine Vergiftung
an Leib und Seele mit sich herumtragen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 69 |
Aus
sich eine ganze Person machen und in allem, was man tut, deren höchstes
Wohl ins Auge zu fassen das bringt weiter als jene mitleidigen Regungen
und Handlungen zugunsten an derer. Wir alle leiden freilich noch immer an der
allzugeringen Beachtung des Persönlichen an uns, es ist schlecht ausgebildet
gestehen wir es uns ein: man hat vielmehr unsern Sinn gewaltsam von ihm
abgezogen und dem Staate, der Wissenschaft, dem Hilfebedürftigen zum Opfer
angeboten, wie als ob es das Schlechte wäre, das geopfert werden müßte.
Auch jetzt wollen wir für unsere Mitmenschen arbeiten, aber nur so weit,
als wir unsern eigenen höchsten Vorteil in dieser Arbeit finden, nicht mehr,
nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was man als seinen Vorteil versteht;
gerade das unreife, unentwickelte, rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 82 |
Das
Unschuldige an den sogenannten bösen Handlungen. Alle »bösen«
Handlungen sind motiviert durch den Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch
die Absicht auf Lust und Vermeiden der Unlust des Individuums; als solchermaßen
motiviert aber nicht böse. .... Die bösen Handlungen, welche uns jetzt
am meisten empören, beruhen auf dem Irrtume, daß der andere, welcher
sie uns zufügt, freien Willen habe, also daß es in seinem Belieben
gelegen habe, uns dies Schlimme nicht anzutun. Dieser Glaube an das Belieben erregt
den Haß, die Rachlust, die Tücke, die ganze Verschlechterung der Phantasie,
während wir einem Tiere viel weniger zürnen, weil wir dies als unverantwortlich
betrachten. Leid tun nicht aus Erhaltungstrieb, sondern zur Vergeltung
ist Folge eines falschen Urteils und deshalb ebenfalls unschuldig. Der
einzelne kann im Zustande, welcher vor dem Staat liegt, zur Abschreckung
andere Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche abschreckende
Proben seiner Macht sicherzustellen. So handelt der Gewalttätige, Mächtige,
der ursprüngliche Staatengründer, welcher sich die Schwächeren
unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt; oder
vielmehr: es gibt kein Recht, welches dies hindern kann. Es kann erst dann der
Boden für alle Moralität zurechtgemacht werden, wenn ein größeres
Individuum oder ein Kollektiv-Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat,
die einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen
Verband einordnet. Der Moralität geht der Zwang voraus, ja sie selber
ist noch eine Zeitlang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fügt.
Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam, endlich beinahe
Instinkt: dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und Natürliche mit Lust
verknüpft und heißt nun Tugend.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 85-86 |
Scham.
Die Scham existiert überall, wo es ein »Mysterium« gibt;
dies ist aber ein religiöser Begriff, welcher in der älteren Zeit der
menschlichen Kultur einen großen Umfang hatte. Überall gab es umgrenzte
Gebiete, zu welchen das göttliche Recht den Zutritt versagte, außer
unter bestimmten Bedingungen: zu allererst ganz räumlich, insofern gewisse
Stätten vom Fuße der Uneingeweihten nicht zu betreten waren und in
deren Nähe diese Schauder und Angst empfanden. Dies Gefühl wurde vielfach
auf andere Verhältnisse übertragen, zum Beispiel auf die geschlechtlichen
Verhältnisse, welche als ein Vorrecht und Adyton des reiferen Alters den
Blicken der Jugend, zu deren Vorteil, entzogen werden sollten: Verhältnisse,
zu deren Schutz und Heilighaltung viele Götter tätig und im ehelichen
Gemache als Wächter aufgestellt gedacht wurden. (Im Türkischen heißt
deshalb dies Gemach Harem, »Heiligtum«, wird also mit demselben Worte
bezeichnet, welches für die Vorhöfe der Moscheen üblich ist.) So
ist das Königtum als ein Zentrum, von wo Macht und Glanz ausstrahlt, dem
Unterworfenen ein Mysterium voller Heimlichkeit und Scham: wovon viele Nachwirkungen
noch jetzt, unter Völkern, die sonst keineswegs zu den verschämten gehören,
zu fühlen sind. Ebenso ist die ganze Welt innerer Zustände, die sogenannte
»Seele«, auch jetzt noch für alle Nicht-Philosophen ein Mysterium,
nachdem diese, endlose Zeiten hindurch, als göttlichen Ursprungs, als göttlichen
Verkehrs würdig geglaubt wurde: sie ist demnach ein Adyton und erweckt Scham.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 87 |
Ohne
Lust kein Leben; der Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben. Ob der einzelne
diesen Kampf so kämpft, daß die Menschen ihn gut, oder so, daß
sie ihn böse nennen, darüber entscheidet das Maß und die Beschaffenheit
seines Intellekts.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 91 |
Wer
vollständig die Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit begriffen
hat, der kann die sogenannte strafende und belohnende Gerechtigkeit gar nicht
mehr unter den Begriff der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese darin besteht,
daß man jedem das Seine gibt.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 91-92 |
Der
chemische Prozeß und der Streit der Elemente, die Qual des Kranken, der
nach Genesung lechzt, sind ebensowenig Verdienste als jene Seelenkämpfe und
Notzustände, bei denen man durch verschiedene Motive hin- und hergerissen
wird, bis man sich endlich für das mächtigste entscheidet wie
man sagt (in Wahrheit aber, bis das mächtigste Motiv über uns entscheidet).
Alle diese Motive aber, so hohe Namen wir ihnen geben, sind aus denselben Wurzeln
gewachsen, in denen wir die bösen Gifte wohnend glauben; zwischen guten und
bösen Handlungen gibt es keinen Unterschied der Gattung, sondern höchstens
des Grades. Gute Handlungen sind sublimierte böse; böse Handlungen sind
vergröberte, verdummte gute. Das einzige Verlangen des Individuums nach Selbstgenuß
(samt der Furcht, desselben verlustig zu gehen) befriedigt sich unter allen Umständen,
der Mensch mag handeln, wie er kann, das heißt wie er muß: sei es
in Taten der Eitelkeit, Rache, Lust, Nützlichkeit, Bosheit, List, sei es
in Taten der Aufopferung, des Mitleids, der Erkenntnis.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 93-94 |
Alles
auf dem Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, alles ist im Flusse,
es ist wahr; aber alles ist auch im Strome: nach einem Ziele hin.
Mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrtümlichen Schätzens, Liebens,
Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluß der wachsenden Erkenntnis
wird sie schwächer werden: eine neue Gewohnheit, die des Begreifens, Nicht-Liebens,
Nicht-Hassens, Überschauens, pflanzt sich allmählich in uns auf demselben
Boden an und wird in Tausenden von Jahren vielleicht mächtig genug sein,
um der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen, unschuldigen (unschuldbewußten)
Menschen ebenso regelmäßig hervorzubringen, wie sie jetzt den unweisen,
unbilligen, schuldbewußten Menschen das heißt die notwendige
Vorstufe, nicht den Gegensatz von jenem hervorbringt.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 95 |
Der
consensus gentium und überhaupt hominum kann billigerweise
nur einer Narrheit gelten. Dagegen gibt es einen consensus omnium sapientium
gar nicht, in bezug auf kein einziges Ding, mit jener Ausnahme, von welcher der
Goethesche Vers spricht: Alle die Weisesten aller der Zeiten // Lächeln und
winken und stimmen mit ein: // Töricht, auf Bessrung der Toren zu harren!
// Kinder der Klugheit, o habet die Narren // Eben zum Narren auch, wie sichs
gehört! // Ohne Vers und Reim gesprochen und auf unseren Fall angewendet:
der consensus sapientium besteht darin, daß der consensus gentium
einer Narrheit gilt.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 95 |
Das
Ungriechische im Christentum. Die Griechen sahen über sich die
homerischen Götter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als Knechte,
wie die Juden. Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der gelungensten Exemplare
ihrer eignen Kaste, also ein Ideal, keinen Gegensatz des eignen Wesens. Man fühlt
sich miteinander verwandt, es besteht ein gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie.
Der Mensch denkt vornehm von sich, wenn er sich solche Götter gibt, und stellt
sich in ein Verhältnis, wie das des niedrigeren Adels zum höheren ist;
während die italischen Völker eine recht Bauern-Religion haben, mit
fortwährender Ängstlichkeit gegen böse und launische Machtinhaber
und Quälgeister. Wo die olympischen Götter zurücktraten, da war
auch das griechische Leben düsterer und ängstlicher. Das Christentum
dagegen zerdrückte und zerbrach den Menschen vollständig und versenkte
ihn wie in tiefen Schlamm: in das Gefühl völliger Verworfenheit ließ
es dann mit einem Male den Glanz eines göttlichen Erbarmens hineinleuchten,
so daß der Überraschte, durch Gnade Betäubte, einen Schrei des
Entzückens ausstieß und für einen Augenblick den ganzen Himmel
in sich zu tragen glaubte. Auf diesen krankhaften Exzeß des Gefühls,
auf die dazu nötige tiefe Kopf- und Herz-Korruption wirken alle psychologischen
Empfindungen des Christentums hin: es will vernichten, zerbrechen betäuben,
berauschen, es will nur eins nicht: das Maß, und deshalb ist es im
tiefsten Verstande barbarisch, asiatisch, unvornehm, ungriechisch.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S.106-107 |
Nie
hat ein Mensch etwas getan, das allein für andere und ohne jeden persönlichen
Beweggrund getan wäre; ja wie sollte er etwas tun können, das ohne Bezug
zu ihm wäre ....Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 115 |
Sollte
aber ein Mensch wünschen, ganz wie jener Gott Liebe zu sein, alles für
andere, nichts für sich zu tun, zu wollen, so ist letzteres schon deshalb
unmöglich, weil er sehr viel für sich tun muß, um überhaupt
anderen etwas zuliebe tun zu können. Sodann setzt es voraus, daß der
andre Egoist genug ist, um jene Opfer, jenes Leben für ihn, immer und immer
wieder anzunehmen: so daß die Menschen der Liebe und Aufopferung ein Interesse
an dem Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunfähigen Egoisten haben,
und die höchste Moralität, um bestehn zu können, förmlich
die Existenz der Unmoralität erzwingen müßte (wodurch sie
sich freilich selber aufheben würde).Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 115-116 |
In
jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Teil von sich als Gott an und hat
dazu nötig, den übrigen Teil zu diabolisieren.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 119 |
Wie
in der antiken Welt eine unermeßliche Kraft von Geist und Erfindungsgabe
verwendet worden ist, um die Freude am Leben durch festliche Kulte zu mehren:
so ist in der Zeit des Christentums ebenfalls unermeßlich viel Geist einem
anderen Streben geopfert worden: der Mensch sollte auf alle Weise sich sündhaft
fühlen ....Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 124 |
Ebenfalls
habe ich abgesehn von den indischen Heiligen, welche auf einer Zwischenstufe zwischen
dem christlichen Heiligen und dem griechischen Philosophen stehen und insofern
keinen reinen Typus darstellen: die Erkenntnis, die Wissenschaft soweit
es eine solche gab , die Erhebung über die anderen Menschen durch die
logische Zucht und Schulung des Denkens wurde bei den Buddhisten als ein Kennzeichen
der Heiligkeit ebenso gefordert, wie dieselben Eigenschaften in der christlichen
Welt, als Kennzeichen der Unheiligkeit, abgelehnt und verketzert werden.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 128 |
Antithese.
Die Antithese ist die enge Pforte, durch welche sich am liebsten der Irrtum
zur Wahrheit schleicht.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 150 |
Und
sagt im Grunde Goethes gereifte künstlerische Einsicht aus der zweiten Hälfte
seines Lebens nicht genau dasselbe? jene Einsicht, mit welcher er einen
solchen Vorsprung über eine Reihe von Generationen gewann, daß man
im großen ganzen behaupten kann, Goethe habe noch gar nicht gewirkt und
seine Zeit werde erst kommen? Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn
der poetischen Revolution festhielt, gerade weil er am gründlichsten auskostete,
was alles indirekt durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden, Aussichten,
Hilfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der Kunst ausgegraben worden
war, so wiegt seine spätere Umwandlung und Bekehrung so viel: sie bedeutet,
daß er das tiefste Verlangen empfand, die Tradition der Kunst wiederzugewinnen
und den stehengebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels
mit der Phantasie des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganzheit anzudichten,
wenn die Kraft des Arms sich viel zu schwach erweisen sollte, zu bauen, wo so
ungeheure Gewalten schon zum Zerstören nötig waren. So lebte er in der
Kunst als in der Erinnerung an die wahre Kunst: sein Dichten war zum Hilfsmittel
der Erinnerung, des Verständnisses alter, längst entrückter Kunstzeiten
geworden. Seine Forderungen waren zwar in Hinsicht auf die Kraft des neuen Zeitalters
unerfüllbar; der Schmerz darüber wurde aber reichlich durch die Freude
aufgewogen, daß sie einmal erfüllt gewesen sind und daß
auch wir noch an dieser Erfüllung teilnehmen können. Nicht Individuen,
sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine
allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Lokalfarben zum fast Unsichtbaren
abgedämpft und mythisch gemacht; das gegenwärtige Empfinden und die
Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf die einfachsten Formen zusammengedrängt,
ihrer reizenden, spannenden, pathologischen Eigenschaften entkleidet, in jedem
andern als dem artistischen Sinn wirkungslos gemacht; keine neuen Stoffe
und Charaktere, sondern die alten, längst gewohnten in immerfort währender
Neubeseelung und Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe später
verstand, so wie sie die Griechen ... übten.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 169-170 |
Was
von der Kunst übrigbleibt. Es ist wahr, bei gewissen metaphysischen
Voraussetzungen hat die Kunst viel größeren Wert, zum Beispiel wenn
der Glaube gilt, daß der Charakter unveränderlich sei und das Wesen
der Welt sich in allen Charakteren und Handlungen fortwährend ausspreche:
da wird das Werk des Künstlers zum Bild des ewig Beharrenden, während
für unsere Auffassung der Künstler seinem Bilde immer nur Gültigkeit
für eine Zeit geben kann, weil der Mensch im ganzen geworden und wandelbar
und selbst der einzelne Mensch nichts Festes und Beharrendes ist. Ebenso
steht es bei einer andern metaphysischen Voraussetzung: gesetzt, daß unsere
sichtbare Welt nur Erscheinung wäre, wie es die Metaphysiker annehmen, so
käme die Kunst der wirklichen Welt ziemlich nahe zu stehen: denn zwischen
der Erscheinungswelt und der Traumbild-Welt des Künstlers gäbe es dann
gar zuviel Ähnliches; und die übrigbleibende Verschiedenheit stellte
sogar die Bedeutung der Kunst höher als die Bedeutung der Natur, weil die
Kunst das Gleichförmige, die Typen und Vorbilder der Natur darstellte.
Jene Voraussetzungen sind aber falsch: welche Stellung bleibt nach dieser Erkenntnis
jetzt noch der Kunst? Vor allem hat sie durch Jahrtausende hindurch gelehrt, mit
Interesse und Lust auf das Leben in jeder Gestalt zu sehen und unsere Empfindung
so weit zu bringen, daß wir endlich rufen: »wie es auch sei, das Leben,
es ist gut!« Diese Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben und das Menschenleben
wie ein Stück Natur, ohne zu heftige Mitbewegung, als Gegenstand gesetzmäßiger
Entwicklung anzusehen, diese Lehre ist in uns hineingewachsen, sie kommt
jetzt als allgewaltiges Bedürfnis des Erkennens wieder ans Licht. Man könnte
die Kunst aufgeben, würde aber damit nicht die von ihr gelernte Fähigkeit
einbüßen: ebenso wie man die Religion aufgegeben hat, nicht aber die
durch sie erworbenen Gemüts-Steigerungen und Erhebungen. Wie die bildende
Kunst und die Musik der Maßstab des durch die Religion wirklich erworbenen
und hinzugewonnenen Gefühls-Reichtums ist, so würde nach einem Verschwinden
der Kunst die von ihr gepflanzte Intensität und Vielartigkeit der Lebensfreude
immer noch Befriedigung fordern. Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung
des künstlerischen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 170-171 |
Abendröte
der Kunst. Wie man sich im Alter der Jugend erinnert und Gedächtnisfeste
feiert, so steht bald die Menschheit zur Kunst im Verhältnis einer rührenden
Erinnerung an die Freuden der Jugend. Vielleicht daß niemals früher
die Kunst so tief und seelenvoll erfaßt wurde wie jetzt, wo die Magie des
Todes dieselbe zu umspielen scheint. Man denke an jene griechische Stadt in Unteritalien,
welche an einem Tage des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter Wehmut
und Tränen darüber, daß immer mehr die ausländische Barbarei
über ihre mitgebrachten Sitten triumphiere; niemals hat man wohl das Hellenische
so genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solcher Wollust geschlürft
als unter diesen absterbenden Hellenen. Den Künstler wird man bald als ein
herrliches Überbleibsel ansehen und ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an
dessen Kraft und Schönheit das Glück früherer Zeiten hing, Ehren
erweisen, wie wir sie nicht gleich unseresgleichen gönnen. Das Beste an uns
ist vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt
auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können; die Sonne ist schon hinuntergegangen,
aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, ob wir
sie schon nicht mehr sehen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 171 |
Veredelung
durch Entartung. Aus der Geschichte ist zu lernen, daß der Stamm
eines Volkes sich am besten erhält, in dem die meisten Menschen lebendigen
Gemeinsinn infolge der Gleichheit ihrer gewohnten und undiskutierbaren Grundsätze,
also infolge ihres gemeinsamen Glaubens haben. Hier erstarkt die gute, tüchtige
Sitte, hier wird die Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit
schon als Angebinde gegeben und nachher noch anerzogen. Die Gefahr dieser starken,
auf gleichartige, charaktervolle Individuen gegründeten Gemeinwesen ist die
allmählich durch Vererbung gesteigerte Verdummung, welche nun einmal aller
Stabilität wie ihr Schatten folgt. Es sind die ungebundeneren, viel unsichereren
und moralisch-schwächeren Individuen, an denen das geistige Fortschreiten
in solchen Gemeinwesen hängt: es sind die Menschen, die Neues und überhaupt
vielerlei versuchen. Unzählige dieser Art gehen, ihrer Schwäche wegen,
ohne sehr ersichtliche Wirkung zugrunde; aber im allgemeinen, zumal wenn sie Nachkommen
haben, lockern sie auf und bringen von Zeit zu Zeit dem stabilen Elemente eines
Gemeinwesens eine Wunde bei. Gerade an dieser wunden und schwach gewordenen Stelle
wird dem gesamten Wesen etwas Neues gleichsam inokuliert; seine Kraft im ganzen
muß aber stark genug sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich
zu assimilieren. Die abartenden Naturen sind überall da von höchster
Bedeutung, wo ein Fortschritt erfolgen soll. Jedem Fortschritt im großen
muß eine teilweise Schwächung vorhergehen. Die stärksten Naturen
halten den Typus fest, die schwächeren helfen ihn fortbilden.
Etwas Ähnliches ergibt sich für den einzelnen Menschen; selten ist eine
Entartung, eine Verstümmelung, selbst ein Laster und überhaupt eine
körperliche oder sittliche Einbuße ohne einen Vorteil auf einer andern
Seite. Der kränkere Mensch zum Beispiel wird vielleicht, inmitten eines kriegerischen
und unruhigen Stammes, mehr Veranlassung haben, für sich zu sein und dadurch
ruhiger und weiser zu werden, der Einäugige wird ein stärkeres Auge
haben, der Blinde wird tiefer ins Innere schauen und jedenfalls schärfer
hören. Insofern scheint mir der berühmte Kampf ums Dasein nicht der
einzige Gesichtspunkt zu sein, aus dem das Fortschreiten oder Stärkerwerden
eines Menschen, einer Rasse erklärt werden kann. Vielmehr muß zweierlei
zusammenkommen: einmal die Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister
im Glauben und Gemeingefühl; sodann die Möglichkeit, zu höheren
Zielen zu gelangen, dadurch, daß entartende Naturen und, infolge derselben,
teilweise Schwächungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen; gerade
die schwächere Natur, als die zartere und feinere, macht alles Fortschreiten
überhaupt möglich. Ein Volk, das irgendwo anbröckelt und schwach
wird, aber im ganzen noch stark und gesund ist, vermag die Infektion des Neuen
aufzunehmen und sich zum Vorteil einzuverleiben. Bei dem einzelnen Menschen lautet
die Aufgabe der Erziehung so: ihn so fest und sicher hinzustellen, daß er
als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn abgelenkt werden kann. Dann aber hat
der Erzieher ihm Wunden beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal ihm
schlägt, zu benutzen, und wenn so der Schmerz und das Bedürfnis entstanden
sind, so kann auch in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles inokuliert
werden. Seine gesamte Natur wird es in sich hineinnehmen und später, in ihren
Früchten, die Veredelung spüren lassen. Was den Staat betrifft,
so sagt Macchiavelli, daß »die Form der Regierungen von sehr geringer
Bedeutung ist, obgleich halbgebildete Leute anders denken. Das große Ziel
der Staatskunst sollte Dauer sein, welche alles andere aufwiegt, indem
sie weit wertvoller ist als Freiheit.« Nur bei sicher begründeter und
verbürgter größter Dauer ist stetige Entwicklung und veredelnde
Inokulation überhaupt möglich. Freilich wird gewöhnlich die gefährliche
Genossin aller Dauer, die Autorität, sich dagegen wehrenDers., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 172-174 |
Freigeist
ein relativer Begriff. Man nennt den einen Freigeist, welcher anders
denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und
Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet. Er ist die Ausnahme,
die gebundenen Geister sind die Regel; diese werfen ihm vor, daß seine freien
Grundsätze ihren Ursprung entweder in der Sucht aufzufallen haben, oder gar
auf freie Handlungen, das heißt auf solche, welche mit der gebundenen Moral
unvereinbar sind, schließen lassen. Bisweilen sagt man auch, diese oder
jene freien Grundsätze seien aus Verschrobenheit und Überspanntheit
des Kopfes herzuleiten; doch spricht so nur die Bosheit, welche selber an das
nicht glaubt, was sie sagt, aber damit schaden will: denn das Zeugnis für
die größere Güte und Schärfe seines Intellekts ist dem Freigeist
gewöhnlich ins Gesicht geschrieben, so lesbar, daß es die gebundenen
Geister gut genug verstehen. Aber die beiden andern Ableitungen der Freigeisterei
sind redlich gemeint; in der Tat entstehen auch viele Freigeister auf die eine
oder die andere Art. Deshalb könnten aber die Sätze, zu denen sie auf
jenen Wegen gelangten, doch wahrer und zuverlässiger sein als die der gebundenen
Geister. Bei der Erkenntnis der Wahrheit kommt es darauf an, daß man sie
hat, nicht darauf, aus welchem Antriebe man sie gesucht, auf welchem Wege man
sie gefunden hat. Haben die Freigeister recht, so haben die gebundenen Geister
unrecht, gleichgültig, ob die ersteren aus Unmoralität zur Wahrheit
gekommen sind, die anderen aus Moralität bisher an der Unwahrheit festgehalten
haben. Übrigens gehört es nicht zum Wesen des Freigeistes, daß
er richtigere Ansichten hat, sondern vielmehr, daß er sich von dem Herkömmlichen
gelöst hat, sei es mit Glück oder mit einem Mißerfolg. Für
gewöhnlich wird er aber doch die Wahrheit oder mindestens den Geist der Wahrheitsforschung
auf seiner Seite haben: er fordert Gründe, die anderen Glauben.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 174-175 |
Herkunft
des Glaubens. Der gebundene Geist nimmt seine Stellung nicht aus Gründen
ein, sondern aus Gewöhnung; er ist zum Beispiel Christ, nicht weil er die
Einsicht in die verschiedenen Religionen und die Wahl zwischen ihnen gehabt hätte;
er ist Engländer, nicht weil er sich für England entschieden hat, sondern
er fand das Christentum und das Engländertum vor und nahm sie an ohne Gründe,
wie jemand, der in einem Weinlande geboren wurde, ein Weintrinker wird. Später,
als er Christ und Engländer war, hat er vielleicht auch einige Gründe
zugunsten seiner Gewöhnung ausfindig gemacht; man mag diese Gründe umwerfen,
damit wirft man ihn in seiner ganzen Stellung nicht um. Man nötige zum Beispiel
einen gebundenen Geist, seine Gründe gegen die Bigamie vorzubringen, dann
wird man erfahren, ob sein heiliger Eifer für die Monogamie auf Gründen
oder auf Angewöhnung beruht. Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne
Gründe nennt man Glauben.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 175 |
Aus
den Folgen auf Grund und Ungrund zurückgeschlossen. Alle Staaten
und Ordnungen der Gesellschaft: die Stände, die Ehe, die Erziehung, das Recht,
alles dies hat seine Kraft und Dauer allein in dem Glauben der gebundenen Geister
an sie also in der Abwesenheit der Gründe, mindestens in der Abwehr
des Fragens nach Gründen. Das wollen die gebundenen Geister nicht gern zugeben
und sie fühlen wohl, daß es ein pudendum ist. Das Christentum, das
sehr unschuldig in seinen intellektuellen Einfällen war, merkte von diesem
pudendum nichts, forderte Glauben und nichts als Glauben und wies das Verlangen
nach Gründen mit Leidenschaft ab; es zeigte auf den Erfolg des Glaubens hin:
ihr werdet den Vorteil des Glaubens schon spüren, deutete es an, ihr sollt
durch ihn selig werden. Tatsächlich verfährt der Staat ebenso, und jeder
Vater erzieht in gleicher Weise seinen Sohn: halte dies nur für wahr, sagt
er, du wirst spüren, wie gut dies tut. Dies bedeutet aber, daß aus
dem persönlichen Nutzen, den eine Meinung einträgt, ihre Wahrheit erwiesen
werden soll, die Zuträglichkeit einer Lehre soll für die intellektuelle
Sicherheit und Begründetheit Gewähr leisten. Es ist dies so, wie wenn
der Angeklagte vor Gericht spräche: mein Verteidiger sagt die ganze Wahrheit,
denn seht nur zu, was aus seiner Rede folgt: ich werde freigesprochen.
Weil die gebundenen Geister ihre Grundsätze ihres Nutzens wegen haben, so
vermuten sie auch beim Freigeist, daß er mit seinen Ansichten ebenfalls
seinen Nutzen suche und nur das für wahr halte, was ihm gerade frommt. Da
ihm aber das Entgegengesetzte von dem zu nützen scheint, was seinen Landes-
oder Standesgenossen nützt, so nehmen diese an, daß seine Grundsätze
ihnen gefährlich sind; sie sagen oder fühlen: er darf nicht recht
haben, denn er ist uns schädlich.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 175-176 |
Der
starke, gute Charakter. Die Gebundenheit der Ansichten, durch Gewöhnung
zum Instinkt geworden, führt zu dem, was man Charakterstärke nennt.
Wenn jemand aus wenigen, aber immer aus den gleichen Motiven handelt, so erlangen
seine Handlungen eine große Energie; stehen diese Handlungen im Einklange
mit den Grundsätzen der gebundenen Geister, so werden sie anerkannt und erzeugen
nebenbei in dem, der sie tut, die Empfindung des guten Gewissens. Wenige Motive,
energisches Handeln und gutes Gewissen machen das aus, was man Charakterstärke
nennt. Dem Charakterstarken fehlt die Kenntnis der vielen Möglichkeiten und
Richtungen des Handelns; sein Intellekt ist unfrei, gebunden, weil er ihm in einem
gegebenen Falle vielleicht nur zwei Möglichkeiten zeigt; zwischen diesen
muß er jetzt, gemäß seiner ganzen Natur, mit Notwendigkeit wählen,
und er tut dies leicht und schnell, weil er nicht zwischen fünfzig Möglichkeiten
zu wählen hat. Die erziehende Umgebung will jeden Menschen unfrei machen,
indem sie ihm die geringste Zahl von Möglichkeiten vor Augen stellt. Das
Individuum wird von seinen Erziehern behandelt, als ob es zwar etwas Neues sei,
aber eine Wiederholung werden solle. Erscheint der Mensch zunächst
als etwas Unbekanntes, nie Dagewesenes, so soll er zu etwas Bekanntem, Dagewesenem
gemacht werden. Einen guten Charakter nennt man an einem Kinde das Sichtbarwerden
der Gebundenheit durch das Dagewesene; indem das Kind sich auf die Seite der gebundenen
Geister stellt, bekundet es zuerst seinen erwachenden Gemeinsinn; auf der Grundlage
dieses Gemeinsinns aber wird es später seinem Staate oder Stande nützlich.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 176-177 |
Maß
der Dinge bei den gebundenen Geistern. Von vier Gattungen der Dinge
sagen die gebundenen Geister, sie seien im Rechte. Erstens: alle Dinge, welche
Dauer haben, sind im Recht; zweitens: alle Dinge, welche uns nicht lästig
fallen, sind im Recht; drittens: alle Dinge, welche uns Vorteil bringen, sind
im Recht; viertens: alle Dinge, für welche wir Opfer gebracht haben, sind
im Recht. Letzteres erklärt zum Beispiel, weshalb ein Krieg, der wider Willen
des Volkes begonnen wurde, mit Begeisterung fortgeführt wird, sobald erst
Opfer gebracht sind. Die Freigeister, welche ihre Sache vor dem Forum der
gebundenen Geister führen, haben nachzuweisen, daß es immer Freigeister
gegeben hat, also daß die Freigeisterei Dauer hat, sodann, daß sie
nicht lästig fallen wollen, und endlich, daß sie den gebundenen Geistern
im ganzen Vorteil bringen; aber weil sie von diesem letzten die gebundenen Geister
nicht überzeugen können, nützt es ihnen nichts, den ersten und
zweiten Punkt bewiesen zu haben.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 177-178 |
Verglichen
mit dem, welcher das Herkommen auf seiner Seite hat und keine Gründe für
sein Handeln braucht, ist der Freigeist immer schwach, namentlich im Handeln;
denn er kennt zu viele Motive und Gesichtspunkte und hat deshalb eine unsichere,
ungeübte Hand. Welche Mittel gibt es nun, um ihn doch verhältnismäßig
stark zu machen, so daß er sich wenigstens durchsetzt und nicht wirkungslos
zugrunde geht? Wie entsteht der starke Geist)? Es ist dies in einem einzelnen
Falle die Frage nach der Erzeugung des Genius. Woher kommt die Energie, die unbeugsame
Kraft, die Ausdauer, mit welcher der einzelne, dem Herkommen entgegen, eine ganz
individuelle Erkenntnis der Welt zu erwerben trachtet?Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 178 |
Es
wird mit jener Höhe vorbei sein, wenn diese Wildheit und Energie nicht mehr
großgezüchtet werden. Die Menschheit kommt vielleicht auf der Mitte
ihres Weges, in der mittleren Zeit ihrer Existenz, ihrem eigentlichen Ziele näher
als am Ende. Es könnten Kräfte, durch welche zum Beispiel die Kunst
bedingt ist, geradezu aussterben ....Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 180 |
Genius
und idealer Staat in Widerspruch. Die Sozialisten begehren für
möglichst viele ein Wohlleben herzustellen. Wenn die dauernde Heimat dieses
Wohllebens, der vollkommene Staat, wirklich erreicht wäre, so würde
durch dieses Wohlleben der Erdboden, aus dem der große Intellekt und überhaupt
das mächtige Individuum wächst, zerstört sein: ich meine die starke
Energie. Die Menschheit würde zu matt geworden sein, wenn dieser Staat erreicht
ist, um den Genius noch erzeugen zu können. Müßte man somit nicht
wünschen, daß das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte und daß
immer von neuem wieder wilde Kräfte und Energien hervorgerufen werden? Nun
will das warme, mitfühlende Herz gerade die Beseitigung jenes gewaltsamen
und wilden Charakters, und das wärmste Herz, das man sich denken kann, würde
eben darnach am leidenschaftlichsten verlangen: während doch gerade seine
Leidenschaft aus jenem wilden und gewaltsamen Charakter des Lebens ihr Feuer,
ihre Wärme, ja ihre Existenz genommen hat; das wärmste Herz will also
Beseitigung seines Fundamentes, Vernichtung seiner selbst, das heißt doch:
es will etwas Unlogisches, es ist nicht intelligent. Die höchste Intelligenz
und das wärmste Herz können nicht in einer Person beisammen sein, und
der Weise, welcher über das Leben das Urteil spricht, stellt sich auch über
die Güte und betrachtet diese nur als etwas, das bei der Gesamtrechnung des
Lebens mit abzuschätzen ist. Der Weise muß jenen ausschweifenden Wünschen
der unintelligenten Güte widerstreben, weil ihm an dem Fortleben seines Typus
und an dem endlichen Entstehen des höchsten Intellektes gelegen ist; mindestens
wird er der Begründung des »vollkommenen Staates« nicht förderlich
sein, insofern in ihm nur ermattete Individuen Platz haben. Christus dagegen,
den wir uns einmal als das wärmste Herz denken wollen, förderte die
Verdummung der Menschen, stellte sich auf die Seite der geistig Armen und hielt
die Erzeugung des größten Intellektes auf: und dies war konsequent.
Sein Gegenbild, der vollkommene Weise dies darf man wohl vorhersagen
wird ebenso notwendig der Erzeugung eines Christus hinderlich sein. Der
Staat ist eine kluge Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegeneinander: übertreibt
man seine Veredelung, so wird zuletzt das Individuum durch ihn geschwächt,
ja aufgelöst also der ursprüngliche Zweck des Staates am gründlichsten
vereitelt.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 181-182 |
Zukunft
der Wissenschaft. Die Wissenschaft gibt dem, welcher in ihr arbeitet
und sucht, viel Vergnügen, dem, welcher ihre Ergebnisse lernt, sehr wenig.
Da allmählich aber alle wichtigen Wahrheiten der Wissenschaft alltäglich
und gemein werden müssen, so hört auch dieses wenige Vergnügen
auf: so wie wir beim Lernen des so bewundernswürdigen Einmaleins längst
aufgehört haben, uns zu freuen. Wenn nun die Wissenschaft immer weniger Freude
durch sich macht und immer mehr Freude, durch Verdächtigung der tröstlichen
Metaphysik, Religion und Kunst, nimmt: so verarmt jene größte Quelle
der Lust, welcher die Menschheit fast ihr gesamtes Menschentum verdankt. Deshalb
muß eine höhere Kultur dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei
Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden:
nebeneinander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschließbar; es ist dies
eine Forderung der Gesundheit. Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen
der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muß geheizt
werden, mit Hilfe der erkennenden Wissenschaft muß den bösartigen und
gefährlichen Folgen einer Überheizung vorgebeugt werden. Wird
dieser Forderung der höheren Kultur nicht genügt, so ist der weitere
Verlauf der menschlichen Entwicklung fast mit Sicherheit vorherzusagen: das Interesse
am Wahren hört auf, je weniger es Lust gewährt; die Illusion, der Irrtum,
die Phantastik erkämpfen sich Schritt um Schritt, weil sie mit Lust verbunden
sind, ihren ehemals behaupteten Boden: der Ruin der Wissenschaften, das Zurücksinken
in Barbarei ist die nächste Folge; von neuem muß die Menschheit wieder
anfangen, ihr Gewebe zu weben, nachdem sie es, gleich Penelope, des nachts zerstört
hat. Aber wer bürgt uns dafür, daß sie immer wieder die Kraft
dazu findet?Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 192-193 |
Die
Lust am Erkennen. Weshalb ist das Erkennen, das Element des Forschers
und Philosophen, mit Lust verknüpft? Erstens und vor allem, weil man sich
dabei seiner Kraft bewußt wird, also aus demselben Grunde, aus dem gymnastische
Übungen auch ohne Zuschauer lustvoll sind. Zweitens, weil man, im Verlauf
der Erkenntnis, über ältere Vorstellungen und deren Vertreter hinauskommt,
Sieger wird oder wenigstens es zu sein glaubt. Drittens, weil wir uns durch eine
noch so kleine neue Erkenntnis über alle erhaben und uns als die einzigen
fühlen, welche hierin das Richtige wissen. Diese drei Gründe zur Lust
sind die wichtigsten, doch gibt es, je nach der Natur des Erkennenden, noch viele
Nebengründe. Ein nicht unbeträchtliches Verzeichnis von solchen
gibt, an einer Stelle, wo man es nicht suchen würde, meine paränetische
Schrift über Schopenhauer: mit deren Aufstellungen sich jeder erfahrene Diener
der Erkenntnis zufrieden geben kann, sei es auch, daß er den ironischen
Anflug, der auf jenen Seiten zu liegen scheint, wegwünschen wird. Denn wenn
es wahr ist, daß zum Entstehen des Gelehrten »eine Menge sehr menschlicher
Triebe und Triebchen zusammengegossen werden muß«, daß der Gelehrte
zwar ein sehr edles, aber kein reines Metall ist und »aus einem verwickelten
Geflecht sehr verschiedener Antriebe und Reize besteht«: so gilt doch dasselbe
ebenfalls von Entstehung und Wesen des Künstlers, Philosophen, moralischen
Genies und wie die in jener Schrift glorifizierten großen Namen lauten.
Alles Menschliche verdient in Hinsicht auf seine Entstehung die ironische Betrachtung:
deshalb ist die Ironie in der Welt so überflüssig.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 193-194 |
Das
Können, nicht das Wissen, durch die Wissenschaft geübt. Der
Wert davon, daß man zeitweilig eine strenge Wissenschaft streng betrieben
hat, beruht nicht gerade auf deren Ergebnissen: denn diese werden, im Verhältnis
zum Meere des Wissenswerten, ein verschwindend kleiner Tropfen sein. Aber es ergibt
einen Zuwachs an Energie, an Schlußvermögen, an Zähigkeit der
Ausdauer; man hat gelernt, einen Zweck zweckmäßig zu erreichen.
Insofern ist es sehr schätzbar, in Hinsicht auf alles, was man später
treibt, einmal ein wissenschaftlicher Mensch gewesen zu sein.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 195-196 |
Ein
Ausschnitt unseres Selbst als künstlerisches Objekt. Es ist ein
Zeichen überlegener Kultur, gewisse Phasen der Entwicklung, welche die geringeren
Menschen fast gedankenlos durchleben und von der Tafel ihrer Seele dann wegwischen,
mit Bewußtsein festzuhalten und ein getreues Bild davon zu entwerfen: denn
dies ist die höhere Gattung der Malerkunst, welche nur wenige verstehen.
Dazu wird es nötig, jene Phasen künstlich zu isolieren. Die historischen
Studien bilden die Befähigung zu diesem Malertum aus, denn sie fordern uns
fortwährend auf, bei Anlaß eines Stückes Geschichte, eines Volkes
oder Menschenlebens uns einen ganz bestimmten Horizont von Gedanken, eine
bestimmte Stärke von Empfindungen, das Vorwalten dieser, das Zurücktreten
jener vorzustellen. Darin, daß man solche Gedanken- und Gefühlssysteme
aus gegebenen Anlässen schnell rekonstruieren kann, wie den Eindruck eines
Tempels aus einigen zufällig stehengebliebenen Säulen und Mauerresten,
besteht der historische Sinn. Das nächste Ergebnis desselben ist, daß
wir unsere Mitmenschen als ganz bestimmte solche Systeme und Vertreter verschiedener
Kulturen verstehen, das heißt als notwendig, aber als veränderlich.
Und wiederum: daß wir in unserer eigenen Entwicklung Stücke heraustrennen
und selbständig hinstellen können.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 209 |
Zyniker
und Epikureer. Der Zyniker erkennt den Zusammenhang zwischen den vermehrten
und stärkeren Schmerzen des höher kultivierten Menschen und der Fülle
von Bedürfnissen; er begreift also, daß die Menge von Meinungen über
das Schöne, Schickliche, Geziemende, Erfreuende ebensosehr reiche Genuß,
aber auch Unlustquellen entspringen lassen mußten. Gemäß dieser
Einsicht bildet er sich zurück, indem er viele dieser Meinungen aufgibt und
sich gewissen Anforderungen der Kultur entzieht; damit gewinnt er ein Gefühl
der Freiheit und der Kräftigung, und allmählich, wenn die Gewohnheit
ihm seine Lebensweise erträglich macht, hat er in der Tat seltnere und schwächere
Unlustempfindungen als die kultivierten Menschen und nähert sich dem Haustier
an; überdies empfindet er alles im Reiz des Kontrastes und schimpfen
kann er ebenfalls nach Herzenslust: so daß er dadurch wieder hoch über
die Empfindungswelt des Tieres hinauskommt. Der Epikureer hat denselben
Gesichtspunkt wie der Zyniker; zwischen ihm und jenem ist gewöhnlich nur
ein Unterschied des Temperamentes. Sodann benutzt der Epikureer seine höhere
Kultur, um sich von den herrschenden Meinungen unabhängig zu machen; er erhebt
sich über dieselben, während der Zyniker nur in der Negation bleibt.
Er wandelt gleichsam in windstillen, wohlgeschützten, halbdunklen Gängen,
während über ihm, im Winde, die Wipfel der Bäume brausen und ihm
verraten, wie heftig bewegt da draußen die Welt ist. Der Zyniker dagegen
geht gleichsam nackt draußen im Windeswehen umher und härtet sich bis
zur Gefühllosigkeit ab.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 209-210 |
Mikrokosmus
und Makrokosmus der Kultur. Die besten Entdeckungen über die Kultur
macht der Mensch in sich selbst, wenn er darin zwei heterogene Mächte waltend
findet. Gesetzt, es lebe einer ebensosehr in der Liebe zur bildenden Kunst oder
zur Musik, als er vom Geiste der Wissenschaft fortgerissen werde, und er sehe
es als unmöglich an, diesen Widerspruch durch Vernichtung der einen und volle
Entfesselung der anderen Macht aufzuheben: so bleibt ihm nur übrig, ein so
großes Gebäude der Kultur aus sich zu gestalten, daß jene beiden
Mächte, wenn auch an verschiedenen Enden desselben, in ihm wohnen können,
während zwischen ihnen versöhnende Mittelmächte, mit überwiegender
Kraft, um nötigenfalls den ausbrechenden Streit zu schlichten, ihre Herberge
haben. Ein solches Gebäude der Kultur im einzelnen Individuum wird aber die
größte Ähnlichkeit mit dem Kulturbau in ganzen Zeitperioden haben
und eine fortgesetzte analogische Belehrung über denselben abgeben. Denn
überall, wo sich die große Architektur der Kultur entfaltet hat, war
ihre Aufgabe, die einander widerstrebenden Mächte zur Eintracht vermöge
einer übermächtigen Ansammlung der weniger unverträglichen übrigen
Mächte zu zwingen, ohne sie des halb zu unterdrücken und in Fesseln
zu schlagen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 210-211 |
Von
der Erleichterung des Lebens. Ein Hauptmittel, um sich das Leben zu
erleichtern, ist das Idealisieren aller Vorgänge desselben; man soll sich
aber aus der Malerei recht deutlich machen, was idealisieren heißt. Der
Maler verlangt, daß der Zuschauer nicht zu genau, zu scharf zusehe, er zwingt
ihn in eine gewisse Ferne zurück, damit er von dort aus betrachte; er ist
genötigt, eine ganz bestimmte Entfernung des Betrachters vom Bilde vorauszusetzen;
ja er muß sogar ein ebenso bestimmtes Maß von Schärfe des Auges
bei seinem Betrachter annehmen! in solchen Dingen darf er durchaus nicht schwanken.
Jeder also, der sein Leben idealisieren will, muß es nicht zu genau sehen
wollen und seinen Blick immer in eine gewisse Entfernung zurückbannen. Dieses
Kunststück verstand zum Beispiel Goethe.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 212 |
Erschwerung
als Erleichterung und umgekehrt. Vieles, was auf gewissen Stufen des
Menschen Erschwerung des Lebens ist, dient einer höheren Stufe als Erleichterung,
weil solche Menschen stärkere Erschwerungen des Lebens kennengelernt haben.
Ebenso kommt das Umgekehrte vor: so hat zum Beispiel die Religion ein doppeltes
Gesicht, je nachdem ein Mensch zu ihr hinaufblickt, um von ihr sich seine Last
und Not abnehmen zu lassen, oder auf sie hinabsieht, wie auf die Fessel, welche
ihm angelegt ist, damit er nicht zu hoch in die Lüfte steige.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 212-213 |
Hauptmangel
der tätigen Menschen. Den Tätigen fehlt gewöhnlich die
höhere Tätigkeit: ich meine die individuelle. Sie sind als Beamte,
Kaufleute, Gelehrte, das heißt als Gattungswesen tätig, aber nicht
als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen; in dieser Hinsicht sind
sie faul. Es ist das Unglück der Tätigen, daß ihre Tätigkeit
fast immer ein wenig unvernünftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden
Bankier nach dem Zweck seiner rastlosen Tätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig.
Die Tätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäß der Dummheit der
Mechanik. Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch,
in Sklaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich
hat, ist ein Sklave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann,
Beamter, Gelehrter.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 214 |
Zugunsten
der Müßigen. Zum Zeichen dafür, daß die Schätzung
des beschaulichen Lebens abgenommen hat, wetteifern die Gelehrten jetzt mit den
tätigen Menschen in einer Art von hastigem Genusse, so daß sie also
diese Art, zu genießen, höherzuschätzen scheinen als die, welche
ihnen eigentlich zukommt und welche in der Tat viel mehr Genuß ist. Die
Gelehrten schämen sich des otium. Es ist aber ein edel Ding um Muße
und Müßiggehen. Wenn Müßiggang wirklich der Anfang
aller Laster ist, so befindet er sich also wenigstens in der nächsten Nähe
aller Tugenden; der müßige Mensch ist immer noch ein besserer Mensch
als der tätige. Ihr meint doch nicht, daß ich mit Muße
und Müßiggehen auf euch ziele, ihr Faultiere?Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 214-215 |
Aus
Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner
Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es
gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der
Menschheit vornehmen muß, das beschauliche Element in großem Maße
zu verstärken. Doch hat schon jeder einzelne, welcher in Herz und Kopf ruhig
und stetig ist, das Recht zu glauben, daß er nicht nur ein gutes Temperament,
sondern eine allgemein nützliche Tugend besitze und durch die Bewahrung dieser
Tugend sogar eine höhere Aufgabe erfülle.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 215 |
Inwiefern
der Tätige faul ist. Ich glaube, daß jeder über jedes
Ding, über welches Meinungen möglich sind, eine eigene Meinung haben
muß, weil er selber ein eigenes, nur einmaliges Ding ist, das zu allen anderen
Dingen eine neue, nie dagewesene Stellung einnimmt. Aber die Faulheit, welche
im Grunde der Seele des Tätigen liegt, verhindert den Menschen, das Wasser
aus seinem eigenen Brunnen zu schöpfen. Mit der Freiheit der Meinungen
steht es wie mit der Gesundheit: beide sind individuell, von beiden kann kein
allgemeingültiger Begriff aufgestellt werden. Das, was das eine Individuum
zu seiner Gesundheit nötig hat, ist für ein anderes schon Grund zur
Erkrankung, und manche Mittel und Wege zur Freiheit des Geistes dürfen höher
entwickelten Naturen als Wege und Mittel zur Unfreiheit gelten.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 215-216 |
Vorsicht
der freien Geister. Freigesinnte, der Erkenntnis allein lebende Menschen
werden ihr äußerliches Lebensziel, ihre endgültige Stellung zu
Gesellschaft und Staat bald erreicht finden und zum Beispiel mit einem kleinen
Amte oder einem Vermögen, das gerade zum Leben ausreicht, gerne sich zufrieden
geben; denn sie werden sich einrichten, so zu leben, daß eine große
Verwandlung der äußeren Güter, ja ein Umsturz der politischen
Ordnungen ihr Leben nicht mit umwirft. Auf alle diese Dinge verwenden sie so wenig
wie möglich an Energie, damit sie mit der ganzen angesammelten Kraft und
gleichsam mit einem langen Atem in das Element des Erkennens hinabtauchen. So
können sie hoffen, tief zu tauchen und auch wohl auf den Grund zu sehen.
Von einem Ereignis wird ein solcher Geist gerne nur einen Zipfel nehmen,
er liebt die Dinge in der ganzen Breite und Weitschweifigkeit ihrer Falten nicht:
denn er will sich nicht in diese verwickeln. Auch er kennt die Wochentage
der Unfreiheit, der Abhängigkeit, der Dienstbarkeit. Aber von Zeit zu Zeit
muß ihm ein Sonntag der Freiheit kommen, sonst wird er das Leben nicht aushalten
Es ist wahrscheinlich, daß selbst seine Liebe zu den Menschen vorsichtig
und etwas kurzatmig sein wird, denn er will sich nur, soweit es zum Zweck der
Erkenntnis nötig ist, mit der Welt der Neigungen und der Blindheit einlassen.
Er muß darauf vertrauen, daß der Genius der Gerechtigkeit etwas für
seinen Jünger und Schützling sagen wird, wenn anschuldigende Stimmen
ihn arm an Liebe nennen sollten. Es gibt in seiner Lebens- und Denkweise
einen verfeinerten Heroismus, welcher es verschmäht, sich der großen
Massen-Verehrung, wie sein gröberer Bruder es tut, anzubieten, und still
durch die Welt und aus der Welt zu gehen pflegt. Was für Labyrinthe er auch
durchwandert, unter welchen Felsen sich auch sein Strom zeitweilig durchgequält
hat kommt er ans Licht, so geht er hell, leicht und fast geräuschlos
seinen Gang und läßt den Sonnenschein bis in seinen Grund hinab spielen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 217-218 |
Kopien.
Nicht selten begegnet man Kopien bedeutender Menschen; und den meisten
gefallen, wie bei Gemälden so auch hier, die Kopien besser als die Originale.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 220 |
Doppelte
Art der Gleichheit. Die Sucht nach Gleichheit kann sich so äußern,
daß man entweder alle anderen zu sich hinunterziehen möchte (durch
Verkleinern, Sekretieren, Beinstellen) oder sich mit allen hinauf (durch Anerkennen,
Helfen, Freude an fremdem Gelingen).Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 221 |
Die
gefährlichsten Ärzte. Die gefährlichsten Ärzte
sind die, welche es dem geborenen Arzte als geborene Schauspieler mit vollkommener
Kunst der Täuschung nachmachen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 222 |
Die
Mitleidigen. Die mitleidigen, im Unglück jederzeit hilfreichen
Naturen sind selten zugleich die sich mitfreuenden: beim Glück der anderen
haben sie nichts zu tun, sind überflüssig, fühlen sich nicht im
Besitz ihrer Überlegenheit und zeigen deshalb leicht Mißvergnügen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 224 |
Undank
vorauszusehen. Der, welcher etwas Großes schenkt, findet keine
Dankbarkeit; denn der Beschenkte hat schon durch das Annehmen zuviel Last.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 225 |
In
geistloser Gesellschaft. Niemand dankt dem geistreichen Menschen die
Höflichkeit, wenn er sich einer Gesellschaft gleichstellt, in der es nicht
höflich ist, Geist zu zeigen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 225 |
Der
Parasit. Es bezeichnet einen völligen Mangel an vornehmer Gesinnung,
wenn jemand lieber in Abhängigkeit, auf anderer Kosten leben will, um nur
nicht arbeiten zu müssen, gewöhnlich mit einer heimlichen Erbitterung
gegen die, von denen er abhängt. Eine solche Gesinnung ist viel häufiger
bei Frauen als bei Männern, auch viel verzeihlicher (aus historischen Gründen).Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 232-233 |
Kultur
und Kaste. Eine höhere Kultur kann allein dort entstehen, wo es
zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft gibt: die der Arbeitenden und die
der Müßigen, zu wahrer Muße Befähigten; oder mit stärkerem
Ausdruck: die Kaste der Zwangs-Arbeit und die Kaste der Frei-Arbeit. Der Gesichtspunkt
der Verteilung des Glücks ist nicht wesentlich, wenn es sich um die Erzeugung
einer höheren Kultur handelt; jedenfalls aber ist die Kaste der Müßigen
die leidensfähigere, leidendere, ihr Behagen am Dasein ist geringer, ihre
Aufgabe größer. Findet nun gar ein Austausch der beiden Kasten statt,
so, daß die stumpferen, ungeistigeren Familien und einzelnen aus der oberen
Kaste in die niedere herabgesetzt werden und wiederum die freieren Menschen aus
dieser den Zutritt zur höheren erlangen: so ist ein Zustand erreicht, über
den hinaus man nur noch das offene Meer unbestimmter Wünsche sieht.
So redet die verklingende Stimme der alten Zeit zu uns; aber wo sind noch Ohren,
sie zu hören?Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 262-263 |
Gerechtigkeit
als Parteien-Lockruf. Wohl können edle (wenn auch nicht gerade
sehr einsichtsvolle) Vertreter der herrschenden Klasse sich geloben: wir wollen
die Menschen als gleich behandeln, ihnen gleiche Rechte zugestehen. Insofern ist
eine sozialistische Denkungsweise, welche auf Gerechtigkeit ruht, möglich;
aber wie gesagt nur innerhalb der herrschenden Klasse, welche in diesem Falle
die Gerechtigkeit mit Opfern und Verleugnungen übt. Dagegen Gleichheit der
Rechte fordern, wie es die Sozialisten der unterworfenen Kaste tun, ist nimmermehr
der Ausfluß der Gerechtigkeit, sondern der Begehrlichkeit. Wenn man
der Bestie blutige Fleischstücke aus der Nähe zeigt und wieder wegzieht,
bis sie endlich brüllt: meint ihr, daß dies Gebrüll Gerechtigkeit
bedeute?Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 268 |
Besitz
und Gerechtigkeit. Wenn die Sozialisten nachweisen, daß die Eigentums-Verteilung
in der gegenwärtigen Menschheit die Konsequenz zahlloser Ungerechtigkeiten
und Gewaltsamkeiten ist, und in summa die Verpflichtung gegen etwas so
unrecht Begründetes ablehnen: so sehen sie nur etwas einzelnes. Die ganze
Vergangenheit der alten Kultur ist auf Gewalt, Sklaverei, Betrug, Irrtum aufgebaut;
wir können aber uns selbst, die Erben aller dieser Zustände, ja die
Konkreszenzen aller jener Vergangenheit, nicht wegdekretieren und dürfen
nicht ein einzelnes Stück herausziehn wollen. Die ungerechte Gesinnung steckt
in den Seelen der Nicht-Besitzenden auch, sie sind nicht besser als die Besitzenden
und haben kein moralisches Vorrecht, denn irgendwann sind ihre Vorfahren Besitzende
gewesen. Nicht gewaltsame neue Verteilungen sondern allmähliche Umschaffungen
des Sinnes tun not, die Gerechtigkeit muß in allen größer werden,
der gewalttätige Instinkt schwächer.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 269 |
Politischer
Wert der Vaterschaft. Wenn der Mensch keine Söhne hat, so hat
er kein volles Recht, über die Bedürfnisse eines einzelnen Staatswesens
mitzureden. Man muß selber mit den anderen sein Liebstes daran gewagt haben:
das erst bindet an den Staat fest; man muß das Glück seiner Nachkommen
ins Auge fassen, also vor allem Nachkommen haben, um an allen Institutionen und
deren Veränderung rechten, natürlichen Anteil zu nehmen. Die Entwicklung
der höheren Moral hängt daran, daß einer Söhne hat; dies
stimmt ihn unegoistisch, oder richtiger: es erweitert seinen Egoismus der Zeitdauer
nach und läßt ihn Ziele über seine individuelle Lebenslänge
hinaus mit Ernst verfolgen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 270-271 |
Ahnenstolz.
Auf eine ununterbrochene Reihe guter Ahnen bis zum Vater herauf darf man
mit Recht stolz sein nicht aber auf die Reihe; denn diese hat jeder. Die
Herkunft von guten Ahnen macht den echten Geburtsadel aus; eine einzige Unterbrechung
in jener Kette, ein böser Vorfahr also, hebt den Geburtsadel auf. Man soll
jeden, welcher von seinem Adel redet, fragen: hast du keinen gewalttätigen,
habsüchtigen, ausschweifenden, boshaften, grausamen Menschen unter deinen
Vorfahren? Kann er darauf in gutem Wissen und Gewissen mit Nein antworten, so
bewerbe man sich um seine Freundschaft.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 271 |
Fürst
und Gott. Die Menschen verkehren mit ihren Fürsten vielfach in
ähnlicher Weise wie mit ihrem Gotte, wie ja vielfach auch der Fürst
der Repräsentant des Gottes, mindestens sein Oberpriester war. Diese fast
unheimliche Stimmung von Verehrung und Angst und Scham war und ist viel schwächer
geworden, aber mitunter lodert sie auf und heftet sich an mächtige Personen
überhaupt. Der Kultus des Genius ist ein Nachklang dieser Götter-Fürsten-Verehrung.
Überall, wo man sich bestrebt, einzelne Menschen in das Übermenschliche
hinaufzuheben, entsteht auch die Neigung, ganze Schichten des Volkes sich roher
und niedriger vorzustellen, als sie wirklich sind.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 273 |
Meine
Utopie. In einer besseren Ordnung der Gesellschaft wird die schwere
Arbeit und Not des Lebens dem zuzumessen sein, welcher am wenigsten durch sie
leidet, also dem Stumpfsten, und so schrittweise aufwärts bis zu dem, welcher
für die höchsten sublimiertesten Gattungen des Leidens am empfindlichsten
ist und deshalb selbst noch bei der größten Erleichterung des Lebens
leidet.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 274 |
Ein
Wahn in der Lehre vom Umsturz. Es gibt politische und soziale Phantasten,
welche feurig und beredt zu einem Umsturz aller Ordnungen auffordern, in dem Glauben,
daß dann sofort das stolzeste Tempelhaus schönen Menschentums gleichsam
von selbst sich erheben werde. In diesen gefährlichen Träumen klingt
noch der Aberglaube Rousseaus nach, welcher an eine wundergleiche ursprüngliche,
aber gleichsam verschüttete Güte der menschlichen Natur glaubt
und den Institutionen der Kultur, in Gesellschaft, Staat, Erziehung, alle Schuld
jener Verschüttung beimißt. Leider weiß man aus historischen
Erfahrungen, daß jeder solche Umsturz die wildesten Energien als die längst
begrabenen Furchtbarkeiten und Maßlosigkeiten fernster Zeitalter von neuem
zur Auferstehung bringt: daß also ein Umsturz wohl eine Kraftquelle in einer
matt gewordenen Menschheit sein kann, nimmermehr aber ein Ordner, Baumeister,
Künstler, Vollender der menschlichen Natur. Nicht Voltaires
maßvolle, dem Ordnen, Reinigen und Umbauen zugeneigte Natur, sondern Rousseaus
leidenschaftliche Torheiten und Halblügen haben den optimistischen Geist
der Revolution wachgerufen, gegen den ich rufe: »Écrasez l'infâme!«
Durch ihn ist der Geist der Aufklärung und der fortschreitenden Entwicklung
auf lange verscheucht worden: sehen wir zu ein jeder bei sich selber
ob es möglich ist, ihn wieder zurückzurufen!Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 274 |
Die
Privatgesellschaften ziehen Schritt vor Schritt die Staatsgeschäfte in sich
hinein: selbst der zäheste Rest, welcher von der alten Arbeit des Regierens
übrigbleibt (jene Tätigkeit zum Beispiel, welche die Privaten gegen
die Privaten sicherstellen soll), wird zu allerletzt einmal durch Privatunternehmer
besorgt werden. Die Mißachtung, der Verfall und der Tod des Staates,
die Entfesselung der Privatperson (ich hüte mich zu sagen: des Individuums)
ist die Konsequenz des demokratischen Staatsbegriffs; hier liegt seine Mission.
Hat er seine Aufgabe erfüllt die wie alles Menschliche viel Vernunft
und Unvernunft im Schoße trägt , sind alle Rückfälle
der alten Krankheit überwunden, so wird ein neues Blatt im Fabelbuche der
Menschheit entrollt, auf dem man allerlei seltsame Historien und vielleicht auch
einiges Gute lesen wird.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 280 |
Um
das Gesagte noch einmal kurz zu sagen: das Interesse der vormundschaftlichen Regierung
und das Interesse der Religion gehen miteinander Hand in Hand, so daß, wenn
letztere abzusterben beginnt, auch die Grundlage des Staates erschüttert
wird. Der Glaube an eine göttliche Ordnung der politischen Dinge, an ein
Mysterium in der Existenz des Staates ist religiösen Ursprungs: schwindet
die Religion, so wird der Staat unvermeidlich seinen alten Isisschleier verlieren
und keine Ehrfurcht mehr erwecken. Die Souveränität des Volkes, in der
Nähe gesehen, dient dazu, auch den letzten Zauber und Aberglauben auf dem
Gebiete dieser Empfindungen zu verscheuchen; die moderne Demokratie ist die historische
Form vom Verfall des Staates.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 280-281 |
Die
Aussicht, welche sich durch diesen sichern Verfall ergibt, ist aber nicht in jedem
Betracht eine unglückselige: die Klugheit und der Eigennutz der Menschen
sind von allen ihren Eigenschaften am besten ausgebildet; wenn den Anforderungen
dieser Kräfte der Staat nicht mehr entspricht, so wird am wenigsten das Chaos
eintreten, sondern eine noch zweckmäßigere Erfindung, als der Staat
es war, zum Siege über den Staat kommen. Wie manche organisierende Gewalt
hat die Menschheit schon absterben sehen: zum Beispiel die der Geschlechtsgenossenschaft,
als welche Jahrtausende lang viel mächtiger war als die Gewalt der Familie,
ja längst, bevor diese bestand, schon waltete und ordnete. Wir selber sehen
den bedeutenden Rechts- und Machtgedanken der Familie, welcher einmal, so weit
wie römisches Wesen reichte, die Herrschaft besaß immer blasser
und ohnmächtiger werden. So wird ein späteres Geschlecht auch den Staat
in einzelnen Strecken der Erde bedeutungslos werden sehen eine Vorstellung,
an welche viele Menschen der Gegenwart kaum ohne Angst und Abscheu denken können.
An der Verbreitung und Verwirklichung dieser Vorstellung zu arbeiten, ist freilich
ein ander Ding: man muß sehr anmaßend von seiner Vernunft denken und
die Geschichte kaum halb verstehen, um schon jetzt die Hand an den Pflug zu legen,
während noch niemand die Samenkörner aufzeigen kann, welche auf
das zerrissene Erdreich nachher gestreut werden sollen. Vertrauen wir also »der
Klugheit und dem Eigennutz der Menschen«, daß jetzt noch der Staat
eine gute Weile bestehen bleibt und zerstörerische Versuche übereifriger
und voreiliger Halbwisser abgewiesen werden!Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 281 |
Der
Sozialismus in Hinsicht auf seine Mittel. Der Sozialismus ist der phantastische
jüngere Bruder des fast abgelebten Despotismus, den er beerben will; seine
Bestrebungen sind also im tiefsten Verstande reaktionär. Denn er begehrt
eine Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja
er überbietet alles Vergangene dadurch, daß er die förmliche Vernichtung
des Individuums anstrebt: als welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur
vorkommt und durch ihn in ein zweckmäßiges Organ des Gemeinwesens
umgebessert werden soll. Seiner Verwandtschaft wegen erscheint er immer in der
Nähe aller exzessiven Machtentfaltungen, wie der alte typische Sozialist
Plato am Hofe des sizilischen Tyrannen; er wünscht (und befördert unter
Umständen) den cäsarischen Gewaltstaat dieses Jahrhunderts, weil er,
wie gesagt, sein Erbe werden möchte. Aber selbst diese Erbschaft würde
für seine Zwecke nicht ausreichen, er braucht die alleruntertänigste
Niederwerfung aller Bürger vor dem unbedingten Staat, wie niemals etwas Gleiches
existiert hat; und da er nicht einmal auf die alte religiöse Pietät
gegen den Staat mehr rechnen darf, vielmehr an deren Beseitigung unwillkürlich
fortwährend arbeiten muß nämlich weil er an der Beseitigung
aller bestehenden Staaten arbeitet , so kann er sich nur auf kurze
Zeiten, durch den äußersten Terrorismus, hier und da einmal auf Existenz
Hoffnung machen. Deshalb bereitet er sich im stillen zu Schreckensherrschaften
vor und treibt den halbgebildeten Massen das Wort »Gerechtigkeit«
wie einen Nagel in den Kopf, um sie ihres Verstandes völlig zu berauben (nachdem
dieser Verstand schon durch die Halbbildung sehr gelitten hat) und ihnen für
das böse Spiel, das sie spielen sollen, ein gutes Gewissen zu schaffen.
Der Sozialismus kann dazu dienen, die Gefahr aller Anhäufungen von Staatsgewalt
recht brutal und eindringlich zu lehren und insofern vor dem Staate selbst Mißtrauen
einzuflößen. Wenn seine rauhe Stimme in das Feldgeschrei: »so
viel Staat wie möglich« einfällt, so wird dieses zunächst
dadurch lärmender als je: aber bald dringt auch das entgegengesetzte mit
um so größerer Kraft hervor: »so wenig Staat wie möglich«.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 281-282 |
Der
europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen. Der Handel
und die Industrie, der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller
höheren Kultur, das schnelle Wechseln von Haus und Landschaft, das jetzige
Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer diese Umstände bringen notwendig
eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der
europäischen, mit sich: so daß aus ihnen allen, infolge fortwährender
Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europäischen Menschen, entstehen muß.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 283-284 |
Gerecht
sein wollen und Richter sein wollen. Schopenhauer, dessen große
Kennerschaft für Menschliches und Allzumenschliches, dessen ursprünglicher
Tatsachen-Sinn nicht wenig durch das bunte Leoparden-Fell seiner Metaphysik beeinträchtigt
worden ist (welches man ihm erst abziehen muß, um ein wirkliches Moralisten-Genie
darunter zu entdecken) Schopenhauer macht jene treffliche Unterscheidung,
mit der er viel mehr Recht behalten wird, als er sich selber eigentlich zugestehen
durfte: »die Einsicht in die strenge Notwendigkeit der menschlichen Handlungen
ist die Grenzlinie, welche die philosophischen Köpfe von den andern
scheidet.« Dieser mächtigen Einsicht, welcher er zu Zeiten offen stand,
wirkte er bei sich selber durch jenes Vorurteil entgegen, welches er mit den moralischen
Menschen (nicht mit den Moralisten) noch gemein hatte und das er ganz harmlos
und gläubig so ausspricht: »der letzte und wahre Aufschluß über
das innere Wesen des Ganzen der Dinge muß notwendig eng zusammenhängen
mit dem über die ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns«
was eben durchaus nicht »notwendig« ist, vielmehr durch jenen
Satz von der strengen Notwendigkeit der menschlichen Handlungen, das heißt
der unbedingten Willens-Unfreiheit und Unverantwortlichkeit, eben abgelehnt
wird. Die philosophischen Köpfe werden sich also von den andern durch den
Unglauben an die metaphysische Bedeutsamkeit der Moral unterscheiden: und das
dürfte eine Kluft zwischen sie legen, von deren Tiefe und Unüberbrückbarkeit
die so beklagte Kluft zwischen »Gebildet« und »Ungebildet«,
wie sie jetzt existiert, kaum einen Begriff gibt. Freilich muß noch manche
Hintertür, welche sich die »philosophischen Köpfe«, gleich
Schopenhauern selbst, gelassen haben, als nutzlos erkannt werden: keine
führt ins Freie, in die Luft des freien Willens; jede, durch welche
man bisher geschlüpft ist, zeigte dahinter wieder die ehern blinkende Mauer
des Fatums: wir sind im Gefängnis, frei können wir uns nur träumen,
nicht machen. Daß dieser Erkenntnis nicht lange mehr widerstrebt werden
kann, das zeigen die verzweifelten und unglaublichen Stellungen und Verzerrungen
derer an, welche gegen sie andringen, mit ihr noch den Ringkampf fortsetzen.
So ungefähr geht es bei ihnen jetzt zu: »also kein Mensch verantwortlich?
Und alles voll Schuld und Schuldgefühl? Aber irgendwer muß doch der
Sünder sein: ist es unmöglich und nicht mehr erlaubt, den einzelnen,
die arme Welle im notwendigen Wellenspiele des Werdens anzuklagen und zu richten
nun denn: so sei das Wellenspiel selbst, das Wer den, der Sünder:
hier ist der freie Wille, hier darf angeklagt, verurteilt, gebüßt und
gesühnt werden: so sei Gott der Sünder und der Mensch sein Erlöser:
so sei die Weltgeschichte Schuld, Selbstverurteilung und Selbstmord; so werde
der Missetäter zum eigenen Richter, der Richter zum eigenen Henker.«
Dieses auf den Kopf gestellte Christentum was ist es denn
sonst? ist der letzte Fechter-Ausfall im Kampfe der Lehre von der unbedingten
Moralität mit der von der unbedingten Unfreiheit ein schauerliches
Ding, wenn es mehr wäre als eine logische Grimasse, mehr als eine
häßliche Gebärde des unterliegenden Gedankens etwa der
Todeskrampf des verzweifelnden und heilsüchtigen Herzens, dem der Wahnsinn
zuflüstert: »Siehe, du bist das Lamm, das Gottes Sünde trägt.«
Der Irrtum steckt nicht nur im Gefühle »ich bin verantwortlich«,
sondern ebenso in jenem Gegensatze »ich bin es nicht, aber irgendwer muß
es doch sein«. Dies ist eben nicht wahr: der Philosoph hat also zu
sagen, wie Christus, »richtet nicht!«, und der letzte Unterschied
zwischen den philosophischen Köpfen und den andern wäre der, daß
die ersten gerecht sein wollen, die andern Richter sein wollen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 359-361 |
Macht
ohne Siege. Die stärkste Erkenntnis (die von der völligen
Unfreiheit des menschlichen Willens) ist doch die ärmste an Erfolgen: denn
sie hat immer den stärksten Gegner, die menschliche Eitelkeit.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 365 |
Äußerstes
Herostratentum. Es könnte Herostrate geben, welche den eignen
Tempel anzündeten, in dem ihre Bilder verehrt werden.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 369 |
Aus
dem Traume deuten. Was man mitunter im Wachen nicht genau weiß
und fühlt ob man gegen eine Person ein gutes oder ein schlechtes Gewissen
habe darüber belehrt völlig unzweideutig der Traum.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 372 |
Die
Sitte und ihr Opfer. Der Ursprung der Sitte geht auf zwei Gedanken
zurück: »die Gemeinde ist mehr wert als der einzelne« und »der
dauernde Vorteil ist dem flüchtigen vorzuziehen«; woraus sich der Schluß
ergibt, daß der dauernde Vorteil der Gemeinde unbedingt dem Vorteile des
einzelnen, namentlich seinem momentanen Wohlbefinden, aber auch seinem dauernden
Vorteile und selbst seinem Weiterleben voranzustellen sei. Ob nun der einzelne
von einer Einrichtung leide, die dem Ganzen frommt, ob er an ihr verkümmre,
ihretwegen zugrunde gehe die Sitte muß erhalten, das Opfer gebracht
werden. Eine solche Gesinnung entsteht aber nur in denen, welche nicht
das Opfer sind denn dieses macht in seinem Falle geltend, daß der
einzelne mehr wert sein könne als viele, ebenso daß der gegenwärtige
Genuß, der Augenblick im Paradiese vielleicht höher anzuschlagen sei
als eine matte Fortdauer von leidlosen oder wohlhäbigen Zuständen. Die
Philosophie des Opfertiers wird aber immer zu spät laut: und so bleibt es
bei der Sitte und der Sittlichkeit: als welche eben nur die Empfindung
für den ganzen Inbegriff von Sitten ist, unter denen man lebt und erzogen
wurde und zwar erzogen nicht als einzelner, sondern als Glied eines Ganzen,
als Ziffer einer Majorität. So kommt es fortwährend vor, daß
der einzelne sich selbst, vermittelst seiner Sittlichkeit, majorisiert.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 374-375 |
Von
der Zukunft des Christentums. Über das Verschwinden des Christentums
und darüber, in welchen Gegenden es am langsamsten weichen wird, kann man
sich eine Vermutung gestatten, wenn man erwägt, aus welchen Gründen
und wo der Protestantismus so ungestüm um sich griff. Er verhieß bekanntlich
alles dasselbe weit billiger zu leisten, was die alte Kirche leistete, also ohne
kostspielige Seelenmessen, Wallfahrten, Priester-Prunk und -Üppigkeit; er
verbreitete sich namentlich bei den nördlichen Nationen, welche nicht so
tief in der Symbolik und Formenlust der alten Kirche eingewurzelt waren als die
des Südens: bei diesen lebte ja im Christentum das viel mächtigere religiöse
Heidentum fort, während im Norden das Christentum einen Gegensatz und Bruch
mit dem Altheimischen bedeutete und deshalb mehr gedankenhaft als sinnfällig
von Anfang an war, eben deshalb aber auch, zu Zeiten der Gefahr, fanatischer und
trotziger. Gelingt es, vom Gedanken aus das Christentum zu entwurzeln, so liegt
auf der Hand, wo es anfangen wird, zu verschwinden: also gerade dort, wo es auch
am allerhärtesten sich wehren wird. Anderwärts wird es sich beugen,
aber nicht brechen, entblättert werden, aber wieder Blätter ansetzen
weil dort die Sinne und nicht die Gedanken für dasselbe Partei
genommen haben. Die Sinne aber sind es, welche auch den Glauben unterhalten, daß
mit allem Kostenaufwand der Kirche doch immer noch billiger und bequemer gewirtschaftet
werde als mit den strengen Verhältnissen von Arbeit und Lohn: denn welches
Preises hält man die Muße (oder die halbe Faulheit) für wert,
wenn man sich erst an sie gewöhnt hat! Die Sinne wenden gegen eine entchristlichte
Welt ein, daß in ihr zu viel gearbeitet werden müsse, und der Ertrag
an Muße zu klein sei: sie nehmen die Partei der Magie, das heißt
sie lassen lieber Gott für sich arbeiten (oremus nos, deus laboret!).Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 378-379 |
Schauspielerei
und Ehrlichkeit der Ungläubigen. Es gibt kein Buch, welches das,
was jedem Menschen gelegentlich wohltut, schwärmerische, opfer- und
todbereite Glücks-Innigkeit im Glauben und Schauen seiner »Wahrheit«
so reichlich enthielte, so treuherzig ausdrückte als das Buch, welches
von Christus redet: aus ihm kann ein Kluger alle Mittel lernen, wodurch ein Buch
zum Weltbuch, zum Jedermanns-Freund gemacht werden kann, namentlich jenes Meister-Mittel,
alles als gefunden, nichts als kommend und ungewiß hinzustellen. Alle wirkungsvollen
Bücher versuchen, einen ähnlichen Eindruck zu hinterlassen, als ob der
weiteste geistige und seelische Horizont hier umschrieben sei und um die hier
leuchtende Sonne sich jedes gegenwärtige und zukünftig sichtbare Gestirn
drehen müsse. Muß also nicht aus demselben Grunde, aus dem solche
Bücher wirkungsvoll sind, jedes rein wissenschaftliche Buch wirkungsarm
sein? Ist es nicht verurteilt, niedrig und unter Niedrigen zu leben, um endlich
gekreuzigt zu werden und nie wieder aufzuerstehen? Sind im Verhältnis zu
dem, was die Religiösen von ihrem »Wissen«, von ihrem »heiligen«
Geiste verkünden, nicht alle Redlichen der Wissenschaft »arm im Geiste«?
Kann irgendeine Religion mehr Entsagung verlangen, unerbittlicher den Selbstsüchtigen
aus sich hinausziehen als die Wissenschaft? So und ähnlich
und jedenfalls mit einiger Schauspielerei mögen wir reden, wenn wir
uns vor den Gläubigen zu verteidigen haben; denn es ist kaum möglich,
eine Verteidigung ohne etwas Schauspielerei zu führen. Unter uns aber muß
die Sprache ehrlicher sein: wir bedienen uns da einer Freiheit, welche jene nicht
einmal, ihres eigenen Interesses halber, verstehen dürfen. Weg also mit der
Kapuze der Entsagung! der Miene der Demut! Viel mehr und viel besser: so klingt
unsere Wahrheit! Wenn die Wissenschaft nicht an die Lust der Erkenntnis,
an den Nutzen des Erkannten geknüpft wäre, was läge uns an der
Wissenschaft? Wenn nicht ein wenig Glaube, Liebe und Hoffnung unsere Seele zur
Erkenntnis hinführte, was zöge uns sonst zur Wissenschaft? Und wenn
zwar in der Wissenschaft das Ich nichts zu bedeuten hat, so bedeutet das erfinderische
glückliche Ich, ja selbst schon jedes redliche und fleißige Ich, sehr
viel in der Republik der Wissenschafts-Menschen. Achtung der Achtung-Gebenden,
Freude solcher, welchen wir wohlwollen oder die wir verehren, unter Umständen
Ruhm und eine mäßige Unsterblichkeit der Person ist der erreichbare
Preis für jene Entpersönlichung, von geringeren Aussichten und Belohnungen
hier zu schweigen, obschon gerade ihrethalben die meisten den Gesetzen jener Republik
und überhaupt der Wissenschaft zugeschworen haben und immerfort zuzuschwören
pflegen. Wenn wir nicht in irgendeinem Maße unwissenschaftliche Menschen
geblieben wären, was könnte uns auch nur an der Wissenschaft liegen!
Alles in allem genommen und rund glatt und voll ausgesprochen: für ein
rein erkennendes Wesen wäre die Erkenntnis gleichgültig.
Von den Frommen und Gläubigen unterscheidet uns nicht die Qualität,
sondern die Quantität Glaubens und Frommseins; wir sind mit wenigerem zufrieden.
Aber, werden jene uns zurufen so seid auch zufrieden und gebt euch auch
als zufrieden! worauf wir leicht antworten dürften: »In der
Tat, wir gehören nicht zu den Unzufriedensten. Ihr aber, wenn euer Glaube
euch selig macht, so gebt euch auch als selig! Eure Gesichter sind immer eurem
Glauben schädlicher gewesen als unsere Gründe! Wenn jene frohe Botschaft
eurer Bibel euch ins Gesicht geschrieben wäre, ihr brauchtet den Glauben
an die Autorität dieses Buches nicht so halsstarrig zu fordern: eure Werke,
eure Handlungen sollten die Bibel fortwährend überflüssig machen,
eine neue Bibel sollte durch euch fortwährend entstehen! So aber hat alle
eure Apologie des Christentums ihre Wurzel in eurem Unchristentum; mit eurer Verteidigung
schreibt ihr eure eigne Anklageschrift. Solltet ihr aber wünschen, aus diesem
eurem Ungenügen am Christentum herauszukommen, so bringt euch doch die Erfahrung
von zwei Jahrtausenden zur Erwägung: welche, in bescheidene Frageform gekleidet,
so klingt: »wenn Christus wirklich die Absicht hatte, die Welt zu erlösen,
sollte es ihm nicht mißlungen sein?«Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 4379-381 |
Der
Dichter als Wegzeiger für die Zukunft. So viel noch überschüssige
dichterische Kraft unter den jetzigen Menschen vorhanden ist, welche bei der Gestaltung
des Lebens nicht verbraucht wird, so viel sollte, ohne jeden Abzug, einem
Ziele sich weihen, nicht etwa der Abmalung des Gegenwärtigen, der Wiederbeseelung
und Verdichtung der Vergangenheit, sondern dem Wegweisen für die Zukunft:
und dies nicht in dem Verstande, als ob der Dichter gleich einem phantastischen
Nationalökonomen günstigere Volks- und Gesellschafts-Zustände und
deren Ermöglichung im Bilde vorwegnehmen sollte. Vielmehr wird er, wie früher
die Künstler an den Götterbildern fortdichteten, so an dem schönen
Menschenbilde fortdichten und jene Fälle auswittern, wo mitten
in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne jede künstliche Abwehr
und Entziehung von derselben, die schöne große Seele noch möglich
ist, dort wo sie sich auch jetzt noch in harmonische, ebenmäßige Zustände
einzuverleiben vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit bekommt
und also, durch Erregung von Nachahmung und Neid, die Zukunft schaffen hilft.
Dichtungen solcher Dichter würden dadurch sich auszeichnen, daß sie
gegen die Luft und Glut der Leidenschaften abgeschlossen und verwahrt erschienen:
der unverbesserliche Fehlgriff, das Zertrümmern des ganzen menschlichen Saitenspiels,
Hohnlachen und Zähneknirschen und alles Tragische und Komische im alten gewohnten
Sinne würde in der Nähe dieser neuen Kunst als lästige archaisierende
Vergröberung des Menschen-Bildes empfunden werden. Kraft, Güte, Milde,
Reinheit und ungewolltes, eingeborenes Maß in den Personen und deren Handlungen:
ein geebneter Boden, welcher dem Fuße Ruhe und Lust gibt: ein leuchtender
Himmel auf Gesichtern und Vorgängen sich abspiegelnd: das Wissen und die
Kunst zu neuer Einheit zusammengeflossen: der Geist ohne Anmaßung und Eifersucht
mit seiner Schwester, der Seele zusammenwohnend und aus dem Gegensätzlichen
die Grazie des Ernstes, nicht die Ungeduld des Zwiespaltes herauslockend:
dies alles wäre das Umschließende, Allgemeine, Goldgrundhafte, auf
dem jetzt erst die zarten Unterschiede der verkörperten Ideale das
eigentliche Gemälde das der immer wachsenden menschlichen Hoheit
machen würden. Von Goethe aus führt mancher Weg
in diese Dichtung der Zukunft: aber es bedarf guter Pfadfinder und vor allem einer
weit größern Macht, als die jetzigen Dichter, das heißt die unbedenklichen
Darsteller des Halbtiers und der mit Kraft und Natur verwechselten Unreife und
Unregelmäßigkeit, besitzen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 381-382 |
Stil
der Überladung. Der überladene Stil in der Kunst ist die
Folge einer Verarmung der organisierenden Kraft bei verschwenderischem Vorhandensein
von Mitteln und Absichten. In den Anfängen der Kunst findet sich mitunter
das gerade Gegenstück dazu.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 389 |
Wie
nach der neueren Musik sich die Seele bewegen soll. Die künstlerische
Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark aber undeutlich,
als »unendliche Melodie« bezeichnet wird, kann man sich dadurch klarmachen,
daß man ins Meer geht, allmählich den sicheren Schritt auf dem Grunde
verliert und sich endlich dem wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergibt:
man soll schwimmen. In der bisherigen älteren Musik mußte man,
im zierlichen oder feierlichen oder feurigen Hin und Wider, Schneller und Langsamer,
tanzen: wobei das hierzu nötige Maß, das Einhalten bestimmter
gleichwiegender Zeit- und Kraftgrade von der Seele des Zuhörers eine fortwährende
Besonnenheit erzwang: auf dem Widerspiele dieses kühleren Luftzuges,
welcher von der Besonnenheit herkam, und des durchwärmten Atems musikalischer
Begeisterung ruhte der Zauber jener Musik. Richard Wagner wollte eine andere
Art Bewegung der Seele, welche, wie gesagt, dem Schwimmen und Schweben
verwandt ist. Vielleicht ist dies das Wesentlichste seiner Neuerungen. Sein berühmtes
Kunstmittel, diesem Wollen entsprungen und angepaßt die »unendliche
Melodie« bestrebt sich, alle mathematische Zeit- und Kraft-Ebenmäßigkeit
zu brechen, mitunter selbst zu verhöhnen; und er ist überreich in der
Erfindung solcher Wirkungen, welche dem älteren Ohre wie rhythmische Paradoxien
und Lästerreden klingen. Er fürchtet die Versteinerung, die Kristallisation,
den Übergang der Musik in das Architektonische und so stellt er dem
zweitaktigen Rhythmus einen dreitaktigen entgegen, führt nicht selten den
Fünf- und Siebentakt ein, wiederholt dieselbe Phrase sofort, aber mit einer
Dehnung, daß sie die doppelte und dreifache Zeitdauer bekommt. Aus einer
bequemen Nachahmung solcher Kunst kann eine große Gefahr für die Musik
entstehen: immer hat neben der Überreife des rhythmischen Gefühls die
Verwilderung, der Verfall der Rhythmik im Versteck gelauert. Sehr groß wird
zumal diese Gefahr, wenn eine solche Musik sich immer enger an eine ganz naturalistische,
durch keine höhere Plastik erzogene und beherrschte Schauspielerkunst und
Gebärdensprache anlehnt, welche in sich kein Maß hat und dem sich ihr
anschmiegenden Elemente, dem allzuweiblichen Wesen der Musik, auch kein
Maß mitzuteilen vermag.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 395-396 |
Vom
Barockstile. Wer sich als Denker und Schriftsteller zur Dialektik und
Auseinanderfaltung der Gedanken nicht geboren oder erzogen weiß, wird unwillkürlich
nach dem Rhetorischen und Dramatischen greifen: denn zuletzt kommt
es ihm darauf an, sich verständlich zu machen und dadurch Gewalt zu
gewinnen, gleichgültig ob er das Gefühl auf ebenem Pfade zu sich leitet
oder unversehens überfällt als Hirt oder als Räuber. Dies
gilt auch in den bildenden wie musischen Künsten; wo das Gefühl mangelnder
Dialektik oder des Ungenügens in Ausdruck und Erzählung, zusammen mit
einem überreichen, drängen den Formentriebe, jene Gattung des Stiles
zutage fördert, welche man Barockstil nennt. Nur die Schlechtunterrichteten
und Anmaßenden werden übrigens bei diesem Wort sogleich eine abschätzige
Empfindung haben. Der Barockstil entsteht jedesmal beim Abblühen jeder großen
Kunst, wenn die Anforderungen in der Kunst des klassischen Ausdrucks allzu groß
geworden sind, als ein Natur-Ereignis, dem man wohl mit Schwermut weil
es der Nacht voranläuft zusehen wird, aber zugleich mit Bewunderung
für die ihm eigentümlichen Ersatzkünste des Ausdrucks und der Erzählung.
Dahin gehört schon die Wahl von Stoffen und Vorwürfen höchster
dramatischer Spannung, bei denen auch ohne Kunst das Herz zittert, weil Himmel
und Hölle der Empfindung allzu nah sind: dann die Beredsamkeit der starken
Affekte und Gebärden, des Häßlich-Erhabenen, der großen
Massen, überhaupt der Quantität an sich wie dies sich schon bei
Michelangelo, dem Vater oder Großvater der italienischen Barockkünstler
ankündigt : die Dämmerungs, Verklärungs- oder Feuersbrunstlichter
auf so starkgebildeten Formen: dazu fortwährend neue Wagnisse in Mitteln
und Absichten, vom Künstler für die Künstler kräftig unterstrichen,
während der Laie wähnen muß, das beständige unfreiwillige
Überströmen aller Füllhörner einer ursprünglichen Natur-Kunst
zu sehen: diese Eigenschaften alle, in denen jener Stil seine Größe
hat, sind in den früheren, vorklassischen und klassischen Epochen einer Kunstart
nicht möglich, nicht erlaubt: solche Köstlichkeiten hängen lange
als verbotene Früchte am Baume. Gerade jetzt, wo die Musik
in diese letzte Epoche übergeht, kann man das Phänomen des Barockstils
in einer besondern Pracht kennenlernen und vieles durch Vergleichung daraus für
frühere Zeiten lernen: denn es hat von den griechischen Zeiten ab schon oftmals
einen Barockstil gegeben, in der Poesie, Beredsamkeit, im Prosastile, in der Skulptur
ebensowohl als bekanntermaßen in der Architektur und jedesmal hat
dieser Stil, ob es ihm gleich am höchsten Adel, an dem einer unschuldigen,
unbewußten, sieghaften Vollkommenheit gebricht, auch vielen von den Besten
und Ernstesten seiner Zeit wohlgetan: weshalb es, wie gesagt, anmaßend
ist, ohne weiteres ihn abschätzig zu beurteilen; so sehr sich jeder glücklich
preisen darf, dessen Empfindung durch ihn nicht für den reineren und größeren
Stil unempfänglich gemacht wird.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 398-399 |
Schärfste
Kritik. Man kritisiert einen Menschen, ein Buch am schärfsten,
wenn man das Ideal desselben hinzeichnet.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 403 |
Zugunsten
der Kritiker. Die Insekten stechen, nicht aus Bosheit, sondern weil
sie auch leben wollen: ebenso unsere Kritiker; sie wollen unser Blut, nicht unseren
Schmerz.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 405 |
Die
Musik ist eben nicht eine allgemeine überzeitliche Sprache, wie man
so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls,
Wärme- und Zeitmaß, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich
und örtlich gebundene Kultur als inneres Gesetz in sich trägt: die Musik
Palestrinas würde für einen Griechen völlig unzugänglich sein,
und wiederum was würde Palestrina bei der Musik Rossinis hören?
Vielleicht, daß auch unsere neueste deutsche Musik, so sehr sie herrscht
und herrschlustig ist, in kurzer Zeitspanne nicht mehr verstanden wird: denn sie
entsprang aus einer Kultur, die im raschen Absinken begriffen ist; ihr Boden ist
jene Reaktions- und Restaurations-Periode, in welcher ebenso ein gewisser Katholizismus
des Gefühls wie die Lust an allem heimisch-nationalen Wesen und Urwesen
zur Blüte kam und über Europa einen gemischten Duft ausgoß: welche
beide Richtungen des Empfindens, in größter Stärke erfaßt
und bis in die entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagnerschen Kunst
zuletzt zum Erklingen gekommen sind. Wagners Aneignung der altheimischen Sagen,
sein veredelndes Schalten und Walten unter deren so fremdartigen Göttern
und Helden welche eigentlich souveräne Raubtiere sind, mit Anwandlungen
von Tiefsinn, Großherzigkeit und Lebensüberdruß , die Neubeseelung
dieser Gestalten, denen er den christlich-mittelalterlichen Durst nach verzückter
Sinnlichkeit und Entsinnlichung dazugab, dieses ganze Wagnerische Nehmen und Geben
in Hinsicht auf Stoffe, Seelen, Gestalten und Worte spricht deutlich auch den
Geist seiner Musik aus, wenn diese, wie alle Musik, von sich selber nicht
völlig unzweideutig zu reden vermöchte: dieser Geist führt den
allerletzten Kriegs- und Reaktionszug an gegen den Geist der Aufklärung,
welcher aus dem vorigen Jahrhundert in dieses hineinwehte, ebenso gegen die übernationalen
Gedanken der französischen Umsturz-Schwärmerei und der englisch-amerikanischen
Nüchternheit im Umbau von Staat und Gesellschaft. Ist es aber nicht
ersichtlich, daß die hier bei Wagner selbst und seinem Anhange
noch zurückgedrängt erscheinenden Gedanken- und Empfindungskreise längst
von neuem wieder Gewalt bekommen haben, und daß jener späte musikalische
Protest gegen sie zumeist in Ohren hineinklingt, die andere und entgegengesetzte
Töne lieber hören? so daß eines Tages jene wunderbare und hohe
Kunst ganz plötzlich unverständlich werden und sich Spinnweben und Vergessenheit
über sie legen könnten. Man darf sich über diese Sachlage
nicht durch jene flüchtigen Schwankungen beirren lassen, welche als Reaktion
innerhalb der Reaktion, als ein zeitweiliges Einsinken des Wellenbergs inmitten
der gesamten Bewegung erscheinen; so mag dieses Jahrzehnt der nationalen Kriege,
des ultramontanen Martyriums und der sozialistischen Beängstigung in seinen
feineren Nachwirkungen auch der genannten Kunst zu einer plötzlichen Glorie
verhelfen ohne ihr damit die Bürgschaft dafür zu geben, daß
sie »Zukunft habe«, oder gar, daß sie die Zukunft habe.
Es liegt im Wesen der Musik, daß die Früchte ihrer großen
Kultur-Jahrgänge zeitiger unschmackhaft werden und rascher verderben als
die Früchte der bildenden Kunst oder gar die auf dem Baume der Erkenntnis
gewachsenen: unter allen Erzeugnissen des menschlichen Kunstsinns sind nämlich
Gedanken das Dauerhafteste und Haltbarste.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 410-411 |
Vor-
und Rückblick. Eine Kunst, wie sie aus Homer, Sophokles, Theokrit,
Calderon, Racine, Goethe ausströmt, als Überschuß
einer weisen und harmonischen Lebensführung das ist das Rechte, nach
dem wir endlich greifen lernen, wenn wir selber weiser und harmonischer geworden
sind: nicht jene barbarische, wenngleich noch so entzückende Aussprudelung
hitziger und bunter Dinge aus einer ungebändigten, chaotischen Seele, welche
wir früher als Jünglinge unter Kunst verstanden. Es begreift sich aber
aus sich selber, daß für gewisse Lebenszeiten eine Kunst der Überspannung,
der Erregung, des Widerwillens gegen das Geregelte, Eintönige, Einfache,
Logische ein notwendiges Bedürfnis ist, welchem Künstler entsprechen
müssen, damit die Seele solcher Lebenszeiten sich nicht auf anderem Weg,
durch allerlei Unfug und Unart, entlade. So bedürfen die Jünglinge,
wie sie meistens sind, voll, gärend, von nichts mehr als von der Langeweile
gepeinigt, so bedürfen Frauen, denen eine gute, die Seele füllende
Arbeit fehlt, jener Kunst der entzückenden Unordnung. Um so heftiger noch
entflammt sich ihre Sehnsucht nach einem Genügen ohne Wechsel, einem Glück
ohne Betäubung und Rausch.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 412 |
Kunst
und Restauration. Die rückläufigen Bewegungen in der Geschichte,
die sogenannten Restaurationszeiten, welche einem geistigen und gesellschaftlichen
Zustand, der vor dem zuletzt bestehenden lag, wieder Leben zu geben suchen und
denen eine kurze Toten-Erweckung auch wirklich zu gelingen scheint, haben den
Reiz gemütvoller Erinnerung, sehnsüchtigen Verlangens nach fast Verlorenem,
hastigen Umarmens von minutenlangem Glücke. Wegen dieser seltsamen Vertiefung
der Stimmung finden gerade in solchen flüchtigen, fast traumhaften Zeiten
Kunst und Dichtung einen natürlichen Boden: wie an steil absinkenden Bergeshängen
die zartesten und seltensten Pflanzen wachsen. So treibt es manchen guten
Künstler unvermerkt zu einer Restaurations-Denkwei se in Politik und Gesellschaft,
für welche er sich, auf eigene Faust, ein stilles Winkelchen und Gärtchen
zurechtmacht: wo er dann die menschlichen Überreste jener ihn anheimelnden
Geschichtsepoche um sich sammelt und vor lauter Toten, Halbtoten und Sterbensmüden
sein Saitenspiel ertönen läßt, vielleicht mit dem erwähnten
Erfolge einer kurzen Toten-Erweckung.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 415-416 |
Glück
der Zeit. In zwei Beziehungen ist unsere Zeit glücklich zu preisen.
In Hinsicht auf die Vergangenheit genießen wir alle Kulturen und
deren Hervorbringungen und nähren uns mit dem edelsten Blute aller Zeiten,
wir stehen noch dem Zauber der Gewalten, aus deren Schoße jene geboren wurden,
nahe genug, um uns vorübergehend ihnen mit Lust und Schauder unterwerfen
zu können: während frühere Kulturen nur sich selber zu genießen
vermochten und nicht über sich hinaussahen, vielmehr wie von einer weiter
oder enger gewölbten Glocke überspannt waren, aus welcher zwar Licht
auf sie herabströmte, durch welche aber kein Blick hindurchdrang. In Hinsicht
auf die Zukunft erschließt sich uns zum ersten Male in der Geschichte
der ungeheure Weitblick menschlich-öku menischer, die ganze bewohnte Erde
umspannender Ziele. Zugleich fühlen wir uns der Kräfte bewußt,
diese neue Aufgabe ohne Anmaßung selber in die Hand nehmen zu dürfen,
ohne übernatürlicher Beistände zu bedürfen; ja, möge
unser Unternehmen ausfallen, wie es wolle, mögen wir unsere Kräfte überschätzt
haben, jedenfalls gibt es niemanden, dem wir Rechenschaft schuldeten als uns selbst:
die Menschheit kann von nun an durchaus mit sich anfangen, was sie will.
Es gibt freilich sonderbare Menschen-Bienen, welche aus dem Kelche aller Dinge
immer nur das Bitterste und Ärgerlichste zu saugen verstehen; und
in der Tat, alle Dinge enthalten etwas von diesem Nicht-Honig in sich. Diese mögen
über das geschilderte Glück unseres Zeitalters in ihrer Art empfinden
und an ihrem Bienen-Korb des Mißbehagens weiterbauenDers., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 416 |
Eine
Vision. Lehr- und Betrachtungsstunden für Erwachsene, Reife und
Reifste, und diese täglich, ohne Zwang, aber nach dem Gebot der Sitte von
jedermann besucht: die Kirchen als die würdigsten und erinnerungsreichsten
Stätten dazu: gleichsam alltägliche Festfeiern der erreichten und erreichbaren
menschlichen Vernunftwürde: ein neueres und volleres Auf-und Ausblühen
des Lehrer-Ideals, in welches der Geistliche, der Künstler und der Arzt,
der Wissende und der Weise hineinverschmelzen, wie deren Einzel-Tugenden als Gesamt-Tugend
auch in der Lehre selber, in ihrem Vortrag, ihrer Methode zum Vorschein kommen
müßten, dies ist meine Vision, die mir immer wiederkehrt und
von der ich fest glaube, daß sie einen Zipfel des Zukunfts-Schleiers gehoben
hat.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 417 |
Die
alte Welt und die Freude. Die Menschen der alten Welt wußten
sich besser zu freuen: wir, uns weniger zu betrüben; jene machten
immerfort neue Anlässe, sich wohl zu fühlen und Feste zu feiern, ausfindig,
mit allem ihrem Reichtum von Scharfsinn und Nachdenken: während wir unsern
Geist auf Lösung von Aufgaben verwenden, welche mehr die Schmerzlosigkeit,
die Beseitigung von Unlustquellen im Auge haben. In betreff des leidenden Daseins
suchten die Alten zu vergessen oder die Empfindung ins Angenehme irgendwie umzubiegen:
so daß sie hierin palliativisch zu helfen suchten, während wir den
Ursachen des Leidens zu Leibe gehen und im ganzen lieber prophylaktisch wirken.
Vielleicht bauen wir nur die Grundlagen, auf denen spätere Menschen
auch wieder den Tempel der Freude errichten.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 420 |
Drei
Denker gleich einer Spinne. In jeder philosophischen Sekte folgen drei
Denker in diesem Verhältnisse aufeinander: der erste erzeugt aus sich den
Saft und Samen, der zweite zieht ihn zu Fäden aus und spinnt ein künstliches
Netz, der dritte lauert in diesem Netz auf Opfer, die sich hier verfangen
und sucht von der Philosophie zu leben.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 422 |
Freizügige
Geister. Wer von uns würde sich einen freien Geist zu nennen wagen,
wenn er nicht auf seine Art jenen Männern, denen man diesen Namen als Schimpf
anhängt, eine Huldigung darbringen möchte, indem er etwas von jener
Last der öffentlichen Mißgunst und Beschimpfung auf seine Schultern
ladet? Wohl aber dürften wir uns »freizügige Geister« in
allem Ernste (und ohne diesen hoch- oder großmütigen Trotz) nennen,
weil wir den Zug zur Freiheit als stärksten Trieb unseres Geistes fühlen
und im Gegensatz zu den gebundenen und festgewurzelten Intellekten unser Ideal
fast in einem geistigen Nomadentum sehen um einen bescheidenen und fast
abschätzigen Ausdruck zu gebrauchen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 426-427 |
Die
Gefahr eines Rückfalls ins Asiatische schwebte immer über den Griechen,
und wirklich kam es von Zeit zu Zeit über sie wie ein dunkler überschwemmender
Strom mystischer Regungen, elementarer Wildheit und Finsternis.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 430 |
Das
eigentlich Heidnische. Vielleicht gibt es nichts Befremdenderes für
den, welcher sich die griechische Welt ansieht, als zu entdecken, daß die
Griechen allen ihren Leidenschaften und bösen Naturhängen von Zeit zu
Zeit gleichsam Feste gaben und sogar eine Art Festordnung ihres Allzumenschlichen
von Staats wegen einrichteten: es ist dies das eigentlich Heidnische ihrer Welt,
vom Christentume aus nie begriffen, nie zu begreifen und stets auf das Härteste
bekämpft und verachtet. Sie nahmen jenes Allzumenschliche als unvermeidlich
und zogen vor, statt es zu beschimpfen, ihm eine Art Recht zweiten Ranges durch
Einordnung in die Bräuche der Gesellschaft und des Kultus zu geben: ja alles,
was im Menschen Macht hat, nannten sie göttlich und schrieben es an
die Wände ihres Himmels. Sie leugnen den Naturtrieb, der in den schlimmen
Eigenschaften sich ausdrückt, nicht ab, sondern ordnen ihn ein und beschränken
ihn auf bestimmte Kulte und Tage, nachdem sie genug Vorsichtsmaßregeln erfunden
haben, um jenen wilden Gewässern einen möglichst unschädlichen
Abfluß geben zu können. Dies ist die Wurzel aller moralistischen Freisinnigkeit
des Altertums. Man gönnte dem Bösen und Bedenklichen, dem Tierisch-Rückständigen
ebenso wie dem Barbaren, Vor-Griechen und Asiaten, welcher im Grunde des griechischen
Wesens noch lebte, eine mäßige Entladung und strebte nicht nach seiner
völligen Vernichtung. Das ganze System solcher Ordnungen umfaßte der
Staat, der nicht auf einzelne Individuen oder Kasten, sondern auf die gewöhnlichen
menschlichen Eigenschaften hin konstruiert war. In seinem Bau zeigen die Griechen
jenen wunderbaren Sinn für das Typisch-Tatsächliche, der sie später
befähigte, Naturforscher, Historiker, Geographen und Philosophen zu werden.
Es war nicht ein beschränktes priesterliches oder kastenmäßiges
Sittengesetz, welches bei der Verfassung des Staates und Staats-Kultus zu entscheiden
hatte: sondern die umfänglichste Rücksicht auf die Wirklichkeit alles
Menschlichen. Woher haben die Griechen diese Freiheit, diesen Sinn
für das Wirkliche? Vielleicht von Homer und den Dichtern vor ihm; denn gerade
die Dichter, deren Natur nicht die gerechteste und weiseste zu sein pflegt, besitzen
dafür jene Lust am Wirklichen, Wirkenden jeder Art und wollen selbst
das Böse nicht völlig verneinen: es genügt ihnen, daß es
sich mäßige und nicht alles totschlage oder innerlich giftig mache
das heißt, sie denken ähnlich wie die griechischen Staatenbildner
und sind deren Lehrmeister und Wegebahner gewesen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 430-431 |
Ausnahme-Griechen.
In Griechenland waren die tiefen, gründlichen, ernsten Geister die
Ausnahme: der Instinkt des Volkes ging vielmehr dahin, das Ernste und Gründliche
als eine Art von Verzerrung zu empfinden. Die Formen aus der Fremde entlehnen,
nicht schaffen, aber zum schönsten Schein umbilden das ist griechisch:
nachahmen, nicht zum Gebrauch, sondern zur künstlerischen Täuschung,
über den aufgezwungenen Ernst immer wieder Herr werden, ordnen, verschönern,
verflachen so geht es fort von Homer bis zu den Sophisten des dritten und
vierten Jahrhunderts der neuen Zeitrechnung, welche ganz Außenseite, pomphaftes
Wort, begeisterte Gebärde sind und sich an lauter ausgehöhlte schein,
klang-und effekt-lüsterne Seelen wenden. Und nun würdige man
die Größe jener Ausnahme-Griechen, welche die Wissenschaft schufen!
Wer von ihnen erzählt, erzählt die heldenhafteste Geschichte des menschlichen
Geistes!Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 431-432 |
Das
Einfache nicht das erste, noch das letzte der Zeit nach. In die Geschichte
der religiösen Vorstellungen wird viel falsche Entwicklung und Allmählichkeit
hineingedichtet, bei Dingen, die in Wahrheit nicht aus- und hintereinander, sondern
nebeneinander und getrennt aufgewachsen sind; namentlich ist das Einfache viel
zu sehr noch im Rufe, das Älteste und Anfänglichste zu sein. Nicht wenig
Menschliches entsteht durch Subtraktion und Division und gerade nicht durch Verdopplung,
Zusatz, Zusammenbildung. Man glaubt zum Beispiel immer noch an eine allmähliche
Entwicklung der Götterdarstellung von jenen ungefügen Holzklötzen
und Steinen aus bis zur vollen Vermenschlichung hinauf: und doch steht es gerade
so, daß, solange die Gottheit in Bäume, Holzstücke, Steine,
Tiere hineinverlegt und empfunden wurde, man sich vor einer Anmenschlichung ihrer
Gestalt wie vor einer Gottlosigkeit scheute. Erst die Dichter haben, abseits vom
Kultus und dem Banne der religiösen Scham, die innere Phantasie der
Menschen daran gewöhnen, dafür willig machen müssen: überwogen
aber wieder frömmere Stimmungen und Augenblicke, so trat dieser befreiende
Einfluß der Dichter wieder zurück und die Heiligkeit verblieb nach
wie vor auf seiten des Ungetümlichen, Unheimlichen, ganz eigentlich Unmenschlichen.
Selbst aber vieles von dem, was die innere Phantasie sich zu bilden wagt, würde
doch noch, in äußere leibhafte Darstellung übersetzt, peinlich
wirken: das innere Auge ist um vieles kühner und weniger schamhaft als das
äußere (woraus sich die bekannte Schwierigkeit und teilweise Unmöglichkeit
ergibt, epische Stoffe in dramatische umzuwandeln). Die religiöse Phantasie
will lange Zeit durchaus nicht an die Identität des Gottes mit einem
Bilde glauben: das Bild soll das numen der Gottheit in irgendeiner geheimnisvollen,
nicht völlig auszudenkenden Weise hier als tätig, als örtlich gebannt
erscheinen lassen. Das älteste Götterbild soll den Gott bergen und
zugleich verbergen ihn andeuten, aber nicht zur Schau stellen. Kein
Grieche hat je innerlich seinen Apollo als Holz-Spitzsäule, seinen Eros als
Steinklumpen angeschaut; es waren Symbole, welche gerade Angst vor der
Veranschaulichung machen sollten. Ebenso steht es noch mit jenen Hölzern,
denen mit dürftigster Schnitzerei einzelne Glieder, mitunter in der Überzahl,
angebildet waren: wie ein lakonischer Apollo vier Hände und vier Ohren hatte.
In dem Unvollständigen, Andeutenden oder Übervollständigen liegt
eine grausenhafte Heiligkeit, welche abwehren soll, an Menschliches, Menschenartiges
zu denken. Es ist nicht eine embryonische Stufe der Kunst, in der man so etwas
bildet: als ob man in der Zeit, wo man solche Bilder verehrte, nicht hätte
deutlicher reden, sinnfälliger darstellen können. Vielmehr scheut
man gerade eines: das direkte Heraussagen. Wie die Cella das Allerheiligste, das
eigentliche numen der Gottheit birgt und in geheimnisvolles Halbdunkel versteckt,
doch nicht ganz; wie wiederum der peripterische Tempel die Cella birgt,
gleichsam mit einem Schirm und Schleier vor dem ungescheuten Auge schützt,
aber nicht ganz: so ist das Bild die Gottheit und zugleich Versteck der
Gottheit. Erst als außerhalb des Kultus, in der profanen Welt des
Wettkampfes, die Freude an dem Sieger im Kampfe so hoch gestiegen war, daß
die hier erregten Wellen in den See der religiösen Empfindung hinüberschlugen,
erst als das Standbild des Siegers in den Tempelhöfen aufgestellt wurde und
der fromme Besucher des Tempels freiwillig oder unfreiwillig sein Auge wie seine
Seele an diesen unumgänglichen Anblick menschlicher Schönheit
und Überkraft gewöhnen mußte, so daß, bei der räumlichen
und seelischen Nachbarschaft, Mensch- und Gottverehrung ineinander überklangen:
da erst verliert sich auch die Scheu vor der eigentlichen Vermenschlichung des
Götterbildes, und der große Tummelplatz für die große Plastik
wird aufgetan: auch jetzt noch mit der Beschränkung, daß überall,
wo angebetet werden soll, die uralte Form und Häßlichkeit bewahrt
und vorsichtig nachgebildet wird. Aber der weihende und schenkende Hellene
darf seiner Lust, Gott Mensch werden zu lassen, jetzt in aller Seligkeit nachhängen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 432-434 |
Wohin
man reisen muß. Die unmittelbare Selbstbeobachtung reicht lange
nicht aus, um sich kennenzulernen: wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit
strömt in hundert Wellen in uns fort; wir selber sind ja nichts als das,
was wir in jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden. Auch hier sogar,
wenn wir in den Fluß unseres anscheinend eigensten und persönlichsten
Wesens hinabsteigen wollen, gilt Heraklits Satz: man steigt nicht zweimal in denselben
Fluß. Das ist eine Weisheit, die allmählich zwar altbacken geworden,
aber trotzdem ebenso kräftig und wahrhaft geblieben ist, wie sie es je war:
ebenso wie jene, daß, um Geschichte zu verstehen, man die lebendigen Überreste
geschichtlicher Epochen aufsuchen müsse daß man reisen
müsse, wie Altvater Herodot reiste, zu Nationen diese sind ja nur
festgewordene ältere Kulturstufen, auf die man sich stellen
kann , zu sogenannten wilden und halbwilden Völkerschaften, namentlich
dorthin, wo der Mensch das Kleid Europas ausgezogen oder noch nicht angezogen
hat. Nun gibt es aber noch eine feinere Kunst und Absicht des Reisens,
welche es nicht immer nötig macht, von Ort zu Ort und über Tausende
von Meilen hin den Fuß zu setzen. Es leben sehr wahrscheinlich die letzten
drei Jahrhunderte in allen ihren Kulturfärbungen und -strahlenbrechungen
auch in unsrer Nähe noch fort: sie wollen nur entdeckt werden. In
manchen Familien, ja in einzelnen Menschen liegen die Schichten schön und
übersichtlich noch übereinander: anderswo gibt es schwieriger zu verstehende
Verwerfungen des Gesteins. Gewiß hat sich in abgelegenen Gegenden, in weniger
bekannten Gebirgstälern, umschlossenern Gemeinwesen ein ehrwürdiges
Musterstück sehr viel älterer Empfindung leichter erhalten können
und muß hier aufgespürt werden: während es zum Beispiel unwahrscheinlich
ist, in Berlin, wo der Mensch ausgelaugt und abgebrüht zur Welt kommt, solche
Entdeckungen zu machen. Wer, nach langer Übung in dieser Kunst des Reisens,
zum hundertäugigen Argos geworden ist, der wird seine Jo ich
meine sein ego endlich überall hinbegleiten und in Ägypten
und Griechenland, Byzanz und Rom, Frankreich und Deutschland, in der Zeit der
wandernden oder der festsitzenden Völker, in Renaissance und Reformation,
in Heimat und Fremde, ja in Meer, Wald, Pflanze und Gebirge die Reise-Abenteuer
dieses werdenden und verwandelten ego wieder entdecken. So wird
Selbst-Erkenntnis zur All-Erkenntnis in Hinsicht auf alles Vergangene: wie, nach
einer anderen, hier nur anzudeutenden Betrachtungskette, Selbstbestimmung und
Selbsterziehung in den freiesten und weitest blickenden Geistern einmal zur All-Bestimmung,
in Hinsicht auf alles zukünftige Menschentum, werden könnte.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 434-435 |
Balsam
und Gift. Man kann es nicht gründlich genug erwägen: das
Christentum ist die Religion des altgewordenen Altertums, seine Voraussetzung
sind entartete alte Kulturvölker; auf diese vermochte und vermag es wie ein
Balsam zu wirken. In Zeitaltern, wo die Ohren und Augen »voller Schlamm«
sind, so daß sie die Stimme der Vernunft und Philosophie nicht mehr zu vernehmen,
die leibhaft wandelnde Weisheit, trage sie nun den Namen Epiktet oder Epikur,
nicht mehr zu sehen vermögen: da mag vielleicht noch das aufgerichtete Marterkreuz
und die »Posaune des jüngsten Gerichts« wirken, um solche Völker
noch zu einem anständigen Ausleben zu bewegen. Man denke an das Rom
Juvenals, an diese Giftkröte mit den Augen der Venus: da lernt man,
was es heißt, ein Kreuz vor der »Welt« schlagen, da verehrt
man die stille christliche Gemeinde und ist dankbar für ihr Überwuchern
des griechisch-römischen Erdreichs. Wenn die meisten Menschen damals gleich
mit der Verknechtung der Seele, mit der Sinnlichkeit von Greisen geboren wurden:
welche Wohltat, jenen Wesen zu begegnen, die mehr Seelen als Leiber waren und
welche die griechische Vorstellung von den Hadesschatten zu verwirklichen schienen:
scheue, dahinhuschende, zirpende, wohlwollende Gestalten, mit einer Anwartschaft
auf das »bessere Leben« und dadurch so anspruchslos, so still-verachtend,
so stolz-geduldig geworden! Dies Christentum als Abendläuten des guten
Altertums, mit zersprungener, müder und doch wohltönender Glocke,
ist selbst noch für den, welcher jetzt jene Jahrhunderte nur historisch durchwandert,
ein Ohrenbalsam: was muß es für jene Menschen selber gewesen sein!
Dagegen ist das Christentum für junge, frische Barbarenvölker
Gift; in die Helden, Kinder- und Tierseele des alten Deutschen zum
Beispiel die Lehre von der Sündhaftigkeit und Verdammnis hineinpflanzen,
heißt nichts anderes als sie vergiften; eine ganz ungeheuerliche chemische
Gärung und Zersetzung, ein Durcheinander von Gefühlen und Urteilen,
ein Wuchern und Bilden des Abenteuerlichsten mußte die Folge sein und also,
im weiteren Verlaufe, eine gründliche Schwächung solcher Barbarenvölker.
Freilich: was hätten wir, ohne diese Schwächung, noch von der
griechischen Kultur! was von der ganzen Kultur-Vergangenheit des Menschengeschlechts!
denn die vom Christentume unangetasteten Barbaren verstanden gründlich
mit alten Kulturen aufzuräumen: wie es zum Beispiel die heidnischen Eroberer
des romanisierten Britannien (erst keltisch [also: heidnisch],
dann romanisiert [also: römisch-»zivilisiert«], dann germanisch
[also: heidnisch]; HB) mit furchtbarer Deutlichkeit bewiesen haben.
Das Christentum hat wider seinen Willen helfen müssen, die antike »Welt«
unsterblich zu machen. Nun bleibt auch hier wieder eine Gegenfrage und
die Möglichkeit einer Gegenrechnung übrig: wäre vielleicht, ohne
jene Schwächung durch das erwähnte Gift, eine oder die andere jener
frischen Völkerschaften, etwa die deutsche, imstande gewesen, allmählich
von selber eine höhere Kultur zu finden, eine eigene, neue? (JA,
MÖGLCHERWEISE [!]; HB) von welcher
somit der Menschheit selbst der entfernteste Begriff verlorengegangen wäre?
So steht es auch hier wie überall: man weiß nicht, christlich
zu reden, ob Gott dem Teufel oder der Teufel Gott mehr Dank dafür schuldig
ist, daß alles so gekommen ist, wie es ist.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 435-437 |
Glaube
macht selig und verdammt. Ein Christ, der auf unerlaubte Gedankengänge
gerät, könnte sich wohl einmal fragen: ist es eigentlich nötig,
daß es einen Gott, nebst einem stellvertretenden Sündenlamme, wirklich
gibt, wenn schon der Glaube an das Dasein dieser Wesen ausreicht,
um die gleichen Wirkungen hervorzubringen? Sind es nicht überflüssige
Wesen, falls sie doch existieren sollten? Denn alles Wohltuende, Tröstliche,
Versittlichende, ebenso wie alles Verdüsternde und Zermalmende, welches die
christliche Religion der menschlichen Seele gibt, geht von jenem Glauben aus und
nicht von den Gegenständen jenes Glaubens. Es steht hier nicht anders als
bei dem bekannten Falle: zwar hat es keine Hexen gegeben, aber die furchtbaren
Wirkungen des Hexenglaubens sind dieselben gewesen, wie wenn es wirklich Hexen
gegeben hätte. Für alle jene Gelegenheiten, wo der Christ das unmittelbare
Eingreifen eines Gottes erwartet, aber umsonst erwartet weil es keinen
Gott gibt, ist seine Religion erfinderisch genug in Ausflüchten und Gründen
zur Beruhigung: hierin ist es sicherlich eine geistreiche Religion. Zwar
hat der Glaube bisher noch keine wirklichen Berge versetzen können, obschon
dies - ich weiß nicht wer - behauptet hat; aber er vermag Berge dorthin
zu setzen, wo keine sind.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 437 |
Tragikomödie
von Regensburg. Hier und da kann man mit einer schreckenden Deutlichkeit
das Possenspiel der Fortuna sehen, wie sie an wenig Tage, an einen Ort, an die
Zustände und Meinungen eines Kopfes das Seil der nächsten Jahrhunderte
anknüpft, an dem sie diese tanzen lassen will. So liegt das Verhängnis
der neueren deutschen Geschichte in den Tagen jener Disputation von Regensburg:
der friedliche Ausgang der kirchlichen und sittlichen Dinge, ohne Religionskriege,
Gegenreformation, schien gewährleistet, ebenso die Einheit der deutschen
Nation; der tiefe milde Sinn des Contarini schwebte einen Augenblick über
dem theologischen Gezänk, siegreich, als Vertreter der reiferen italienischen
Frömmigkeit, welche die Morgenröte der geistigen Freiheit auf ihren
Schwingen widerstrahlte. Aber der knöcherne Kopf Luthers, voller Verdächtigungen
und unheimlicher Ängste, sträubte sich: weil die Rechtfertigung durch
die Gnade ihm als sein größter Fund und Wahlspruch erschien,
glaubte er diesem Satze nicht im Munde von Italienern: während diese ihn,
wie es bekannt ist, schon viel früher gefunden und durch ganz Italien in
tiefer Stille verbreitet hatten. Luther sah in dieser scheinbaren Übereinstimmung
die Tücken des Teufels und verhinderte das Friedenswerk, so gut er konnte:
wodurch er die Absichten der Feinde des Reiches ein gutes Stück vorwärts
brachte. Und nun nehme man, um den Eindruck des schauerlich Possenhaften
noch mehr zu haben, hinzu, daß keiner der Sätze, über welche man
sich damals in Regensburg stritt, weder der von der Erbsünde, noch der von
der Erlösung durch Stellvertretung, noch der von der Rechtfertigung im Glauben,
irgendwie wahr ist, oder auch nur mit der Wahrheit zu tun hat, daß sie alle
jetzt als undiskutierbar erkannt sind: und doch wurde darüber die
Welt in Flammen gesetzt, also über Meinungen, denen gar keine Dinge und Realitäten
entsprechen; während in betreff von rein philologischen Fragen, zum Beispiel
nach der Erklärung der Einsetzungs-Worte des Abendmahls, doch wenigstens
ein Streit erlaubt ist, weil hier die Wahrheit gesagt werden kann. Aber wo nichts
ist, da hat auch die Wahrheit ihr Recht verloren. Zuletzt bleibt nichts
übrig zu sagen, als daß damals allerdings Kraftquellen entsprungen
sind, so mächtig, daß ohne sie alle Mühlen der modernen Welt nicht
mit gleicher Stärke getrieben würden. Und erst kommt es auf Kraft an,
dann erst auf Wahrheit, oder auch dann noch lange nicht nicht wahr, meine
lieben Zeitgemäßen?Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 438-439 |
Goethes
Irrungen. Goethe ist darin die große Ausnahme unter den großen
Künstlern, daß er nicht in der Borniertheit seines wirklichen Vermögens
lebte, als ob dasselbe an ihm selber und für alle Welt das Wesentliche und
Auszeichnende, das Unbedingte und Letzte sein müsse. Er meinte zweimal etwas
Höheres zu besitzen, als er wirklich besaß und irrte sich, in
der zweiten Hälfte seines Lebens, wo er ganz durchdrungen von der
Überzeugung erscheint, einer der größten wissenschaftlichen
Entdecker und Lichtbringer zu sein. Und ebenso schon in der ersten Hälfte
seines Lebens: er wollte von sich etwas Höheres, als die Dichtkunst
ihm schien und irrte sich schon darin. Die Natur habe aus ihm einen bildenden
Künstler machen wollen das war sein innerlich glühendes und versengendes
Geheimnis, das ihn endlich nach Italien trieb, damit er sich in diesem Wahne noch
recht austobe und ihm jedes Opfer bringe. Endlich entdeckte er, der Besonnene,
allem Wahnschaffnen an sich ehrlich Abholde, wie ein trügerischer Kobold
von Begierde ihn zum Glauben an diesen Beruf gereizt habe, wie er von der größten
Leidenschaft seines Wollens sich losbinden und Abschied nehmen müsse.
Die schmerzlich schneidende und wühlende Überzeugung, es sei nötig,
Abschied zu nehmen, ist völlig in der Stimmung des Tasso ausgeklungen:
über ihm, dem »gesteigerten Werther«, liegt das Vorgefühl
von Schlimmerem als der Tod ist, wie wenn sich einer sagt: »nun ist es aus
nach diesem Abschiede; wie soll man weiterleben, ohne wahnsinnig zu werden!«
Diese beiden Grundirrtümer seines Lebens gaben Goethe angesichts einer
rein literarischen Stellung zur Poesie, wie damals die Welt allein sie kannte,
eine so unbefangene und fast willkürlich erscheinende Haltung. Abgesehen
von der Zeit, wo Schiller der arme Schiller, der keine Zeit hatte und keine
Zeit ließ ihn aus der enthaltsamen Scheu vor der Poesie, aus der
Furcht vor allem literarischen Wesen und Handwerk heraustrieb, erscheint Goethe
wie ein Grieche, der hier und da eine Geliebte besucht, mit dem Zweifel, ob es
nicht eine Göttin sei, der er keinen rechten Namen zu geben wisse. Allem
seinem Dichten merkt man die anhauchende Nähe der Plastik und der Natur an:
die Züge dieser ihm vorschwebenden Gestalten und er meinte vielleicht
immer nur den Verwandlungen einer Göttin auf der Spur zu sein wurden
ohne Willen und Wissen die Züge sämtlicher Kinder seiner Kunst. Ohne
die Umschweife des Irrtums wäre er nicht Goethe geworden: das heißt,
der einzige deutsche Künstler der Schrift, der jetzt noch nicht veraltet
ist weil er ebensowenig Schriftsteller als Deutscher von Beruf sein wollte.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 439-440 |
Die
Tiefen. Tiefdenkende Menschen kommen sich im Verkehr mit anderen als
Komödianten vor, weil sie sich da, um verstanden zu werden, immer erst eine
Oberfläche anheucheln müssen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 441 |
Umsturzgeister
und Besitzgeister. Das einzige Mittel gegen den Sozialismus, das noch
in eurer Macht steht, ist: ihn nicht herauszufordern, das heißt selber mäßig
und genügsam leben, die Schaustellung jeder Üppigkeit nach Kräften
verhindern und dem Staate zu Hilfe kommen, wenn er alles Überflüssige
und Luxus-Ähnliche empfindlich mit Steuern belegt. Ihr wollt dies Mittel
nicht? Dann, ihr reichen Bürgerlichen, die ihr euch »liberal«
nennt, gesteht es euch nur zu, eure eigne Herzensgesinnung ist es, welche ihr
in den Sozialisten so furchtbar und bedrohlich findet, in euch selber aber als
unvermeidlich gelten laßt, wie als ob sie dort etwas anderes wäre.
Hättet ihr, so wie ihr seid, euer Vermögen und die Sorge um dessen Erhaltung
nicht, diese eure Gesinnung würde euch zu Sozialisten machen: nur der Besitz
unterscheidet zwischen euch und ihnen. Euch müßt ihr zuerst besiegen,
wenn ihr irgendwie über die Gegner eures Wohlstandes siegen wollt.
Und wäre jener Wohlstand nur wirklich Wohlbefinden! Er wäre nicht so
äußerlich und neidherausfordernd, er wäre mitteilender, wohlwollender,
ausgleichender, nachhelfender. Aber das Unechte und Schauspielerische eurer Lebensfreuden,
welche mehr im Gefühl des Gegensatzes (daß andere sie nicht haben und
euch beneiden) als im Gefühle der Kraft-Erfüllung und Kraft-Erhöhung
liegen eure Wohnungen, Kleider, Wagen, Schauläden, Gaumen-und Tafel-Erfordernisse,
eure lärmende Opern- und Musikbegeisterung, endlich eure Frauen, geformt
und gebildet, aber aus unedlem Metall, vergoldet aber ohne Goldklang, als Schaustücke
von euch gewählt, als Schaustücke sich selber gebend; das sind
die giftträgerischen Verbreiter jener Volkskrankheit, welche als sozialistische
Herzenskrätze sich jetzt immer schneller der Masse mitteilt, aber in euch
ihren ersten sitz und Brüteherd hat. Und wer hielte diese Pest jetzt noch
auf?Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 457-458 |
Gefahr
im Reichtum. Nur wer Geist hat, sollte Besitz haben: sonst ist der
Besitz gemeingefährlich. Der Besitzende nämlich, der von der
freien Zeit, welche der Besitz ihm gewähren könnte, keinen Gebrauch
zu machen versteht, wird immer fortfahren, nach Besitz zu streben: dieses
Streben wird seine Unterhaltung, seine Kriegslist im Kampf mit der Langeweile
sein. So entsteht zuletzt, aus mäßigem Besitz, welcher dem Geistigen
genügen würde, der eigentliche Reichtum: und zwar als das gleißende
Ergebnis geistiger Unselbständigkeit und Armut. Nur erscheint er eben
ganz anders, als seine armselige Abkunft erwarten läßt, weil er sich
mit Bildung und Kunst maskieren kann: er kann eben die Maske kaufen. Dadurch
erweckt er Neid bei den Ärmeren und Ungebildeten welche im Grunde
immer die Bildung beneiden und in der Maske nicht die Maske sehen und bereitet
allmählich eine soziale Umwälzung vor: denn vergoldete Roheit und schauspielerisches
Sich-Blähen im angeblichen »Genusse der Kultur« gibt jenen den
Gedanken ein »es liegt nur am Gelde«, während allerdings
etwas am Gelde liegt, aber viel mehr am Geiste.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 460 |
Partei-Sitte.
Eine jede Partei versucht, das Bedeutende, das außer ihr gewachsen
ist, als unbedeutend darzustellen; gelingt es ihr aber nicht, so feindet sie es
um so bitterer an, je vortrefflicher es ist.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 461 |
Von
der Herrschaft der Wissenden. Es ist leicht, zum Spotten leicht, das
Muster zur Wahl einer gesetzgebenden Körperschaft aufzustellen. Zuerst hätten
die Redlichen und Vertrauenswürdigen eines Landes, welche zugleich irgendworin
Meister und Sachkenner sind, sich auszuscheiden, durch gegenseitige Auswitterung
und Anerkennung: aus ihnen wiederum müßten sich, in engerer Wahl, die
in jeder Einzelart Sachverständigen und Wissenden ersten Ranges auswählen,
gleichfalls durch gegenseitige Anerkennung und Gewährleistung. Bestünde
aus ihnen die gesetzgebende Körperschaft, so müßten endlich, für
jeden einzelnen Fall, nur die Stimmen und Urteile der speziellsten Sachverständigen
entscheiden und die Ehrenhaftigkeit aller übrigen groß genug
und einfach zur Sache des Anstandes geworden sein, die Abstimmung dabei auch nur
jenen zu überlassen: so daß im strengsten Sinne das Gesetz aus dem
Verstande der Verständigsten hervorginge. Jetzt stimmen Parteien ab:
und bei jeder Abstimmung muß es hunderte von beschämten Gewissen geben
die der Schlecht-Unterrichteten, Urteils-Unfähigen, die der Nachsprechenden,
Nachgezogenen, Fortgerissenen. Nichts erniedrigt die Würde jedes neuen Gesetzes
so, als dieses anklebende Schamrot der Unredlichkeit, zu der jede Partei-Abstimmung
zwingt. Aber, wie gesagt, es ist leicht, zum Spotten leicht, so etwas aufzustellen:
keine Macht der Welt ist jetzt stark genug, das Bessere zu verwirklichen,
es sei denn, daß der Glaube an die höchste Nützlichkeit der
Wissenschaft und der Wissenden endlich auch dem Böswilligsten einleuchte
und dem jetzt herrschenden Glauben an die Zahl vorgezogen werde. Im Sinne dieser
Zukunft sei unsere Losung: »Mehr Ehrfurcht vor dem Wissenden! Und nieder
mit allen Parteien!«Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 462 |
Meinungen.
Die meisten Menschen sind nichts und gelten nichts, bis sie sich in
allgemeine Überzeugungen und öffentliche Meinungen eingekleidet haben
nach der Schneider-Philosophie: Kleider machen Leute. Von den Ausnahme-Menschen
aber muß es heißen: erst der Träger macht die Tracht;
hier hören die Meinungen auf, öffentlich zu sein, und werden etwas anderes
als Masken, Putz und Verkleidung.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 468 |
Nie
umsonst. Im Gebirge der Wahrheit kletterst du nie umsonst: entweder
du kommst schon heute weiter hinauf oder du übst deine Kräfte, um morgen
höher steigen zu können.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 475 |
»Wolle
ein Selbst.« Die tätigen, erfolgreichen Naturen handeln nicht
nach dem Spruche »kenne dich selbst«, sondern wie als ob ihnen der
Befehl vorschwebte: wolle ein Selbst, so wirst du ein Selbst. Das
Schicksal scheint ihnen immer noch die Wahl gelassen zu haben; während die
Untätigen und Beschaulichen darüber nachsinnen, wie sie jenes eine Mal,
beim Eintritt ins Leben, gewählt haben.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 477 |
Gegen-Sätze.
Das Greisenhafteste, was je über den Menschen gedacht worden ist,
steckt in dem berühmten Satze »das Ich ist immer hassenswert«;
das Kindlichste in dem noch berühmteren »liebe deinen Nächsten,
wie dich selbst«. Bei dem einen hat die Menschenkenntnis aufgehört,
bei dem andern noch gar nicht angefangen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 480 |
Anzeichen
der vornehmen Seele. Eine vornehme Seele ist die nicht, welche der
höchsten Aufschwünge fähig ist, sondern jene, welche sich wenig
erhebt und wenig fällt, aber immer in einer freieren durchleuchteten Luft
und Höhe wohnt.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 483 |
Wie
die Pflicht Glanz bekommt. Das Mittel, um deine eherne Pflicht im Auge
von jedermann in Gold zu verwandeln, heißt: halte immer etwas mehr als du
versprichst.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 484 |
Gebet
zu Menschen. »Vergib uns unsere Tugenden« so soll
man zu Menschen beten.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 484 |
Schaffende
und Genießende. Jeder Genießende meint, dem Baume habe
es an der Frucht gelegen; aber ihm lag am Samen. Hierin besteht der Unterschied
zwischen allen Schaffenden und Genießenden.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 484 |
Der
Ruhm aller Großen. Was ist am Genie gelegen, wenn es nicht seinem
Betrachter und Verehrer solche Freiheit und Höhe des Gefühls mitteilt,
daß er des Genies nicht mehr bedarf! Sich überflüssig
machen das ist der Ruhm aller Großen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 485 |
Die
Hadesfahrt. Auch ich bin in der Unterwelt gewesen, wie Odysseus, und
werde es noch öfter sein; und nicht nur Hammel habe ich geopfert, um mit
einigen Toten reden zu können, sondern des eignen Blutes nicht geschont.
Vier Paare waren es, welche sich mir, dem Opfernden nicht versagten: Epikur und
Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer. Mit
diesen muß ich mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandert bin,
von ihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich zuhören,
wenn sie sich dabei selber untereinander Recht und Unrecht geben. Was ich auch
nur sage, beschließe, für mich und andere ausdenke: auf jene acht hefte
ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet. Mögen die Lebenden
es mir verzeihen, wenn sie mir mitunter wie die Schatten vorkommen, so verblichen
und verdrießlich, so unruhig und ach! so lüstern nach Leben: während
jene mir dann so lebendig scheinen, als ob sie nun, nach dem Tode, nimmermehr
lebensmüde werden könnten. Auf die ewige Lebendigkeit aber kommt
es an: was ist am »ewigen Leben« und überhaupt am Leben gelegen!Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 485 |
Vom
Baume der Erkenntnis. Wahrscheinlichkeit, aber keine Wahrheit: Freischeinlichkeit,
aber keine Freiheit, diese beiden Früchte sind es, derentwegen der
Baum der Erkenntnis nicht mit dem Baum des Lebens verwechselt werden kann.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 489 |
Die
Vernunft der Welt. Daß die Welt nicht der Inbegriff einer ewigen
Vernünftigkeit ist, läßt sich endgültig dadurch beweisen,
daß jenes Stück Welt, welches wir kennen ich meine unsre menschliche
Vernunft , nicht allzu vernünftig ist. Und wenn sie nicht allezeit
und vollständig weise und rationell ist, so wird es die übrige Welt
auch nicht sein; hier gilt der Schluß a minori ad majus, a parte ad totum,
und zwar mit entscheidender Kraft.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 489 |
Wo
die Lehre von der Freiheit des Willens entstanden ist. Über dem
einen steht die Notwendigkeit in der Gestalt seiner Leidenschaften, über
dem andern als Gewohnheit zu hören und zu gehorchen, über dem dritten
als logisches Gewissen, über dem vierten als Laune und mutwilliges Behagen
an Seitensprüngen. Von diesen vieren wird aber gerade da die Freiheit
ihres Willens gesucht, wo jeder von ihnen am festesten gebunden ist: es ist, als
ob der Seidenwurm die Freiheit seines Willens gerade im Spinnen suchte. Woher
kommt dies? Ersichtlich daher, daß jeder sich dort am meisten für frei
hält, wo sein Lebensgefühl am größten ist, also, wie
gesagt, bald in der Leidenschaft, bald in der Pflicht, bald in der Erkenntnis,
bald im Mutwillen. Das, wodurch der einzelne Mensch stark ist, worin er sich belebt
fühlt, meint er unwillkürlich, müsse auch immer das Element seiner
Freiheit sein: er rechnet Abhängigkeit und Stumpfsinn, Unabhängigkeit
und Lebensgefühl als notwendige Paare zusammen. Hier wird eine Erfahrung,
die der Mensch im gesellschaftlich-politischen Gebiete gemacht hat, fälschlich
auf das allerletzte metaphysische Gebiet übertragen: dort ist der starke
Mann auch der freie Mann, dort ist lebendiges Gefühl von Freud und Leid,
Höhe des Hoffens, Kühnheit des Begehrens, Mächtigkeit des Hassens
das Zubehör der Herrschenden und Unabhängigen, während der Unterworfene,
der Sklave, gedrückt und stumpf lebt. Die Lehre von der Freiheit des
Willens ist eine Erfindung herrschender Stände.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 493-494 |
Keine
neuen Ketten fühlen. Solange wir nicht fühlen, daß
wir irgendwovon abhängen, halten wir uns für unabhängig: ein Fehlschluß,
welcher zeigt, wie stolz und herrschsüchtig der Mensch ist. Denn er nimmt
hier an, daß er unter allen Umständen die Abhängigkeit, sobald
er sie erleide, merken und erkennen müsse, unter der Voraussetzung, daß
er in der Unabhängigkeit für gewöhnlich lebe und sofort, wenn er
sie ausnahmsweise verliere, einen Gegensatz der Empfindung spüren werde.
Wie aber, wenn das Umgekehrte wahr wäre: daß er immer in vielfacher
Abhängigkeit lebt, sich aber für frei hält, wo er den Druck
der Kette aus langer Gewohnheit nicht mehr spürt? Nur an den neuen
Ketten leidet er noch; »Freiheit des Willens« heißt eigentlich
nichts weiter, als keine neuen Ketten fühlen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 494 |
Die
Freiheit des Willens und die Isolation der Fakta. Unsere gewohnte ungenaue
Beobachtung nimmt eine Gruppe von Erscheinungen als eins und nennt sie ein Faktum:
zwischen ihm und einem andern Faktum denkt sie sich einen leeren Raum hinzu, sie
isoliert jedes Faktum. In Wahrheit aber ist all unser Handeln und Erkennen keine
Folge von Fakten und leeren Zwischenräumen, sondern ein beständiger
Fluß. Nun ist der Glaube an die Freiheit des Willens gerade mit der Vorstellung
eines beständigen, einartigen, ungeteilten, unteilbaren Fließens unverträglich:
er setzt voraus, daß jede einzelne Handlung isoliert und unteilbar
ist; er ist eine Atomistik im Bereiche des Wollens und Erkennens.
Gerade so wie wir Charaktere ungenau verstehen, so machen wir es mit den Fakten:
wir sprechen von gleichen Charakteren, gleichen Fakten: beide gibt es nicht.
Nun loben und tadeln wir aber nur unter dieser falschen Voraussetzung, daß
es gleiche Fakta gebe, daß eine abgestufte Ordnung von Gattungen der Fakten
vorhanden sei, welcher eine abgestufte Wertordnung entspreche: also wir isolieren
nicht nur das einzelne Faktum, sondern auch wiederum die Gruppen von angeblich
gleichen Fakten (gute, böse, mitleidige, neidische Handlungen usw.)
beide Male irrtümlich. Das Wort und der Begriff sind der sichtbarste
Grund, weshalb wir an diese Isolation von Handlungen- Gruppen glauben: mit ihnen
bezeichnen wir nicht nur die Dinge, wir meinen ursprünglich durch
sie das Wahre derselben zu erfassen. Durch Worte und Begriffe werden wir
jetzt noch fortwährend verführt, die Dinge uns einfacher zu denken,
als sie sind, getrennt voneinander, unteilbar, jedes an und für sich seiend.
Es liegt eine philosophische Mythologie in der Sprache versteckt, welche alle
Augenblicke wieder herausbricht, so vorsichtig man sonst auch sein mag. Der Glaube
an die Freiheit des Willens, das heißt der gleichen Fakten und der
isolierten Fakten, hat in der Sprache seinen beständigen Evangelisten
und Anwalt.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 494-495 |
Die
Grundirrtümer. Damit der Mensch irgendeine seelische Lust oder
Unlust empfinde, muß er von einer dieser beiden Illusionen beherrscht sein:
entweder glaubt er an die Gleichheit gewisser Fakta, gewisser Empfindungen:
dann hat er durch die Vergleichung jetziger Zustände mit früheren und
durch Gleich- oder Ungleichsetzung derselben (wie sie bei aller Erinnerung stattfindet)
eine seelische Lust oder Unlust; oder er glaubt an die Willens-Freiheit,
etwa wenn er denkt »dies hätte ich nicht tun müssen«, »dies
hätte anders auslaufen können«, und gewinnt daraus ebenfalls Lust
oder Unlust. Ohne die Irrtümer welche bei jeder seelischen Lust und Unlust
tätig sind, würde niemals ein Menschentum entstanden sein dessen
Grundempfindung ist und bleibt, daß der Mensch der Freie in der Welt der
Unfreiheit sei, der ewige Wundertäter, sei es, daß er gut oder
böse handelt, die erstaunliche Ausnahme, das Übertier, der Fast-Gott,
der Sinn der Schöpfung, der Nichthinwegzudenkende, das Lösungswort des
kosmischen Rätsels, der große Herrscher über die Natur und Verächter
derselben, das Wesen, das seine Geschichte Weltgeschichte nennt!
Vanitas vanitatum homo.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 495-496 |
Der
Mensch als der Messende. Vielleicht hat alle Moralität der Menschheit
in der ungeheuren inneren Aufregung ihren Ursprung, welche die Urmenschen ergriff,
als sie das Maß und das Messen, die Wage und das Wägen entdeckten (das
Wort »Mensch« bedeutet ja den Messenden, er hat sich nach seiner größten
Entdeckung benennen wollen!). Mit diesen Vorstellungen stiegen sie in Bereiche
hinauf, die ganz unmeßbar und unwägbar sind, aber es ursprünglich
nicht zu sein schienen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 502 |
Prinzip
des Gleichgewichts. Der Räuber und der Mächtige, welcher
einer Gemeinde verspricht, sie gegen den Räuber zu schützen, sind wahrscheinlich
im Grunde ganz ähnliche Wesen, nur daß der zweite seinen Vorteil anders
als der erste erreicht: nämlich durch regelmäßige Abgaben, welche
die Gemeinde an ihn entrichtet, und nicht mehr durch Brandschatzungen. (Es ist
das nämliche Verhältnis wie zwischen Handelsmann und Seeräuber,
welche lange Zeit ein und dieselbe Person sind: wo ihr die eine Funktion nicht
rätlich scheint, da übt sie die andere aus. Eigentlich ist ja selbst
jetzt noch alle Kaufmanns-Moral nur die Verklügerung der Seeräuber-Moral:
so wohlfeil wie möglich kaufen womöglich für nichts als
die Unternehmungskosten , so teuer wie möglich verkaufen.) Das Wesentliche
ist: jener Mächtige verspricht, gegen den Räuber Gleichgewicht zu halten;
darin sehen die Schwachen eine Möglichkeit zu leben. Denn entweder müssen
sie sich selber zu einer gleichwiegenden Macht zusammentun oder sich einem
Gleichwiegenden unterwerfen (ihm für seine Leistungen Dienste leisten). Dem
letzteren Verfahren wird gern der Vorzug gegeben, weil es im Grunde zwei gefährliche
Wesen in Schach hält: das erste durch das zweite und das zweite durch den
Gesichtspunkt des Vorteils; letzteres hat nämlich seinen Gewinn davon, die
Unterworfenen gnädig oder leidlich zu behandeln, damit sie nicht nur sich,
sondern auch ihren Beherrscher ernähren können. Tatsächlich kann
es dabei immer noch hart und grausam genug zugehen, aber verglichen mit der früher
immer möglichen völligen Vernichtung atmen die Menschen schon in diesem
Zustande auf. Die Gemeinde ist im Anfang die Organisation der Schwachen
zum Gleichgewicht mit gefahrdrohenden Mächten. Eine Organisation zum
Übergewicht wäre rätlicher, wenn man dabei so stark würde,
um die Gegenmacht auf einmal zu vernichten: und handelt es sich um einen
einzelnen mächtigen Schadentuer, so wird dies gewiß versucht. Ist aber
der eine ein Stammhaupt oder hat er großen Anhang, so ist die schnelle entscheidende
Vernichtung unwahrscheinlich und die dauernde lange Fehde zu gewärtigen:
diese aber bringt der Gemeinde den am wenigsten wünschbaren Zustand mit sich,
weil sie durch ihn die Zeit verliert, für ihren Lebensunterhalt mit der nötigen
Regelmäßigkeit zu sorgen, und den Ertrag aller Arbeit jeden Augenblick
bedroht sieht. Deshalb zieht die Gemeinde vor, ihre Macht zu Verteidigung und
Angriff genau auf die Höhe zu bringen, auf der die Macht des gefährlichen
Nachbars ist, und ihm zu verstehen zu geben, daß in ihrer Wagschale jetzt
gleich viel Erz liege: warum wolle man nicht gut Freund miteinander sein?
Gleichgewicht ist also ein sehr wichtiger Begriff für die älteste
Rechts- und Morallehre; Gleichgewicht ist die Basis der Gerechtigkeit. Wenn diese
in roheren Zeiten sagt: »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, so setzt sie
das erreichte Gleichgewicht voraus und will es vermöge dieser Vergeltung
erhalten: so daß, wenn jetzt der eine sich gegen den andern vergeht,
der andere keine Rache der blinden Erbitterung mehr nimmt. Sondern vermöge
des jus talionis wird das Gleichgewicht der gestörten Machtverhältnisse
wiederhergestellt: denn ein Auge, ein Arm mehr ist in solchen Urzuständen
ein Stück Macht, ein Gewicht mehr. Innerhalb einer Gemeinde,
in der alle sich als gleichgewichtig betrachten, ist gegen Vergehungen, das heißt
gegen Durchbrechungen des Prinzips des Gleichgewichts Schande und Strafe da: Schande,
ein Gewicht, eingesetzt gegen den übergreifenden einzelnen, der durch den
Übergriff sich Vorteile verschafft hat, durch die Schande nun wieder Nachteile
erfährt, die den früheren Vorteil aufheben und überwiegen.
Ebenso steht es mit der Strafe: sie stellt gegen das Übergewicht, das sich
jeder Verbrecher zuspricht, ein viel größeres Gegengewicht auf, gegen
Gewalttat den Kerkerzwang, gegen Diebstahl den Wiederersatz und die Strafsumme.
So wird der Frevler erinnert, daß er mit seiner Handlung aus der Gemeinde
und deren Moral-Vorteilen ausschied: sie behandelt ihn wie einen Ungleichen, Schwachen,
außer ihr Stehenden; deshalb ist Strafe nicht nur Wiedervergeltung, sondern
hat ein Mehr, ein Etwas von der Härte des Naturzustandes; an diesen
will sie eben erinnern.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 502-504 |
Ob
die Anhänger der Lehre vom freien Willen strafen dürfen?
Die Menschen, welche von Berufswegen richten und strafen, suchen in jedem Falle
festzustellen, ob ein Übeltäter überhaupt für seine Tat verantwortlich
ist, ob er seine Vernunft anwenden konnte, ob er aus Gründen handelte
und nicht unbewußt oder im Zwange. Straft man ihn, so straft man, daß
er die schlechteren Gründe den besseren vorzog: welche er also gekannt
haben muß. Wo diese Kenntnis fehlt, ist der Mensch nach der herrschenden
Ansicht unfrei und nicht verantwortlich: es sei denn, daß seine Unkenntnis,
zum Beispiel seine ignorantia legis, die Folge einer absichtlichen Vernachlässigung
des Erlernens ist; dann hat er also schon damals, als er nicht lernen wollte was
er sollte, die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen und muß
jetzt die Folge seiner schlechten Wahl büßen. Wenn er dagegen die besseren
Gründe nicht gesehen hat, etwa aus Stumpf-und Blödsinn, so pflegt man
nicht zu strafen: es hat ihm, wie man sagt, die Wahl gefehlt, er handelte als
Tier. Die absichtliche Verleugnung der besseren Vernunft ist jetzt die Voraussetzung,
die man beim strafwürdigen Verbrechen macht. Wie kann aber jemand absichtlich
unvernünftiger sein, als er sein muß? Woher die Entscheidung, wenn
die Wagschalen mit guten und schlechten Motiven belastet sind? Also nicht vom
Irrtum, von der Blindheit her, nicht von einem äußeren, auch von keinem
inneren Zwange her? (Man erwäge übrigens, daß jeder sogenannte
»äußere Zwang« nichts weiter ist, als der innere Zwang
der Furcht und des Schmerzes.) Woher? fragt man immer wieder. Die Vernunft
soll also nicht die Ursache sein, weil sie sich nicht gegen die besseren Gründe
entscheiden könnte? Hier nun ruft man den »freien Willen« zu
Hilfe: es soll das vollendete Belieben entscheiden, ein Moment eintreten,
wo kein Motiv wirkt, wo die Tat als Wunder geschieht, aus dem Nichts heraus. Man
straft diese angebliche Beliebigkeit, in einem Falle, wo kein Belieben
herrschen sollte: die Vernunft, welche das Gesetz, das Verbot und Gebot kennt,
hätte gar keine Wahl lassen dürfen, meint man, und als Zwang und höhere
Macht wirken sollen. Der Verbrecher wird also bestraft, weil er vom »freien
Willen« Gebrauch macht, das heißt weil er ohne Grund gehandelt hat,
wo er nach Gründen hätte handeln sollen. Aber warum tat er dies?
Dies eben darf nicht einmal mehr gefragt werden: es war eine Tat ohne »darum«,
ohne Motiv, ohne Herkunft, etwas Zweckloses und Vernunftloses. Eine
solche Tat dürfte man aber, nach der ersten oben vorangeschickten Bedingung
aller Strafbarkeit, auch nicht strafen! Auch jene Art der Strafbarkeit
darf nicht geltend gemacht werden, als wenn hier etwas nicht getan, etwas
unterlassen, von der Vernunft nicht Gebrauch gemacht sei: denn unter allen
Umständen geschah die Unterlassung ohne Absicht! und nur die absichtliche
Unterlassung des Gebotenen gilt als strafbar. Der Verbrecher hat zwar die schlechteren
Gründe den besseren vorgezogen, aber ohne Grund und Absicht: er hat
zwar seine Vernunft nicht angewendet, aber nicht, um sie nicht anzuwenden.
Jene Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrechen macht, daß
er seine Vernunft absichtlich verleugnet habe, gerade sie ist bei der Annahme
des »freien Willens« aufgehoben. Ihr dürft nicht strafen,
ihr Anhänger der Lehre vom »freien Willen«, nach euern eigenen
Grundsätzen nicht! Diese sind aber im Grunde nichts, als eine sehr
wunderliche Begriffs-Mythologie; und das Huhn, welches sie ausgebrütet hat,
hat abseits von aller Wirklichkeit auf seinen Eiern gesessen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 504-506 |
Zur
Beurteilung des Verbrechers und seines Richters. Der Verbrecher der
den ganzen Fluß der Umstände kennt, findet seine Tat nicht so außer
der Ordnung und Begreiflichkeit, wie seine Richter und Tadler; seine Strafe aber
wird ihm gerade nach dem Grad von Erstaunen zugemessen, welches jene beim Anblick
der Tat als einer Unbegreiflichkeit befällt. Wenn die Kenntnis, welche
der Verteidiger eines Verbrechers von dem Fall und seiner Vorgeschichte hat, weit
genug reicht so müssen die sogenannten Milderungsgründe, welche er der
Reihe nach vorbringt, endlich die ganze Schuld hinwegmildern. Oder, noch deutlicher:
der Verteidiger wird schrittweise jenes verurteilende und Strafe zumessende Erstaunen
mildern und zuletzt ganz aufheben, indem er jeden ehrlichen Zuhörer zu
dem inneren Geständnis nötigt: »er mußte so handeln, wie
er gehandelt hat; wir würden, wenn wir straften, die ewige Notwendigkeit
bestrafen.« Den Grad der Strafe abmessen nach dem Grad der Kenntnis,
welchen man von der Historie eines Verbrechens hat oder überhaupt gewinnen
kann, streitet dies nicht wider alle Billigkeit?Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 506-507 |
Der
Tausch und die Billigkeit. Bei einem Tausche würde es nur dann
ehrlich und rechtlich zugehen, wenn jeder der beiden Tauschenden so viel verlangte,
als ihm seine Sache wert scheint, die Mühe des Erlangens, die Seltenheit,
die aufgewendete Zeit usw. in Anschlag gebracht, nebst dem Affektionswerte. Sobald
er den Preis in Hinsicht auf das Bedürfnis des andern macht, ist er
ein feinerer Räuber und Erpresser. Ist Geld das eine Tauschobjekt,
so ist zu erwägen, daß ein Frankentaler in der Hand eines reichen Erben,
eines Tagelöhners, eines Kaufmannes, eines Studenten ganz verschiedene Dinge
sind: jeder wird, je nachdem er fast nichts oder viel tat, ihn zu erwerben, wenig
oder viel dafür empfangen dürfen so wäre es billig: in Wahrheit
steht es bekanntlich umgekehrt. In der großen Geldwelt ist der Taler des
faulsten Reichen gewinnbringender als der des Armen und Arbeitsamen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 507 |
Rechtszustände
als Mittel. Recht, auf Verträgen zwischen Gleichen beruhend, besteht,
solange die Macht derer, die sich vertragen haben, eben gleich oder ähnlich
ist; die Klugheit hat das Recht geschaffen, um der Fehde und der nutzlosen
Vergeudung zwischen ähnlichen Gewalten ein Ende zu machen. Dieser aber ist
ebenso endgültig ein Ende gemacht, wenn der eine Teil entschieden schwächer
als der andere geworden ist: dann tritt Unterwerfung ein, und das Recht hört
auf, aber der Erfolg ist derselbe wie der, welcher bisher durch das Recht
erreicht wurde. Denn jetzt ist es die Klugheit des Überwiegenden,
welche die Kraft des Unterworfenen zu schonen und nicht nutzlos zu vergeuden
anrät: und oft ist die Lage des Unterworfenen günstiger, als die des
Gleichgestellten war. Rechtszustände sind also zeitweilige Mittel,
welche die Klugheit anrät, keine Ziele.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 507-508 |
Das
Willkürliche im Zumessen der Strafen. Die meisten Verbrecher kommen
zu ihren Strafen wie die Weiber zu ihren Kindern. Sie haben zehn- und hundertmal
dasselbe getan, ohne üble Folgen zu spüren: plötzlich kommt eine
Entdeckung und hinter ihr die Strafe. Die Gewohnheit sollte doch die Schuld der
Tat, derentwegen der Verbrecher gestraft wird, entschuldbarer erscheinen lassen:
es ist ja ein Hang entstanden, dem schwerer zu widerstehen ist. Anstatt dessen
wird er, wenn der Verdacht des gewohnheitsmäßigen Verbrechens vorliegt,
härter gestraft; die Gewohnheit wird als Grund gegen alle Milderung geltend
gemacht. Eine vorherige musterhafte Lebensweise, gegen welche das Verbrechen um
so fürchterlicher absticht, sollte die Schuldbarkeit verschärft erscheinen
lassen! Aber sie pflegt die Strafe zu mildern. So wird alles nicht nach dem Verbrecher
bemessen, sondern nach der Gesellschaft und deren Schaden und Gefahr: frühere
Nützlichkeit eines Menschen wird gegen seine einmalige Schädlichkeit
eingerechnet, frühere Schädlichkeit zur gegenwärtig entdeckten
addiert, und demnach die Strafe am höchsten zugemessen. Wenn man aber dergestalt
die Vergangenheit eines Menschen mit straft oder mit belohnt (dies im ersten Fall,
wo das Weniger-Strafen ein Belohnen ist), so sollte man noch weiter zurückgehn
und die Ursache einer solchen oder solchen Vergangenheit strafen und belohnen,
ich meine Eltern, Erzieher, die Gesellschaft usw.: in vielen Fällen wird
man dann die Richter irgendwie bei der Schuld beteiligt finden. Es ist
willkürlich, beim Verbrecher stehenzubleiben, wenn man die Vergangenheit
straft: man sollte, falls man die absolute Entschuldbarkeit jeder Schuld nicht
zugeben will, bei jedem einzelnen Fall stehnbleiben und nicht weiter zurückblicken:
also die Schuld isolieren und sie gar nicht mit der Vergangenheit in Verknüpfung
bringen, sonst wird man zum Sünder gegen die Logik. Zieht vielmehr,
ihr Willens-Freien, den notwendigen Schluß aus eurer Lehre von der »Freiheit
des Willens« und dekretiert kühnlich: »keine Tat hat eine
Vergangenheit.«Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 508-509 |
Der
Neid und sein edlerer Bruder. Wo die Gleichheit wirklich durchgedrungen
und dauernd begründet ist, entsteht jener, im ganzen als unmoralisch geltende
Hang, der im Naturzustande kaum begreiflich wäre: der Neid. Der Neidische
fühlt jedes Hervorragendes anderen über das gemeinsame Maß und
will ihn bis dahin herabdrücken oder sich bis dorthin erheben: woraus
sich zwei verschiedene Handlungsweisen ergeben, welche Hesiod als die böse
und die gute Eris bezeichnet hat. Ebenso entsteht im Zustande der Gleichheit die
Indignation darüber, daß es einem anderen unter seiner Würde
und Gleichheit schlecht ergeht, einem zweiten über seiner Gleichheit
gut: es sind dies Affekte edlerer Naturen. Sie vermissen in den Dingen,
welche von der Willkür des Menschen unabhängig sind, Gerechtigkeit und
Billigkeit, das heißt: sie verlangen, daß jene Gleichheit, die der
Mensch anerkennt, nun auch von der Natur und dem Zufall anerkannt werde, sie zürnen
darüber, daß es den Gleichen nicht gleich ergeht.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 509-510 |
Türkenfatalismus.
Der Türkenfatalismus hat den Grundfehler, daß er den Menschen
und das Fatum als zwei geschiedene Dinge einander gegenüberstellt: der Mensch,
sagt er, könne dem Fatum widerstreben, es zu vereiteln suchen, aber schließlich
behalte es immer den Sieg; weshalb das Vernünftigste sei, zu resignieren
oder nach Belieben zu leben. In Wahrheit ist jeder Mensch selber ein Stück
Fatum; wenn er in der angegebenen Weise dem Fatum zu widerstreben meint, so vollzieht
sich eben darin auch das Fatum; der Kampf ist eine Einbildung, aber ebenso jene
Resignation in das Fatum; alle diese Einbildungen sind im Fatum eingeschlossen.
Die Angst, welche die meisten vor der Lehre der Unfreiheit des Willens
haben, ist die Angst vor dem Türkenfatalismus: sie meinen, der Mensch werde
schwächlich, resigniert und mit gefalteten Händen vor der Zukunft stehen,
weil er an ihr nichts zu ändern vermöge: oder aber, er werde seiner
vollen Launenhaftigkeit die Zügel schießen lassen, weil auch durch
diese das einmal Bestimmte nicht schlimmer werden könne. Die Torheiten des
Menschen sind ebenso ein Stück Fatum wie seine Klugheiten: auch jene Angst
vor dem Glauben an das Fatum ist Fatum. Du selber, armer Ängstlicher, bist
die unbezwingliche Moira, welche noch über den Göttern thront, für
alles, was da kommt; du bist der Segen oder Fluch und jedenfalls die Fessel, in
welcher der Stärkste gebunden liegt; in dir ist alle Zukunft der Menschen-Welt
vorherbestimmt, es hilft dir nichts, wenn dir vor dir selber graut.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 526 |
Die
weltliche Gerechtigkeit. Es ist möglich, die weltliche Gerechtigkeit
aus den Angeln zu heben mit der Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit
und Unschuld jedermannes: und es ist schon ein Versuch in gleicher Richtung gemacht
worden, gerade auf Grund der entgegengesetzten Lehre von der völligen Verantwortlichkeit
und Verschuldung jedermannes. Der Stifter des Christentums war es, der die weltliche
Gerechtigkeit aufheben und das Richten und Strafen aus der Welt schaffen wollte.
Denn er verstand alle Schuld als »Sünde«, das heißt als
Frevel an Gott und nicht als Frevel an der Welt; andererseits hielt
er jedermann im größten Maßstabe und fast in jeder Hinsicht für
einen Sünder. Die Schuldigen sollen aber nicht die Richter ihresgleichen
sein: so urteilte seine Billigkeit. Alle Richter der weltlichen Gerechtigkeit
waren also in seinen Augen so schuldig wie die von ihnen Verurteilten, und ihre
Miene der Schuldlosigkeit schien ihm so heuchlerisch und pharisäerhaft. Überdies
sah er auf die Motive der Handlungen und nicht auf den Erfolg, und hielt für
die Beurteilung der Motive nur einen einzigen für scharfsichtig genug: sich
selber (oder wie er sich ausdrückte: Gott).Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 534 |
Der
Verfolger Gottes. Paulus hat den Gedanken ausgedacht, Calvin ihn nachgedacht,
daß Unzähligen seit Ewigkeiten die Verdammnis zuerkannt ist und daß
dieser schöne Weltenplan so eingerichtet wurde, damit die Herrlichkeit Gottes
sich daran offenbare; Himmel und Hölle und Menschheit sollen also da sein,
um die Eitelkeit Gottes zu befriedigen! Welch grausame und unersättliche
Eitelkeit muß in der Seele dessen geflackert haben, der so etwas sich zuerst
oder zu zweit ausdachte! Paulus ist also doch Paulus geblieben der
Verfolger Gottes. Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 536 |
Ausweichen.
Man weiß nicht eher, worin bei ausgezeichneten Geistern das Feine
ihres Ausdrucks, ihrer Wendung liegt, wenn man nicht sagen kann, auf welches Wort
jeder mittelmäßige Schriftsteller beim Ausdrücken derselben Sache
unvermeidlich geraten sein würde. Alle großen Artisten zeigen sich
beim Lenken ihres Fuhrwerks zum Ausweichen, zum Entgleisen geneigt doch
nicht zum Umfallen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 540 |
Dichter-Gedanken.
Die wirklichen Gedanken gehen bei wirklichen Dichtern alle verschleiert
einher, wie die Ägypterinnen: nur das tiefe Auge des Gedankens blickt frei
über den Schleier hinweg. Dichter-Gedanken sind im Durchschnitt nicht
so viel wert, als sie gelten: man bezahlt eben für den Schleier und die eigene
Neugierde mit.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 542-543 |
Schreibstil
und Sprechstil. Die Kunst zu schreiben verlangt vor allem Ersatzmittel
für die Ausdrucksarten, welche nur der Redende hat: also für Gebärden,
Akzente, Töne, Blicke. Deshalb ist der Schreibstil ein ganz anderer, als
der Sprechstil, und etwas viel Schwierigeres: er will mit wenigerem sich
ebenso verständlich machen wie jener. Demosthenes hielt seine Reden anders
als wir sie lesen: er hat sie zum Gelesenwerden erst überarbeitet.
Ciceros Reden sollten, zum gleichen Zwecke, erst demosthenisiert werden: jetzt
ist viel mehr römisches Forum in ihnen, als der Leser vertragen kann.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 544 |
Vorsicht
im Zitieren. Die jungen Autoren wissen nicht, daß der gute Ausdruck,
der gute Gedanke sich nur unter seinesgleichen gut ausnimmt, daß ein vorzügliches
Zitat ganze Seiten, ja das ganze Buch vernichten kann, indem es den Leser warnt
und ihm zuzurufen scheint: »Gib acht, ich bin der Edelstein und rings um
mich ist Blei, bleiches, schmähliches Blei!« Jedes Wort, jeder Gedanke
will nur in seiner Gesellschaft leben: das ist die Moral des gewählten
StilsDers., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 544 |
Faust-Idee.
Eine kleine Nähterin wird verführt und unglücklich gemacht;
ein großer Gelehrter aller vier Fakultäten ist der Übeltäter.
Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein? Nein, gewiß nicht!
Ohne die Beihilfe des leibhaftigen Teufels hätte es der große Gelehrte
nicht zustande gebracht. Sollte dies wirklich der größte deutsche
»tragische Gedanke« sein, wie man unter Deutschen sagen hört?
Für Goethe war aber auch dieser Gedanke noch zu fürchterlich;
sein mildes Herz konnte nicht umhin, die kleine Nähterin, »die gute
Seele, die nur einmal sich vergessen«, nach ihrem unfreiwilligen Tode in
die Nähe der Heiligen zu versetzen; ja selbst den großen Gelehrten
brachte er, durch einen Possen, der dem Teufel im entscheidenden Augenblick gespielt
wird, noch zur rechten Zeit in den Himmel, ihn, »den guten Menschen«
mit dem »dunklen Drange«: dort im Himmel finden sich die Liebenden
wieder. Goethe sagt einmal, für das eigentlich Tragische sei seine
Natur zu konziliant gewesen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 550 |
Goethe
... gehört in eine höhere Gattung von Literaturen ...: deshalb steht
er auch zu seiner Nation weder im Verhältnis des Lebens, noch des Neuseins,
noch des Veraltens. .... Goethe, nicht nur ein guter und großer Mensch,
sondern eine Kultur .... Es ist ein hoher Zustand der Menschheit möglich,
wo das Europa der Völker eine dunkle Vergessenheit ist, wo Europa aber noch
in dreißig sehr alten, nie veralteten Büchern lebt: in den Klassikern.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 551-552 |
Gegen
die Sprach-Neuerer. In der Sprache neuern oder altertümeln, das
Seltene und Fremdartige vorziehen, auf Reichtum des Wortschatzes statt auf Beschränkung
trachten, ist immer ein Zeichen des ungereiften oder verderbten Geschmacks. Eine
edele Armut, aber innerhalb des unscheinbaren Besitzes eine meisterliche Freiheit
zeichnet die griechischen Künstler der Rede aus: sie wollen weniger
haben, als das Volk hat denn dieses ist am reichsten in Altem und Neuem
aber sie wollen dies Wenige besser haben. Man ist schnell mit dem
Aufzählen ihrer Archaismen und Fremdartigkeiten fertig, aber kommt nicht
zu Ende im Bewundern, wenn man für die leichte und zarte Art ihres Verkehrs
mit dem Alltäglichen und scheinbar längst Verbrauchten in Worten und
Wendungen ein gutes Auge hat.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 552 |
Den
Gedanken verbessern. Den Stil verbessern das heißt den
Gedanken verbessern, und gar nichts weiter! Wer dies nicht sofort zugibt,
ist auch nie davon zu überzeugen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 553 |
Der
Stil der Unsterblichkeit. Thukydides sowohl wie Tacitus beide
haben beim Ausarbeiten ihrer Werke an eine unsterbliche Dauer derselben gedacht:
dies würde, wenn man es sonst nicht wüßte, schon aus ihrem Stile
zu erraten sein. Der eine glaubte seinen Gedanken durch Einsalzen, der andre durch
Einkochen Dauerhaftigkeit zu geben; und beide, scheint es, haben sich nicht verrechnet.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 556 |
Gegen
Bilder und Gleichnisse. Mit Bildern und Gleichnissen überzeugt
man, aber beweist nicht. Deshalb hat man innerhalb der Wissenschaft eine solche
Scheu vor Bildern und Gleichnissen; man will hier gerade das Überzeugende,
das Glaublich-Machende nicht und fordert vielmehr das kälteste Mißtrauen
auch schon durch die Ausdrucksweise und die kahlen Wände heraus: weil das
Mißtrauen der Prüfstein für das Gold der Gewißheit ist.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 557 |
Die
Angestellten der Wissenschaft und die anderen. Die eigentlich tüchtigen
und erfolgreichen Gelehrten könnte man insgesamt als »Angestellte«
bezeichnen. Wenn, in jungen Jahren, ihr Scharfsinn hinreichend geübt, ihr
Gedächtnis gefüllt ist, wenn Hand und Auge Sicherheit gewonnen haben,
so werden sie von einem älteren Gelehrten auf eine Stelle der Wissenschaft
angewiesen, wo ihre Eigenschaften Nutzen bringen können; späterhin,
nachdem sie selber den Blick für die lückenhaften und schadhaften Stellen
ihrer Wissenschaft erlangt haben, stellen sie sich von selber dorthin, wo sie
not tun. Diese Naturen allesamt sind um der Wissenschaft willen da: aber es gibt
seltnere, selten gelingende und völlig ausreifende Naturen, »um derentwillen
die Wissenschaft da ist« wenigstens scheint es ihnen selber so :
oft unangenehme, oft eingebildete, oft querköpfige, fast immer aber bis zu
einem Grade zauberhafte Menschen. Sie sind nicht Angestellte, und auch nicht Ansteller,
sie bedienen sich dessen, was von jenen erarbeitet und sichergestellt worden ist,
in einer gewissen fürstenhaften Gelassenheit und mit geringem und seltenem
Lobe: gleichsam als ob jene einer niedrigern Gattung von Wesen angehörten.
Und doch haben sie eben nur die gleichen Eigenschaften, wodurch diese anderen
sich auszeichnen, und diese mitunter sogar ungenügender entwickelt: obendrein
ist ihnen eine Beschränktheit eigentümlich, die jenen fehlt,
um derentwegen es unmöglich ist, sie an einen Posten zu stellen und in ihnen
nützliche Werkzeuge zu sehen, sie können nur in ihrer eigenen
Luft, auf eigenem Boden leben. Diese Beschränktheit gibt ihnen ein, was
alles von einer Wissenschaft »zu ihnen gehöre«, das heißt,
was sie in ihre Luft und Wohnung heimtragen können; sie wähnen immer
ihr zerstreutes »Eigentum« zu sammeln. Verhindert man sie, an ihrem
eigenen Neste zu bauen, so gehen sie wie obdachlose Vögel zugrunde; Unfreiheit
ist für sie Schwindsucht. Pflegen sie einzelne Gegenden der Wissenschaft
in der Art jener anderen, so sind es doch immer nur solche, wo gerade die ihnen
nötigen Früchte und Samen gedeihen; was geht es sie an, ob die Wissenschaft,
im ganzen gesehen, unangebaute oder schlecht gepflegte Gegenden hat? Es fehlt
ihnen jede unpersönliche Teilnahme an einem Problem der Erkenntnis;
wie sie selber durch und durch Person sind, so wachsen auch alle ihre Einsichten
und Kenntnisse wieder zu einer Person zusammen, zu einem lebendigen Vielfachen,
dessen einzelne Teile voneinander abhängen, ineinander greifen, gemeinsam
ernährt werden, das als Ganzes eine eigne Luft und einen eignen Geruch hat.
Solche Naturen bringen, mit diesen ihren personenhaften Erkenntnis-Gebilden,
jene Täuschung hervor, daß eine Wissenschaft (oder gar die ganze
Philosophie) fertig sei und am Ziele stehe; das Leben in ihrem Gebilde übt
diesen Zauber aus: als welcher zuzeiten sehr verhängnisvoll für die
Wissenschaft und irreführend für jene vorhin beschriebenen, eigentlich
tüchtigen Arbeiter des Geistes gewesen ist, zu andern Zeiten wiederum, als
die Dürre und die Ermattung herrschten, wie ein Labsal und gleich dem Anhauche
einer kühlen, erquicklichen Raststätte gewirkt hat. Gewöhnlich
nennt man solche Menschen Philosophen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 567-568 |
Eitelkeit
als die große Nützlichkeit. Ursprünglich behandelt
der starke einzelne nicht nur die Natur, sondern auch die Gesellschaft und die
schwächeren einzelnen als Gegenstand des Raub-Baues: er nützt sie aus,
so viel er kann, und geht dann weiter. Weil er sehr unsicher lebt, wechselnd zwischen
Hunger und Überfluß, so tötet er mehr Tiere, als er verzehren
kann, und plündert und mißhandelt die Menschen mehr, als nötig
wäre. Seine Machtäußerung ist eine Racheäußerung zugleich
gegen seinen pein- und angstvollen Zustand: sodann will er für mächtiger
gelten, als er ist, und mißbraucht deshalb die Gelegenheiten: der Furchtzuwachs,
den er erzeugt, ist sein Machtzuwachs. Er merkt zeitig, daß nicht das, was
er ist, sondern das, was er gilt, ihn trägt oder niederwirft: hier ist der
Ursprung der Eitelkeit. Der Mächtige sucht mit allen Mitteln Vermehrung
des Glaubens an seine Macht. Die Unterworfenen, die vor ihm zittern und
ihm dienen, wissen wiederum, daß sie genau so viel wert sind, als sie ihm
gelten: weshalb sie auf diese Geltung hinarbeiten und nicht auf ihre eigene
Befriedigung an sich. Wir kennen die Eitelkeit nur in den abgeschwächtesten
Formen, in ihren Sublimierungen und kleinen Dosen, weil wir in einem späten
und sehr gemilderten Zustande der Gesellschaft leben: ursprünglich ist sie
die große Nützlichkeit, das stärkste Mittel der Erhaltung.
Und zwar wird die Eitelkeit um so größer sein, je klüger der einzelne
ist: weil die Vermehrung des Glaubens an Macht leichter ist, als die Vermehrung
der Macht selber, aber nur für den, der Geist hat -oder, wie es für
Urzustände heißen muß, der listig und hinterhältig
istDers., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 571-572 |
Krieg
als Heilmittel. Matt und erbärmlich werdenden Völkern mag
der Krieg als Heilmittel anzuraten sein, falls sie nämlich durchaus noch
fortleben wollen: denn es gibt für die Völker-Schwindsucht auch eine
Brutalitäts-Kur. Das ewige Leben-wollen und Nicht-sterben-Können ist
aber selber schon ein Zeichen von Greisenhaftigkeit der Empfindung: je voller
und tüchtiger man lebt, um so schneller ist man bereit, das Leben für
eine einzige gute Empfindung dahinzugeben. Ein Volk, das so lebt und empfindet,
hat die Kriege nicht nötig.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 575 |
Geistige
und leibliche Verpflanzung als Heilmittel. Die verschiedenen Kulturen
sind verschiedene geistige Klimata, von denen ein jedes diesem oder jenem Organismus
vornehmlich schädlich oder heilsam ist. Die Historie im ganzen, als
das Wissen um die verschiedenen Kulturen, ist die Heilmittellehre, nicht
aber die Wissenschaft der Heilkunst selber. Der Arzt ist erst recht noch nötig,
der sich dieser Heilmittellehre bedient, um jeden in sein ihm gerade ersprießliches
Klima zu senden zeitweilig oder auf immer. In der Gegenwart leben, innerhalb
einer einzigen Kultur, genügt nicht als allgemeines Rezept, dabei würden
zu viele höchst nützliche Arten von Menschen aussterben, die in ihr
nicht gesund atmen können. Mit der Historie muß man ihnen Luft
machen und sie zu erhalten suchen; auch die Menschen zurückgebliebener Kulturen
haben ihren Wert. Dieser Kur der Geister steht zur Seite, daß die
Menschheit in leiblicher Beziehung darnach streben muß, durch eine medizinische
Geographie dahinterzukommen, zu welchen Entartungen und Krankheiten jede Gegend
der Erde Anlaß gibt, und umgekehrt welche Heilfaktoren sie bietet: und dann
müssen allmählich Völker, Familien und einzelne so lange und so
anhaltend verpflanzt werden, bis man über die angeerbten physischen Gebrechen
Herr geworden ist. Die ganze Erde wird endlich eine Summe von Gesundheits-Stationen
sein.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 575-576 |
Der
Baum der Menschheit und die Vernunft. Das, was ihr als Übervölkerung
der Erde in greisenhafter Kurzsichtigkeit fürchtet, gibt dem Hoffnungsvolleren
eben die große Aufgabe in die Hand: die Menschheit soll einmal ein Baum
werden, der die ganze Erde überschattet, mit vielen Milliarden von Blüten,
die alle nebeneinander Früchte werden sollen, und die Erde selbst soll zur
Ernährung dieses Baumes vorbereitet werden. Daß der jetzige noch kleine
Ansatz dazu an Saft und Kraft zunehme, daß in unzähligen Kanälen
der Saft zur Ernährung des Ganzen und des Einzelnen umströme
aus diesen und ähnlichen Aufgaben ist der Maßstab zu entnehmen,
ob ein jetziger Mensch nützlich oder unnütz ist. Die Aufgabe ist unsäglich
groß und kühn: wir alle wollen dazu tun, daß der Baum nicht vor
der Zeit verfaule! Dem historischen Kopfe gelingt es wohl, das menschliche Wesen
und Treiben sich im ganzen der Zeit so vor die Augen zu stellen, wie uns allen
das Ameisen-Wesen mit seinen kunstvoll getürmten Haufen vor Augen steht.
Oberflächlich beurteilt, würde auch das gesamte Menschentum gleich dem
Ameisentum von »Instinkt« reden lassen. Bei strengerer Prüfung
nehmen wir wahr, wie ganze Völker, ganze Jahrhunderte sich abmühen,
neue Mittel ausfindig zu machen und auszuprobieren, womit man einem großen
menschlichen Ganzen und zuletzt dem großen Gesamt-Fruchtbaume der Menschheit
wohltun könne; und was auch immer bei diesem Ausprobieren die einzelnen,
die Völker und die Zeiten für Schaden leiden, durch diesen Schaden sind
jedesmal einzelne klug geworden, und von ihnen aus strömt die Klugheit
langsam auf die Maßregeln ganzer Völker, ganzer Zeiten über. Auch
die Ameisen irren und vergreifen sich; die Menschheit kann recht wohl durch Torheit
der Mittel verderben und verdorren, vor der Zeit, es gibt weder für jene,
noch für diese einen sicher führenden Instinkt. Wir müssen vielmehr
der großen Aufgabe ins Gesicht sehen, die Erde für ein Gewächs
der größten und freudigsten Fruchtbarkeit vorzubereiten,
einer Aufgabe der Vernunft für die Vernunft!Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 576-577 |
Das
Lob des Uneigennützigen und sein Ursprung. Zwischen zwei nachbarlichen
Häuptlingen war seit Jahren Hader: man verwüstete einander die Saaten,
führte Herden weg, brannte Häuser nieder, mit einem unentschiedenen
Erfolge im ganzen, weil ihre Macht ziemlich gleich war. Ein Dritter, der durch
die abgeschlossene Lage seines Besitztums von diesen Fehden sich fernhalten konnte,
aber doch Grund hatte, den Tag zu fürchten, an dem einer dieser händelsüchtigen
Nachbarn entscheidend zum Übergewicht kommen würde, trat endlich zwischen
die Streitenden, mit Wohlwollen und Feierlichkeit: und im Geheimen legte er auf
seinen Friedensvorschlag ein schweres Gewicht, indem er jedem einzeln zu verstehen
gab, fürderhin gegen den, welcher sich wider den Frieden sträube, mit
dem andern gemeinsame Sache zu machen. Man kam vor ihm zusammen, man legte zögernd
in seine Hand die Hände, welche bisher die Werkzeuge und allzuoft die Ursache
des Hasses gewesen waren, und wirklich, man versuchte es ernstlich mit
dem Frieden. Jeder sah mit Erstaunen, wie plötzlich sein Wohlstand, sein
Behagen wuchs, wie man jetzt am Nachbar einen kaufs- und verkaufsbereiten Händler,
anstatt eines tückischen oder offen höhnenden Übeltäters,
hatte, wie selbst, in unvorhergesehenen Notfällen, man sich gegenseitig aus
der Not ziehen konnte, anstatt, wie es bisher geschehen, diese Not des Nachbars
auszunutzen und aufs höchste zu steigern; ja es schien, als ob der Menschenschlag
in beiden Gegenden sich seitdem verschönert hätte: denn die Augen hatten
sich erhellt, die Stirnen sich entrunzelt, allen war das Vertrauen zur Zukunft
zu eigen geworden, und nichts ist den Seelen und Leibern der Menschen förderlicher,
als dies Vertrauen. Man sah einander alle Jahre am Tage des Bündnisses wieder,
die Häuptlinge sowohl wie deren Anhang: und zwar vor dem Angesicht des Mittlers,
dessen Handlungsweise man, je größer der Nutzen war, den man ihr verdankte
immer mehr anstaunte und verehrte. Man nannte sie uneigennützig
man hatte den Blick viel zu fest auf den eigenen, seither eingeernteten Nutzen
gerichtet, um von der Handlungsweise des Nachbars mehr zu sehen, als daß
sein Zustand infolge derselben sich nicht so verändert habe wie der eigene:
er war vielmehr derselbe geblieben, und so schien es, daß jener den Nutzen
nicht im Auge gehabt habe. Zum ersten Male sagte man sich, daß die Uneigennützigkeit
eine Tugend sei: gewiß mochten im kleinen und privaten sich oftmals bei
ihnen ähnliche Dinge ereignet haben, aber man hatte das Augenmerk für
diese Tugend erst, als sie zum ersten Male in ganz großer Schrift, lesbar
für die ganze Gemeinde, an die Wand gemalt wurde. Erkannt als Tugenden, zu
Namen gekommen, in Schätzung gebracht, zur Aneignung anempfohlen sind die
moralischen Eigenschaften erst von dem Augenblicke an, da sie sichtbar über
Glück und Verhängnis ganzer Gesellschaften entschieden haben: dann ist
nämlich die Höhe der Empfindung und die Erregung der inneren schöpferischen
Kräfte bei vielen so groß, daß man dieser Eigenschaft Geschenke
bringt, vom Besten, was jeder hat: der Ernste legt ihr seinen Ernst zu Füßen,
der Würdige seine Würde, die Frauen ihre Milde, die Jünglinge alles
Hoffnungs- und Zukunftsreiche ihres Wesens; der Dichter leiht ihr Worte und Namen,
reiht sie in den Reigentanz ähnlicher Wesen ein, gibt ihr einen Stammbaum
und betet zuletzt, wie es Künstler tun, das Gebilde seiner Phantasie als
neue Gottheit an er lehrt sie anbeten. So wird eine Tugend, weil
die Liebe und die Dankbarkeit aller an ihr arbeitet, wie an einer Bildsäule,
zuletzt eine Ansammlung des Guten und Verehrungswürdigen, eine Art
Tempel und göttlicher Person zugleich. Sie steht fürderhin als einzelne
Tugend da, als ein Wesen für sich, was sie bis dahin nicht war, und übt
die Rechte und die Macht einer geheiligten Übermenschlichkeit aus.
Im späteren Griechenland standen die Städte voll von solchen vergottmenschlichten
Abstractis (man verzeihe das absonderliche Wort um des absonderlichen Begriffs
willen); das Volk hatte sich auf seine Art einen platonischen »Ideenhimmel«
inmitten seiner Erde hergerichtet, und ich glaube nicht, daß dessen Inwohner
weniger lebendig empfunden wurden, als irgendeine althomerische Gottheit.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 577-579 |
Spitzen
und Spitzchen. Die geringe Fruchtbarkeit, die häufige Ehelosigkeit
und überhaupt die geschlechtliche Kühle der höchsten und kultiviertesten
Geister, sowie der zu ihnen gehörenden Klassen, ist wesentlich in der Ökonomie
der Menschheit: die Vernunft erkennt und macht Gebrauch davon, daß bei einem
äußersten Punkte der geistigen Entwickelung die Gefahr einer nervösen
Nachkommenschaft sehr groß ist: solche Menschen sind Spitzen der
Menschheit sie dürfen nicht weiter in Spitzchen auslaufen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 581 |
Sonnenbahn
der Idee. Wenn eine Idee am Horizonte eben aufgeht, ist gewöhnlich
die Temperatur der Seele dabei sehr kalt. Erst allmählich entwickelt die
Idee ihre Wärme, und am heißesten ist diese (das heißt sie tut
ihre größten Wirkungen), wenn der Glaube an die Idee schon wieder im
sinken ist.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 583 |
Der
Fanatiker des Mißtrauens und seine Bürgschaft. Der
Alte: Du willst das Ungeheure wagen und die Menschen im
großen belehren? Wo ist deine Bürgschaft? Pyrrhon:
Hier ist sie: ich will die Menschen vor mir selber warnen, ich will alle Fehler
meiner Natur öffentlich bekennen und meine Übereilungen, Widersprüche
und Dummheit vor aller Augen bloßstellen. Hört nicht auf mich, will
ich ihnen sagen, bis ich nicht eurem Geringsten gleich geworden bin, und noch
geringer bin, als er; sträubt euch gegen die Wahrheit, so lange ihr nur könnt,
aus Ekel vor dem, der ihr Fürsprecher ist. Ich werde euer Verführer
und Betrüger sein, wenn ihr noch den mindesten Glanz von Achtbarkeit und
Würde an mir wahrnehmt. Der Alte:
Du versprichst zu viel, du kannst diese Last nicht tragen. Pyrrhon:
So will ich auch dies den Menschen sagen, daß ich zu schwach bin und nicht
halten kann, was ich verspreche. Je größer meine Unwürdigkeit,
um so mehr werden sie der Wahrheit mißtrauen, wenn sie durch meinen Mund
geht. Der Alte: Willst du denn der
Lehrer des Mißtrauens gegen die Wahrheit sein? Pyrrhon:
Des Mißtrauens, wie es noch nie in der Welt war, des Mißtrauens gegen
alles und jedes. Es ist der einzige Weg zur Wahrheit. Das rechte Auge darf dem
linken nicht trauen, und Licht wird eine Zeitlang Finsternis heißen müssen:
dies ist der Weg, den ihr gehen müßt. Glaubt nicht, daß er euch
zu Fruchtbäumen und schönen Weiden führe. Kleine harte Körner
werdet ihr auf ihm finden, das sind die Wahrheiten: Jahrzehnte lang werdet
ihr die Lügen händevoll verschlingen müssen, um nicht Hungers zu
sterben, ob ihr schon wisset, daß es Lügen sind. Jene Körner aber
werden gesäet und eingegraben, und vielleicht, vielleicht gibt es einmal
einen Tag der Ernte: Niemand darf ihn versprechen, er sei denn ein Fanatiker.
Der Alte: Freund! Freund! Auch deine
Worte sind die des Fanatikers! Pyrrhon:
Du hast recht! ich will gegen alle Worte mißtrauisch sein. Der
Alte: Dann wirst du schweigen müssen. Pyrrhon:
Ich werde den Menschen sagen, daß ich schweigen muß und daß
sie meinem Schweigen mißtrauen sollen. Der
Alte: Du trittst also von deinem Unternehmen zurück? Pyrrhon:
Vielmehr du hast mir eben das Tor gezeigt, durch welches ich gehen muß.
Der Alte: Ich weiß nicht :
verstehen wir uns jetzt noch völlig? Pyrrhon:
Wahrscheinlich nicht. Der Alte: Wenn
du dich nur selber völlig verstehst! Pyrrhon dreht sich um und lacht.
Der Alte: Ach Freund! Schweigen und
Lachen ist das jetzt deine ganze Philosophie? Pyrrhon:
Es wäre nicht die schlechteste.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 586-587 |
Die
Gefährlichkeit der Aufklärung. Alles das Halbverrückte,
Schauspielerische, Tierisch-Grausame, Wollüstige, namentlich Sentimentale
und Sich-selbst-Berauschende, was zusammen die eigentlich revolutionäre
Substanz ausmacht und in Rousseau, vor der Revolution, Fleisch und Geist geworden
war, dieses ganze Wesen setzte sich mit perfider Begeisterung noch die
Aufklärung auf das fanatische Haupt, welches durch diese selber wie in einer
verklärenden Glorie zu leuchten begann: die Aufklärung, die im
Grunde jenem Wesen so fremd ist und, für sich waltend, still wie ein Lichtglanz
durch Wolken gegangen sein würde, lange Zeit zufrieden damit, nur die einzelnen
umzubilden: so daß sie nur sehr langsam auch die Sitten und Einrichtungen
der Völker umgebildet hätte. Jetzt aber, an ein gewaltsames und plötzliches
Wesen gebunden, wurde die Aufklärung selber gewaltsam und plötzlich.
Ihre Gefährlichkeit ist dadurch fast größer geworden als die befreiende
und erhellende Nützlichkeit, welche durch sie in die große Revolutions-Bewegung
kam. Wer dies begreift, wird auch wissen, aus welcher Vermischung man sie herauszuziehen,
von welcher Verunreinigung man sie zu läutern hat: um dann, an sich selber,
das Werk der Aufklärung fortzusetzen und die Revolution nachträglich
in der Geburt zu ersticken, ungeschehen zu machen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 594 |
Große
Werke und großer Glaube. Jener hatte die großen Werke,
sein Genosse aber hatte den großen Glauben an diese Werke. Sie waren unzertrennlich:
aber ersichtlich hing der erstere völlig vom zweiten ab.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 598 |
Der
Gesellige. »Ich bekomme mir nicht gut« sagte jemand, um
seinen Hang zur Gesellschaft zu erklären. »Der Magen der Gesellschaft
ist stärker als der meinige, er verträgt mich.«Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 598 |
Warum
die Bettler noch leben. Wenn alle Almosen nur aus Mitleiden gegeben
würden, so wären die Bettler allesamt verhungert.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 599 |
Zurückerstatten.
Hesiod rät an, dem Nachbar, der uns ausgeholfen hat, mit gutem Maße
und womöglich reichlicher zurückzugeben, sobald wir es vermögen.
Dabei hat nämlich der Nachbar seine Freude, denn seine einstmalige Gutmütigkeit
trägt ihm Zinsen ein; aber auch der, welcher zurückgibt, hat seine Freude,
insofern er die kleine einstmalige Demütigung, sich aushelfen lassen zu müssen,
durch ein kleines Übergewicht, als Schenkender, zurückkauft.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 603 |
Feiner
als nötig. Unser Beobachtungssinn dafür, ob andere unsere
Schwächen wahrnehmen, ist viel feiner, als unser Beobachtungssinn für
die Schwächen anderer: woraus sich also ergibt, daß er feiner ist,
als nötig wäre.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 603 |
Sich
nicht rächen? Es gibt so viele feine Arten der Rache, daß
einer, der Anlaß hätte sich zu rächen, im Grunde tun oder lassen
kann, was er will: alle Welt wird doch nach einiger Zeit übereingekommen
sein, daß er sich gerächt habe. Sich nicht zu rächen steht also
kaum im Belieben eines Menschen: daß er es nicht wolle, darf er nicht einmal
aussprechen, weil die Verachtung der Rache als eine sublime, sehr empfindliche
Rache gedeutet und empfunden wird. Woraus sich ergibt, daß
man nichts Überflüssiges tun soll.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 603 |
Brief.
Der Brief ist ein unangemeldeter Besuch, der Briefbote der Vermittler unhöflicher
Überfälle. Man sollte alle acht Tage eine Stunde zum Briefempfangen
haben und danach ein Bad nehmen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 604 |
Weg
zur Gleichheit. Einige Stunden Bergsteigens machen aus einem Schuft
und einem Heiligen zwei ziemlich gleiche Geschöpfe. Die Ermüdung ist
der kürzeste Weg zur Gleichheit und Brüderlichkeit
und die Freiheit wird endlich durch den Schlaf hinzugegeben.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 605 |
Verleumdungen
sind Krankheiten anderer, die an deinem Leibe ausbrechen; sie beweisen, daß
die Gesellschaft ein (moralischer) Körper ist, so daß du an
dir die Kur vornehmen kannst, die den anderen nützen soll.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 605 |
Ob
der Besitz mit der Gerechtigkeit ausgeglichen werden kann. Wird die
Ungerechtigkeit des Besitzes stark empfunden der Zeiger der großen
Uhr ist einmal wieder an dieser Stelle , so nennt man zwei Mittel, derselben
abzuhelfen: einmal eine gleiche Verteilung und sodann die Aufhebung des Eigentums
und den Zurückfall des Besitzes an die Gemeinschaft. Letzteres Mittel ist
namentlich nach dem Herzen unserer Sozialisten, welche jenem altertümlichen
Juden darüber gram sind, daß er sagte: du sollst nicht stehlen. Nach
ihnen soll das siebente Gebot vielmehr lauten: du sollst nicht besitzen.
Die Versuche nach dem ersten Rezepte sind im Altertum oft gemacht worden,
zwar immer nur in kleinem Maßstabe, aber doch mit einem Mißerfolg,
der auch uns noch Lehrer sein kann. »Gleiche Ackerlose« ist leicht
gesagt; aber wieviel Bitterkeit erzeugt sich durch die dabei nötig werdende
Trennung und Scheidung, durch den Verlust von alt verehrtem Besitz, wie viel Pietät
wird verletzt und geopfert! Man gräbt die Moralität um, wenn man die
Grenzsteine umgräbt. Und wieder, wieviel neue Bitterkeit unter den neuen
Besitzern, wie viel Eifersucht und Scheelsehen, da es zwei wirklich gleiche Ackerlose
nie gegeben hat, und wenn es solche gäbe, der menschliche Neid auf den Nachbar
nicht an deren Gleichheit glauben würde. Und wie lange dauerte diese schon
in der Wurzel vergiftete und ungesunde Gleichheit! In wenigen Geschlechtern war
durch Erbschaft hier das eine Los auf fünf Köpfe, dort waren fünf
Lose auf einen Kopf gekommen: und im Falle man durch harte Erbschafts-Gesetze
solchen Mißständen vorbeugte, gab es zwar noch die gleichen Ackerlose,
aber dazwischen Dürftige und Unzufriedene, welche nichts besaßen, außer
der Mißgunst auf die Anverwandten und Nachbarn und dem Verlangen nach dem
Umsturz aller Dinge. Will man aber nach dem zweiten Rezepte das
Eigentum der Gemeinde zurückgeben und den einzelnen nur zum zeitweiligen
Pächter machen, so zerstört man das Ackerland. Denn der Mensch ist gegen
alles, was er nur vorübergehend besitzt, ohne Vorsorge und Aufopferung, er
verfährt damit ausbeuterisch, als Räuber oder als liederlicher Verschwender.
Wenn Plato meint, die Selbstsucht werde mit der Aufhebung des Besitzes aufgehoben,
so ist ihm zu antworten, daß, nach Abzug der Selbst sucht, vom Menschen
jedenfalls nicht die vier Kardinaltugenden übrigbleiben werden, wie
man sagen muß: die ärgste Pest könnte der Menschheit nicht so
schaden, als wenn eines Tages die Eitelkeit aus ihr entschwände. Ohne Eitelkeit
und Selbstsucht was sind denn die menschlichen Tugenden? Womit nicht von
ferne gesagt sein soll, daß es nur Namen und Masken von jenen seien. Platos
utopistische Grundmelodie, die jetzt noch von den Sozialisten fortgesungen wird,
beruht auf einer mangelhaften Kenntnis des Menschen: ihm fehlte die Historie der
moralischen Empfindungen, die Einsicht in den Ursprung der guten nützlichen
Eigenschaften der menschlichen Seele. Er glaubte, wie das ganze Altertum, an Gut
und Böse wie an Weiß und Schwarz: also an eine radikale Verschiedenheit
der guten und der bösen Menschen, der guten und der schlechten Eigenschaften.
Damit der Besitz fürderhin mehr Vertrauen einflöße und
moralischer werde, halte man alle Arbeitswege zum kleinen Vermögen offen,
aber verhindere die mühelose, die plötzliche Bereicherung; man ziehe
alle Zweige des Transports und Handels, welche der Anhäufung großer
Vermögen günstig sind, also namentlich den Geldhandel, aus den Händen
der Privaten und Privatgesellschaften und betrachte ebenso die Zuviel-
wie die Nichts-Besitzer als gemeingefährliche Wesen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 617-619 |
Wert
der Arbeit. Wollte man den Wert der Arbeit darnach bestimmen, wie viel
Zeit, Fleiß, guter oder schlechter Wille, Zwang, Erfindsamkeit oder Faulheit,
Ehrlichkeit oder Schein darauf verwendet ist, so kann der Wert niemals gerecht
sein; denn die ganze Person müßte auf die Waagschale gesetzt werden
können, was unmöglich ist. Hier heißt es »richtet nicht!«
Aber der Ruf nach Gerechtigkeit ist es ja, den wir jetzt von denen hören,
welche mit der Abschätzung der Arbeit unzufrieden sind. Denkt man weiter,
so findet man jede Persönlichkeit unverantwortlich für ihr Produkt,
die Arbeit: ein Verdienst ist also niemals daraus abzuleiten, jede Arbeit ist
so gut oder schlecht, wie sie bei der und der notwendigen Konstellation von Kräften
und Schwächen, Kenntnissen und Begehrungen sein muß. Es steht nicht
im Belieben des Arbeiters, ob er arbeitet; auch nicht, wie er arbeitet.
Nur die Gesichtspunkte des Nutzens, engere und weitere, haben Wertschätzung
der Arbeit geschaffen. Das, was wir jetzt Gerechtigkeit nennen, ist auf diesem
Felde sehr wohl am Platz als eine höchst verfeinerte Nützlichkeit, welche
nicht auf den Moment nur Rücksicht nimmt und die Gelegenheit ausbeutet, sondern
auf Dauerhaftigkeit aller Zustände sinnt und deshalb auch das Wohl des Arbeiters,
seine leibliche und seelische Zufriedenheit ins Auge faßt, damit
er und seine Nachkommen gut auch für unsere Nachkommen arbeiten und noch
auf längere Zeiträume, als das menschliche Einzelleben ist, hinaus zuverlässig
werde. Die Ausbeutung des Arbeiters war, wie man jetzt begreift, eine Dummheit,
ein Raub-Bau auf Kosten der Zukunft, eine Gefährdung der Gesellschaft. Jetzt
hat man fast schon den Krieg: und jedenfalls werden die Kosten, um den Frieden
zu erhalten, um Verträge zu schließen und Vertrauen zu erlangen, nunmehr
sehr groß sein, weil die Torheit der Ausbeutenden sehr groß und langdauernd
war.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 619-620 |
Der
gefährlichste Anhänger. Der gefährlichste Anhänger
ist der, dessen Abfall die ganze Partei vernichten würde: also der beste
Anhänger.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 621 |
Sieg
der Demokratie. Es versuchen jetzt alle politischen Mächte, die
Angst vor dem Sozialismus auszubeuten, um sich zu stärken. Aber auf die Dauer
hat doch allein die Demokratie den Vorteil davon: denn alle Parteien sind jetzt
genötigt, dem »Volke« zu schmeicheln und ihm Erleichterungen
und Freiheiten aller Art zu geben, wodurch es endlich omnipotent wird. Das Volk
ist vom Sozialismus, als einer Lehre von der Veränderung des Eigentumerwerbes,
am entferntesten: und wenn es erst einmal die Steuerschraube in den Händen
hat, durch die großen Majoritäten seiner Parlamente, dann wird es mit
der Progressivsteuer dem Kapitalisten-, Kaufmanns- und Börsenfürstentum
an den Leib gehen und in der Tat langsam einen Mittelstand schaffen, der den Sozialismus
wie eine überstandene Krankheit vergessen darf. Das praktische Ergebnis
dieser um sich greifenden Demokratisierung wird zunächst ein europäischer
Völkerbund sein, in welchem jedes einzelne Volk, nach geographischen Zweckmäßigkeiten
abgegrenzt, die Stellung eines Kantons und dessen Sonderrechte innehat: mit den
historischen Erinnerungen der bisherigen Völker wird dabei wenig noch gerechnet
werden, weil der pietätvolle Sinn für dieselben unter der neuerungssüchtigen
und versuchslüsternen Herrschaft des demokratischen Prinzips allmählich
von Grund aus entwurzelt wird. Die Korrekturen der Grenzen, welche dabei sich
nötig zeigen, werden so ausgeführt, daß sie dem Nutzen der großen
Kantone und zugleich dem des Gesamtverbandes dienen, nicht aber dem Gedächtnisse
irgendwelcher vergrauten Vergangenheit. Die Gesichtspunkte für diese Korrekturen
zu finden wird die Aufgabe der zukünftigen Diplomaten sein, die zugleich
Kulturforscher, Landwirte, Verkehrskenner sein müssen und keine Heere, sondern
Gründe und Nützlichkeiten hinter sich haben. Dann erst ist die äußere
Politik mit der inneren unzertrennbar verknüpft: während jetzt immer
noch die letztere ihrer stolzen Gebieterin nachläuft und im erbärmlichen
Körbchen die Stoppelähren sammelt, die bei der Ernte der ersteren übrigbleiben.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 621-622 |
Ziel
und Mittel der Demokratie. Die Demokratie will möglichst vielen
Unabhängigkeit schaffen und verbürgen, Unabhängigkeit der Meinungen,
der Lebensart und des Erwerbs. Dazu hat sie nötig, sowohl den Besitzlosen
als den eigentlich Reichen das politische Stimmrecht abzusprechen: als den zwei
unerlaubten Menschenklassen, an deren Beseitigung sie stetig arbeiten muß,
weil diese ihre Aufgabe immer wieder in Frage stellen. Ebenso muß sie alles
verhindern, was auf die Organisation von Parteien abzuzielen scheint. Denn die
drei großen Feinde der Unabhängigkeit in jenem dreifachen Sinne sind
die Habenichtse, die Reichen und die Parteien. Ich rede von der Demokratie
als von etwas Kommendem. Das, was schon jetzt so heißt, unterscheidet sich
von den älteren Regierungsformen allein dadurch, daß es mit neuen
Pferden fährt: die Straßen sind noch die alten, und die Räder
sind auch noch die alten. Ist die Gefahr bei diesen Fuhrwerken des
Völkerwohls wirklich geringer geworden?Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 623 |
Aus
der Praxis des Weisen. Um Weise zu werden, muß man gewisse Erlebnisse
erleben wollen, also ihnen in den Rachen laufen. Sehr gefährlich ist dies
freilich; mancher »Weise« wurde dabei aufgefressen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 625 |
»Eins
ist not.« Wenn man klug ist, ist einem allein darum zu tun, daß
man Freude im Herzen habe. Ach, setzte jemand hinzu, wenn man klug ist,
tut man am besten, weise zu sein.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 625 |
Ein
Zeugnis der Liebe. Jemand sagte: Ȇber zwei Personen habe
ich nie gründlich nachgedacht: es ist das Zeugnis meiner Liebe zu ihnen.«Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 625 |
Wie
man siegen muß. Man soll nicht siegen wollen, wenn man nur die
Aussicht hat, um eines Haares Breite seinen Gegner zu überholen. Der
gute Sieg muß den Besiegten freudig stimmen, er muß etwas Göttliches
haben, welches die Beschämung erspart.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 636 |
Forderung
der Reinlichkeit. Daß man seine Meinungen wechselt, ist für
die einen Naturen ebenso eine Forderung der Reinlichkeit, wie die, daß man
seine Kleider wechselt: für andere Naturen aber nur eine Forderung ihrer
Eitelkeit.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 637 |
Die
goldene Losung. Dem Menschen sind viele Ketten angelegt worden, damit
er es verlerne, sich wie ein Tier zu gebärden: und wirklich, er ist milder,
geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Tiere sind. Nun aber leidet
er noch daran, daß er so lange seine Ketten trug, daß es ihm so lange
an reiner Luft und freier Bewegung fehlte: diese Ketten aber sind, ich
wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und sinnvollen Irrtümer
der moralischen, der religiösen, der metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn
auch die Ketten-Krankheit überwunden ist, ist das erste große
Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen von den Tieren. Nun stehen
wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen, und haben dabei die höchste
Vorsicht nötig. Nur dem veredelten Menschen darf die Freiheit des Geistes
gegeben werden; ihm allein naht die Erleichterung des Lebens und salbt
seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, daß er um der Freudigkeit
willen lebe und um keines weiteren Zieles willen; und in jedem anderen Munde wäre
sein Wahlspruch gefährlich: Frieden um mich und ein Wohlgefallen an allen
nächsten Dingen. Bei diesem Wahlspruch für einzelne gedenkt
er eines alten großen und rührenden Wortes, welches allen galt,
und das über der gesamten Menschheit stehengeblieben ist, als ein Wahlspruch
und Wahrzeichen, an dem jeder zugrunde gehen soll, der damit zu zeitig sein Banner
schmückt, an dem das Christentum zugrunde ging. Noch immer, so scheint
es, ist es nicht Zeit, daß es allen Menschen jenen Hirten
gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sich erhellt sahen und jenes
Wort hörten: »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander.«
Immer noch ist es die Zeit der einzelnen.Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 637-638 |
Wenn
ein Weib gelehrte Neigungen hat, so ist gewöhnlich Etwas an ihrer Geschlechtlichkeit
nicht in Ordnung. Schon Unfruchtbarkeit disponirt zu einer gewissen Männlichkeit
des Geschmacks; der Mann ist nämlich, mit Verlaub, "das unfruchtbare
Tier.Ders., 1880, in: Nachgelassene Fragmente |
Wer
sehr abweichend denkt und empfindet, geht zugrunde, er kann sich nicht fortpflanzen.
Somit könnte es für den Grad der Individuation eine Grenze geben. In
Zeiten, wo sie peinlich empfunden wird, wie in unserer (und wie in aller bisherigen
moralischen Geschichte der Menschheit), vererbt sich der Trieb dazu schlecht.
In Zeiten, wo sie lustvoll empfunden wird, übertreibt sie sich leicht und
macht die äußerste Isolation (und verhindert dadurch die allgemeine
Fruchtbarkeit der Menschheit). Je ähnlicher, desto mehr nimmt die Fruchtbarkeit
zu, jeder trifft auf ein genügendes Weibchen: also Übervölkerung
im Gefolge der Moral. Je unähnlicher, desto Ders., 1880, in: Nachgelassene Fragmente |
Das
vollkommene Weib begeht Literatur, wie es eine kleine Sünde begeht: zum Versuch,
im Vorübergehn, sich umblickend, ob es Jemand bemerkt und daß es Jemand
bemerkt ....Ders., 1880, in: Nachgelassene Fragmente |
»Es
gibt so viele Morgenröten, die noch nicht geleuchtet haben.« (Rigveda).Ders., Morgenröte, 1881, Leitspruch |
In
diesem Buche findet man einen »Unterirdischen« an der Arbeit, einen
Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Man sieht ihn, vorausgesetzt, daß
man Augen für solche Arbeit der Tiefe hat , wie er langsam, besonnen,
mit sanfter Unerbittlichkeit vorwärts kommt, ohne daß die Not sich
allzusehr verriete, welche jede lange Entbehrung von Licht und Luft mit sich bringt;
man könnte ihn selbst bei seiner dunklen Arbeit zufrieden nennen. Scheint
es nicht, daß irgendein Glaube ihn führt, ein Trost entschädigt?
Daß er vielleicht seine eigne lange Finsternis haben will, sein Unverständliches,
Verborgenes, Rätselhaftes, weil er weiß, was er auch haben wird: seinen
eignen Morgen, seine eigne Erlösung, seine eigne Morgenröte?
Gewiß, er wird zurückkehren: fragt ihn nicht, was er da unten will,
er wird es euch selbst schon sagen, dieser scheinbare Trophonios und Unterirdische,
wenn er erst wieder »Mensch geworden« ist. Man verlernt gründlich
das Schweigen, wenn man so lange, wie er, Maulwurf war, allein war.Ders., Morgenröte, 1881, Vorrede, S. 5 |
Es
ist bisher am schlechtesten über Gut und Böse nachgedacht worden: es
war dies immer eine zu gefährliche Sache. Das Gewissen, der gute Ruf, die
Hölle, unter Umständen selbst die Polizei erlaubten und erlauben keine
Unbefangenheit; in Gegenwart der Moral soll eben, wie angesichts jeder Autorität,
nicht gedacht, noch weniger geredet werden: hier wird gehorcht! So lang
die Welt steht, war noch keine Autorität willens, sich zum Gegenstand der
Kritik nehmen zu lassen; und gar die Moral kritisieren, die Moral als Problem,
als problematisch nehmen: wie? war das nicht ist das nicht
unmoralisch?Ders., Morgenröte, 1881, Vorrede, S. 6-7 |
Aber
die Moral gebietet nicht nur über jede Art von Schreckmitteln, um sich kritische
Hände und Folterwerkzeuge vom Leibe zu halten: ihre Sicherheit liegt noch
mehr in einer gewissen Kunst der Bezauberung, auf die sie sich versteht,
sie weiß zu »begeistern«. Es gelingt ihr, oft mit einem einzigen
Blicke, den kritischen Willen zu lähmen, sogar zu sich hinüberzulocken,
ja es gibt Fälle, wo sie ihn gegen sich selbst zu kehren weiß: so daß
er sich dann, gleich dem Skorpione, den Stachel in den eignen Leib sticht.Ders., Morgenröte, 1881, Vorrede, S. 7 |
Die
Moral versteht sich eben von alters her auf jede Teufelei von Überredungskunst:
es gibt keinen Redner, auch heute noch, der sie nicht um ihre Hilfe anginge (man
höre zum Beispiel selbst unsere Anarchisten reden: wie moralisch reden sie,
um zu überreden! Zuletzt heißen sie sich selbst noch gar »die
Guten und Gerechten«.) Die Moral hat sich eben von jeher, so lange auf Erden
geredet und überredet worden ist, als die größte Meisterin der
Verführung bewiesen und, was uns Philosophen angeht, als die eigentliche
Circe der Philosophen.Ders., Morgenröte, 1881, Vorrede, S. 7 |
Woran
liegt es doch, daß von Plato ab alle philosophischen Baumeister in Europa
umsonst gebaut haben? Daß alles einzufallen droht oder schon in Schutt liegt,
was sie selber ehrlich und ernsthaft für aere perennius hielten? Oh
wie falsch ist die Antwort, welche man jetzt noch auf diese Frage bereithält,
»weil von ihnen allen die Voraussetzung versäumt war, die Prüfung
des Fundamentes, eine Kritik der gesamten Vernunft« jene verhängnisvolle
Antwort Kants, der damit uns moderne Philosophen wahrhaftig nicht auf einen festeren
und weniger trüglichen Boden gelockt hat! ( und nachträglich gefragt,
war es nicht etwas sonderbar, zu verlangen, daß ein Werkzeug seine eigne
Trefflichkeit und Tauglichkeit kritisieren solle? daß der Intellekt selbst
seinen Wert, seine Kraft, seine Grenzen »erkennen« solle? war es nicht
sogar ein wenig widersinnig? ) Die richtige Antwort wäre vielmehr gewesen,
daß alle Philosophen unter der Verführung der Moral gebaut haben, auch
Kant , daß ihre Absicht scheinbar auf Gewißheit, auf »Wahrheit«,
eigentlich aber auf »majestätische sittliche Gebäude«
ausging: um uns noch einmal der unschuldigen Sprache Kants zu bedienen, der es
als seine eigne »nicht so glänzende, aber doch auch nicht verdienstlose«
Aufgabe und Arbeit bezeichnet, »den Boden zu jenen majestätischen sittlichen
Gebäuden eben und baufest zu machen« (Kritik der reinen Vernunft,
II, S. 257). Ach, es ist ihm damit nicht gelungen, im Gegenteil! wie man
heute sagen muß. Kant war mit einer solchen schwärmerischen Absicht
eben der rechte Sohn seines Jahrhunderts, das mehr als jedes andre das Jahrhundert
der Schwärmerei genannt werden darf: wie er es, glücklicherweise, auch
in bezug auf dessen wertvollere Seiten geblieben ist (zum Beispiel mit jenem guten
Stück Sensualismus, den er in seine Erkenntnistheorie hinübernahm).
Auch ihn hatte die Moral-Tarantel Rousseau gebissen, auch ihm lag der Gedanke
des moralischen Fanatismus auf dem Grunde der Seele, als dessen Vollstrecker sich
ein andrer Jünger Rousseaus fühlte und bekannte, nämlich Robespierre
(vgl. Rede vom 7. Juni 1794). Andrerseits konnte man es ... nicht tiefer, gründlicher,
deutscher treiben ..., als es Kant getrieben hat: um Raum für sein »moralisches
Reich« zu schaffen, sah er sich genötigt, eine unbeweisbare Welt anzusetzen,
ein logisches »Jenseits«, dazu eben hatte er seine Kritik der
reinen Vernunft nötig! Anders ausgedrückt: er hätte sie nicht
nötig gehabt, wenn ihm nicht eins wichtiger als alles gewesen wäre,
das »moralische Reich« unangreifbar, lieber noch ungreifbar für
die Vernunft zu machen, er empfand eben die Angreifbarkeit einer moralischen
Ordnung der Dinge von seiten der Vernunft zu stark! Denn angesichts von Natur
und Geschichte, angesichts der gründlichen Unmoralität von Natur und
Geschichte war Kant, wie jeder gute Deutsche von alters her, Pessimist; er glaubte
an die Moral, nicht weil sie durch Natur und Geschichte bewiesen wird, sondern
trotzdem daß ihr durch Natur und Geschichte beständig widersprochen
wird. Man darf sich vielleicht, um dies »trotzdem daß« zu verstehen,
an etwas Verwandtes bei Luther erinnern, bei jenem andern großen Pessimisten,
der es einmal mit der ganzen lutherischen Verwegenheit seinen Freunden zu Gemüte
führte: »wenn man durch Vernunft es fassen könnte, wie der Gott
gnädig und gerecht sein könne, der so viel Zorn und Bosheit zeigt, wozu
brauchte man dann den Glauben?« Nichts nämlich hat von jeher einen
tieferen Eindruck auf die deutsche Seele gemacht, nichts hat sie mehr »versucht«,
als diese gefährlichste aller Schlußfolgerungen, welche jedem rechten
Romanen eine Sünde wider den Geist ist: credo quia absurdum est:
mit ihr tritt die deutsche Logik zuerst in der Geschichte des christlichen Dogmas
auf: aber auch heute noch, ein Jahrtausend später, wittern wir Deutschen
von heute, späte Deutsche in jedem Betrachte etwas von Wahrheit, von
Möglichkeit der Wahrheit hinter dem berühmten realdialektischen Grund-Satze,
mit welchem Hegel seiner Zeit dem deutschen Geiste zum Sieg über Europa verhalf
»Der Widerspruch bewegt die Welt, alle Dinge sind sich selbst widersprechend«
: wir sind eben, sogar bis in die Logik hinein, Pessimisten.Ders., Morgenröte, 1881, Vorrede, S. 7-8 |
Aber
nicht die logischen Werturteile sind die untersten und gründlichsten,
zu denen die Tapferkeit unsres Argwohns hinunterkann: das Vertrauen auf die Vernunft,
mit dem die Gültigkeit dieser Urteile steht und fällt, ist, als Vertrauen,
ein moralisches Phänomen .... Vielleicht hat der deutsche Pessimismus
seinen letzten Schritt noch zu tun? Vielleicht muß er noch einmal auf eine
furchtbare Weise sein credo und sein absurdum nebeneinanderstellen?
Und wenn dies Buch bis in die Moral hinein, bis über das Vertrauen zur Moral
hinweg pessimistisch ist, sollte es nicht gerade damit ein deutsches Buch
sein? Denn es stellt in der Tat einen Widerspruch dar und fürchtet sich nicht
davor: in ihm wird der Moral das Vertrauen gekündigt warum doch? Aus
Moralität! Oder wie sollen wirs heißen, was sich in ihm
in uns begibt? denn wir würden unsrem Geschmacke nach bescheidenere
Worte vorziehn. Aber es ist kein Zweifel, auch zu uns noch redet ein »du
sollst«, auch wir noch gehorchen einem strengen Gesetze über uns,
und dies ist die letzte Moral, die sich auch uns noch hörbar macht, die auch
wir noch zu leben wissen, hier, wenn irgendworin, sind auch wir noch Menschen
des Gewissens: daß wir nämlich nicht wieder zurückwollen in das,
was uns als überlebt und morsch gilt, in irgend etwas »Unglaubwürdiges«,
heiße es nun Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe;
daß wir uns keine Lügenbrücken zu alten Idealen gestatten; daß
wir von Grund aus allem feind sind, was in uns vermitteln und mischen möchte;
feind jeder jetzigen Art Glauben und Christlichkeit; feind dem Halb-und Halben
aller Romantik und Vaterländerei; feind auch der Artisten-Genüßlichkeit,
Artisten-Gewissenlosigkeit, welche uns überreden möchte, da anzubeten,
wo wir nicht mehr glauben denn wir sind Artisten ; feind, kurzum,
dem ganzen europäischen Feminismus (oder Idealismus, wenn man's lieber
hört), der ewig »hinanzieht« und ewig gerade damit »herunter
bringt«: allein als Menschen dieses Gewissens fühlen wir uns
noch verwandt mit der deutschen Rechtschaffenheit und Frömmigkeit von Jahrtausenden,
wenn auch als deren fragwürdigste und letzte Abkömmlinge, wir Immoralisten,
wir Gottlosen von heute, ja sogar, in gewissem Verstande, als deren Erben, als
Vollstrecker ihres innersten Willens, eines pessimistischen Willens, wie gesagt,
der sich davor nicht fürchtet, sich selbst zu verneinen, weil er mit Lust
verneint! In uns vollzieht sich, gesetzt daß ihr eine Formel wollt,
die Selbstaufhebung der Moral. Ders., Morgenröte, 1881, Vorrede, S. 9-10 |
Nachträgliche
Vernünftigkeit. Alle Dinge, die lange leben, werden allmählich
so mit Vernunft durchtränkt, daß ihre Abkunft aus der Unvernunft dadurch
unwahrscheinlich wird. Klingt nicht fast jede genaue Geschichte einer Entstehung
für das Gefühl paradox und frevelhaft? Widerspricht der gute
Historiker im Grunde nicht fortwährend?Ders., Morgenröte, 1881, S. 12 |
Vorurteil
der Gelehrten. Es ist ein richtiges Urteil der Gelehrten, daß
die Menschen aller Zeiten zu wissen glaubten, was gut und böse, lobens- und
tadelnswert sei. Aber es ist ein Vorurteil der Gelehrten, daß wir es jetzt
besser wüßten als irgendeine Zeit.Ders., Morgenröte, 1881, S. 12 |
Alles
hat seine Zeit. Als der Mensch allen Dingen ein Geschlecht gab, meinte
er nicht zu spielen, sondern eine tiefe Einsicht gewonnen zu haben: den
ungeheuren Umfang dieses Irrtums hat er sich sehr spät und jetzt vielleicht
noch nicht ganz eingestanden. Ebenso hat der Mensch allem, was da ist,
eine Beziehung zur Moral beigelegt und der Welt eine ethische Bedeutung
über die Schulter gehängt. Das wird einmal ebensoviel und nicht mehr
Wert haben, als es heute schon der Glaube an die Männlichkeit oder Weiblichkeit
der Sonne hat.Ders., Morgenröte, 1881, S. 12 |
Gegen
die erträumte Disharmonie der Sphären. Wir müssen die
viele falsche Großartigkeit wieder aus der Welt schaffen, weil sie
gegen die Gerechtigkeit ist, auf die alle Dinge vor uns Anspruch haben! Und dazu
tut not, die Welt nicht disharmonischer sehen zu wollen, als sie ist!Ders., Morgenröte, 1881, S. 10 |
Umlernen
des Raumgefühls. Haben die wirklichen Dinge oder die eingebildeten
Dinge mehr zum menschlichen Glück beigetragen? Gewiß ist, daß
die Weite des Raumes zwischen höchstem Glück und tiefstem Unglück
erst mit Hilfe der eingebildeten Dinge hergestellt worden ist. Diese Art von Raumgefühl
wird folglich, unter der Einwirkung der Wissenschaft, immer verkleinert: so wie
wir von ihr gelernt haben und noch lernen, die Erde als klein, ja das Sonnensystem
als Punkt zu empfindenDers., Morgenröte, 1881, S. 13-14 |
Zur
neuen Erziehung des Menschengeschlechts. Helft, ihr Hilfreichen und
Wohlgesinnten, doch an dem einen Werke mit, den Begriff der Strafe, der die ganze
Welt überwuchert hat, aus ihr zu entfernen! Es gibt kein böseres Unkraut!
Nicht nur in die Folgen unserer Handlungsweisen hat man ihn gelegt und
wie schrecklich und vernunftwidrig ist schon dies, Ursache und Wirkung als Ursache
und Strafe zu verstehen! aber man hat mehr getan und die ganze reine Zufälligkeit
des Geschehens um ihre Unschuld gebracht, mit dieser verruchten Interpretationskunst
des Straf-Begriffs. Ja, man hat die Tollheit so weit getrieben, die Existenz selber
als Strafe empfinden zu heißen, es ist, als ob die Phantasterei von
Kerkermeistern und Henkern bisher die Erziehung des Menschengeschlechts geleitet
hätte!Ders., Morgenröte, 1881, S. 18-19 |
Jeder
kleinste Schritt auf dem Felde des freien Denkens, des persönlich gestalteten
Lebens ist von jeher mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden:
nicht nur das Vorwärts-Schreiten, nein! vor allem das Schreiten, die Bewegung,
die Veränderung hat ihre unzähligen Märtyrer nötig gehabt,
durch die langen pfadsuchenden und grundlegenden Jahrtausende hindurch, an welche
man freilich nicht denkt, wenn man, wie gewohnt, von »Weltgeschichte«,
von diesem lächerlich kleinen Ausschnitt des menschlichen Daseins redet;
und selbst in dieser sogenannten Weltgeschichte, welche im Grunde ein Lärm
um die letzten Neuigkeiten ist, gibt es kein eigentlich wichtigeres Thema, als
die uralte Tragödie von den Märtyrern, die den Sumpf bewegen wollten.
Nichts ist teurer erkauft als das Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühle
der Freiheit, welches jetzt unsern Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen
es uns jetzt fast unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der »Sittlichkeit
der Sitte« zu empfinden, welche der »Weltgeschichte« vorausliegen,
als die wirkliche und entscheidende Hauptgeschichte, welche den Charakter
der Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit
als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung
der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die Wißbegier
als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden
als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die Veränderung
als das Unsittliche und Verderbenschwangere in Geltung war! Ihr meint,
es habe sich alles dies geändert, und die Menschheit müsse somit ihren
Charakter vertauscht haben? Oh, ihr Menschenkenner, lernt euch besser kennen!Ders., Morgenröte, 1881, S. 24-25 |
Sittlichkeit
und Verdummung. Die Sitte repräsentiert die Erfahrungen früherer
Menschen über das vermeintlich Nützliche und Schädliche,
aber das Gefühl für die Sitte (Sittlichkeit) bezieht sich nicht
auf jene Erfahrungen als solche, sondern auf das Alter, die Heiligkeit, die Indiskutabilität
der Sitte. Und damit wirkt dies Gefühl dem entgegen, daß man neue Erfahrungen
macht und die Sitten korrigiert: das heißt, die Sittlichkeit wirkt der Entstehung
neuer und besserer Sitten entgegen: sie verdummt.Ders., Morgenröte, 1881, S. 25 |
Freitäter
und Freidenker. Die Freitäter sind im Nachteil gegen die Freidenker,
weil die Menschen sichtbarer an den Folgen von Taten als von Gedanken leiden.
Bedenkt man aber, daß diese wie jene ihre Befriedigung suchen, und daß
den Freidenkern schon ein Ausdenken und Aussprechen von verbotenen Dingen diese
Befriedigung gibt, so ist in Ansehung der Motive alles eins: und in Ansehung der
Folgen wird der Ausschlag sogar gegen den Freidenker sein, vorausgesetzt, daß
man nicht nach der nächsten und gröbsten Sichtbarkeit das heißt:
nicht wie alle Welt urteilt. Man hat viel von der Verunglimpfung wieder zurückzunehmen,
mit der die Menschen alle jene bedacht haben, welche durch die Tat den Bann einer
Sitte durchbrachen, im allgemeinen heißen sie Verbrecher. Jeder,
der das bestehende Sittengesetz umwarf, hat bisher zuerst immer als schlechter
Mensch gegolten: aber wenn man, wie es vorkam, hinterher es nicht wieder aufzurichten
vermochte und sich damit zufrieden gab, so veränderte sich das Prädikat
allmählich; die Geschichte handelt fast nur von diesen schlechten
Menschen, welche später gutgesprochen worden sind!Ders., Morgenröte, 1881, S. 25-26 |
Werke
und Glaube. Immer noch wird durch die protestantischen Lehrer jener
Grundirrtum fortgepflanzt: daß es nur auf den Glauben ankomme, und daß
aus dem Glauben die Werke notwendig folgen müssen. Dies ist schlechterdings
nicht wahr, aber klingt so verführerisch, daß es schon andere Intelligenzen
als die Luthers (nämlich die des Sokrates und Plato) betört hat: obwohl
der Augenschein aller Erfahrungen aller Tage dagegen spricht. Das zuversichtlichste
Wissen oder Glauben kann nicht die Kraft zur Tat, noch die Gewandtheit zur Tat
geben, es kann nicht die Übung jenes feinen, vielteiligen Mechanismus ersetzen,
welche vorhergegangen sein muß, damit irgend etwas aus einer Vorstellung
sich in Aktion verwandeln könne. Vor allem und zuerst die Werke! Das heißt
Übung, Übung, Übung! Der dazugehörige »Glaube«
wird sich schon einstellen, dessen seid versichert!Ders., Morgenröte, 1881, S. 27 |
Sitte
und Schönheit. Zugunsten der Sitte sei nicht verschwiegen, daß
bei jedem, der sich ihr völlig und von ganzem Herzen und von Anbeging an
unterwirft, die Angriffs- und Verteidigungsorgane die körperlichen
und geistigen verkümmern: das heißt, er wird zunehmend schöner!
Denn die Übung jener Organe und der ihnen entsprechenden Gesinnung ist es,
welche häßlich erhält und häßlicher macht. Der alte
Pavian ist darum häßlicher als der junge, und der weibliche junge Pavian
ist dem Menschen am ähnlichsten: also am schönsten. Hiernach
mache man einen Schluß auf den Ursprung der Schönheit der Weiber!Ders., Morgenröte, 1881, S. 29 |
Die
Tiere und die Moral. Die Praktiken, welche in der verfeinerten Gesellschaft
gefordert werden: das sorgfältige Vermeiden des Lächerlichen, des Auffälligen,
des Anmaßenden, das Zurückstellen seiner Tugenden sowohl wie seiner
heftigeren Begehrungen, das Sich-gleichgeben, Sich-einordnen, Sich-verringern,
dies alles als die gesellschaftliche Moral ist im groben überall bis
in die tiefste Tierwelt hinab zu finden, und erst in dieser Tiefe sehen
wir die Hinterabsicht aller dieser liebenswürdigen Vorkehrungen: man will
seinen Verfolgern entgehen und im Aufsuchen seiner Beute begünstigt sein.
Deshalb lernen die Tiere sich beherrschen und sich in der Weise verstellen, daß
manche zum Beispiel ihre Farben der Farbe der Umgebung anpassen (vermöge
der sogenannten »chromatischen Funktion«), daß sie sich tot
stellen oder die Formen und Farben eines anderen Tieres oder von Sand, Blättern,
Flechten, Schwämmen annehmen (das, was die englischen Forscher mit mimicry
bezeichnen). So verbirgt sich der einzelne unter der Allgemeinschaft des Begriffes
»Mensch« oder unter der Gesellschaft, oder paßt sich an Fürsten,
Stände, Parteien, Meinungen der Zeit oder der Umgebung an: und zu allen den
feinen Arten, uns glücklich, dankbar, mächtig, verliebt zu stellen,
wird man leicht das tierische Gleichnis finden. Auch jenen Sinn für Wahrheit,
der im Grunde der Sinn für Sicherheit ist, hat der Mensch mit dem Tiere gemeinsam:
man will sich nicht täuschen lassen, sich nicht durch sich selber irreführen
lassen, man hört dem Zureden der eigenen Leidenschaften mißtrauisch
zu, man bezwingt sich, und bleibt gegen sich auf der Lauer; dies alles versteht
das Tier gleich dem Menschen, auch bei ihm wächst die Selbstbeherrschung
aus dem Sinn für das Wirkliche (aus der Klugheit) heraus. Ebenfalls beobachtet
es die Wirkungen, die es auf die Vorstellung anderer Tiere ausübt, es lernt
von dort aus auf sich zurückblicken, sich »objektiv« nehmen,
es hat seinen Grad von Selbsterkenntnis. Das Tier beurteilt die Bewegungen seiner
Gegner und Freunde, es lernt ihre Eigentümlichkeiten auswendig, es richtet
sich auf diese ein: gegen einzelne einer bestimmten Gattung gibt es ein für
allemal den Kampf auf und ebenso errät es in der Annäherung mancher
Arten von Tieren die Absicht des Friedens und des Vertrags. Die Anfänge der
Gerechtigkeit, wie die der Klugheit, Mäßigung, Tapferkeit, kurz
alles, was wir mit dem Namen der sokratischen Tugenden bezeichnen, ist
tierhaft: eine Folge jener Triebe, welche lehren, nach Nahrung zu suchen und den
Feinden zu entgehen. Erwägen wir nun, daß auch der höchste Mensch
sich eben nur in der Art seiner Nahrung und in dem Begriff dessen, was ihm alles
feindlich ist, erhoben und verfeinert hat, so wird es nicht unerlaubt sein, das
ganze moralische Phänomen als tierhaft zu bezeichnen.Ders., Morgenröte, 1881, S. 29-30 |
Der
Stolz auf den Geist. Der Stolz des Menschen, der sich gegen
die Lehre der Abstammung von Tieren sträubt und zwischen Natur und Mensch
die große Kluft legt, dieser Stolz hat seinen Grund in einem Vorurteil
über das, was Geist ist: und dieses Vorurteil ist verhältnismäßig
jung. In der großen Vorgeschichte der Menschheit setzte man Geist
überall voraus und dachte nicht daran, ihn als Vorrecht des Menschen zu ehren.
Weil man im Gegenteil das Geistige (nebst allen Trieben, Bosheiten, Neigungen)
zum Gemeingut und folglich gemein gemacht hatte, so schämte man sich nicht,
von Tieren oder Bäumen abzustammen (die vornehmen Geschlechter glaubten
sich durch solche Fabeln geehrt) und sah in dem Geiste das, was uns mit der Natur
verbindet, nicht was uns von ihr abscheidet. So erzog man sich in der Bescheidenheit,
und ebenfalls infolge eines Vorurteils.Ders., Morgenröte, 1881, S. 34 |
Die
Verachtung der Ursachen, der Folgen und der Wirklichkeit. Jene bösen
Zufälle, welche eine Gemeinde treffen, plötzliche Wetter oder Unfruchtbarkeiten
oder Seuchen, leiten alle Mitglieder auf den Argwohn, daß Verstöße
gegen die Sitte begangen sind oder daß neue Gebräuche erfunden werden
müssen, um eine neue dämonische Gewalt und Laune zu beschwichtigen.
Diese Art Argwohn und Nachdenken geht somit gerade der Ergründung der wahren
natürlichen Ursachen aus dem Wege, sie nimmt die dämonische Ursache
als die Voraussetzung. Hier ist die eine Quelle der erblichen Verkehrtheit des
menschlichen Intellekts: und die andere Quelle entspringt daneben, indem man ebenso
grundsätzlich den wahren natürlichen Folgen einer Handlung ein
viel geringeres Augenmerk schenkte, als den übernatürlichen (den sogenannten
Strafen und Gnaden der Gottheit). Es sind zum Beispiel bestimmte Bäder für
bestimmte Zeiten vorgeschrieben: man badet, nicht um rein zu werden, sondern weil
es vorgeschrieben ist. Man lernt nicht die wirklichen Folgen der Unreinlichkeit
fliehen, sondern das vermeintliche Mißfallen der Götter an der Versäumnis
eines Bades. Unter dem Drucke abergläubischer Angst argwöhnt man, es
müsse sehr viel mehr mit diesem Abwaschen der Unreinlichkeit auf sich haben,
man legt zweite und dritte Bedeutungen hinein, man verdirbt sich den Sinn und
die Lust am Wirklichen und hält dies zuletzt, nur insofern es Symbol sein
kann, noch für wertvoll. So verachtet der Mensch im Banne der Sittlichkeit
der Sitte erstens die Ursachen, zweitens die Folgen, drittens die Wirklichkeit,
und spinnt alle seine höheren Empfindungen (der Ehrfurcht, der Erhabenheit,
des Stolzes, der Dankbarkeit, der Liebe) an eine eingebildete Welt an:
die sogenannte höhere Welt. Und noch jetzt sehen wir die Folge: wo das Gefühl
eines Menschen sich erhebt, da ist irgendwie jene eingebildete Welt im Spiel.
Es ist traurig: aber einstweilen müssen dem wissenschaftlichen Menschen alle
höheren Gefühle verdächtig sein, so sehr sind sie mit Wahn
und Unsinn verquickt. Nicht daß sie es an sich oder für immer sein
müßten: aber gewiß wird von allen allmählichen Reinigungen,
welche der Menschheit bevorstehen, die Reinigung der höheren Gefühle
eine der allmählichsten sein.Ders., Morgenröte, 1881, S. 35-36 |
Triebe
durch die moralischen Urteile umgestaltet. Derselbe Trieb entwickelt
sich zum peinlichen Gefühl der Feigheit, unter dem Eindruck des Tadels,
den die Sitte auf diesen Trieb gelegt hat: oder zum angenehmen Gefühl der
Demut, falls eine Sitte, wie die christliche, ihn sich ans Herz gelegt und
gut geheißen hat. Das heißt: es hängt sich ihm entweder ein gutes
oder ein böses Gewissen an! An sich hat er, wie jeder Trieb, weder
dies noch überhaupt einen moralischen Charakter und Namen, noch selbst eine
bestimmte begleitende Empfindung der Lust oder Unlust: er erwirbt dies alles erst,
als seine zweite Natur, wenn er in Relation zu schon auf Gut und Böse getauften
Trieben tritt, oder als Eigenschaft von Wesen bemerkt wird, welche vom Volke schon
moralisch festgestellt und abgeschätzt sind. So haben die älteren
Griechen anders über den Neid empfunden als wir; Hesiod zählt ihn unter
den Wirkungen der guten, wohltätigen Eris auf, und es hatte nichts Anstößiges,
den Göttern etwas Neidisches zuzuerkennen: begreiflich bei einem Zustande
der Dinge, dessen Seele der Wettstreit war; der Wettstreit aber war als gut festgestellt
und abgeschätzt. Ebenfalls waren die Griechen von uns verschieden in der
Abschätzung der Hoffnung: man empfand sie als blind und tückisch;
Hesiod hat das Stärkste über sie in einer Fabel angedeutet, und zwar
etwas so Befremdendes, daß kein neuerer Erklärer es verstanden hat,
denn es geht wider den modernen Geist, welcher vom Christentum her an die
Hoffnung als eine Tugend zu glauben gelernt hat. Bei den Griechen dagegen, welchen
der Zugang zum Wissen der Zukunft nicht gänzlich verschlossen schien, und
denen in zahllosen Fällen eine Anfrage um die Zukunft zur religiösen
Pflicht gemacht wurde, wo wir uns mit der Hoffnung begnügen, mußte
wohl, dank allen Orakeln und Wahrsagern, die Hoffnung etwas degradiert werden
und ins Böse und Gefährliche hinabsinken. Die Juden haben den
Zorn anders empfunden als wir und ihn heilig gesprochen: dafür haben
sie die düstere Majestät des Menschen, mit welcher verbunden er sich
zeigte, unter sich in einer Höhe gesehen, die sich ein Europäer nicht
vorzustellen vermag; sie haben ihren zornigen heiligen Jehova nach ihren zornigen
heiligen Propheten gebildet. An ihnen gemessen, sind die großen Zürner
unter den Europäern gleichsam Geschöpfe aus zweiter Hand.Ders., Morgenröte, 1881, S. 38-39 |
Das
Vorurteil vom »reinen Geiste«. Überall, wo die Lehre
von der reinen Geistigkeit geherrscht hat, hat sie mit ihren Ausschweifungen
die Nervenkraft zerstört: sie lehrte den Körper geringschätzen,
vernachlässigen oder quälen, und um aller seiner Triebe willen den Menschen
selber quälen und geringschätzen; sie gab verdüsterte, gespannte,
gedrückte Seelen, welche noch überdies glaubten, die Ursache
ihres Elend-Gefühls zu kennen und sie vielleicht heben zu können! »Im
Körper muß sie liegen! er blüht immer noch zu sehr!«
so schlossen sie, während tatsächlich derselbe gegen seine fortwährende
Verhöhnung durch seine Schmerzen Einsprache über Einsprache erhob. Eine
allgemeine, chronisch gewordene Übernervosität war endlich das Los jener
tugendhaften Reingeistigen: die Lust lernten sie nur noch in der Form der
Ekstase und anderer Vorläufer des Wahnsinns kennen und ihr System
kam auf seine Spitze, als es die Ekstase als das Höheziel des Lebens und
als den verurteilenden Maßstab für alles Irdische nahm.Ders., Morgenröte, 1881, S. 40 |
Zur
Wertbestimmung der vita contemplativa . Vergessen wir als Menschen
der vita contemplativa nicht, welche Art von Übel und Unsegen durch
die verschiedenen Nachwirkungen der Beschaulichkeit auf die Menschen der vita
activa gekommen ist, kurz, welche Gegenrechnung die vita activa
uns zu machen hat, wenn wir allzu stolz mit unseren Wohltaten uns vor ihr brüsten.
Erstens: die sogenannten religiösen Naturen, welche der Zahl nach
unter den Kontemplativen überwiegen und folglich ihre gemeinste Spezies abgeben,
haben zu allen Zeiten dahin gewirkt, den praktischen Menschen das Leben schwer
zu machen und es ihnen womöglich zu verleiden: den Himmel verdüstern,
die Sonne auslöschen, die Freude verdächtigen, die Hoffnungen entwerten,
die tätige Hand lähmen, das haben sie verstanden, ebenso wie
sie für elende Zeiten und Empfindungen ihre Tröstungen, Almosen, Handreichungen
und Segenssprüche gehabt haben. Zweitens: die Künstler, etwas
seltener als die Religiösen, aber doch immer noch eine häufige Art von
Menschen der vita contemplativa , sind als Personen zumeist unleidlich,
launisch, neidisch, gewaltsam, unfriedlich gewesen: diese Wirkung ist von den
erheiternden und erhebenden Wirkungen ihrer Werke in Abzug zu bringen. Drittens:
die Philosophen, eine Gattung, in der sich religiöse und künstlerische
Kräfte beisammen vorfinden, doch so, daß etwas Drittes, das Dialektische,
die Lust am Demonstrieren, noch daneben Platz hat, sind die Urheber von Übeln
nach der Weise der Religiösen und der Künstler gewesen und haben noch
dazu durch ihren dialektischen Hang vielen Menschen Langeweile gemacht; doch war
ihre Zahl immer sehr klein. Viertens: die Denker und die wissenschaftlichen
Arbeiter; sie waren selten auf Wirkungen aus, sondern gruben sich still ihre Maulwurfslöcher.
So haben sie wenig Verdruß und Unbehagen gemacht und oft als Gegenstand
des Spottes und Gelächters sogar, ohne es zu wollen, den Menschen der vita
activa das Leben erleichtert. Zuletzt ist die Wissenschaft doch etwas sehr
Nützliches für alle geworden: wenn dieses Nutzens halber jetzt sehr
viele zur vita activa Vorherbestimmte sich einen Weg zur Wissenschaft bahnen,
im Schweiße ihres Angesichts und nicht ohne Kopfzerbrechen und Verwünschungen,
so trägt doch an solchem Ungemach die Schar der Denker und wissenschaftlichen
Arbeiter keine Schuld; es ist »selbstgeschaffene Pein«.Ders., Morgenröte, 1881, S. 41-42 |
»Erkenne
dich selbst« ist die ganze Wissenschaft. Erst am Ende der Erkenntnis
aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur
die Grenzen des Menschen.Ders., Morgenröte, 1881, S. 47 |
Das
neue Grundgefühl: unsere endgültige Vergänglichkeit.
Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem
man auf seine göttliche Abkunft hinzeigte: dies ist jetzt ein verbotener
Weg geworden, denn an seiner Tür steht der Affe, nebst anderem greulichen
Getier, und fletscht verständnisvoll die Zähne, wie um zu sagen: nicht
weiter in dieser Richtung! So versucht man es jetzt in der entgegengesetzten Richtung:
der Weg, wohin die Menschheit geht, soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit
und Gottverwandtschaft dienen. Ach, auch damit ist es nichts! Am Ende dieses Weges
steht die Graburne des letzten Menschen und Totengräbers (mit der
Aufschrift »nihil humani a me alienum puto«). Wie hoch die
Menschheit sich entwickelt haben möge und vielleicht wird sie am Ende
gar tiefer als am Anfang stehen! es gibt für sie keinen Übergang
in eine höhere Ordnung, so wenig die Ameise und der Ohrwurm am Ende ihrer
»Erdenbahn« zur Gottverwandtschaft und Ewigkeit emporsteigen. Das
Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her: warum sollte es von diesem ewigen
Schauspiele eine Ausnahme für irgendein Sternchen und wiederum für ein
Gattungchen auf ihm geben! Fort mit solchen Sentimentalitäten!Ders., Morgenröte, 1881, S. 47-48 |
Wo
sind die neuen Ärzte der Seele? Die Mittel des Trostes sind es
gewesen, durch welche das Leben erst jenen leidvollen Grundcharakter, an den man
jetzt glaubt, bekommen hat; die größte Krankheit der Menschen ist aus
der Bekämpfung ihrer Krankheiten entstanden, und die anscheinenden Heilmittel
haben auf die Dauer Schlimmeres erzeugt, als das war, was mit ihnen beseitigt
werden sollte. Aus Unkenntnis hielt man die augenblicklich wirkenden, betäubenden
und berauschenden Mittel, die sogenannten Tröstungen, für die eigentlichen
Heilkräfte, ja man merkte es nicht einmal, daß man diese sofortigen
Erleichterungen oft mit der allgemeinen und tiefen Verschlechterung des Leidens
bezahlte, daß die Kranken an der Nachwirkung des Rausches, später an
der Entbehrung des Rausches und noch später an einem drückenden Gesamtgefühl
von Unruhe, Nervenzittern und Ungesundheit zu leiden hatten. Wenn man bis zu einem
gewissen Grade erkrankt war, genas man nicht mehr, dafür sorgten die
Ärzte der Seele, die allgemein beglaubigten und angebeteten. Man sagt
Schopenhauer nach, und mit Recht, daß er die Leiden der Menschheit endlich
einmal wieder ernst genommen habe: wo ist der, welcher endlich auch einmal die
Gegenmittel gegen diese Leiden ernst nimmt und die unerhörte Quacksalberei
an den Pranger stellt, mit der, unter den herrlichsten Namen, bis jetzt die Menschheit
ihre Seelenkrankheiten zu behandeln gewöhnt ist?Ders., Morgenröte, 1881, S. 49-50 |
Mißbrauch
der Gewissenhaften. Die Gewissenhaften und nicht die Gewissenlosen
waren es, die so furchtbar unter dem Druck von Bußpredigten und Höllenängsten
zu leiden hatten, zumal wenn sie zugleich Menschen der Phantasie waren. Also ist
gerade denen das Leben am meisten verdüstert worden, welche Heiterkeit und
anmutige Bilder nötig hatten nicht nur zu ihrer Erholung und Genesung
von sich selber, sondern damit die Menschheit sich ihrer erfreuen könne und
von ihrer Schönheit einen Strahl in sich hinübernehme. Oh, wie viel
überflüssige Grausamkeit und Tierquälerei ist von jenen Religionen
ausgegangen, welche die Sünde erfunden haben! Und von den Menschen, welche
durch sie den höchsten Genuß ihrer Macht haben wollten!Ders., Morgenröte, 1881, S. 50 |
Gedanken
über die Krankheit! Die Phantasie des Kranken beruhigen, daß
er wenigstens nicht, wie bisher, mehr von seinen Gedanken über seine Krankheit
zu leiden hat als von der Krankheit selber, ich denke, das ist etwas! Und
es ist nicht wenig! Versteht ihr nun unsere Aufgabe?Ders., Morgenröte, 1881, S. 50-51 |
Die
Verzweifelnden. Das Christentum hat den Instinkt des Jägers für
alle die, welche irgendwodurch überhaupt zur Verzweiflung zu bringen sind,
nur eine Auswahl der Menschheit ist deren fähig. Hinter ihnen ist
es immer her, ihnen lauert es auf. Pascal machte den Versuch, ob nicht mit Hilfe
der schneidendsten Erkenntnis jedermann zur Verzweiflung gebracht werden könnte;
der Versuch mißlang, zu seiner zweiten Verzweiflung.Ders., Morgenröte, 1881, S. 57 |
Brahmanen-
und Christentum. Es gibt Rezepte zum Gefühle der Macht, einmal
für solche, welche sich selber beherrschen können und welche bereits
dadurch in einem Gefühle der Macht zu Hause sind; sodann für solche,
welchen gerade dies fehlt. Für Menschen der ersten Gattung hat das Brahmanentum
Sorge getragen, für Menschen der zweiten Gattung das Christentum.Ders., Morgenröte, 1881, S. 57 |
Preis
der Gläubigen. Wer solchen Wert darauf legt, daß an ihn
geglaubt werde, daß er den Himmel für diesen Glauben gewährleistet,
und jedermann, sei es selbst ein Schächer am Kreuze, der muß
an einem furchtbaren Zweifel gelitten und jede Art von Kreuzigung kennen gelernt
haben: er würde sonst seine Gläubigen nicht so teuer kaufen.Ders., Morgenröte, 1881, S. 58 |
Der
erste Christ. Alle Welt glaubt noch immer an die Schriftstellerei des
»heiligen Geistes« oder steht unter der Nachwirkung dieses Glaubens:
wenn man die Bibel aufmacht, so geschieht es, um sich zu »erbauen«,
um in seiner eigenen, persönlichen großen oder kleinen Not einen Fingerzeig
des Trostes zu finden, kurz, man liest sich hinein und sich heraus. Daß
in ihr auch die Geschichte einer der ehrgeizigsten und aufdringlichsten Seelen
und eines ebenso abergläubischen als verschlagenen Kopfes beschrieben steht,
die Geschichte des Apostels Paulus, wer weiß das, einige Gelehrte
abgerechnet? Ohne diese merkwürdige Geschichte aber, ohne die Verwirrungen
und Stürme eines solchen Kopfes, einer solchen Seele, gäbe es keine
Christenheit; kaum würden wir von einer kleinen jüdischen Sekte erfahren
haben, deren Meister am Kreuze starb. Freilich: hätte man eben diese Geschichte
zur rechten Zeit begriffen, hätte man die Schriften des Paulus nicht als
die Offenbarungen des »heiligen Geistes«, sondern mit einem redlichen
und freien eigenen Geiste, und ohne an alle unsere persönliche Not dabei
zu denken, gelesen, wirklich gelesen es gab anderthalb Jahrtausend
keinen solchen Leser , so würde es auch mit dem Christentum längst
vorbei sein: so sehr legen diese Blätter des jüdischen Pascal den Ursprung
des Christentums bloß, wie die Blätter des französischen Pascal
sein Schicksal und das, woran es zugrunde gehen wird, bloßlegen. Daß
das Schiff des Christentums einen guten Teil des jüdischen Ballastes über
Bord warf, daß es unter die Heiden ging und gehen konnte, das hängt
an der Geschichte dieses einen Menschen, eines sehr gequälten, sehr bemitleidenswerten,
sehr unangenehmen und sich selber unangenehmen Menschen. Er litt an einer fixen
Idee, oder deutlicher: an einer fixen, stets gegenwärtigen, nie zur
Ruhe kommenden Frage: welche Bewandtnis es mit dem jüdischen Gesetze habe?
und zwar mit der Erfüllung dieses Gesetzes? In seiner Jugend hatte
er ihm selber genugtun wollen, heißhungrig nach dieser höchsten Auszeichnung,
welche die Juden zu denken vermochten, dieses Volk, welches die Phantasie
der sittlichen Erhabenheit höher als irgendein anderes Volk getrieben hat
und welchem allein die Schöpfung eines heiligen Gottes, nebst dem Gedanken
der Sünde als eines Vergehens an dieser Heiligkeit, gelungen ist. Paulus
war zugleich der fanatische Verteidiger und Ehrenwächter dieses Gottes und
seines Gesetzes geworden und fortwährend im Kampfe und auf der Lauer gegen
die Übertreter und Anzweifler desselben, hart und böse gegen sie und
zum äußersten der Strafen geneigt. Und nun erfuhr er an sich, daß
er hitzig, sinnlich, melancholisch, bösartig im Haß, wie er
war das Gesetz selber nicht erfüllen konnte, ja, was ihm das
Seltsamste schien: daß seine ausschweifende Herrschsucht fortwährend
gereizt wurde, es zu übertreten, und daß er diesem Stachel nachgeben
mußte. Ist es wirklich die »Fleischlichkeit«, welche
ihn immer wieder zum Übertreter macht? Und nicht vielmehr, wie er später
argwöhnte, hinter ihr das Gesetz selber, welches sich fortwährend als
unerfüllbar beweisen muß und mit unwiderstehlichem Zauber zur
Übertretung lockt? Aber damals hatte er diesen Ausweg noch nicht. Vielerlei
lag ihm auf dem Gewissen er deutet hin auf Feindschaft, Mord, Zauberei,
Bilderdienst, Unzucht, Trunkenheit und Lust an ausschweifenden Gelagen
und wie sehr er auch diesem Gewissen, und noch mehr seiner Herrschsucht, durch
den äußersten Fanatismus der Gesetzes-Verehrung und -Verteidigung wieder
Luft zu machen suchte: es kamen Augenblicke, wo er sich sagte: »Es ist alles
umsonst! die Marter des unerfüllten Gesetzes ist nicht zu überwinden.«
Ähnlich mag Luther empfunden haben, als er der vollkommene Mensch des geistlichen
Ideals in seinem Kloster werden wollte: und ähnlich wie Luther, der eines
Tages das geistliche Ideal und den Papst und die Heiligen und die ganze Klerisei
zu hassen begann, mit einem wahren tödlichen Haß, je weniger er ihn
sich eingestehen durfte, ähnlich erging es Paulus. Das Gesetz war
das Kreuz, an welches er sich geschlagen fühlte: wie haßte er es! wie
trug er es ihm nach! wie suchte er herum, um ein Mittel zu finden, es zu vernichten,
nicht mehr es für seine Person zu erfüllen! Und endlich leuchtete
ihm der rettende Gedanke auf, zugleich mit einer Vision, wie es bei diesem Epileptiker
nicht anders zugehen konnte: ihm, dem wütenden Eiferer des Gesetzes, der
innerlich dessen totmüde war, erschien auf einsamer Straße jener Christus,
den Lichtglanz Gottes auf seinem Gesichte, und Paulus hörte die Worte: »warum
verfolgst du mich?« Das Wesentliche, was da geschah, ist aber dies:
sein Kopf war auf einmal hell geworden; »es ist unvernünftig,«
hatte er sich gesagt, »gerade diesen Christus zu verfolgen! Hier ist ja
der Ausweg, hier ist ja die vollkommene Rache, hier und nirgends sonst habe und
halte ich ja den Vernichter des Gesetzes!« Der Kranke des gequältesten
Hochmutes fühlt sich mit einem Schlage wieder hergestellt, die moralische
Verzweiflung ist wie fortgeblasen, denn die Moral ist fortgeblasen, vernichtet,
nämlich erfüllt, dort am Kreuze! Bisher hatte ihm jener
schmähliche Tod als Hauptargument gegen die »Messianität«,
von der die Anhänger der neuen Lehre sprachen, gegolten: wie aber, wenn er
nötig war, um das Gesetz abzutun! Die ungeheuren Folgen dieses
Einfalls, dieser Rätsellösung wirbeln vor seinem Blicke, er wird mit
einem Male der glücklichste Mensch, das Schicksal der Juden, nein,
aller Menschen scheint ihm an diesen Einfall, an diese Sekunde seines plötzlichen
Aufleuchtens gebunden, er hat den Gedanken der Gedanken, den Schlüssel der
Schlüssel, das Licht der Lichter; um ihn selber dreht sich fürderhin
die Geschichte! Denn er ist von jetzt ab der Lehrer der Vernichtung des Gesetzes!
Dem Bösen absterben das heißt, auch dem Gesetz absterben; im
Fleische sein das heißt, auch im Gesetze sein! Mit Christus eins
geworden das heißt, auch mit ihm der Vernichter des Gesetzes geworden;
mit ihm gestorben das heißt, auch dem Gesetze abgestorben! Selbst
wenn es noch möglich wäre, zu sündigen, so doch nicht mehr gegen
das Gesetz, »ich bin außerhalb desselben«. »Wenn ich jetzt
das Gesetz wieder aufnehmen und mich ihm unterwerfen wollte, so würde ich
Christus zum Mithelfer der Sünde machen«; denn das Gesetz war dazu
da, daß gesündigt werde, es trieb die Sünde immer hervor, wie
ein scharfer Saft die Krankheit; Gott hätte den Tod Christi nie beschließen
können, wenn überhaupt ohne diesen Tod eine Erfüllung des Gesetzes
möglich gewesen wäre; jetzt ist nicht nur alle Schuld abgetragen, sondern
die Schuld an sich vernichtet; jetzt ist das Gesetz tot, jetzt ist die Fleischlichkeit,
in der es wohnt, tot oder wenigstens in fortwährendem Absterben, gleichsam
verwesend. Noch kurze Zeit inmitten dieser Verwesung! das ist das Los des
Christen, bevor er, eins geworden mit Christus, aufersteht mit Christus, an der
göttlichen Herrlichkeit teilnimmt mit Christus und »Sohn Gottes«
wird, gleich Christus. Damit ist der Rausch des Paulus auf seinem Gipfel,
und ebenfalls die Zudringlichkeit seiner Seele, mit dem Gedanken des Einswerdens
ist jede Scham, jede Unterordnung, jede Schranke von ihr genommen, und der unbändige
Wille der Herrschsucht offenbart sich als ein vorwegnehmendes Schwelgen in göttlichen
Herrlichkeiten. Dies ist der erste Christ, der Erfinder der Christlichkeit!
Bis dahin gab es nur einige jüdische Sektierer.Ders., Morgenröte, 1881, S. 58-62 |
Unnachahmlich.
Es gibt eine ungeheure Spannung und Spannweite zwischen Neid und Freundschaft,
zwischen Selbstverachtung und Stolz: in der ersten lebte der Grieche, in der zweiten
der Christ.Ders., Morgenröte, 1881, S. 62 |
Wozu
ein grober Intellekt nütze ist. Die christliche Kirche ist eine
Enzyklopädie von vorzeitlichen Kulten und Anschauungen der verschiedensten
Abkunft und deshalb so missionsfähig: sie mochte ehemals, sie mag jetzt kommen,
wohin sie will, sie fand und findet etwas Ähnliches vor, dem sie sich anpassen
und dem sie allmählich ihren Sinn unterschieben kann. Nicht das Christliche
an ihr, sondern das Universal-Heidnische ihrer Gebräuche ist der Grund
für die Ausbreitung dieser Weltreligion; ihre Gedanken, die zugleich im Jüdischen
und im Hellenischen wurzeln, haben von Anbeginn an über die nationalen und
rassemäßigen Absonderungen und Feinheiten, gleich als über Vorurteile,
sich zu erheben gewußt. Man mag diese Kraft, das Verschiedenste ineinander
wachsen zu lassen, immerhin bewundern: nur vergesse man auch die verächtliche
Eigenschaft dieser Kraft nicht, die erstaunliche Grobheit und Genügsamkeit
ihres Intellekts in der Zeit der Kirchenbildung, um dergestalt mit jeder Kost
fürlieb zu nehmen und Gegensätze wie Kieselsteine zu verdauen.Ders., Morgenröte, 1881, S. 63-63 |
Die
christliche Rache an Rom. Nichts ermüdet vielleicht so sehr als
der Anblick eines beständigen Siegers, man hatte Rom zweihundert Jahre
lang ein Volk nach dem andern sich unterwerfen sehen, der Kreis war umspannt,
alle Zukunft schien am Ende, alle Dinge wurden auf einen ewigen Zustand eingerichtet
ja, wenn das Reich baute, so baute man mit dem Hintergedanken des
»aere perennius«; wir, die wir nur die »Melancholie
der Ruinen« kennen, können kaum jene ganz andersartige Melancholie
der ewigen Bauten verstehen, gegen welche man sich zu retten suchen mußte,
wie es gehen wollte, zum Beispiel mit dem Leichtsinne Horazens. Andere
suchten andere Trostmittel gegen die an Verzweiflung grenzende Müdigkeit,
gegen das tötende Bewußtsein, daß alle Gedanken- und Herzensgänge
nunmehr ohne Hoffnung seien, daß überall die große Spinne sitze,
daß sie unerbittlich alles Blut trinken werde, wo es auch noch quelle.
Dieser jahrhundertalte wortlose Haß der ermüdeten Zuschauer gegen Rom,
so weit nur Rom herrschte, entlud sich endlich im Christentum, indem es
Rom, die »Welt« und die »Sünde« in eine Empfindung
zusammenfaßte: man rächte sich an ihm, indem man den plötzlichen
Untergang der Welt sich in der Nähe dachte; man rächte sich an ihm,
indem man wieder eine Zukunft vor sich stellte Rom hatte alles zu seiner
Vorgeschichte und Gegenwart zu machen gewußt und eine Zukunft,
in Vergleich zu welcher Rom nicht mehr als das Wichtigste erschien; man rächte
sich an ihm, indem man vom letzten Gericht träumte, und der
gekreuzigte Jude als Symbol des Heils war der tiefste Spott auf die prachtvollen
römischen Prätoren in der Provinz, denn nun erschienen sie als die Symbole
des Unheils und der zum Untergange reifen »Welt«.Ders., Morgenröte, 1881, S. 90 |
Das
»Nach-dem-Tode«. Das Christentum fand die Vorstellung von
Höllenstrafen im ganzen römischen Reiche vor: über ihr haben die
zahlreichen geheimen Kulte mit besonderem Wohlgefallen gebrütet, als über
dem fruchtbarsten Ei ihrer Macht. Epikur hatte für seinesgleichen nichts
Größeres zu tun geglaubt, als die Wurzeln dieses Glaubens auszureißen:
sein Triumph, der am schönsten im Munde des düsteren und doch hellgewordenen
Jüngers seiner Lehre, des Römers Lukretius, ausklingt, kam zu früh,
das Christentum nahm den bereits verwelkenden Glauben an die unterirdischen
Schrecknisse in seinen besonderen Schutz, und tat klug daran! Wie hätte es
ohne diesen kühnen Griff ins volle Heidentum den Sieg über die Popularität
der Mithras- und Isiskulte davontragen können! So brachte es die Furchtsamen
auf seine Seite, die stärksten Anhänger eines neuen Glaubens!
Die Juden, als ein Volk, welches am Leben hing und hängt, gleich den Griechen
und mehr als die Griechen, hatten jene Vorstellungen wenig angebaut: der endgültige
Tod als die Strafe des Sünders, und niemals wieder auferstehen als äußerste
Drohung, das wirkte schon stark genug auf diese sonderbaren Menschen, welche
ihren Leib nicht loswerden wollten, sondern ihn, mit ihrem verfeinerten Ägyptizismus,
in alle Ewigkeit zu retten hofften. (Ein jüdischer Märtyrer, von dem
im zweiten Buche der Makkabäer zu lesen ist, denkt nicht daran, auf seine
herausgerissenen Eingeweide Verzicht zu leisten: bei der Auferstehung will er
sie haben, so ist es jüdisch!) Den ersten Christen lag der
Gedanke an ewige Qualen ganz fern, sie dachten »vom Tode« erlöst
zu sein und erwarteten von Tag zu Tag eine Verwandlung, und nicht mehr ein Sterben.
(Wie seltsam muß der erste Todesfall unter diesen Wartenden gewirkt haben!
Wie mischten sich da Verwunderung, Frohlocken, Zweifel, Scham, Inbrunst!
wahrlich ein Vorwurf für große Künstler!) Paulus wußte nichts
Besseres seinem Erlöser nachzusagen, als daß er den Zugang zur Unsterblichkeit
für jedermann eröffnet habe, er glaubt noch nicht an die
Auferstehung der Unerlösten, ja infolge seiner Lehre vom unerfüllbaren
Gesetze und vom Tode als Folge der Sünde argwöhnt er, im Grunde sei
bisher niemand (oder sehr wenige, und dann aus Gnade und ohne Verdienst) unsterblich
geworden; jetzt erst beginne die Unsterblichkeit ihre Tore aufzutun,
und zuletzt seien auch für sie sehr wenige auserwählt: wie der Hochmut
des Auserwählten nicht unterlassen kann hinzuzufügen. Anderwärts,
wo der Trieb nach Leben nicht gleich groß war, wie unter Juden und Judenchristen,
und die Aussicht auf Unsterblichkeit nicht ohne weiteres wertvoller erschien als
die Aussicht auf einen endgültigen Tod, wurde jener heidnische und doch auch
nicht ganz unjüdische Zusatz von der Hölle ein erwünschtes Werkzeug
in der Hand der Missionäre: es erhob sich die neue Lehre, daß auch
der Sünder und Unerlöste unsterblich sei, die Lehre vom Ewig-Verdammten,
und sie war mächtiger als der nunmehr ganz verbleichende Gedanke vom endgültigen
Tode. Erst die Wissenschaft hat ihn sich wieder zurückerobern müssen,
und zwar indem sie zugleich jede andere Vorstellung vom Tode und jedes jenseitige
Leben ablehnte. Wir sind um ein Interesse ärmer geworden: das »Nach-dem-Tode«
geht uns nichts mehr an! eine unsägliche Wohltat, welche nur noch
zu jung ist, um als solche weit- und breithin empfunden zu werden. Und
von neuem triumphiert Epikur!Ders., Morgenröte, 1881, S. 64-66 |
Nicht
europäisch und nicht vornehm. Es ist etwas Orientalisches und
etwas Weibliches im Christentum: das verrät sich in dem Gedanken »wen
Gott lieb hat, den züchtigt er«; denn die Frauen im Orient betrachten
Züchtigungen und strenge Abschließung ihrer Person gegen die Welt als
ein Zeichen der Liebe ihres Mannes und beschweren sich, wenn diese Zeichen ausbleiben.Ders., Morgenröte, 1881, S. 67 |
Böse
denken heißt böse machen. Die Leidenschaften werden böse
und tückisch, wenn sie böse und tückisch betrachtet werden. So
ist es dem Christentum gelungen, aus Eros und Aphrodite großen idealfähigen
Mächten höllische Kobolde und Truggeister zu schaffen, durch
die Martern, welche es in dem Gewissen der Gläubigen bei allen geschlechtlichen
Erregungen entstehen ließ. Ist es nicht schrecklich, notwendige und regelmäßige
Empfindungen zu einer Quelle des inneren Elends zu machen und dergestalt das innere
Elend bei jedem Menschen notwendig und regelmäßig machen zu
wollen! Noch dazu bleibt es ein geheimgehaltenes und dadurch tiefer wurzelndes
Elend: denn nicht alle haben den Mut Shakespeares, ihre christliche Verdüsterung
in diesem Punkte so zu bekennen, wie er es in seinen Sonetten getan hat.
Muß denn etwas, gegen das man zu kämpfen, das man in Schranken zu halten
oder sich unter Umständen ganz aus dem Sinne zu schlagen hat, immer böse
heißen! Ist es nicht gemeiner Seelen Art, sich einen Feind immer böse
zu denken! Und darf man Eros einen Feind nennen! An sich ist den geschlechtlichen
wie den mitleidenden und anbetenden Empfindungen gemeinsam, daß hier der
eine Mensch durch sein Vergnügen einem anderen Menschen wohltut, man
trifft derartige wohlwollende Veranstaltungen nicht zu häufig in der Natur!
Und gerade eine solche verlästern und sie durch das böse Gewissen verderben!
Die Zeugung des Menschen mit dem bösen Gewissen verschwistern! Zuletzt
hat diese Verteufelung des Eros einen Komödien-Ausgang bekommen: der »Teufel«
Eros ist allmählich den Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen
geworden, dank der Munkelei und Geheimtuerei der Kirche in allen erotischen Dingen:
sie hat bewirkt, bis in unsere Zeiten hinein, daß die Liebesgeschichte
das einzige wirkliche Interesse wurde, das allen Kreisen gemein ist, in
einer dem Altertum unbegreiflichen Übertreibung, der später einmal auch
noch das Gelächter nachfolgen wird. Unsere ganze Dichterei und Denkerei,
vom Größten bis zum Niedrigsten, ist durch die ausschweifende Wichtigkeit,
mit der die Liebesgeschichte darin als Hauptgeschichte auftritt, gezeichnet und
mehr als gezeichnet: vielleicht daß ihrethalben die Nachwelt urteilt, auf
der ganzen Hinterlassenschaft der christlichen Kultur liege etwas Kleinliches
und Verrücktes.Ders., Morgenröte, 1881, S. 67-68 |
Die
strafende Gerechtigkeit. Unglück und Schuld, diese beiden
Dinge sind durch das Christentum auf eine Waage gesetzt worden: so daß,
wenn das Unglück groß ist, das auf eine Schuld folgt, jetzt immer noch
unwillkürlich die Größe der Schuld selber danach zurückbemessen
wird. Dies aber ist nicht antik, und deshalb gehört die griechische
Tragödie, in der so reichlich und doch in so anderem Sinne von Unglück
und Schuld die Rede ist, zu den großen Befreierinnen des Gemüts, in
einem Maße, wie es die Alten selber nicht empfinden konnten. Sie waren so
harmlos geblieben, zwischen Schuld und Unglück keine »adäquate
Relation« anzusetzen. Die Schuld ihrer tragischen Heroen ist wohl der kleine
Stein, über welchen diese stolpern und deswegen sie wohl den Arm brechen
oder sich ein Auge ausschlagen: die antike Empfindung sagte dazu: »Ja, er
hätte etwas bedachtsamer und weniger übermütig seinen Weg machen
sollen!« Aber erst dem Christentum war es vorbehalten, zu sagen: »Hier
ist ein schweres Unglück und hinter ihm muß eine schwere, gleichschwere
Schuld verborgen liegen, ob wir sie schon nicht deutlich sehen! Empfindest
du Unglücklicher nicht so, so bist du verstockt, du wirst noch Schlimmeres
zu erleben haben!« Sodann gab es im Altertum wirklich noch Unglück,
reines, unschuldiges Unglück; erst im Christentum wird alles Strafe, wohlverdiente
Strafe: es macht die Phantasie des Leidenden auch noch leidend, so daß er
bei allem Übel-ergehen sich moralisch verwerflich und verworfen fühlt.
Arme Menschheit! Die Griechen haben ein eigenes Wort für die Empörung
über das Unglück des andern: dieser Affekt war unter christlichen Völkern
unstatthaft und hat sich wenig entwickelt, und so fehlt ihnen auch der Name für
diesen männlicheren Bruder des Mitleidens.Ders., Morgenröte, 1881, S. 71 |
»In
hoc signo vinces.« So vorgeschritten Europa auch sonst sein mag:
in religiösen Dingen hat es noch nicht die freisinnige Naivität der
alten Brahmanen erreicht, zum Zeichen, daß in Indien vor vier Jahrtausenden
mehr gedacht wurde und mehr Lust am Denken vererbt zu werden pflegte, als jetzt
unter uns. Jene Brahmanen nämlich glaubten erstens, daß die Priester
mächtiger seien als die Götter, und zweitens, daß die Bräuche
es seien, worin die Macht der Priester begriffen liege: weshalb ihre Dichter nicht
müde wurden, die Bräuche (Gebete, Zeremonien, Opfer, Lieder, Metren)
als die eigentlichen Geber alles Guten zu preisen. Wie viel Dichterei und Aberglaube
hier auch immer dazwischengelaufen sein mag: die Sätze sind wahr!
Einen Schritt weiter: und man warf die Götter beiseite, was Europa
auch einmal tun muß! Noch einen Schritt weiter: und man hatte auch die Priester
und Vermittler nicht mehr nötig, und der Lehrer der Religion der Selbsterlösung,
Buddha, trat auf: wie ferne ist Europa noch von dieser Stufe der Kultur!
Wenn endlich auch alle Bräuche und Sitten vernichtet sind, auf welche die
Macht der Götter, der Priester und Erlöser sich stützt, wenn also
die Moral im alten Sinne gestorben sein wird: dann kommt ja was kommt dann?
Doch raten wir nicht herum, sondern sehen wir zunächst zu, daß Europa
nachholt, was in Indien, unter dem Volke der Denker, schon vor einigen Jahrtausenden
als Gebot des Denkens getan wurde! Es gibt jetzt vielleicht zehn bis zwanzig Millionen
Menschen unter den verschiedenen Völkern Europas, welche nicht mehr »an
Gott glauben«, ist es zu viel gefordert, daß sie einander ein
Zeichen geben? Sobald sie sich derartig erkennen, werden sie sich auch
zu erkennen geben, sie werden sofort eine Macht in Europa sein und, glücklicherweise,
eine Macht zwischen den Völkern! Zwischen den Ständen! Zwischen Arm
und Reich! Zwischen Befehlenden und Unterworfenen! Zwischen den unruhigsten und
den ruhigsten, beruhigendsten Menschen!Ders., Morgenröte, 1881, S. 81-82 |
Es
gibt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit. »Die Sittlichkeit
leugnen« das kann einmal heißen: leugnen, daß
die sittlichen Motive, welche die Menschen angeben, wirklich sie zu ihren
Handlungen getrieben haben, es ist also die Behauptung, daß die Sittlichkeit
in Worten bestehe und zur groben und feinen Betrügerei (namentlich Selbstbetrügerei)
der Menschen gehöre, und vielleicht gerade bei den durch Tugend Berühmtesten
am meisten. Sodann kann es heißen: leugnen, daß die sittlichen
Urteile auf Wahrheiten beruhen. Hier wird zugegeben, daß sie Motive des
Handelns wirklich sind, daß aber auf diese Weise Irrtümer, als
Grund alles sittlichen Urteilens, die Menschen zu ihren moralischen Handlungen
treiben. Dies ist mein Gesichtspunkt: doch möchte ich am wenigsten verkennen,
daß in sehr vielen Fällen ein feines Mißtrauen nach Art
des ersten Gesichtspunktes, also im Geiste des Larochefoucauld, auch im Rechte
und jedenfalls vom höchsten allgemeinen Nutzen ist. Ich leugne also
die Sittlichkeit wie ich die Alchimie leugne, das heißt ich leugne ihre
Voraussetzungen: nicht aber, daß es Alchimisten gegeben hat, welche
an diese Voraussetzungen glaubten und auf sie hin handelten. Ich leugne
auch die Unsittlichkeit: nicht, daß zahllose Menschen sich unsittlich
fühlen, sondern daß es einen Grund in der Wahrheit gibt,
sich so zu fühlen. Ich leugne nicht, wie sich von selber versteht
vorausgesetzt, daß ich kein Narr bin , daß viele Handlungen,
welche unsittlich heißen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls,
daß viele, die sittlich heißen, zu tun und zu fördern sind
aber ich meine: das eine wie das andere aus anderen Gründen als bisher.
Wir haben umzulernen, um endlich, vielleicht sehr spät, noch
mehr zu erreichen: umzufühlen.Ders., Morgenröte, 1881, S. 85-86 |
Unsere
Wertschätzungen. Alle Handlungen gehen auf Wertschätzungen
zurück, alle Wertschätzungen sind entweder eigene oder angenommene,
letztere bei weitem die meisten. Warum nehmen wir sie an? Aus Furcht,
das heißt: wir halten es für ratsamer, uns so zu stellen, als ob sie
auch die unsrigen wären und gewöhnen uns an diese Verstellung,
so daß sie zuletzt unsere Natur ist. Eigene Wertschätzung: das will
besagen, eine Sache in bezug darauf messen, wie weit sie gerade uns und niemandem
anderen Lust oder Unlust macht, etwas äußerst Seltenes!
Aber wenigstens muß doch unsre Wertschätzung des anderen, in der das
Motiv dafür liegt, daß wir uns in den meisten Fällen seiner Wertschätzung
bedienen, von uns ausgehen, unsere eigene Bestimmung sein? Ja, aber als
Kinder machen wir sie und lernen selten wieder um; wir sind meist zeitlebens
die Narren kindlicher angewöhnter Urteile in der Art, wie wir über unsre
Nächsten (deren Geist, Rang, Moralität, Vorbildlichkeit, Verwerflichkeit)
urteilen und es nötig finden, vor ihren Wertschätzungen zu huldigen.Ders., Morgenröte, 1881, S. 86 |
Der
Schein-Egoismus. Die allermeisten, was sie auch immer von ihrem »Egoismus«
denken und sagen mögen, tun trotzdem ihr Leben lang nichts für ihr ego,
sondern nur für das Phantom von ego, welches sich in den Köpfen
ihrer Umgebung über sie gebildet und sich ihnen mitgeteilt hat; infolgedessen
leben sie alle zusammen in einem Nebel von unpersönlichen, halbpersönlichen
Meinungen und willkürlichen, gleichsam dichterischen Wertschätzungen,
einer immer im Kopfe des andern, und dieser Kopf wieder in anderen Köpfen:
eine wunderliche Welt der Phantasmen, welche sich dabei einen so nüchternen
Anschein zu geben weiß! Dieser Nebel von Meinungen und Gewöhnungen
wächst und lebt fast unabhängig von den Menschen, die er einhüllt;
in ihm liegt die ungeheure Wirkung allgemeiner Urteile über »den Menschen«,
alle diese sich selber unbekannten Menschen glauben an das blutlose Abstraktum
»Mensch«, das heißt an eine Fiktion; und jede Veränderung,
die mit diesem Abstraktum vorgenommen wird, durch die Urteile einzelner Mächtiger
(wie Fürsten und Philosophen), wirkt außerordentlich und in unvernünftigem
Maße auf die große Mehrzahl, alles aus dem Grunde, daß
jeder einzelne in dieser Mehrzahl kein wirkliches, ihm zugängliches und von
ihm ergründetes ego der allgemeinen blassen Fiktion entgegenzustellen
und sie damit zu vernichten vermag.Ders., Morgenröte, 1881, S. 86-87 |
Gegen
die Definitionen der moralischen Ziele. Man hört allerwärts
jetzt das Ziel der Moral ungefähr so bestimmt: es sei die Erhaltung und Förderung
der Menschheit; aber das heißt eine Formel haben wollen, und weiter nichts.
Erhaltung, worin? muß man sofort dagegen fragen, Förderung,
wohin? Ist nicht gerade das Wesentliche, die Antwort auf dieses Worin?
und Wohin? in der Formel ausgelassen? Was läßt sich also mit ihr für
die Pflichtenlehre festsetzen, was nicht schon, stillschweigend und gedankenlos,
jetzt als festgesetzt gilt! Kann man aus ihr genügend absehen, ob man eine
möglichst lange Existenz der Menschheit ins Auge zu fassen habe? Oder die
möglichste Enttierung der Menschheit? Wie verschieden würden in beiden
Fällen die Mittel, das heißt die praktische Moral, sein müssen!
Gesetzt, man wollte der Menschheit die höchste ihr mögliche Vernünftigkeit
geben: dies hieße gewiß nicht ihr die höchste ihr mögliche
Dauer verbürgen! Oder gesetzt, man dächte an ihr »höchstes
Glück« als das Wohin und Worin: meint man dann den höchsten Grad,
den allmählich einzelne Menschen erreichen könnten? Oder eine, übrigens
gar nicht zu berechnende, letztens erreichbare Durchschnitts-Glückseligkeit
aller? Und warum wäre die Moralität gerade der Weg dahin? Ist nicht
durch sie, im großen gesehen, eine solche Fülle von Unlust-Quellen
aufgetan worden, daß man eher urteilen könnte, mit jeder Verfeinerung
der Sittlichkeit sei der Mensch bisher mit sich, mit seinem Nächsten und
mit seinem Lose des Daseins unzufriedener geworden? Ist nicht der bisher
moralischste Mensch des Glaubens gewesen, der einzig berechtigte Zustand des Menschen
im Angesichte der Moral sei die tiefste Unseligkeit?Ders., Morgenröte, 1881, S. 87-88 |
Es
ist nicht wahr, daß die Moralität, wie das Vorurteil will, der Entwicklung
der Vernunft günstiger sei als die Unmoralität. Es ist nicht
wahr, daß das unbewußte Ziel in der Entwicklung jedes bewußten
Wesens (Tier, Mensch, Menschheit usw.) sein »höchstes Glück«
sei: vielmehr gibt es auf allen Stufen der Entwicklung ein besonderes und unvergleichbares,
weder höheres noch niederes, sondern eben eigentümliches Glück
zu erlangen. Entwicklung will nicht Glück, sondern Entwicklung und weiter
nichts. Nur wenn die Menschheit ein allgemein anerkanntes Ziel hätte,
könnte man vorschlagen »so und so soll gehandelt werden«: einstweilen
gibt es kein solches Ziel. Also soll man die Forderungen der Moral nicht in Beziehung
zur Menschheit setzen, es ist dies Unvernunft und Spielerei. Der Menschheit
ein Ziel anempfehlen ist etwas ganz anderes: dann ist das Ziel als etwas
gedacht, das in unserem Belieben ist; gesetzt, es beliebte der Menschheit
so wie vorgeschlagen wird, so könnte sie sich darauf hin auch ein Moralgesetz
geben, ebenfalls aus ihrem Belieben heraus. Aber bisher sollte das Moralgesetz
über dem Belieben stehen: man wollte dies Gesetz sich nicht eigentlich geben,
sondern es irgendwoher nehmen oder irgendwo es auffinden oder irgendwoher
es sich befehlen lassen.Ders., Morgenröte, 1881, S. 120 |
Sokrates
und Plato, in diesem Stücke große Zweifler und bewunderungswürdige
Neuerer, waren doch harmlos gläubig in betreff jenes verhängnisvollsten
Vorurteils, jenes tiefsten Irrtums, daß »der richtigen Erkenntnis
die richtige Handlung folgen müsse«, sie waren in diesem
Grundsatze immer noch die Erben des allgemeinen Wahnsinns und Dünkels: daß
es ein Wissen um das Wesen einer Handlung gebe. »Es wäre ja schrecklich,
wenn der Einsicht in das Wesen der rechten Tat nicht die rechte Tat folgte«,
dies ist die einzige Art, wie jene Großen diesen Gedanken zu beweisen
für nötig hielten, das Gegenteil schien ihnen undenkbar und toll
und doch ist dies Gegenteil gerade die nackte, seit Ewigkeiten täglich und
stündlich bewiesene Wirklichkeit! Ist es nicht gerade die »schreckliche«
Wahrheit: daß, was man von einer Tat überhaupt wissen kann, niemals
ausreicht, sie zu tun, daß die Brücke von der Erkenntnis zur Tat in
keinem einzigen Falle bisher geschlagen worden ist? Die Handlungen sind niemals
das, als was sie uns erscheinen! Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen,
daß die äußeren Dinge nicht so sind, wie sie uns erscheinen,
nun wohlan! mit der inneren Welt steht es ebenso!Ders., Morgenröte, 1881, S. 102-103 |
Was
ist denn der Nächste! Was begreifen wir denn von unserm Nächsten
als seine Grenzen, ich meine das, womit er sich auf und an uns gleichsam einzeichnet
und eindrückt ? Wir begreifen nichts von ihm als die Veränderungen
an uns, deren Ursache er ist, unser Wissen von ihm gleicht einem hohlen
geformten Raume. Wir legen ihm die Empfindungen bei, die seine Handlungen
in uns hervorrufen, und geben ihm so eine falsche, umgekehrte Positivität.
Wir bilden ihn nach unsrer Kenntnis von uns, zu einem Satelliten unsres eigenen
Systems: und wenn er uns leuchtet oder sich verfinstert, und wir von beidem die
letzte Ursache sind, so glauben wir doch das Gegenteil! Welt der Phantome,
in der wir leben! Verkehrte, umgestülpte, leere, und doch voll und
gerade geträumte Welt!Ders., Morgenröte, 1881, S. 105 |
»Ursache
und Wirkung!« Auf diesem Spiegel und unser Intellekt ist
ein Spiegel geht etwas vor, das Regelmäßigkeit zeigt, ein bestimmtes
Ding folgt jedesmal wieder auf ein anderes bestimmtes Ding das nennen
wir, wenn wir es wahrnehmen und nennen wollen, Ursache und Wirkung, wir Toren!
Als ob wir da irgend etwas begriffen hätten und begreifen könnten! Wir
haben ja nichts gesehen als die Bilder von »Ursachen und Wirkungen«!
Und eben diese Bildlichkeit macht ja die Einsicht in eine wesentlichere
Verbindung, als die der Aufeinanderfolge ist, unmöglich!Ders., Morgenröte, 1881, S. 109 |
Die
Zwecke in der Natur. Wer, als unbefangener Forscher, der Geschichte
des Auges und seiner Formen bei den niedrigsten Geschöpfen nachgeht und das
ganze schrittweise Werden des Auges zeigt, muß zu dem großen Ergebnis
kommen: daß das Sehen nicht die Absicht bei der Entstehung des Auges
gewesen ist, vielmehr sich eingestellt hat, als der Zufall den Apparat
zusammengebracht hatte. Ein einziges solches Beispiel: und die »Zwecke«
fallen uns wie Schuppen von den Augen!Ders., Morgenröte, 1881, S. 110 |
Vernunft.
Wie die Vernunft in die Welt gekommen ist? Wie billig auf eine unvernünftige
Weise, durch einen Zufall. Man wird ihn erraten müssen wie ein Rätsel.Ders., Morgenröte, 1881, S. 110 |
Was
ist Wollen! Wir lachen über den, welcher aus seiner Kammer tritt,
in der Minute, da die Sonne aus der ihren tritt, und sagt: »ich will, daß
die Sonne aufgehe«; und über den, welcher ein Rad nicht aufhalten kann
und sagt: »ich will, daß es rolle«; und über den,
welcher im Ringkampf niedergeworfen wird und sagt: »hier liege ich, aber
ich will hier liegen!« Aber, trotz allem Gelächter! Machen wir
es denn jemals anders als einer von diesen dreien, wenn wir das Wort gebrauchen:
»ich will«?Ders., Morgenröte, 1881, S. 110 |
Vom
»Reiche der Freiheit«. Wir können viel, viel mehr
Dinge denken, als tun und erleben, das heißt unser Denken ist oberflächlich
und zufrieden mit der Oberfläche, ja es merkt sie nicht. Wäre unser
Intellekt streng nach dem Maße unserer Kraft und unserer Übung der
Kraft entwickelt, so würden wir den Grundsatz zu oberst in unserem
Denken haben, daß wir nur begreifen können, was wir tun können,
wenn es überhaupt ein Begreifen gibt. Der Durstige entbehrt des Wassers,
aber seine Gedankenbilder führen ihm unaufhörlich das Wasser vor die
Augen, wie als ob nichts leichter zu beschaffen wäre, die oberflächliche
und leicht zufriedengestellte Art des Intellektes kann das eigentliche notleidende
Bedürfnis nicht fassen und fühlt sich dabei überlegen: er ist stolz
darauf, mehr zu können, schneller zu laufen, im Augenblick fast am Ziele
zu sein, und so erscheint das Reich der Gedanken im Vergleich mit dem Reiche
des Tuns, Wollens und Erlebens als ein Reich der Freiheit: während
es, wie gesagt, nur ein Reich der Oberfläche und der Genügsamkeit ist.Ders., Morgenröte, 1881, S. 110-111 |
Vergessen.
Daß es ein Vergessen gibt, ist noch nicht bewiesen; was wir wissen,
ist allein, daß die Wiedererinnerung nicht in unserer Macht steht. Vorläufig
haben wir in diese Lücke unserer Macht jenes Wort »Vergessen«
gesetzt: gleich als ob es ein Vermögen mehr im Register sei. Aber was steht
zuletzt in unserer Macht! Wenn jenes Wort in einer Lücke unserer Macht
steht, sollten nicht die anderen Worte in einer Lücke unseres Wissens
um unsere Macht stehen?Ders., Morgenröte, 1881, S. 111 |
Nach
Zwecken. Von allen Handlungen werden wohl am wenigsten die nach Zwecken
verstanden, weil sie immer als die verständlichsten gegolten haben und für
unser Bewußtsein das Alltäglichste sind. Die großen Probleme
liegen auf der Gasse.Ders., Morgenröte, 1881, S. 111 |
Der
Traum und die Verantwortlichkeit. In allem wollt ihr verantwortlich
sein! Nur nicht für eure Träume! Welche elende Schwächlichkeit
welcher Mangel an folgerichtigem Mute! Nichts ist mehr euer Eigen als eure Träume!
Nichts mehr euer Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer in diesen
Komödien seid ihr alles ihr selber! Und hier gerade scheut und schämt
ihr euch vor euch, und schon Ödipus, der weise Ödipus, wußte sich
Trost aus dem Gedanken zu schöpfen, daß wir nichts für das können,
was wir träumen! Ich schließe daraus: daß die große Mehrzahl
der Menschen sich abscheulicher Träume bewußt sein muß. Wäre
es anders: wie sehr würde man seine nächtliche Dichterei für den
Hochmut des Menschen ausgebeutet haben! Muß ich hinzufügen,
daß der weise Ödipus recht hatte, daß wir wirklich nicht für
unsere Träume aber ebensowenig für unser Wachen verantwortlich
sind, und daß die Lehre von der Freiheit des Willens im Stolz und Machtgefühl
des Menschen ihren Vater und ihre Mutter hat? Ich sage dies vielleicht zu oft:
aber wenigstens wird es dadurch noch nicht zum Irrtum.Ders., Morgenröte, 1881, S. 112 |
Die
moralischen Moden. Wie sich die moralischen Gesamt-Urteile verschoben
haben! Diese größten Wunder der antiken Sittlichkeit, zum Beispiel
Epiktet, wußten nichts von der jetzt üblichen Verherrlichung des Denkens
an andere, des Lebens für andere; man würde sie nach unserer moralischen
Mode geradezu unmoralisch nennen müssen, denn sie haben sich mit allen Kräften
für ihr ego und gegen die Mitempfindung mit den anderen (namentlich
mit deren Leiden und sittlichen Gebrechen) gewehrt. Vielleicht daß sie uns
antworten würden: »habt ihr an euch selber einen so langweiligen oder
häßlichen Gegenstand, so denkt doch ja an andere mehr als an euch!
Ihr tut gut daran!«Ders., Morgenröte, 1881, S. 120 |
Aus
dem allen folgt, daß, selbst für den günstigsten Fall, im Leiden
etwas Erniedrigendes und im Mitleiden etwas Erhöhendes und Überlegenheit-Gebendes
liegt; was beide Empfindungen auf ewig voneinander trennt.Ders., Morgenröte, 1881, S. 125 |
Angeblich
höher! Ihr sagt, die Moral des Mitleidens ist eine höhere
Moral als die des Stoizismus? Beweist es! aber bemerkt, daß über »höher«
und »niedriger« in der Moral nicht wiederum nach moralischen Ellen
abzumessen ist: denn es gibt keine absolute Moral. Nehmt also die Maßstäbe
anderswo her und nun seht euch vor!Ders., Morgenröte, 1881, S. 126 |
Wehe,
wenn dieser Trieb erst wütet! Gesetzt, der Trieb der Anhänglichkeit
und Fürsorge für andere (die »sympathische Affektion«) wäre
doppelt so stark, als er ist, so wäre es gar nicht auf der Erde auszuhalten.
Man bedenke doch nur, was jeder aus Anhänglichkeit und Fürsorge für
sich selber an Torheiten begeht, täglich und stündlich, und wie
unausstehlich er dabei anzusehn ist: wie wäre es, wenn wir für andere
das Objekt dieser Torheiten und Zudringlichkeiten wür den, mit denen sie
sich bisher nur selber heimgesucht haben! Würde man dann nicht blindlings
flüchten, sobald ein »Nächster« uns nahe käme? Und
die sympathische Affektion mit ebenso bösen Worten belegen, mit denen wir
jetzt den Egoismus belegen?Ders., Morgenröte, 1881, S. 130 |
»Unegoistisch!«
Jener ist hohl und will voll werden, dieser ist überfüllt und
will sich ausleeren, beide treibt es, sich ein Individuum zu suchen, das
ihnen dazu dient. Und diesen Vorgang, im höchsten Sinne verstanden, nennt
man beidemal mit einem Worte: Liebe, wie? die Liebe sollte etwas Unegoistisches
sein?Ders., Morgenröte, 1881, S. 131 |
Dürfen
wir unsern Nächsten nicht wenigstens so behandeln, wie wir uns behandeln?Ders., Morgenröte, 1881, S. 132 |
Gesetzt,
wir hätten den Sinn der Aufopferung für uns: was würde uns verbieten,
den Nächsten mit aufzuopfern?Ders., Morgenröte, 1881, S. 132 |
Warum
sollten den kommenden Geschlechtern nicht einige Individuen der gegenwärtigen
Geschlechter zum Opfer gebracht werden dürfen? so daß ihr Gram, ihre
Unruhe, ihre Verzweiflung, ihre Fehlgriffe und Angstschritte für nötig
befunden würden, weil eine neue Pflugschar den Boden brechen und fruchtbar
für alle machen solle?Ders., Morgenröte, 1881, S. 132 |
Endlich:
wir teilen zugleich die Gesinnung an den Nächsten mit, in der er sich als
Opfer fühlen kann, wir überreden ihn zu der Aufgabe, für
die wir ihn benützen. Sind wir denn ohne Mitleid? Aber wenn wir auch über
unser Mitleid hinweg gegen uns selber den Sieg erringen wollen, ist dies nicht
eine höhere und freiere Haltung und Stimmung als jene, bei der man sich sicher
fühlt, wenn man herausgebracht hat, ob eine Handlung dem Nächsten wohl
oder wehe tut? Wir dagegen würden doch durch das Opfer in welchem
wir und die Nächsten einbegriffen sind das allgemeine Gefühl
der menschlichen Macht stärken und höher heben, gesetzt auch,
daß wir nicht mehr erreichten. Aber schon dies wäre eine positive Vermehrung
des Glücks. Zuletzt, wenn dies sogar doch hier
kein Wort mehr! Ein Blick genügt, ihr habt mich verstanden.Ders., Morgenröte, 1881, S. 132-133 |
Ausblick
in die Ferne. Sind nur die Handlungen moralisch, wie man wohl definiert
hat, welche um des anderen willen und nur um seinetwillen getan werden, so gibt
es keine moralischen Handlungen! Sind nur die Handlungen moralisch wie
eine andere Definition lautet , welche in Freiheit des Willens getan werden,
so gibt es ebenfalls keine moralischen Handlungen! Und was ist also das,
was man so nennt und das doch jedenfalls existiert und erklärt sein
will? Es sind die Wirkungen einiger intellektuellen Fehlgriffe. Und gesetzt,
man machte sich von diesen Irrtümern frei, was würde aus den »moralischen
Handlungen«? Vermöge dieser Irrtümer teilten wir bisher
einigen Handlungen einen höheren Wert zu, als sie haben: wir trennten sie
von den »egoistischen« und den »unfreien« Handlungen ab.
Wenn wir sie jetzt diesen wieder zuordnen, wie wir tun müssen, so verringern
wir gewiß ihren Wert (ihr Wertgefühl), und zwar unter das billige Maß
hinab, weil die »egoistischen« und »unfreien« Handlungen
bisher zu niedrig geschätzt wurden, auf Grund jener angeblichen tiefsten
und innerlichsten Verschiedenheit. So werden gerade sie von jetzt ab weniger
oft getan werden, weil sie von nun an weniger geschätzt werden? Unvermeidlich!
Wenigstens für eine gute Zeit, solange die Waage des Wertgefühls unter
der Reaktion früherer Fehler steht! Aber unsere Gegenrechnung ist die, daß
wir den Menschen den guten Mut zu den als egoistisch verschrienen Handlungen zurückgeben
und den Wert derselben wiederherstellen, wir rauben diesen das
böse Gewissen! Und da diese bisher weit die häufigsten waren und
in alle Zukunft es sein werden, so nehmen wir dem ganzen Bilde der Handlungen
und des Lebens seinen bösen Anschein! Dies ist ein sehr hohes Ergebnis!
Wenn der Mensch sich nicht mehr für böse hält, hört er auf,
es zu sein!Ders., Morgenröte, 1881, S. 133-134 |
Kleine
abweichende Handlungen tun not! In den Angelegenheiten der Sitte auch
einmal wider seine bessere Einsicht handeln; hier in der Praxis nachgeben und
sich die geistige Freiheit vorbehalten; es so machen wie alle und damit allen
eine Artigkeit und Wohltat erweisen, zur Entschädigung gleichsam für
das Abweichende unserer Meinungen: das gilt bei vielen leidlich freigesinnten
Menschen nicht nur als unbedenklich, sondern als »honett«, »human«,
»tolerant«, »nicht pedantisch«, und wie die schönen
Worte lauten mögen, mit denen das intellektuelle Gewissen in Schlaf gesungen
wird: und so bringt dieser sein Kind zur christlichen Taufe herzu und ist dabei
Atheist, und jener tut Kriegsdienste wie alle Welt, so sehr er auch den Völkerhaß
verdammt, und ein dritter läuft mit einem Weibchen in die Kirche, weil es
eine fromme Verwandtschaft hat, und macht Gelübde vor einem Priester, ohne
sich zu schämen. »Es ist nicht wesentlich, wenn unsereiner auch
tut, was alle immerdar tun und getan haben« so klingt das grobe Vorurteil!
Der grobe Irrtum! Denn es gibt nichts Wesentlicheres, als wenn das
bereits Mächtige, Altherkömm liche und vernunftlos Anerkannte durch
die Handlung eines anerkannt Vernünftigen noch einmal bestätigt wird:
damit erhält es in den Augen aller die davon hören, die Sanktion der
Vernunft selber! Alle Achtung vor euren Meinungen! Aber kleine abweichende
Handlungen sind mehr wert!Ders., Morgenröte, 1881, S. 135 |
Der
Zufall der Ehen. Wäre ich ein Gott, und ein wohlwollender Gott,
so würden mich die Ehen der Menschen mehr als alles andere ungeduldig
machen. Weit, weit kann ein einzelner vorwärts kommen, in seinen siebenzig,
ja in seinen dreißig Jahren es ist zum Erstaunen, selbst für
Götter! Aber sieht man dann, wie er das Erbe und Vermächtnis dieses
Ringens und Siegens, den Lorbeer seiner Menschlichkeit, an den ersten besten Ort
aufhängt, wo ihn ein Weiblein zerpflückt: sieht man, wie gut er zu erringen,
wie schlecht zu bewahren versteht, ja wie er gar nicht daran denkt, daß
er vermittelst der Zeugung ein noch siegreicheres Leben vorbereiten könne:
so wird man, wie gesagt, ungeduldig und sagt sich »es kann aus der Menschheit
auf die Dauer nichts werden, die einzelnen werden verschwendet, der Zufall der
Ehen macht alle Vernunft eines großen Ganges der Menschheit unmöglich
hören wir auf, die eifrigen Zuschauer und Narren dieses Schauspiels
ohne Ziel zu sein!« In dieser Stimmung zogen sich einstmals die Götter
Epikurs in ihre göttliche Stille und Seligkeit zurück: sie waren der
Menschen und ihrer Liebeshändel müde.Ders., Morgenröte, 1881, S. 135-136 |
Hier
sind neue Ideale zu erfinden. Es sollte nicht erlaubt sein, im Zustande
der Verliebtheit einen Entschluß über sein Leben zu fassen und einer
heftigen Grille wegen den Charakter seiner Gesellschaft ein für allemal festzusetzen:
man sollte die Schwüre der Liebenden öffentlich für ungültig
erklären und ihnen die Ehe verweigern: und zwar, weil man die Ehe
unsäglich wichtiger nehmen sollte! so daß sie in solchen Fällen,
wo sie bisher zustande kam, für gewöhnlich gerade nicht zustande käme!
Sind nicht die meisten Ehen der Art, daß man keinen dritten als Zeugen wünscht?
Und gerade dieser dritte fehlt fast nie das Kind und ist mehr als
ein Zeuge, nämlich der Sündenbock!Ders., Morgenröte, 1881, S. 136 |
Eidformel.
»Wenn ich jetzt lüge, so bin ich kein anständiger Mensch
mehr, und jeder soll es mir ins Gesicht sagen dürfen.« Diese
Formel empfehle ich an Stelle des gerichtlichen Eides und der üblichen Anrufung
Gottes dabei: sie ist stärker. Auch der Fromme hat keinen Grund, sich
ihr zu widersetzen: sobald nämlich der bisherige Eid nicht mehr hinreichend
nützt, muß der Fromme auf seinen Katechismus hören, welcher vorschreibt
»du sollst den Namen Gottes deines Herrn nicht unnützlich führen!«Ders., Morgenröte, 1881, S. 137 |
Ein
Unzufriedener. Das ist einer jener alten Tapferen: er ärgert sich
über die Zivilisation, weil er meint, dieselbe ziele darauf, alle guten Dinge,
Ehren, Schätze, schöne Weiber auch den Feigen zugänglich
zu machen.Ders., Morgenröte, 1881, S. 137 |
Trost
der Gefährdeten. Die Griechen, in einem Leben, welches großen
Gefahren und Umstürzen sehr nahe stand, suchten im Nachdenken und Erkennen
eine Art Sicherheit des Gefühls und letztes refugium. Wir, in einem
unvergleichlich sichreren Zustande, haben die Gefährlichkeit ins Nachdenken
und Erkennen getragen und erholen und beruhigen uns von ihr am Leben.Ders., Morgenröte, 1881, S. 138 |
Erloschene
Skepsis. Kühne Wagnisse sind in der neuen Zeit seltener als in
der alten und mittelalterlichen wahrscheinlich deshalb, weil die neue Zeit
nicht mehr den Glauben an Vorzeichen, Orakel, Gestirne und Wahrsager hat. Das
heißt: wir sind dazu unfähig geworden, an eine uns bestimmte Zukunft
zu glauben, so wie die Alten glaubten, welche anders als wir
in Beziehung auf das, was kommt, viel weniger Skeptiker waren als in Beziehung
auf das, was da ist.Ders., Morgenröte, 1881, S. 138 |
Aus
Übermut böse. »Daß wir uns nur nicht zu wohl
fühlen!« das war die heimliche Herzensangst der Griechen in
der guten Zeit. Deshalb predigten sie sich das Maß. Und wir!Ders., Morgenröte, 1881, S. 138 |
Kultus
der »Naturlaute«. Wohin weist es, daß unsre Kultur
gegen die Äußerungen des Schmerzes, gegen Tränen, Klagen, Vorwürfe,
Gebärden der Wut oder der Demütigung, nicht nur geduldig ist, daß
sie dieselben gut heißt und unter die edleren Unvermeidlichkeiten rechnet?
während der Geist der antiken Philosophie mit Verachtung auf sie sah
und ihnen durchaus keine Notwendigkeit zuerkannte. Man erinnere sich doch, wie
Plato das heißt: keiner von den unmenschlichsten Philosophen
von dem Philoktet der tragischen Bühne redet. Sollte unsrer modernen Kultur
vielleicht »die Philosophie« fehlen? Sollten wir, nach der Abschätzung
jener alten Philosophen, vielleicht samt und sonders zum »Pöbel«
gehören?Ders., Morgenröte, 1881, S. 138 |
Klima
des Schmeichlers. Die hündischen Schmeichler muß man jetzt
nicht mehr in der Nähe der Fürsten suchen diese haben alle den
militärischen Geschmack, und der Schmeichler geht wider diesen. Aber in der
Nähe der Bankiers und Künstler wächst jene Blume auch jetzt noch.Ders., Morgenröte, 1881, S. 139 |
Die
Totenerwecker. Eitle Menschen schätzen ein Stück Vergangenheit
von dem Augenblick an höher, von dem an sie es nachzuempfinden vermögen
(zumal wenn dies schwierig ist), ja sie wollen es womöglich jetzt wieder
von den Toten erwecken. Da der Eiteln aber immer eine Unzahl da ist, so ist die
Gefahr der historischen Studien, sobald eine ganze Zeit ihnen obliegt, in der
Tat nicht gering: es wird zu viel Kraft an alle möglichen Toten-Erweckungen
weggeworfen. Vielleicht versteht man die ganze Bewegung der Romantik am besten
aus diesem Gesichtspunkte.Ders., Morgenröte, 1881, S. 139 |
Eitel,
begehrlich und wenig weise. Eure Begierden sind größer als
euer Verstand, und eure Eitelkeit ist noch größer als eure Begierden
solchen Menschen, wie ihr seid, ist von Grund aus recht viel christliche
Praxis und dazu ein wenig Schopenhauersche Theorie anzuraten!Ders., Morgenröte, 1881, S. 139 |
Schönheit
gemäß dem Zeitalter. Wenn unsere Bildhauer, Maler und Musiker
den Sinn der Zeit treffen wollen, so müssen sie die Schönheit gedunsen,
riesenhaft und nervös bilden: so wie die Griechen, im Banne ihrer Moral des
Maßes, die Schönheit als Apollo vom Belvedere sahen und bildeten. Wir
sollten ihn eigentlich häßlich nennen! Aber die albernen »Klassizisten«
haben uns um alle Ehrlichkeit gebracht!Ders., Morgenröte, 1881, S. 150 |
Die
Ironie der Gegenwärtigen. Augenblicklich ist es Europäer-Art,
alle großen Interessen mit Ironie zu behandeln, weil man vor Geschäftigkeit
in ihrem Dienste keine Zeit hat, sie ernst zu nehmen.Ders., Morgenröte, 1881, S. 150 |
Gegen
Rousseau. Wenn es wahr ist, daß unsre Zivilisation etwas Erbärmliches
an sich hat: so habt ihr die Wahl, mit Rousseau weiterzuschließen »diese
erbärmliche Zivilisation ist Schuld an unsrer schlechten Moralität«,
oder gegen Rousseau zurückzuschließen »unsere gute Moralität
ist Schuld an dieser Erbärmlichkeit der Zivilisation. Unsere schwachen, unmännlichen,
gesellschaftlichen Begriffe von Gut und Böse und die ungeheure Überherrschaft
derselben über Leib und Seele haben alle Leiber und alle Seelen endlich schwach
gemacht und die selbständigen, unabhängigen, unbefangenen Menschen,
die Pfeiler einer starken Zivilisation, zerbrochen: wo man der schlechten
Moralität jetzt noch begegnet, da sieht man die letzten Trümmer dieser
Pfeiler.« So stehe denn Paradoxon gegen Paradoxon! Unmöglich kann hier
die Wahrheit auf beiden Seiten sein: und ist sie überhaupt auf einer von
beiden? Man prüfe.Ders., Morgenröte, 1881, S. 150-141 |
Vielleicht
verfrüht. Gegenwärtig scheint es so, daß unter allerhand
falschen, irreführenden Namen und zumeist in großer Unklarheit, von
seiten derer, welche sich nicht an die bestehenden Sitten und Gesetze gebunden
halten, die ersten Versuche gemacht werden, sich zu organisieren und damit sich
ein Recht zu schaffen: während sie bisher, als Verbrecher, Freidenker,
Unsittliche, Bösewichte verschrien, unter dem Banne der Vogelfreiheit und
des schlechten Gewissens, verderbt und verderbend lebten. Dies sollte man im ganzen
und großen billig und gut finden, wenn es auch das kommende
Jahrhundert zu einem gefährlichen macht und jedem das Gewehr um die Schulter
hängt: schon damit eine Gegenmacht da ist, die immer daran erinnert, daß
es keine allein-moralisch-machende Moral gibt und daß jede ausschließlich
sich selber bejahende Sittlichkeit zu viel gute Kraft tötet und der Menschheit
zu teuer zu stehen kommt. Die Abweichenden, welche so häufig die Erfinderischen
und Fruchtbaren sind, sollen nicht mehr geopfert werden; es soll nicht einmal
mehr für schändlich gelten, von der Moral abzuweichen, in Taten und
Gedanken; es sollen zahlreiche neue Versuche des Lebens und der Gemeinschaft gemacht
werden; es soll eine ungeheure Last von schlechtem Gewissen aus der Welt geschafft
werden diese allgemeinsten Ziele sollten von allen Redlichen und Wahrheitsuchenden
anerkannt und gefördert werden!Ders., Morgenröte, 1881, S. 141 |
Welche
Moral nicht langweilt. Die sittlichen Hauptgebote, die ein Volk sich
immer wieder lehren und vorpredigen läßt, stehen in Beziehung zu seinen
Hauptfehlern, und deshalb werden sie ihm nicht langweilig. Die Griechen, denen
die Mäßigung, der kalte Mut, der gerechte Sinn und überhaupt die
Verständigkeit allzuoft abhanden kamen, hatten ein Ohr für die vier
sokratischen Tugenden denn man hatte sie so nötig und doch
gerade für sie so wenig Talent!Ders., Morgenröte, 1881, S. 142 |
Scheidewege.
Pfui! Ihr wollt in ein System hinein, wo man entweder Rad sein muß,
voll und ganz, oder unter die Räder gerät! Wo es sich von selber versteht,
daß jeder das ist, wozu er von oben her gemacht wird! Wo das Suchen
nach »Konnexion« zu den natürlichen Pflichten gehört! Wo
keiner sich beleidigt fühlt, wenn er auf einen Mann mit dem Winke aufmerksam
gemacht wird »er kann Ihnen einmal nützen«! Wo man sich nicht
schämt, Besuche zu machen, um die Fürsprache einer Person zu erbitten!
Wo man nicht einmal ahnt, wie man sich durch eine geflissentliche Einordnung in
solche Sitten ein für allemal als geringe Töpferware der Natur bezeichnet
hat, welche andre verbrauchen und zerbrechen dürfen, ohne sich sehr dafür
verantwortlich zu fühlen; gleich als ob man sagte: »an solcher Art,
wie ich bin, wird es nie Mangel geben: nehmt mich hin! Ohne Umstände!«Ders., Morgenröte, 1881, S. 150 |
Die
unbedingten Huldigungen. Wenn ich an den gelesensten deutschen Philosophen,
an den gehörtesten deutschen Musiker und an den angesehensten deutschen Staatsmann
denke: so muß ich mir eingestehen: es wird den Deutschen, diesem Volke der
unbedingten Gefühle, jetzt recht sauer gemacht, und zwar von ihren
eigenen großen Männern. Es gibt da dreimal ein prachtvolles Schauspiel
zu sehen: jedesmal einen Strom, in seinem eignen, selbstgegrabenen Strombette,
und so mächtig bewegt, daß es öfter scheinen könnte, als
wollte er den Berg hinaufströmen. Und dennoch, wie weit man seine Verehrung
auch treiben möge: wer möchte nicht gern andrer Meinung sein
als Schopenhauer, im ganzen und großen! Und wer könnte jetzt
einer Meinung mit Richard Wagner sein, im ganzen und im kleinen? so wahr es auch
sein mag, was jemand gesagt hat, daß überall, wo er Anstoß nimmt
und wo er Anstoß gibt, ein Problem vergraben liegt, genug,
er selber bringt es nicht an das Licht. Und endlich, wie viele möchten
von ganzem Herzen mit Bismarck einer Meinung sein, wenn er selber nur mit sich
einer Meinung wäre oder auch nur Miene machte, es fürderhin zu sein!
Zwar: ohne Grundsätze, aber mit Grundtrieben, ein beweglicher Geist
im Dienste starker Grundtriebe, und eben deshalb ohne Grundsätze das
sollte an einem Staatsmanne nichts Auffälliges haben, vielmehr als das Rechte
und Naturgemäße gelten; aber leider war es bisher so durchaus nicht
deutsch! ebenso wenig als Lärm um Musik und Mißklang und Mißmut
um den Musiker, ebenso wenig als die neue und außerordentliche Stellung,
welche Schopenhauer wählte: nämlich weder über den Dingen, noch
auf den Knien vor den Dingen beides hätte noch deutsch heißen
können , sondern gegen die Dinge! Unglaublich! Und unangenehm! Sich
in eine Reihe mit den Dingen stellen und doch als ihr Gegner, zu guter Letzt gar
als der Gegner seiner selber! was kann der unbedingte Verehrer mit einem
solchen Vorbilde anfangen! Und was überhaupt mit drei solchen Vorbildern,
die untereinander selber nicht Frieden halten wollen! Da ist Schopenhauer ein
Gegner der Musik Wagners, und Wagner ein Gegner der Politik Bismarcks, und Bismarck
ein Gegner aller Wagnerei und Schopenhauerei! Was bleibt da zu tun! Wohin sich
mit seinem Durste nach der »Huldigung in Bausch und Bogen« flüchten!
Könnte man sich vielleicht aus der Musik des Musikers einige hundert Takte
guter Musik auslesen, die sich einem ans Herz legen und denen man sich gern ans
Herz legt, weil sie ein Herz haben, könnte man mit diesem kleinen
Raub beiseite gehen und den ganzen Rest vergessen! Und ein eben solches
Abkommen in Hinsicht des Philosophen und des Staatsmannes ausfindig machen
auslesen, sich ans Herz legen und namentlich den Rest vergessen! Ja, wenn
nur das Vergessen nicht so schwer wäre! Da gab es einen sehr stolzen Menschen,
der durchaus nur von sich selber etwas annehmen wollte, Gutes und Schlimmes: als
er aber das Vergessen nötig hatte, konnte er es sich selber nicht
geben, sondern mußte dreimal die Geister beschwören; sie kamen, sie
hörten sein Verlangen, und zuletzt sagten sie: »nur dies gerade steht
nicht in unserer Macht!« Sollten die Deutschen sich die Erfahrung Manfreds
nicht zunutze machen? Warum erst noch die Geister beschwören! Es ist unnütz,
man vergißt nicht, wenn man vergessen will.Ders., Morgenröte, 1881, S. 142-144 |
Ein
Vorbild. Was liebe ich an Thukydides, was macht, daß ich ihn
höher ehre als Plato? Er hat die umfänglichste und unbefangenste Freude
an allem Typischen des Menschen und der Ereignisse und findet, daß zu jedem
Typus ein Quantum guter Vernunft gehört: diese sucht er zu
entdecken. Er hat eine größere praktische Gerechtigkeit als Plato;
er ist kein Verlästerer und Verkleinerer der Menschen, die ihm nicht gefallen
oder die ihm im Leben wehe getan haben. Im Gegenteil: er sieht etwas Großes
in alle Dinge und Personen hinein und zu ihnen hinzu, indem er nur Typen sieht;
was hätte auch die ganze Nachwelt, der er sein Werk weiht, mit dem zu schaffen,
was nicht typisch wäre! So kommt in ihm, dem Menschen-Denker, jene
Kultur der unbefangensten Weltkenntnis zu einem letzten herrlichen Ausblühen,
welche in Sophokles ihren Dichter, in Perikles ihren Staatsmann, in Hippokrates
ihren Arzt, in Demokrit ihren Naturforscher hatte: jene Kultur, welche auf den
Namen ihrer Lehrer, der Sophisten, getauft zu werden verdient und leider
von diesem Augenblicke der Taufe an uns auf einmal blaß und unfaßbar
zu werden beginnt, denn nun argwöhnen wir, es müsse eine sehr
unsittliche Kultur gewesen sein, gegen welche ein Plato mit allen sokratischen
Schulen kämpfte! Die Wahrheit ist hier so verzwickt und verhäkelt, daß
es Widerwillen macht, sie aufzudröseln: so laufe der alte Irrtum (error
veritate simplicior) seinen alten Weg!Ders., Morgenröte, 1881, S. 145 |
Das
Griechische uns sehr fremd. Orientalisch oder Modern, Asiatisch oder
Europäisch: im Verhältnis zum Griechischen ist diesem allen die Massenhaftigkeit
und der Genuß an der großen Quantität als der Sprache des Erhabenen
zu eigen, während man in Pästum, Pompeji und Athen und vor der ganzen
griechischen Architektur so erstaunt darüber wird, mit wie kleinen Massen
die Griechen etwas Erhabenes auszusprechen wissen und auszusprechen lieben.
Ebenfalls: wie einfach waren in Griechenland die Menschen sich selber
in ihrer Vorstellung! Wie weit übertreffen wir sie in der Menschenkenntnis!
Wie labyrinthisch aber auch nehmen sich unsere Seelen und unsre Vorstellungen
von den Seelen gegen die ihrigen aus! Wollten und wagten wir eine Architektur
nach unserer Seelen-Art (wir sind zu feige dazu!) so müßte
das Labyrinth unser Vorbild sein! Die uns eigene und uns wirklich aussprechende
Musik läßt es schon erraten! (In der Musik nämlich lassen sich
die Menschen gehen, weil sie wähnen, es sei niemand da, der sie selber unter
ihrer Musik zu sehen vermöge.)Ders., Morgenröte, 1881, S. 146 |
Andere
Perspektive des Gefühls. Was ist unser Geschwätz von den
Griechen! Was verstehen wir denn von ihrer Kunst, deren Seele die Leidenschaft
für die männliche nackte Schönheit ist! Erst von da aus
empfanden sie die weibliche Schönheit. So hatten sie also für sie eine
völlig andere Perspektive als wir. Und ähnlich stand es mit ihrer Liebe
zum Weibe: sie verehrten anders, sie verachteten anders.Ders., Morgenröte, 1881, S. 146 |
Tragödie
und Musik. Männer in einer kriegerischen Grundverfassung des Gemüts,
wie zum Beispiel die Griechen in der Zeit des Äschylus, sind schwer zu
rühren, und wenn das Mitleiden einmal über ihre Härte siegt,
so ergreift es sie wie ein Taumel und gleich einer »dämonischen Gewalt«,
sie fühlen sich dann unfrei und von einem religiösen Schauder
erregt. Hinterher haben sie ihre Bedenken gegen diesen Zustand; solange sie in
ihm sind, genießen sie das Entzücken des Außer-sich-seins und
des Wunderbaren, gemischt mit dem bittersten Wermut des Leidens: es ist das so
recht ein Getränk für Krieger, etwas Seltenes, Gefährliches und
Bittersüßes, das einem nicht leicht zuteil wird. An Seelen,
die so das Mitleiden empfinden, wendet sich die Tragödie, an harte und kriegerische
Seelen, welche man schwer besiegt, sei es durch Furcht, sei es durch Mitleid,
welchen es aber nütze ist, von Zeit zu Zeit erweicht zu werden: aber
was soll die Tragödie denen, welche den »sympathischen Affektionen«
offenstehen wie die Segel den Winden! Als die Athener weicher und empfindsamer
geworden waren, zur Zeit Platos ach, wie ferne waren sie noch von der Rührseligkeit
unserer Groß-und Kleinstädter! aber doch klagten schon die Philosophen
über die Schädlichkeit der Tragödie. Ein Zeitalter voller
Gefahren wie das eben beginnende, in welchem die Tapferkeit und Männlichkeit
im Preise steigen, wird vielleicht allmählich die Seelen wieder so hart machen,
daß tragische Dichter ihnen not tun: einstweilen aber waren diese ein wenig
überflüssig, um das mildeste Wort zu gebrauchen.
So kommt vielleicht auch für die Musik noch einmal das bessere Zeitalter
(gewiß wird es das bösere sein!) dann, wenn die Künstler
sich mit ihr an streng persönliche, in sich harte, vom dunklen Ernste eigener
Leidenschaft beherrschte Menschen zu wenden haben: aber was soll die Musik diesen
heutigen allzubeweglichen, unausgewachsenen, halbpersönlichen, neugierigen
und nach allem lüsternen Seelchen des verschwindenden Zeitalters!Ders., Morgenröte, 1881, S. 147-148 |
Moralische
Mode einer handeltreibenden Gesellschaft. Hinter dem Grundsatze der
jetzigen moralischen Mode: »moralische Handlungen sind die Handlungen der
Sympathie für andere« sehe ich einen sozialen Trieb der Furchtsamkeit
walten, welcher sich in dieser Weise intellektuell vermummt: dieser Trieb will,
als Oberstes, Wichtigstes, Nächstes, daß dem Leben alle Gefährlichkeit
genommen werde, welche es früher hatte, und daß daran jeder und mit
allen Kräften helfen solle: deshalb dürfen nur Handlungen, welche auf
die gemeinsame Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Gesellschaft abzielen,
das Prädikat »gut« bekommen! Wie wenig Freude müssen
doch jetzt die Menschen an sich haben, wenn eine solche Tyrannei der Furchtsamkeit
ihnen das oberste Sittengesetz vorschreibt, wenn sie es sich so widerspruchslos
anbefehlen lassen, über sich, neben sich wegzusehen, aber für jeden
Notstand, für jedes Leiden anderwärts Luchsaugen zu haben! Sind wir
denn bei einer solchen ungeheuren Absichtlichkeit, dem Leben alle Schärfen
und Kanten abzureiben, nicht auf dem besten Wege, die Menschheit zu Sand zu machen?
Sand! Kleiner, weicher, runder, unendlicher Sand! Ist das euer Ideal, ihr Herolde
der sympathischen Affektionen? Inzwischen bleibt selbst die Frage unbeantwortet,
ob man dem andern mehr nützt, indem man ihm unmittelbar fortwährend
beispringt und hilft was doch nur sehr oberflächlich geschehen
kann, wo es nicht zu einem tyrannischen Übergreifen und Umbilden wird
oder indem man aus sich selber etwas formt, was der andre mit Genuß
sieht, etwa einen schönen, ruhigen, in sich abgeschlossenen Garten, welcher
hohe Mauern gegen die Stürme und den Staub der Landstraßen, aber auch
eine gastfreundliche Pforte hat.Ders., Morgenröte, 1881, S. 149-150 |
Grundgedanke
einer Kultur der Handeltreibenden. Man sieht jetzt mehrfach die Kultur
einer Gesellschaft im Entstehen, für welche das Handeltreiben ebensosehr
die Seele ist, als der persönliche Wettkampf es für die ältern
Griechen und als Krieg, Sieg und Recht es für die Römer waren. Der Handeltreibende
versteht alles zu taxieren, ohne es zu machen, und zwar zu taxieren nach dem Bedürfnisse
der Konsumenten, nicht nach seinem eigenen persönlichsten Bedürfnisse;
»wer und wie viele konsumieren dies?« ist seine Frage der Fragen.
Diesen Typus der Taxation wendet er nun instinktiv und immerwährend an: auf
alles, und so auch auf die Hervorbringungen der Künste und Wissenschaften,
der Denker, Gelehrten, Künstler, Staatsmänner, der Völker und Parteien,
der ganzen Zeitalter: er fragt bei allem, was geschaffen wird, nach Angebot und
Nachfrage, um für sich den Wert einer Sache festzusetzen. Dies zum
Charakter einer ganzen Kultur gemacht, bis ins Unbegrenzte und Feinste durchgedacht
und allem Wollen und Können aufgeformt: das ist es, worauf ihr Menschen des
nächsten Jahrhunderts stolz sein werdet: wenn die Propheten der handeltreibenden
Klasse Recht haben dieses in euren Besitz zu geben! Aber ich habe wenig Glauben
an diese Propheten. Credat Judaeus Apella mit Horaz zu reden.Ders., Morgenröte, 1881, S. 150 |
Unser
Zeitalter, soviel es von Ökonomie redet, ist ein Verschwender: es verschwendet
das Kostbarste, den Geist.Ders., Morgenröte, 1881, S. 153 |
Regieren.
Die einen regieren, aus Lust am Regieren; die andern, um nicht regiert
zu werden: diesen ist es nur das geringere von zwei Übeln.Ders., Morgenröte, 1881, S. 153 |
Die
sogenannte klassische Erziehung. Zu entdecken, daß unser Leben
der Erkenntnis geweiht ist; daß wir es wegwerfen würden, nein! daß
wir es weggeworfen hätten, wenn nicht diese Weihe es vor uns selber schützte;
jenen Vers sich oft und mit Erschütterung vorspreche gibt:»Schicksal,
ich folge dir! Und wollt ich nicht, ich müßt' es doch und unter
Seufzen tun!« |
Ders., Morgenröte, 1881, S. 163 |
Nichts
wird mir von Jahr zu Jahr deutlicher, als daß alles griechische und antike
Wesen, so schlicht und weltbekannt es vor uns zu liegen scheint, sehr schwer verständlich,
ja kaum zugänglich ist, und daß die übliche Leichtigkeit, mit
der von den Alten geredet wird, entweder eine Leichtfertigkeit oder ein alter
erblicher Dünkel der Gedankenlosigkeit ist. Ders., Morgenröte, 1881, S. 165 |
Bei
manchen wilden Völkern, wird der Kranke in der Tat als Verbrecher behandelt,
als die Gefahr der Gemeinde und als Wohnsitz irgendeines dämonischen Wesens,
welches sich ihm infolge einer Schuld einverleibt hat, da heißt es:
jeder Kranke ist ein Schuldiger! Und wir sollten wir noch nicht reif für
die entgegengesetzte Anschauung sein? sollten wir noch nicht sagen dürfen:
jeder »Schuldige« ist ein Kranker? Nein, die Stunde dafür
ist noch nicht gekommen. Noch fehlen vor allem die Ärzte, für welche
das, was wir bisher praktische Moral nannten, sich in ein Stück ihrer Heilkunst
und Heilwissenschaft umgewandelt haben muß; noch fehlt allgemein jenes hungrige
Interesse an diesen Dingen, das vielleicht einmal dem Sturm und Drang jener alten
religiösen Erregungen nicht unähnlich erscheinen wird; noch sind die
Kirchen nicht im Besitz der Pfleger der Gesundheit; noch gehört die Lehre
von dem Leibe und von der Diät nicht zu den Verpflichtungen aller niederen
und höheren Schulen; noch gibt es keine stillen Vereine solcher, welche sich
untereinander verpflichtet haben, auf die Hilfe der Gerichte und auf Strafe und
Rache an ihren Übeltätern zu verzichten; noch hat kein Denker den Mut
gehabt, die Gesundheit einer Gesellschaft und der Einzelnen darnach zu bemessen,
wie viel Parasiten sie ertragen kann, und noch fand sich kein Staatengründer,
welcher die Pflugschar im Geiste jener freigebigen und mildherzigen Rede führte:
»willst du das Land bauen, so baue mit dem Pfluge: da geneußt dein
der Vogel und der Wolf, der hinter deinem Pfluge geht, es geneußt
dein alle Kreatur.«Ders., Morgenröte, 1881, S. 173-174 |
Gewissensfrage.
»Und in summa: was wollt ihr eigentlich neues?«
Wir wollen nicht mehr die Ursachen zu Sündern und die Folgen zu Henkern machen.Ders., Morgenröte, 1881, S. 185 |
Die
Nützlichkeit der strengsten Theorien. Man sieht einem Menschen
viele Schwächen der Moralität nach und handhabt dabei ein grobes Sieb,
vorausgesetzt, daß er sich immer zur strengsten Theorie der Moral
bekennt! Dagegen hat man das Leben der freigeistischen Moralisten immer unter
das Mikroskop gestellt: mit dem Hintergedanken, daß ein Fehltritt des Lebens
das sicherste Argument gegen eine unwillkommene Erkenntnis sei.Ders., Morgenröte, 1881, S. 185 |
Moral
der Opfertiere. »Sich begeistert hingeben«, »sich
selber zum Opfer bringen« das sind die Stichworte eurer Moral, und
ich glaube es gerne, daß ihr, wie ihr sagt, »es damit ehrlich meint«:
nur kenne ich euch besser, als ihr euch kennt, wenn eure »Ehrlichkeit«
mit einer solchen Moral Arm in Arm zu gehen vermag. Ihr seht von der Höhe
derselben herab auf jene andere nüchterne Moral, welche Selbstbeherrschung,
Strenge, Gehorsam fordert, ihr nennt sie wohl gar egoistisch, und gewiß!
ihr seid ehrlich gegen euch, wenn sie euch mißfällt,
sie muß euch mißfallen! Denn indem ihr euch begeistert hingebt
und aus euch ein Opfer macht, genießt ihr jenen Rausch des Gedankens nunmehr
eins zu sein mit dem Mächtigen, sei es ein Gott oder ein Mensch, dem ihr
euch weiht: ihr schwelgt in dem Gefühle seiner Macht die eben wieder durch
ein Opfer bezeugt ist. In Wahrheit scheint ihr euch nur zu opfern, ihr wandelt
euch vielmehr in Gedanken zu Göttern um und genießt euch als solche.
Von diesem Genusse aus gerechnet wie schwach und arm dünkt euch jene
»egoistische« Moral des Gehorsams, der Pflicht, der Vernünftigkeit:
sie mißfällt euch, weil hier wirklich geopfert und hingegeben werden
muß, ohne daß der Opferer sich in einen Gott verwandelt wähnt,
wie ihr wähnt. Kurz, ihr wollt den Rausch und das Übermaß,
und jene von euch verachtete Moral hebt den Finger auf gegen Rausch und Übermaß
ich glaube euch wohl, daß sie euch Mißbehagen macht!Ders., Morgenröte, 1881, S. 188 |
Das
»Erhebende« am Unglück des Nächsten. Er ist im
Unglück, und nun kommen die »Mitleidigen« und malen ihm sein
Unglück aus endlich gehen sie befriedigt und erhoben fort: sie haben
sich an dem Entsetzen des Unglücklichen wie an dem eignen Entsetzen geweidet
und sich einen guten Nachmittag gemacht.Ders., Morgenröte, 1881, S. 192 |
Kettenträger.
Vorsicht vor allen Geistern, die an Ketten liegen! Zum Beispiel vor den
klugen Frauen, welche ihr Schicksal in eine kleine, dumpfe Umgebung gebannt hat,
und die darin alt werden. Zwar liegen sie scheinbar träge und halb blind
in der Sonne da: aber bei jedem fremden Tritt, bei allem Unvermuteten fahren sie
auf, um zu beißen, sie nehmen an allem Rache, was ihrer Hundehütte
entkommen ist.Ders., Morgenröte, 1881, S. 170 |
Das
Theater hat seine Zeit. Wenn die Phantasie eines Volkes nachläßt,
entsteht der Hang in ihm, seine Sagen sich auf der Bühne vorführen zu
lassen, jetzt erträgt es die groben Ersatzstücke der Phantasie
aber für jenes Zeitalter, dem der epische Rhapsode zugehört, ist das
Theater und der als Held verkleidete Schauspieler ein Hemmschuh anstatt ein Flügel
der Phantasie: zu nah, zu bestimmt, zu schwer, zu wenig Traum und Vogelflug.Ders., Morgenröte, 1881, S. 208 |
Zwei
Freunde. Es waren Freunde, aber sie haben aufgehört, es zu sein,
und sie knüpften von beiden Seiten zugleich ihre Freundschaft los, der eine,
weil er sich zu sehr verkannt glaubte, der andere, weil er sich zu sehr erkannt
glaubte, und beide haben sich dabei getäuscht! denn jeder von
ihnen kannte sich selber nicht genug.Ders., Morgenröte, 1881, S. 216 |
Griechisches
Ideal. Was bewunderten die Griechen an Odysseus? Vor allem die Fähigkeit
zur Lüge und zur listigen und furchtbaren Wiedervergeltung; den Umständen
gewachsen sein; wenn es gilt, edler erscheinen als der Edelste; sein können,
was man will; heldenhafte Beharrlichkeit; sich alle Mittel zu Gebote stellen;
Geist haben sein Geist ist die Bewunderung der Götter, sie lächeln,
wenn sie daran denken : dies alles ist griechisches Ideal! Das Merkwürdigste
daran ist, daß hier der Gegensatz von Scheinen und Sein gar nicht gefühlt
und also auch nicht sittlich angerechnet wird. Gab es je so gründliche Schauspieler!Ders., Morgenröte, 1881, S. 223 |
Furcht
und Liebe. Die Furcht hat die allgemeine Einsicht über den Menschen
mehr gefördert als die Liebe, denn die Furcht will erraten, wer der andre
ist, was er kann, was er will: sich hierin zu täuschen wäre Gefahr und
Nachteil. Umgekehrt hat die Liebe einen geheimen Impuls, in dem andern so viel
Schönes als möglich zu sehen oder ihn sich so hoch als möglich
zu heben: sich dabei zu täuschen, wäre für sie eine Lust und ein
Vorteil und so tut sie es.Ders., Morgenröte, 1881, S. 224 |
Die
Gutmütigen. Die Gutmütigen haben ihr Wesen durch die beständige
Furcht erlangt, welche ihre Voreltern vor fremden Übergriffen gehabt haben,
sie milderten, beschwichtigten, baten ab, beugten vor, zerstreuten, schmeichelten,
duckten sich, verbargen den Schmerz, den Verdruß, glätteten sofort
wieder ihre Züge und zuletzt vererbten sie diesen ganzen zarten und
wohlgespielten Mechanismus auf ihre Kinder und Enkel. Diesen gab ein günstigeres
Geschick keinen Anlaß zu jener beständigen Furcht: nichtsdestoweniger
spielen sie beständig auf ihrem InstrumenteDers., Morgenröte, 1881, S. 224-225 |
Schwache
Sekten. Die Sekten, welche fühlen, daß sie schwach bleiben
werden, machen Jagd auf einzelne intelligente Anhänger und wollen durch Qualität
ersetzen, was ihnen an Quantität abgeht. Hierin liegt keine geringe Gefahr
für die Intelligenten.Ders., Morgenröte, 1881, S. 226 |
Das
Urteil des Abends. Wer über sein Tages- und Lebenswerk nachdenkt,
wenn er am Ende und müde ist, kommt gewöhnlich zu einer melancholischen
Betrachtung: das liegt aber nicht am Tage und am Leben, sondern an der Müdigkeit.
Mitten im Schaffen nehmen wir uns gewöhnlich keine Zeit zu urteilen
über das Leben und das Dasein, und mitten im Genießen auch nicht: kommt
es aber einmal doch dazu, so geben wir dem nicht mehr recht, welcher auf den siebenten
Tag und die Ruhe wartete, um alles, was da ist, sehr schön zu finden,
er hatte den besseren Augenblick verpaßt.Ders., Morgenröte, 1881, S. 227 |
Gastfreundschaft.
Der Sinn in den Gebräuchen der Gastfreundschaft ist: das Feindliche
im Fremden zu lähmen. Wo man im Fremden nicht mehr zunächst den Feind
empfindet, nimmt die Gastfreundschaft ab; sie blüht, so lange ihre böse
Voraussetzung blühtDers., Morgenröte, 1881, S. 227 |
Womöglich
ohne Arzt leben. Es will mir scheinen, als ob ein Kranker leichtsinniger
sei, wenn er einen Arzt hat, als wenn er selber seine Gesundheit besorgt. Im ersten
Falle genügt es ihm, streng in bezug auf alles Vorgeschriebene zu sein; im
andern Falle fassen wir das, worauf jene Vorschriften abzielen, unsere Gesundheit,
mit mehr Gewissen ins Auge und bemerken viel mehr, gebieten und verbieten uns
viel mehr, als auf Veranlassung des Arztes geschehen würde. Alle Regeln
haben diese Wirkung: vom Zwecke hinter der Regel abzuziehen und leichtsinniger
zu machen. Und wie würde der Leichtsinn der Menschheit ins Unbändige
und Zerstörerische gestiegen sein, wenn sie jemals vollkommen ehrlich der
Gottheit als ihrem Arzte alles überlassen hätte, nach dem Worte »wie
Gott will«!Ders., Morgenröte, 1881, S. 229 |
Der
Wohltätige. Der Wohltätige befriedigt ein Bedürfnis
seines Gemüts, wenn er wohltut. Je stärker dieses Bedürfnis ist,
um so weniger denkt er sich in den andern hinein, der ihm dient, sein Bedürfnis
zu stillen, er wird unzart und beleidigt unter Umständen. (Dies sagt man
der jüdischen Wohltätigkeit und Barmherzigkeit nach: welche bekanntlich
etwas hitziger ist als die andrer Völker.)Ders., Morgenröte, 1881, S. 234 |
Redefreiheit.
»Die Wahrheit muß gesagt werden, und wenn die Welt in Stücke
gehen sollte!« so ruft, mit großem Munde, der große Fichte!
Ja! Ja! Aber man müßte sie auch haben! Aber er meint,
jeder solle seine Meinung sagen, und wenn alles drunter und drüber ginge.
Darüber ließe sich mit ihm noch rechten.Ders., Morgenröte, 1881, S. 240 |
Keine
Utilitarier. »Die Macht, der viel Böses angetan und angedacht
wird, ist mehr wert als die Ohnmacht, der nur Gutes widerfährt«,
so empfanden die Griechen. Das heißt: das Gefühl der Macht wurde von
ihnen höher geschätzt als irgendein Nutzen oder guter Ruf.Ders., Morgenröte, 1881, S. 242 |
Gefährliche
Tugenden. »Er vergißt nichts, aber er vergibt alles.«
Dann wird er doppelt gehaßt, denn er beschämt doppelt, mit seinem
Gedächtnis und mit seiner GroßmutDers., Morgenröte, 1881, S. 252 |
Die
Ängstlichen. Gerade die ungeschickten ängstlichen Wesen werden
leicht zu Totschlägern: sie verstehen die kleine zweckentsprechende Verteidigung
oder Rache nicht, ihr Haß weiß aus Mangel an Geist und Geistesgegenwart
keinen andern Ausweg als die Vernichtung.Ders., Morgenröte, 1881, S. 256 |
Ohne
Haß. Du willst von deiner Leidenschaft Abschied nehmen? Tue es,
aber ohne Haß gegen sie! Sonst hast du eine zweite Leidenschaft.
Die Seele des Christen, die sich von der Sünde freigemacht hat, wird
gewöhnlich hinterher durch den Haß gegen die Sünde ruiniert. Sieh
die Gesichter der großen Christen an! Es sind die Gesichter von großen
HassernDers., Morgenröte, 1881, S. 256 |
Remedium
amoris. Immer noch hilft gegen die Liebe in den meisten Fällen
jenes alte Radikalmittel: die Gegenliebe.Ders., Morgenröte, 1881, S. 257 |
Grenze
aller Demut. Zu der Demut, welche spricht: credo quia absurdum est,
und ihre Vernunft zum Opfer anbietet, brachte es wohl schon mancher: aber keiner,
so viel ich weiß, bis zu jener Demut, die doch nur einen Schritt davon entfernt
ist und welche spricht: credo quia absurdus sum.Ders., Morgenröte, 1881, S. 258 |
Für
wen die Wahrheit da ist. Bis jetzt sind die Irrtümer die trostreichen
Mächte gewesen: nun erwartet man von den erkannten Wahrheiten dieselbe Wirkung
und wartet ein wenig lange schon. Wie, wenn die Wahrheiten gerade dies
zu trösten nicht zu leisten vermöchten? Wäre dies
denn ein Einwand gegen die Wahrheiten? Was haben diese mit den Zuständen
leidender, verkümmerter, kranker Menschen gemeinsam, daß sie gerade
ihnen nützlich sein müßten? Es ist doch kein Beweis gegen die
Wahrheit einer Pflanze, wenn festgestellt wird, daß sie zur Genesung
kranker Menschen nichts beiträgt. Aber ehemals war man bis zu dem Grade vom
Menschen als dem Zwecke der Natur überzeugt, daß man ohne weiteres
annahm, es könne auch durch die Erkenntnis nichts aufgedeckt werden, was
nicht dem Menschen heilsam und nützlich sei, ja, es könne, es dürfe
gar keine anderen Dinge geben. Vielleicht folgt aus alledem der
Satz, daß die Wahrheit als Ganzes und Zusammenhängendes nur für
die zugleich mächtigen und harmlosen, freud- und friedenvollen Seelen (wie
es die des Aristoteles war) da ist, ebenso wie diese wohl auch nur imstande sein
werden, sie zu suchen: denn die anderen suchen Heilmittel für
sich, mögen sie noch so stolz über ihren Intellekt und dessen Freiheit
denken, sie suchen nicht die Wahrheit. Daher kommt es, daß diese
anderen so wenig echte Freude an der Wissenschaft haben und ihr Kälte, Trockenheit
und Unmenschlichkeit zum Vorwurf machen: es ist dies das Urteil der Kranken über
die Spiele der Gesunden. Auch die griechischen Götter verstanden nicht
zu trösten; als endlich auch die griechischen Menschen allesamt krank wurden,
war dies ein Grund zum Untergang solcher Götter.Ders., Morgenröte, 1881, S. 261-262 |
Farbenblindheit
der Denker. Wie anders sahen die Griechen in ihre Natur, wenn ihnen,
wie man sich eingestehen muß, das Auge für Blau und Grün blind
war, und sie statt des ersteren ein tieferes Braun, statt des zweiten ein Gelb
sahen (wenn sie also mit gleichem Worte zum Beispiel die Farbe des dunklen Haares,
die der Kornblume und die des südländischen Meeres bezeichneten, und
wiederum mit gleichem Worte die Farbe der grünsten Gewächse und der
menschlichen Haut, des Honigs und der gelben Harze: so daß ihre größten
Maler bezeugtermaßen ihre Welt nur mit Schwarz, Weiß, Rot und Gelb
wiedergegeben haben), wie anders und wie viel näher an den Menschen
gerückt mußte ihnen die Natur erscheinen, weil in ihrem Auge die Farben
des Menschen auch in der Natur überwogen, und diese gleichsam in dem Farbenäther
der Menschheit schwamm! (Blau und Grün entmenschlichen die Natur mehr, als
alles andere.) Auf diesem Mangel ist die spielende Leichtigkeit, welche
die Griechen auszeichnet, Naturvorgänge als Götter und Halbgötter,
das heißt als menschartige Gestalten zu sehen, großgewachsen.
Dies sei aber nur das Gleichnis für eine weitere Vermutung. Jeder Denker
malt seine Welt und jedes Ding mit weniger Farben, als es gibt, und ist
gegen einzelne Farben blind. Dies ist nicht nur ein Mangel. Er sieht vermöge
dieser Annäherung und Vereinfachung Harmonien der Farben in die Dinge
hinein, welche einen großen Reiz haben und eine Bereicherung der Natur
ausmachen können. Vielleicht ist dies sogar der Weg gewesen, auf dem die
Menschheit den Genuß im Anblick des Daseins erst gelernt hat: dadurch,
daß ihr dieses Dasein zunächst in einem oder zwei Farbtönen und
dadurch harmonisiert vorgeführt wurde: sie übte sich gleichsam auf diese
wenigen Töne ein, bevor sie zu mehreren übergehen konnte. Und noch jetzt
arbeitet sich mancher einzelne aus einer teilweisen Farbenblindheit in ein reicheres
Sehen und Unterscheiden hinaus: wobei er aber nicht nur neue Genüsse findet,
sondern immer auch einige der früheren aufgeben und verlieren muß.Ders., Morgenröte, 1881, S. 262-263 |
Die
Verschönerung der Wissenschaft. Wie die Rokoko-Gartenkunst entstand,
aus dem Gefühl »die Natur ist häßlich, wild, langweilig
auf! wir wollen sie verschönern!«, so entsteht aus dem
Gefühl »die Wissenschaft ist häßlich, trocken, trostlos,
schwierig, langwierig auf! laßt uns sie verschönern!«
immer wieder etwas, das sich die Philosophie nennt. Sie will, was alle
Künste und Dichtungen wollen, vor allem unterhalten: sie will
dies aber, gemäß ihrem ererbten Stolze, in einer erhabeneren und höheren
Art, vor einer Auswahl von Geistern. Für diese eine Gartenkunst zu schaffen,
deren Hauptreiz wie bei jener »gemeineren« die Täuschung der
Augen ist (durch Tempel, Fernblicke, Grotten, Irrpfade, Wasserfälle,
um im Gleichnisse zu reden), die Wissenschaft in einem Auszuge und mit allerlei
wunderbaren und plötzlichen Beleuchtungen vorzuführen und so viel Unbestimmtheit,
Unvernunft und Träumerei in sie einzumischen, daß man in ihr »wie
in der wilden Natur« und doch ohne Mühsal und Langeweile wandeln könne,
das ist kein geringer Ehrgeiz: wer ihn hat, träumt sogar davon, auf
diese Art die Religion entbehrlich zu machen, welche bei den früheren Menschen
die höchste Gattung von Unterhaltungskunst abgegeben hat. Dies geht
nun seinen Gang und erreicht eines Tages seine hohe Flut: jetzt schon beginnen
die Gegenstimmen gegen die Philosophie laut zu werden, welche rufen »Rückkehr
zur Wissenschaft! Zur Natur und Natürlichkeit der Wissenschaft!«
womit vielleicht ein Zeitalter anhebt, das die mächtigste Schönheit
gerade in den »wilden, häßlichen« Teilen der Wissenschaft
entdeckt, wie man seit Rousseau erst den Sinn für die Schönheit des
Hochgebirges und der Wüste entdeckt hat.Ders., Morgenröte, 1881, S. 263-264 |
Die
neue Leidenschaft. Warum fürchten und hassen wir eine mögliche
Rückkehr zur Barbarei? Weil sie die Menschen unglücklicher
machen würde, als sie es sind? Ach nein! Die Barbaren aller Zeiten hatten
mehr Glück: täuschen wir uns nicht! Sondern unser Trieb zur
Erkenntnis ist zu stark, als daß wir noch das Glück ohne Erkenntnis
oder das Glück eines starken festen Wahnes zu schätzen vermöchten;
es macht Pein, uns solche Zustände auch nur vorzustellen! Die Unruhe des
Entdeckens und Erratens ist uns so reizvoll und unentbehrlich geworden, wie die
unglückliche Liebe dem Liebenden wird: welche er um keinen Preis gegen den
Zustand der Gleichgültigkeit hergeben würde; ja vielleicht sind
wir auch unglücklich Liebende! Die Erkenntnis hat sich in uns zur
Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde nichts
fürchtet, als ihr eignes Erlöschen; wir glauben aufrichtig, daß
die gesamte Menschheit unter dem Drange und Leiden dieser Leidenschaft
sich erhabener und getrösteter glauben müßte als bisher, wo sie
den Neid auf das gröbere Behagen, das im Gefolge der Barbarei kommt, noch
nicht überwunden hat. Vielleicht selbst, daß die Menschheit an dieser
Leidenschaft der Erkenntnis zu grunde geht! auch dieser Gedanke vermag
nichts über uns! Hat sich denn das Christentum je vor einem ähnlichen
Gedanken gescheut? Sind die Liebe und der Tod nicht Geschwister? Ja, wir hassen
die Barbarei wir wollen alle lieber den Untergang der Menschheit als den
Rückgang der Erkenntnis! Und zuletzt: wenn die Menschheit nicht an einer
Leidenschaft zugrunde geht, so wird sie an einer Schwäche zugrunde
gehen: was will man lieber? Dies ist die Hauptfrage. Wollen wir für sie ein
Ende im Feuer und Licht oder im Sande?Ders., Morgenröte, 1881, S. 265-266 |
Mit
neuen Augen sehen. Gesetzt daß unter Schönheit in der Kunst
immer die Nachbildung des Glücklichen zu verstehen ist und
so halte ich es für die Wahrheit , je nachdem eine Zeit, ein Volk,
ein großes in sich selber gesetzgeberisches Individuum sich den Glücklichen
vorstellt: was gibt dann der sogenannte Realismus der jetzigen Künstler
über das Glück unserer Zeit zu verstehen? Es ist unzweifelhaft seine
Art von Schönheit, welche wir jetzt am leichtesten zu erfassen und zu genießen
wissen. Folglich muß man wohl glauben, das jetzige uns eigene Glück
liege im Realistischen, in möglichst scharfen Sinnen und treuer Auffassung
des Wirklichen, nicht also in der Realität, sondern im Wissen um die Realität?
So sehr hat die Wirkung der Wissenschaft schon Tiefe und Breite gewonnen, daß
die Künstler des Jahrhunderts, ohne es zu wollen, bereits zu Verherrlichern
der wissenschaftlichen »Seligkeiten« an sich geworden sind!Ders., Morgenröte, 1881, S. 267 |
Nicht
unvermerkt zugrunde gehen. Nicht einmal, sondern fortwährend
bröckelt es an unserer Tüchtigkeit und Größe; die kleine
Vegetation, welche zwischen allem hineinwächst und sich überall anzuklammern
versteht, diese ruiniert das, was groß an uns ist, die alltägliche,
stündliche übersehene Erbärmlichkeit unsrer Umgebung, die tausend
Würzelchen dieser oder jener kleinen und kleinmütigen Empfindung, welche
aus unserer Nachbarschaft, aus unserem Amte, unsrer Geselligkeit, unsrer Tageseinteilung
herauswächst. Lassen wir dies kleine Unkraut unbemerkt, so gehn wir an ihm
unbemerkt zugrunde! Und wollt ihr durchaus zugrunde gehn, so tut es lieber
auf einmal und plötzlich: dann bleiben vielleicht von euch erhabene Trümmer
übrig! Und nicht, wie jetzt zu befürchten steht, Maulwurfshügel!
Und Gras und Unkraut auf ihnen, die kleinen Siegreichen, bescheiden wie vordem
und zu erbärmlich selbst zum Triumphieren!Ders., Morgenröte, 1881, S. 268 |
Kasuistisch.
Es gibt eine bitterböse Alternative, der nicht jedermanns Tapferkeit
und Charakter gewachsen ist: als Passagier eines Schiffes zu entdecken, daß
Kapitän und Steuermann gefährliche Fehler machen und daß man ihnen
in nautischem Wissen überlegen sei, und nun sich zu fragen: Wie! wenn
du gegen sie eine Meuterei erregtest und sie beide gefangen nehmen ließest?
Verpflichtet dich deine Überlegenheit nicht dazu? Und sind sie nicht wiederum
im Rechte, dich einzusperren, weil du den Gehorsams untergräbst? Dies
ist ein Gleichnis für höhere und bösere Lagen: wobei zuletzt immer
noch die Frage bleibt, was uns unsere Überlegenheit, unseren Glauben an uns
selber in solchen Fällen gewährleistet. Der Erfolg? Aber da muß
man eben schon das Ding tun, welches alle Gefahren in sich trägt und
nicht nur Gefahren für uns, sondern für das Schiff.Ders., Morgenröte, 1881, S. 268-269 |
Vorrechte.
Wer sich selber wirklich besitzt, das heißt, wer sich endgültig
erobert hat, betrachtet es fürderhin als sein eigenes Vorrecht, sich
zu strafen, sich zu begnadigen, sich zu bemitleiden: er braucht dies niemandem
zuzugestehen, er kann es aber auch einem andern mit Freiheit in die Hand geben,
einem Freunde zum Beispiel, aber er weiß, daß er damit ein
Recht verleiht und daß man nur aus dem Besitze der Macht heraus Rechte
verleihen kann.Ders., Morgenröte, 1881, S. 269 |
Mensch
und Dinge. Warum sieht der Mensch die Dinge nicht? Er steht selber
im Wege: er verdeckt die Dinge.Ders., Morgenröte, 1881, S. 269 |
Die
Regel. »Die Regel ist mir immer interessanter als die Ausnahme«
wer so empfindet, der ist in der Erkenntnis weit voraus und gehört
zu den Eingeweihten.Ders., Morgenröte, 1881, S. 270 |
Zur
Erziehung. Allmählich ist mir das Licht über den allgemeinsten
Mangel unserer Art Bildung und Erziehung aufgegangen: niemand lernt, niemand strebt
darnach, niemand lehrt die Einsamkeit ertragen.Ders., Morgenröte, 1881, S. 271 |
Rangordnung.
Es gibt erstens oberflächliche Denker, zweitens tiefe Denker
solche, welche in die Tiefe einer Sache gehen , drittens gründliche
Denker, die einer Sache auf den Grund gehen was sehr viel mehr wert ist
als nur in ihre Tiefe hinabsteigen! , endlich solche, welche den Kopf in
den Morast stecken: was doch weder ein Zeichen von Tiefe noch von Gründlichkeit
sein sollte! Es sind die lieben Untergründlichen.Ders., Morgenröte, 1881, S. 271-272 |
Meister
und Schüler. Zur Humanität eines Meisters gehört, seine
Schüler vor sich zu warnen.Ders., Morgenröte, 1881, S. 272 |
Die
Wirklichkeit ehren. Wie kann man dieser jubelnden Volksmenge ohne Tränen
und ohne Zustimmung zusehen! Wir dachten vorher gering von dem Gegenstand ihres
Jubels und würden noch immer so denken, wenn wir ihn nicht erlebt hätten!
Wozu können uns also die Erlebnisse fortreißen! Was sind unsere Meinungen!
Man muß, um sich nicht zu verlieren, um seine Vernunft nicht zu verlieren,
vor den Erlebnissen flüchten! So floh Plato vor der Wirklichkeit und wollte
die Dinge nur in den blassen Gedankenbildern anschauen; er war voller Empfindung
und wußte, wie leicht die Wellen der Empfindung über seiner Vernunft
zusammenschlugen. So hätte sich demnach der Weise zu sagen: »ich
will die Wirklichkeit ehren, aber ihr den Rücken dabei zuwenden, weil
ich sie kenne und fürchte«? er müßte es machen wie
afrikanische Völkerschaften vor ihren Fürsten: welche ihnen nur rückwärts
nahen und ihre Verehrung zu gleich mit ihrer Angst zu zeigen wissen?Ders., Morgenröte, 1881, S. 272 |
Die
Lockung der Erkenntnis. Auf leidenschaftliche Geister wirkt der Blick
durch das Tor der Wissenschaft wie der Zauber aller Zauber; und vermutlich werden
sie dabei zu Phantasten und im günstigen Falle zu Dichtern: so heftig ist
ihre Begierde nach dem Glück der Erkennenden. Geht es euch nicht durch alle
Sinne dieser Ton der süßen Lockung, mit dem die Wissenschaft
ihre frohe Botschaft verkündet hat, in hundert Worten und im hundert-ersten
und schönsten: »Laß den Wahn schwinden! Dann ist auch das Wehe
mir! verschwunden; und mit dem "Wehe mir!" ist auch das Wehe dahin.«
(Mark Aurel.)Ders., Morgenröte, 1881, S. 274 |
Wem
ein Hofnarr nötig ist. Die sehr Schönen, die sehr Guten,
die sehr Mächtigen erfahren fast nie über irgend etwas die volle und
gemeine Wahrheit denn in ihrer Gegenwart lügt man unwillkürlich
ein wenig, weil man ihre Wirkungen empfindet und diesen Wirkungen gemäß
das, was man an Wahrheit mitteilen könnte, in der Form einer Anpassung
vorbringt (also Farben und Grade des Tatsächlichen fälscht Einzelheiten
wegläßt oder hinzutut und das, was sich gar nicht anpassen lassen will,
hinter seinen Lippen zurückbehält). Wollen Menschen der Art trotz alledem
und durchaus die Wahrheit hören, so müssen sie sich ihren Hofnarren
halten ein Wesen mit dem Vorrechte des Verrückten, sich nicht anpassen
zu können.Ders., Morgenröte, 1881, S. 274 |
Moralisches
Interregnum. Wer wäre jetzt schon imstande, das zu beschreiben,
was einmal die moralischen Gefühle und Urteile ablösen wird!
so sicher man auch einzusehen vermag, daß diese in allen Fundamenten irrtümlich
angelegt sind und ihr Gebäude der Reparatur unfähig ist: ihre Verbindlichkeit
muß von Tag zu Tage immer abnehmen, sofern nur die Verbindlichkeit der Vernunft
nicht abnimmt! Die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufbauen zu dieser
Aufgabe sind unsere Wissenschaften der Physiologie, Medizin, Gesellschafts- und
Einsamkeitslehre ihrer selbst noch nicht sicher genug: und nur aus ihnen kann
man die Grundsteine für neue Ideale (wenn auch nicht die neuen Ideale selber)
entnehmen. So leben wir denn ein vorläufiges Dasein oder ein nachläufiges
Dasein, je nach Geschmack und Begabung, und tun am besten, in diesem Interregnum
so sehr als nur möglich, unsre eigenen reges zu sein und kleine Versuchsstaaten
zu gründen. Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!Ders., Morgenröte, 1881, S. 275 |
Die
erste Natur. So wie man uns jetzt erzieht, bekommen wir zuerst eine
zweite Natur: und wir haben sie, wenn die Welt uns reif, mündig, brauchbar
nennt. Einige wenige sind Schlangen genug, um diese Haut eines Tages abzustoßen:
dann, wenn unter ihrer Hülle ihre erste Natur reif geworden ist. Bei
den meisten vertrocknet der Keim davon.Ders., Morgenröte, 1881, S. 276 |
Seine
gefährlichen Stunden ausnützen. Man lernt einen Menschen
und einen Zustand ganz anders kennen, wenn Gefahr um Hab und Gut, Ehre, Leben
und Tod, für uns und unsere Liebsten, in jeder ihrer Bewegungen liegt: wie
zum Beispiel Tiberius tiefer über das Innre des Kaisers Augustus und seines
Regimentes nachgedacht und mehr davon gewußt haben muß, als dem weisesten
Historiker es auch nur möglich wäre. Nun leben wir alle vergleichungsweise
in einer viel zu großen Sicherheit, als daß wir gute Menschenkenner
werden könnten: der eine erkennt aus Liebhaberei, der andere aus Langerweile,
der dritte aus Gewohnheit; niemals heißt es: »erkenne, oder geh zugrunde!«
Solange sich uns die Wahrheiten nicht mit Messern ins Fleisch schneiden, haben
wir in uns einen geheimen Vorbehalt der Geringschätzung gegen sie: sie scheinen
uns immer noch den »gefiederten Träumen« zu ähnlich, wie
als ob wir sie haben und auch nicht haben könnten als ob etwas an
ihnen in unserm Belieben stünde, als ob wir auch von diesen unsern Wahrheiten
erwachen könnten!Ders., Morgenröte, 1881, S. 278 |
Zweimal
Geduld. »Damit machst du vielen Menschen Schmerz.«
Ich weiß es; und weiß auch dies, daß ich doppelt dafür
leiden muß, einmal durch Mitleid an ihrem Leide und dann durch die Rache,
die sie an mir nehmen werden. Aber trotzdem ist es nicht weniger nötig, so
zu tun, wie ich tue.Ders., Morgenröte, 1881, S. 281 |
Das
Reich der Schönheit ist größer. Wie wir in der Natur
herumgehen, listig und froh, um die allem eigene Schönheit zu entdecken und
gleichsam auf der Tat zu ertappen, wie wir bald bei Sonnenschein, bald bei gewitterhaftem
Himmel, bald in der bleichsten Dämmerung einen Versuch machen, jenes Stück
Küste mit Felsen, Meerbuchten, Ölbäumen und Pinien so zu sehen,
wie es zu seiner Vollkommenheit und Meisterschaft kommt: so sollten wir auch unter
den Menschen umhergehen, als ihre Entdecker und Ausspäher, Gutes und Böses
ihnen erweisend, damit die ihnen eigene Schönheit sich offenbare, welche
bei diesem sonnenhaft, bei jenem gewitterhaft und bei einem dritten erst in der
halben Nacht und bei Regenhimmel sich entfaltet. Ist es denn verboten, den bösen
Menschen als eine wilde Landschaft zu genießen, die ihre eigenen
kühnen Linien und Lichtwirkungen hat, wenn derselbe Mensch, so lange er sich
gut und gesetzlich stellt, unserm Auge wie eine Verzeichnung und Karikatur erscheint
und als ein Flecken in der Natur uns Pein macht? -Ja, es ist verboten: bisher
war es nur erlaubt, im Moralisch-Guten nach Schönheit zu suchen,
Grund genug, daß man so wenig gefunden und sich so viel nach imaginären
Schönheiten ohne Knochen hat umtun müssen! -So gewiß es hundert
Arten von Glück bei den Bösen gibt, von denen die Tugendhaften nichts
ahnen, so gibt es an ihnen auch hundert Arten von Schönheit: und viele sind
noch nicht entdeckt.Ders., Morgenröte, 1881, S. 282 |
Die
Unmenschlichkeit des Weisen. Bei dem schweren, alles zermalmenden Gange
des Weisen, welcher, nach dem buddhistischen Liede, »einsam wandelt wie
das Rhinozeros«, bedarf es von Zeit zu Zeit der Zeichen einer versöhnlichen
und gemilderten Menschlichkeit: und zwar nicht nur jener schnelleren Schritte,
jener artigen und geselligen Wendungen des Geistes, nicht nur des Witzes und einer
gewissen Selbstverspottung, sondern selbst der Widersprüche, der gelegentlichen
Rückfälle in die herrschende Ungereimtheit. Damit er nicht der Walze
gleiche, welche wie das Verhängnis daherrollt, muß der Weise, der lehren
will, seine Fehler zu seiner Beschönigung gebrauchen, und indem er sagt »verachtet
mich!« bittet er um die Gunst, der Fürsprecher einer anmaßlichen
Wahrheit zu sein. Er will euch ins Gebirge führen, er wird euer Leben vielleicht
in Gefahr bringen: dafür überläßt er es euch willig, vorher
und nachher, an einem solchen Führer Rache zu nehmen es ist der Preis,
um den er sich selber den Genuß macht voranzugehen. Gedenkt
ihr dessen, was euch durch den Sinn ging als er euch einmal durch eine finstere
Höhle auf schlüpfrigen Wegen geleitete? Wie euer Herz, klopfend und
mißmutig, sich sagte: »dieser Führer da könnte Besseres
tun als hier herumzukriechen! Er gehört zu einer neugierigen Art von Müßiggängern;
ist es nicht schon zu viel Ehre für ihn, daß wir ihm überhaupt
einen Wert zuzuerkennen scheinen, indem wir ihm folgen?«Ders., Morgenröte, 1881, S. 282-283 |
Sich
nicht rechtfertigen. A: Aber warum willst du dich nicht rechtfertigen?
B: Ich könnte es, hierin und in hundert Dingen, aber ich verachte
das Vergnügen, das in der Rechtfertigung liegt: denn diese Dinge sind für
mich nicht groß genug, und lieber will ich Flecken an mir tragen, als jenen
Kleinlichen zu ihrer hämischen Freude zu verhelfen, daß sie sagen könnten:
»er nimmt diese Dinge doch sehr wichtig!« Dies ist eben nicht wahr!
Vielleicht müßte mir noch mehr an mir selber gelegen sein, um eine
Pflicht zu haben, fehlerhafte Vorstellungen über mich zu berichtigen,
ich bin zu gleichgültig und träge gegen mich und so auch gegen das,
was durch mich gewirkt wird.Ders., Morgenröte, 1881, S. 284 |
Wo
man sein Haus bauen soll. Wenn du in der Einsamkeit dich groß
und fruchtbar fühlst, so wird dich die Geselligkeit verkleinern und veröden:
und umgekehrt. Machtvolle Milde, wie die eines Vaters: wo diese Stimmung
dich ergreift, da gründe dein Haus, sei es nun im Gewühl oder in der
Stille. Ubi pater sum, ibi patria.Ders., Morgenröte, 1881, S. 285 |
Schwer
werden. Ihr kennt ihn nicht: er kann viel Gewichte an sich hängen,
er nimmt sie doch alle mit in die Höhe. Und ihr schließt, nach eurem
kleinen Flügelschlage, er wolle unten bleiben, weil er diese
Gewichte an sich hänge!Ders., Morgenröte, 1881, S. 285 |
Am
Erntefeste des Geistes. Das häuft sich von Tag zu Tage und quillt
auf, Erfahrungen, Erlebnisse, Gedanken über sie und Träume über
diese Gedanken ein unermeßlicher, entzückender Reichtum! Sein
Anblick macht schwindeln; ich begreife nicht mehr, wie man die Geistig-Armen selig
preisen kann! Aber ich beneide sie mitunter dann, wenn ich müde bin:
denn die Verwaltung eines solchen Reichtums ist eine schwere Sache, und
ihre Schwere erdrückt nicht selten alles Glück. Ja, wenn es genügte,
ihn nur anzublicken! Wenn man nur der Geizhals seiner Erkenntnisse wäre!Ders., Morgenröte, 1881, S. 285-286 |
Von
der Skepsis erlöst. A: Andre kommen mißlaunig und schwach,
zernagt, wurmstichig, ja halb zerfressen aus einer allgemeinen moralischen Skepsis
heraus ich aber mutiger und gesünder als je, mit wiedererworbenen
Instinkten. Wo scharfer Wind weht, die See hoch geht und keine kleine Gefahr zu
bestehen ist, da wird mir wohl. Zum Wurm bin ich nicht geworden, ob ich gleich
oftmals wie ein Wurm habe arbeiten und graben müssen. B: Du hast eben
aufgehört, Skeptiker zu sein! Denn du verneinst! A:
Und damit habe ich wieder Ja-sagen gelernt.Ders., Morgenröte, 1881, S. 286 |
Liebe
und Wahrhaftigkeit. Wir sind aus Liebe arge Verbrecher an der Wahrheit
und gewohnte Hehler und Stehler, welche mehr wahr sein lassen, als uns wahr scheint,
deshalb muß der Denker immer wieder von Zeit zu Zeit die Personen,
welche er liebt (es werden nicht gerade die sein, welche ihn lieben), in die Flucht
jagen, damit sie ihren Stachel und ihre Bosheit zeigen und aufhören, ihn
zu verführen. Demnach wird die Güte des Denkers ihren ab- und
zunehmenden Mond haben.Ders., Morgenröte, 1881, S. 287 |
Auch
deshalb Einsamkeit! A: So willst du wieder in deine Wüste zurück?
B: Ich bin nicht schnell, ich muß auf mich warten es wird
spät, bis jedesmal das Wasser aus dem Brunnen meines Selbst ans Licht kommt,
und oft muß ich länger Durst leiden, als ich Geduld habe. Deshalb gehe
ich in die Einsamkeit um nicht aus den Zisternen für jedermann zu
trinken. Unter vielen lebe ich wie viele und denke nicht wie ich; nach einiger
Zeit ist es mir dann immer, als wolle man mich aus mir verbannen und mir die Seele
rauben und ich werde böse auf jedermann und fürchte jedermann.
Die Wüste tut mir dann not, um wieder gut zu werden.Ders., Morgenröte, 1881, S. 292 |
Das
böse Prinzip. Plato hat es prachtvoll beschrieben, wie der philosophische
Denker inmitten jeder bestehenden Gesellschaft als der Ausbund aller Ruchlosigkeit
gelten muß: denn als Kritiker aller Sitten ist er der Gegensatz des sittlichen
Menschen, und wenn er es nicht so weit bringt, der Gesetzgeber neuer Sitten zu
werden, so bleibt er in der Erinnerung der Menschen zurück als »das
böse Prinzip«. Wir dürfen hieraus erraten, wie die ziemlich freisinnige
und neuerungssüchtige Stadt Athen dem Rufe Platos bei seinen Lebzeiten mitgespielt
hat: was Wunders, daß er der, wie er selber sagt, den »politischen
Trieb« im Leibe hatte dreimal einen Versuch in Sizilien gemacht hat,
wo sich damals gerade ein gesamtgriechischer Mittelmeer-Staat vorzubereiten schien?
In ihm und mit seiner Hilfe gedachte Plato für alle Griechen das zu tun,
was Mohammed später für seine Araber tat: die großen und kleinen
Bräuche und namentlich die tägliche Lebensweise von jedermann festzusetzen.
Möglich waren seine Gedanken so gewiß die des Mohammed möglich
waren: sind doch viel unglaublichere die des Christentums, als möglich bewiesen
worden! Ein paar Zufälle weniger und ein paar andere Zufälle mehr
und die Welt hätte die Platonisierung des europäischen Südens erlebt;
und gesetzt, dieser Zustand dauerte jetzt noch fort, so würde mutmaßlich
in Plato das »gute Prinzip« von uns verehrt werden. Aber der Erfolg
fehlte ihm: und so blieb ihm der Ruf eines Phantasten und Utopisten die
härteren Namen sind mit dem alten Athen zugrunde gegangen.Ders., Morgenröte, 1881, S. 294 |
Das
reinmachende Auge. Von »Genius« wäre am ehesten bei
solchen Menschen zu reden, wo der Geist, wie bei Plato, Spinoza und Goethe, an
den Charakter und das Temperament nur lose angeknüpft erscheint, als
ein beflügeltes Wesen, das sich von jenen leicht trennen und sich dann weit
über sie erheben kann. Dagegen haben gerade solche am lebhaftesten von ihrem
»Genius« gesprochen, welche von ihrem Temperament nie loskamen
und ihm den geistigsten, größten, allgemeinsten, ja unter Umständen
kosmischen Ausdruck zu geben wußten (wie zum Beispiel Schopenhauer). Diese
Genies konnten nicht über sich hinausfliegen, aber sie glaubten sich vorzufinden,
wiederzufinden, wohin sie auch nur flogen, das ist ihre »Größe«,
und kann Größe sein! Die anderen, welchen der Name eigentlicher
zukommt, haben das reine, reinmachende Auge, das nicht aus ihrem Temperament
und Charakter gewachsen scheint, sondern frei von ihnen und meist in einem milden
Widerspruch gegen sie auf die Welt wie auf einen Gott blickt und diesen Gott liebt.
Auch ihnen ist aber dieses Auge nicht mit einem Male geschenkt: es gibt eine Übung
und Vorschule des Sehens, und wer rechtes Glück hat, findet zur rechten Zeit
auch einen Lehrer des reinen Sehens.Ders., Morgenröte, 1881, S. 295 |
Nicht
fordern! Ihr kennt ihn nicht! Ja, er unterwirft sich leicht
und frei den Menschen und den Dingen und ist gütig gegen beide; seine einzige
Bitte ist, in Ruhe gelassen zu werden, aber nur solange Menschen
und Dinge nicht Unterwerfung fordern. Alles Fordern macht ihn stolz, scheu
und kriegerisch.Ders., Morgenröte, 1881, S. 295 |
Sterbliche
Seelen! In betreff der Erkenntnis ist vielleicht die nützlichste
Errungenschaft: daß der Glaube an die unsterbliche Seele aufgegeben ist.
Jetzt darf die Menschheit warten, jetzt hat sie nicht mehr nötig, sich zu
überstürzen und halbgeprüfte Gedanken hinunterzuwürgen, wie
sie ehedem mußte. Denn damals hing das Heil der armen »ewigen Seele«
von ihren Erkenntnissen während des kurzen Lebens ab, sie mußte sich
von heut zu morgen entscheiden die »Erkenntnis« hatte
eine entsetzliche Wichtigkeit! Wir haben den guten Mut zum Irren, Versuchen, Vorläufig-nehmen
wieder erobert es ist alles nicht so wichtig! und gerade deshalb
können Individuen und Geschlechter jetzt Aufgaben von einer Großartigkeit
ins Auge fassen, welche früheren Zeiten als Wahnsinn und Spiel mit Himmel
und Hölle erschienen sein würden. Wir dürfen mit uns selber experimentieren!
Ja die Menschheit darf es mit sich! Die größten Opfer sind der Erkenntnis
noch nicht gebracht worden ja, es wäre früher Gotteslästerung
und Preisgeben des ewigen Heils gewesen, solche Gedanken auch nur zu ahnen,
wie sie unserm Tun jetzt voranlaufen.Ders., Morgenröte, 1881, S. 297 |
Freundschaft.
Jener Einwand gegen das philosophische Leben, daß man mit ihm seinen
Freunden unnützlich werde, wäre nie einem Modernen gekommen:
er ist antik. Das Altertum hat die Freundschaft tief und stark ausgelebt, ausgedacht
und fast mit sich ins Grab gelegt. Dies ist sein Vorsprung vor uns: dagegen haben
wir die idealisierte Geschlechtsliebe aufzuweisen. Alle großen Tüchtigkeiten
der antiken Menschen hatten darin ihren Halt, daß Mann neben Mann
stand, und daß nicht ein Weib den Anspruch erheben durfte, das Nächste,
Höchste, ja Einzige seiner Liebe zu sein, wie die Passion zu empfinden
lehrt. Vielleicht wachsen unsere Bäume nicht so hoch, wegen des Efeus und
der Weinreben daran.Ders., Morgenröte, 1881, S. 298 |
Die
Praktischen. Wir Denker haben den Wohlgeschmack aller Dinge
erst festzustellen und nötigenfalls ihn zu dekretieren. Die praktischen Leute
nehmen ihn endlich von uns an, ihre Abhängigkeit von uns ist unglaublich
groß und das lächerlichste Schauspiel der Welt, so wenig sie um dieselbe
wissen und so stolz sie über uns Unpraktische hinwegzureden lieben: ja sie
würden ihr praktisches Leben geringschätzen, wenn wir es geringschätzen
wollten: wozu uns hier und da ein kleines Rachegelüst reizen könnte.Ders., Morgenröte, 1881, S. 298-299 |
Nicht
pathetisch nehmen. Das, was wir tun, um uns zu nützen soll uns
keinen moralischen Lobspruch eintragen, weder von andern, noch von uns selber;
ebensowenig das, was wir tun, um uns an uns zu freuen. In solchen Fällen
das Pathetisch-nehmen abweisen und sich selber alles Pathetischen enthalten ist
der gute Ton bei allen höheren Menschen: und wer sich an ihn gewöhnt
hat, dem ist die Naivität wiedergeschenkt.Ders., Morgenröte, 1881, S. 300 |
Die
Versucherin. Die Ehrlichkeit ist die große Versucherin aller
Fanatiker. Was sich Luthern in Gestalt des Teufels oder eines schönen Weibes
zu nahen schien und was er auf jene ungeschlachte Manier von sich abwehrte, war
wohl die Ehrlichkeit und vielleicht, in seltneren Fällen, sogar die Wahrheit.Ders., Morgenröte, 1881, S. 301 |
An
die Stärkeren. Ihr stärkeren und hochmütigen Geister,
nur um eins seid gebeten: legt uns anderen keine neue Last auf, sondern nehmt
etwas von unserer Last auf euch, da ihr ja die Stärkeren seid! Aber ihr macht
es so gerne umgekehrt: denn ihr wollt fliegen, und deshalb sollen wir auch noch
eure Last zu unsrer tragen: das heißt wir sollen kriechen!Ders., Morgenröte, 1881, S. 301-302 |
Zur
Liebe verführen. Wer sich selber haßt, den haben wir zu
fürchten, denn wir werden die Opfer seines Grolls und seiner Rache sein.
Sehen wir also zu, wie wir ihn zur Liebe zu sich selber verführen!Ders., Morgenröte, 1881, S. 302 |
Die
kleinen Dosen. Soll eine Veränderung möglichst in die Tiefe
gehen, so gebe man das Mittel in den kleinsten Dosen, aber unablässig auf
weite Zeitstrecken hin! Was ist Großes auf einmal zu schaffen? So
wollen wir uns hüten, den Zustand der Moral, an den wir gewöhnt sind,
mit einer neuen Wertschätzung der Dinge Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeiten
zu vertauschen, nein, wir wollen in ihm noch lange, lange fortleben
bis wir, sehr spät vermutlich, inne werden, daß die neue Wertschätzung
in uns zur überwiegenden Gewalt geworden ist und daß die kleinen Dosen
derselben, an die wir uns von jetzt abgewöhnen müssen, eine neue
Natur in uns gelegt haben. Man fängt ja an, auch dies einzusehen,
daß der letzte Versuch einer großen Veränderung der Wertschätzungen,
und zwar in bezug auf die politischen Dinge die »große Revolution«
, nicht mehr war als eine pathetische und blutige Quacksalberei, welche
durch plötzliche Krisen dem gläubigen Europa die Hoffnung auf plötzliche
Genesung beizubringen wußte und damit alle politischen Kranken bis
auf diesen Augenblick ungeduldig und gefährlich gemacht hat.Ders., Morgenröte, 1881, S. 309 |
Wie
man versteinern soll. Langsam, langsam hart werden wie ein Edelstein
und zuletzt still und zur Freude der Ewigkeit liegen bleiben.Ders., Morgenröte, 1881, S. 313 |
Bis
zum Haß gegen die Kritik, die Wissenschaft, die Vernunft treibt ihr es!
Ihr müßt die Geschichte fälschen, damit sie für euch zeugt,
ihr müßt Tugenden leugnen, damit sie die eurer Abgötter und Ideale
nicht in Schatten stellen!Ders., Morgenröte, 1881, S. 317 |
Das
Christentum war für eine andere Gattung antiker Sklaven gemacht, für
die willens- und vernunftschwachen, also für die große Masse der Sklaven.Ders., Morgenröte, 1881, S. 320 |
Der
Wahn der sittlichen Weltordnung. Es gibt gar keine ewige Notwendigkeit,
welche forderte, daß jede Schuld gebüßt und bezahlt werde
es war ein schrecklicher, zum kleinsten Teile nützlicher Wahn, daß
es eine solche gäbe : ebenso wie es ein Wahn ist, daß alles eine
Schuld ist, was als solche gefühlt wird. Nicht die Dinge, sondern
die Meinungen über Dinge, die es gar nicht gibt, haben den Menschen
so verstört!Ders., Morgenröte, 1881, S. 331-332 |
Dichter
und Vogel. Der Vogel Phönix zeigte dem Dichter eine glühende
und verkohlende Rolle. »Erschrick nicht!« sagte er, »es ist
dein Werk! Es hat nicht den Geist der Zeit und noch weniger den Geist derer, die
gegen die Zeit sind: folglich muß es verbrannt werden. Aber dies ist ein
gutes Zeichen. Es gibt manche Arten von Morgenröten.«Ders., Morgenröte, 1881, S. 333-334 |
Feld-Apotheke
der Seele. Welches ist das stärkste Heilmittel? Der Sieg.Ders., Morgenröte, 1881, S. 334 |
Das
Leben soll uns beruhigen. Wenn man, wie der Denker, für gewöhnlich
in dem großen Strome des Gedankens und Gefühls lebt, und selbst unsere
Träume in der Nacht diesem Strome folgen: so begehrt man vom Leben
Beruhigung und Stille, während andre gerade vom Leben ausruhen wollen,
wenn sie sich der Meditation übergeben.Ders., Morgenröte, 1881, S. 334 |
Wir
Luft-Schiffahrer des Geistes! Alle diese kühnen Vögel, die
ins Weite, Weiteste hinausfliegen gewiß! irgendwo werden sie nicht
mehr weiter können und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe
niederhocken und noch dazu so dankbar für diese erbärmliche Unterkunft!
Aber wer dürfte daraus schließen, daß es vor ihnen keine ungeheure
freie Bahn mehr gebe, daß sie so weit geflogen sind, als man fliegen könne!
Alle unsere großen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben,
und es ist nicht die edelste und anmutigste Gebärde, mit der die Müdigkeit
stehen bleibt: auch mir und dir wird es so ergehen! Was geht das aber mich und
dich an! Andre Vögel werden weiter fliegen! Diese unsere Einsicht
und Gläubigkeit fliegt mit ihnen um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt
geradewegs über unserm Haupte und über seiner Ohnmacht in die Höhe
und sieht von dort aus in die Ferne, sieht die Scharen viel mächtigerer Vögel,
als wir sind, voraus, die dahin streben werden, wohin wir strebten, und wo alles
noch Meer, Meer, Meer ist! Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn über
das Meer ? Wohin reißt uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr
gilt als irgendeine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher
alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man vielleicht uns
einstmals nachsagen, daß auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu
erreichen hofften, daß aber unser Los war, an der Unendlichkeit
zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder?Ders., Morgenröte, 1881, S. 335-336 |
Ich
wohne in meinem eignen Haus, // Hab niemandem nie nichts nachgemacht // Und
lachte noch jeden Meister aus, // Der nicht sich selber ausgelacht.Über
meiner Haustür Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, Leitspruch |
Die
Dankbarkeit strömt fortwährend aus, als ob eben das Unerwartetste geschehn
sei, die Dankbarkeit eines Genesenden denn die Genesung war dieses
Unerwartetste. »Fröhliche Wissenschaft«: das bedeutet die Saturnalien
eines Geistes, der einem furchtbaren langen Drucke geduldig widerstanden hat
geduldig, streng, kalt, ohne sich zu unterwerfen, aber ohne Hoffnung und
der jetzt mit einem Male von der Hoffnung angefallen wird, von der Hoffnung auf
Gesundheit, von der Trunkenheit der Genesung.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 7 |
Aber
lassen wir Herrn Nietzsche: was geht es uns an, daß Herr Nietzsche wieder
gesund wurde? .... Ein Psychologe kennt wenig so anziehende Fragen, wie die nach
dem Verhältnis von Gesundheit und Philosophie, und für den Fall, daß
er selber krank wird, bringt er seine ganze wissenschaftliche Neugierde mit in
seine Krankheit. Man hat nämlich, vorausgesetzt, daß man eine Person
ist, notwendig auch die Philosophie seiner Person: doch gibt es da einen erheblichen
Unterschied. Bei dem einen sind es seine Mängel, welche philosophieren, bei
dem andren seine Reichtümer und Kräfte.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 8 |
Wir
müssen beständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und
mütterlich ihnen alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft,
Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängnis in uns haben. Leben das heißt
für uns alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln;
auch alles, was uns trifft, wir können gar nicht anders. Und was die
Krankheit angeht: würden wir nicht fast zu fragen versucht sein, ob sie uns
überhaupt entbehrlich ist? Erst der große Schmerz ist der letzte Befreier
des Geistes, als der Lehrmeister des großen Verdachtes, der aus jedem
U ein X macht, ein echtes rechtes X, das heißt den vorletzten Buchstaben
vor dem letzten .... Erst der große Schmerz, jener lange langsame Schmerz,
der sich Zeit nimmt, in dem wir gleichsam wie mit grünem Holze verbrannt
werden, zwingt uns Philosophen, in unsre letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen,
alles Gutmütige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohinein wir vielleicht
vordem unsre Menschlichkeit gesetzt haben, von uns zu tun. Ich zweifle, ob ein
solcher Schmerz »verbessert«-; aber ich weiß, daß er uns
vertieft. Sei es nun, daß wir ihm unsern Stolz, unsern Hohn, unsre Willenskraft
entgegenstellen lernen und es dem Indianer gleichtun, der, wie schlimm auch gepeinigt,
sich an seinem Peiniger durch die Bosheit seiner Zunge schadlos hält; sei
es, daß wir uns vor dem Schmerz in jenes orientalische Nichts zurückziehen
man heißt es Nirwana , in das stumme, starre, taube Sich-Ergeben,
Sich-Vergessen, Sich-Auslöschen: man kommt aus solchen langen gefährlichen
Übungen der Herrschaft über sich als ein andrer Mensch heraus, mit einigen
Fragezeichen mehr, vor allem mit dem Willen, fürderhin mehr, tiefer,
strenger, härter, böser, stiller zu fragen, als man bis dahin gefragt
hatte. Das Vertrauen zum Leben ist dahin: das Leben selbst wurde zum Problem.
Möge man ja nicht glauben, daß einer damit notwendig zum Düsterling
geworden sei! Selbst die Liebe zum Leben ist noch möglich nur liebt
man anders. Es ist die Liebe zu einem Weibe, das uns Zweifel macht .... Der Reiz
alles Problematischen, die Freude am X ist aber bei solchen geistigeren, vergeistigteren
Menschen zu groß, als daß diese Freude nicht immer wieder wie eine
helle Glut über alle Not des Problematischen, über alle Gefahr der Unsicherheit,
selbst über die Eifersucht des Liebenden zusammenschlüge. Wir kennen
ein neues Glück.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 11-12 |
Zuletzt,
daß das Wesentlichste nicht ungesagt bleibe: man kommt aus solchen Abgründen,
aus solchem schweren Siechtum, auch aus dem Siechtum des schweren Verdachts, neugeboren
zurück, gehäutet, kitzliger, boshafter, mit einem feineren Geschmacke
für die Freude, mit einer zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren
Sinnen, mit einer zweiten gefährlicheren Unschuld in der Freude, kindlicher
zugleich und hundertmal raffinierter, als man jemals vorher gewesen war.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 12 |
Wenn
wir Genesenden überhaupt eine Kunst noch brauchen, so ist es eine andre
Kunst eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich
unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, welche wie eine helle Flamme
in einen unbewölkten Himmel hineinlodert! Vor allem: eine Kunst für
Künstler, nur für Künstler! Wir verstehn uns hinterdrein besser
auf das, was dazu zuerst nottut, die Heiterkeit, jede Heiterkeit, meine Freunde!
auch als Künstler : ich möchte es beweisen. Wir wissen einiges
jetzt zu gut, wir Wissenden: oh wie wir nunmehr lernen, gut zu vergessen, gut
nicht-zu-wissen, als Künstler!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 13 |
»Ist
es wahr, daß der liebe Gott überall zugegen ist?« fragte ein
kleines Mädchen seine Mutter: »aber ich finde das unanständig«
ein Wink für Philosophen! Man sollte die Scham besser in Ehren halten,
mit der sich die Natur hinter Rätsel und bunte Ungewißheiten versteckt
hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe
nicht sehen zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 14 |
Zwiegespräch.
A. War ich krank? Bin ich genesen? Und wer ist mein Arzt gewesen? Wie vergaß
ich alles das! B. Jetzt erst glaub ich dich genesen: Denn gesund ist, wer vergaß.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 16 |
Bei
der dritten Häutung. Schon krümmt und bricht sich mir die
Haut, // Schon giert mit neuem Drange, // So viel sie Erde schon verdaut, // Nach
Erd in mir die Schlange. // Schon kriech ich zwischen Stein und Gras // Hungrig
auf krummer Fährte, // Zu essen das, was stets ich aß, // Dich, Schlangenkost,
dich, Erde!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 17 |
Mann
und Weib. »Raub dir das Weib, für das dein Herze fühlt!«
So denkt der Mann; das Weib raubt nicht, es stiehlt.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 20 |
Bitte.
Ich kenne mancher Menschen Sinn // Und weiß nicht, wer ich selber
bin! // Mein Auge ist mir viel zu nah // Ich bin nicht, was ich seh und
sah. // Ich wollte mir schon besser nützen, // Könnt ich mir selber
ferner sitzen. // Zwar nicht so ferne wie mein Feind! // Zu fern sitzt schon der
nächste Freund // Doch zwischen dem und mir die Mitte! // Erratet
ihr, um was ich bitte?Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 20 |
Jugendschriften.
Meiner Weisheit A und O // Klang mir hier: was hört ich doch! // Jetzo
klingt mirs nicht mehr so, // Nur das ewge Ah! und Oh! // Meiner Jugend hör
ich noch.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 24 |
Der
Fromme spricht. Gott liebt uns, weil er uns erschuf! // »Der
Mensch schuf Gott!« sagt drauf ihr Feinen. // Und soll nicht lieben,
was er schuf? // Solls gar, weil er es schuf, verneinen? // Das hinkt, das trägt
des Teufels Huf.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 24 |
Heraklitismus.
Alles Glück auf Erden, // Freunde, gibt der Kampf! // Ja, um Freund
zu werden, // Braucht es Pulverdampf! // Eins in Drein sind Freunde: //Brüder
vor der Not, // Gleiche vor dem Feinde, // Freie vor dem Tod!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 25 |
Zuspruch.
Auf Ruhm hast du den Sinn gericht? // Dann acht der Lehre: // Beizeiten
leiste frei Verzicht // Auf Ehre!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 25 |
Der
Weise spricht. Dem Volke fremd und nützlich doch dem Volke, //
Zieh ich des Weges, Sonne bald, bald Wolke // Und immer über diesem
Volke!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 27 |
Den
Kopf verloren. Sie hat jetzt Geist wie kams, daß
sie ihn fand? // Ein Mann verlor durch sie jüngst den Verstand. // Sein Kopf
war reich vor diesem Zeitvertreibe: // Zum Teufel ging sein Kopf nein!
nein! zum Weibe!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 27 |
Fromme
Wünsche. »Mögen alle Schlüssel doch //
Flugs verloren gehen, // Und in jedem Schlüsselloch // Sich der Dietrich
drehen!« // Also denkt zu jeder Frist // Jeder, der ein Dietrich
ist.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 27 |
Höhere
Menschen. Der steigt empor ihn soll man loben! // Doch
jener kommt allzeit von oben! // Der lebt dem Lobe selbst enthoben, // Der ist
von droben!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 30 |
Ecce
homo. Ja! Ich weiß, woher ich stamme! // Ungesättigt
gleich der Flamme // Glühe und verzehr ich mich. // Licht wird alles, was
ich fasse, // Kohle alles, was ich lasse: // Flamme bin ich sicherlich.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 30 |
Sternen-Moral.
Vorausbestimmt zur Sternenbahn, //Was geht dich, Stern, das Dunkel
an? // Roll selig hin durch diese Zeit! // Ihr Elend sei dir fremd und weit! //
Der fernsten Welt gehört dein Schein: // Mitleid soll Sünde für
dich sein! // Nur ein Gebot gilt dir: sei rein!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 31 |
Der
Haß, die Schadenfreude, die Raub- und Herrschsucht und was alles sonst böse
genannt wird: es gehört zu der erstaunlichen Ökonomie der Arterhaltung,
freilich zu einer kostspieligen, verschwenderischen und im ganzen höchst
törichten Ökonomie welche aber bewiesenermaßen unser
Geschlecht bisher erhalten hat.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, in: Werke in drei
Bänden, 2. Band, S. 33 |
Das
Arterhaltende. Die stärksten und bösesten Geister haben bis
jetzt die Menschheit am meisten vorwärts gebracht: sie entzündeten immer
wieder die einschlafenden Leidenschaften alle geordnete Gesellschaft schläfert
die Leidenschaften ein , sie weckten immer wieder den Sinn der Vergleichung,
des Widerspruchs, der Lust am Neuen, Gewagten, Unerprobten, sie zwangen die Menschen,
Meinungen gegen Meinungen, Musterbilder gegen Musterbilder zu stellen. Mit den
Waffen, mit Umsturz der Grenzsteine, durch Verletzung der Pietäten zumeist:
aber auch durch neue Religionen und Moralen! Dieselbe »Bosheit« ist
in jedem Lehrer und Prediger des Neuen, welche einen Eroberer verrufen
macht, wenn sie auch sich feiner äußert, nicht sogleich die
Muskeln in Bewegung setzt und eben deshalb auch nicht so verrufen macht! Das Neue
ist aber unter allen Umständen das Böse, als das, was erobern,
die alten Grenzsteine und die alten Pietäten umwerfen will; und nur das Alte
ist das Gute! Die guten Menschen jeder Zeit sind die, welche die alten Gedanken
in die Tiefe graben und mit ihnen Frucht tragen, die Ackerbauer des Geistes. Aber
jenes Land wird endlich ausgenützt, und immer wieder muß die Pflugschar
des Bösen kommen. Es gibt jetzt eine gründliche Irrlehre der
Moral, welche namentlich in England sehr gefeiert wird: nach ihr sind die Urteile
»gut« und »böse« die Aufsammlung der Erfahrungen
über »zweckmäßig« und »unzweckmäßig«;
nach ihr ist das »gut« Genannte das Arterhaltende, das »bös«
Genannte aber das der Art Schädliche. In Wahrheit sind aber die bösen
Triebe in ebenso hohem Grade zweckmäßig, arterhaltend und unentbehrlich
wie die guten: nur ist ihre Funktion eine verschiedene.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 40 |
Etwas
für Arbeitsame. Wer jetzt aus den moralischen Dingen ein Studium
machen will, eröffnet sich ein ungeheures Feld der Arbeit. Alle Arten Passionen
müssen einzeln durchdacht, einzeln durch Zeiten, Völker, große
und kleine Einzelne verfolgt werden; ihre ganze Vernunft und alle ihre Wertschätzungen
und Beleuchtungen der Dinge sollen ans Licht hinaus! Bisher hat alles das, was
dem Dasein Farbe gegeben hat, noch keine Geschichte: oder wo gäbe es eine
Geschichte der Liebe, der Habsucht, des Neides, des Gewissens, der Pietät,
der Grausamkeit? Selbst eine vergleichende Geschichte des Rechtes, oder auch nur
der Strafe, fehlt bisher vollständig. Hat man schon die verschiedene Einteilung
des Tages, die Folgen einer regelmäßigen Festsetzung von Arbeit, Fest
und Ruhe zum Gegenstand der Forschung gemacht? Kennt man die moralischen Wirkungen
der Nahrungsmittel? Gibt es eine Philosophie der Ernährung? (Der immer wieder
losbrechende Lärm für und wider den Vegetarismus beweist schon, daß
es noch keine solche Philosophie gibt!) Sind die Erfahrungen über das Zusammenleben,
zum Beispiel die Erfahrungen der Klöster, schon gesammelt? Ist die Dialektik
der Ehe und Freundschaft schon dargestellt? Die Sitten der Gelehrten, der Kaufleute,
Künstler, Handwerker haben sie schon ihre Denker gebunden? Es ist
so viel daran zu denken! Alles, was bis jetzt die Menschen als ihre »Existenz-Bedingungen«
betrachtet haben, und alle Vernunft, Leidenschaft und Aberglaube an dieser Betrachtung
ist dies schon zu Ende erforscht? Allein die Beobachtung des verschiedenen
Wachstums welches die menschlichen Triebe je nach dem verschiedenen moralischen
Klima gehabt haben und noch haben könnten, gibt schon zu viel der Arbeit
für den Arbeitsamsten; es bedarf ganzer Geschlechter und planmäßig
zusammenarbeitender Geschlechter von Gelehrten, um hier die Gesichtspunkte und
das Material zu erschöpfen. Dasselbe gilt von der Nachweisung der Gründe
für die Verschiedenheit des moralischen Klimas (»weshalb leuchtet
hier diese Sonne eines moralischen Grundurteils und Hauptwertmessers und
dort jene?«). Und wieder eine neue Arbeit ist es, welche die Irrtümlichkeit
aller dieser Gründe und das ganze Wesen des bisherigen moralischen Urteils
feststellt. Gesetzt, alle diese Arbeiten seien getan, so träte die heikeligste
aller Fragen in den Vordergrund: ob die Wissenschaft imstande sei, Ziele des Handelns
zu geben, nachdem sie bewiesen hat, daß sie solche nehmen und vernichten
kann, und dann würde ein Experimentieren am Platze sein, an dem jede
Art von Heroismus sich befriedigen könnte, ein jahrhundertelanges Experimentieren,
welches alle großen Arbeiten und Aufopferungen der bisherigen Geschichte
in Schatten stellen könnte. Bisher hat die Wissenschaft ihre Zyklopen-Bauten
noch nicht gebaut; auch dafür wird die Zeit kommen!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 42-43 |
Vom
Ziele der Wissenschaft. Wie? Das letzte Ziel der Wissenschaft sei,
dem Menschen möglichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zu schaffen?
Wie, wenn nun Lust und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft wären,
daß, wer möglichst viel von der einen haben will, auch möglichst
viel von der andern haben muß daß, wer das »Himmelhoch-Jauchzen«
lernen will, sich auch für das »Zum-Tode-betrübt« bereit
halten muß? Und so steht es vielleicht! Die Stoiker glaubten wenigstens,
daß es so stehe, und waren konsequent, als sie nach möglichst wenig
Lust begehrten, um möglichst wenig Unlust vom Leben zu haben. (Wenn man den
Spruch im Munde führte: »Der Tugendhafte ist der Glücklichste«,
so hatte man in ihm sowohl ein Aushängeschild der Schule für die große
Masse, als auch eine kasuistische Feinheit für die Feinen.) Auch heute noch
habt ihr die Wahl: entweder möglichst wenig Unlust, kurz Schmerzlosigkeit
und im Grunde dürften Sozialisten und Politiker aller Parteien ihren
Leuten ehrlicherweise nicht mehr verheißen oder möglichst
viel Unlust als Preis für das Wachstum einer Fülle von feinen und
bisher selten gekosteten Lüsten und Freuden! Entschließt ihr euch für
das erstere, wollt ihr also die Schmerzhaftigkeit der Menschen herabdrücken
und vermindern, nun, so müßt ihr auch ihre Fähigkeit zur Freude
herabdrücken und vermindern. In der Tat kann man mit der Wissenschaft
das eine wie das andre Ziel fördern! Vielleicht ist sie jetzt noch bekannter
wegen ihrer Kraft, den Menschen um seine Freuden zu bringen und ihn kälter,
statuenhafter, stoischer zu machen. Aber sie könnte auch noch als die große
Schmerzbringerin entdeckt werden und dann würde vielleicht zugleich
ihre Gegenkraft entdeckt sein, ihr ungeheures Vermögen, neue Sternenwelten
der Freude aufleuchten zu lassen!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 47-48 |
Antiker
Stolz. Die antike Färbung der Vornehmheit fehlt uns, weil unserm
Gefühle der antike Sklave fehlt. Ein Grieche edler Abkunft fand zwischen
seiner Höhe und jener letzten Niedrigkeit solche ungeheure Zwischen-Stufen
und eine solche Ferne, daß er den Sklaven kaum noch deutlich sehen konnte:
selbst Plato hat ihn nicht ganz mehr gesehen. Anders wir, gewöhnt wie wir
sind an die Lehre von der Gleichheit der Menschen, wenn auch nicht an die
Gleichheit selber. Ein Wesen, das nicht über sich selber verfügen kann
und dem die Muße fehlt das gilt unserm Auge noch keineswegs als etwas
Verächtliches; es ist von derlei Sklavenhaftem vielleicht zu viel an jedem
von uns, nach den Bedingungen unserer gesellschaftlichen Ordnung und Tätigkeit,
welche grundverschieden von denen der Alten sind. Der griechische Philosoph
ging durch das Leben mit dem geheimen Gefühle, daß es viel mehr Sklaven
gebe, als man vermeine nämlich daß jedermann Sklave sei, der
nicht Philosoph sei; sein Stolz schwoll über, wenn er erwog, daß auch
die Mächtigsten der Erde unter diesen seinen Sklaven seien. Auch dieser Stolz
ist uns fremd und unmöglich: nicht einmal im Gleichnis hat das Wort »Sklave«
für uns seine volle Kraft.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 53 |
Das
Böse. Prüfet das Leben der besten und fruchtbarsten Menschen
und Völker und fragt euch, ob ein Baum, der stolz in die Höhe wachsen
soll, des schlechten Wetters und der Stürme entbehren könne: ob Ungunst
und Widerstand von außen, ob irgendwelche Arten von Haß, Eifersucht,
Eigensinn, Mißtrauen, Härte, Habgier und Gewaltsamkeit nicht zu den
begünstigenden Umständen gehören, ohne welche ein großes
Wachstum selbst in der Tugend kaum möglich ist? Das Gift, an dem die schwächere
Natur zugrunde geht, ist für den Starken Stärkung und er nennt
es auch nicht Gift.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 53-54 |
Würde
der Torheit. Einige Jahrtausende weiter auf der Bahn des letzten Jahrhunderts!
und in allem, was der Mensch tut, wird die höchste Klugheit sichtbar
sein: aber eben damit wird die Klugheit alle ihre Würde verloren haben. Es
ist dann zwar notwendig, klug zu sein, aber auch so gewöhnlich und so gemein,
daß ein edlerer Geschmack diese Notwendigkeit als eine Gemeinheit
empfinden wird. Und ebenso wie eine Tyrannei der Wahrheit und Wissenschaft imstande
wäre, die Lüge hoch im Preise steigen zu machen, so könnte eine
Tyrannei der Klugheit eine neue Gattung von Edelsinn hervortreiben. Edel sein
das hieße dann vielleicht: Torheiten im Kopfe haben.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 54 |
An
die Lehrer der Selbstlosigkeit. Man nennt die Tugenden eines Menschen
gut, nicht in Hinsicht auf die Wirkungen, welche sie für ihn selber
haben, sondern in Hinsicht auf die Wirkungen, welche wir von ihnen für uns
und die Gesellschaft voraussetzen man ist von jeher im Lobe der Tugenden
sehr wenig »selbstlos«, sehr wenig »unegoistisch« gewesen!
Sonst nämlich hätte man sehen müssen, daß die Tugenden (wie
Fleiß, Gehorsam, Keuschheit, Pietät, Gerechtigkeit) ihren Inhabern
meistens schädlich sind, als Triebe, welche allzu heftig und begehrlich
in ihnen walten und von der Vernunft sich durchaus nicht im Gleichgewicht zu den
andern Trieben halten lassen wollen. Wenn du eine Tugend hast, eine wirkliche,
ganze Tugend (und nicht nur ein Triebchen nach einer Tugend!) so bist du
ihr Opfer! Aber der Nachbar lobt eben deshalb deine Tugend! Man lobt den
Fleißigen, ob er gleich die Sehkraft seiner Augen oder die Ursprünglichkeit
und Frische seines Geistes mit diesem Fleiße schädigt: man ehrt und
bedauert den Jüngling, welcher sich »zuschanden gearbeitet hat«,
weil man urteilt: »Für das ganze Große der Gesellschaft ist auch
der Verlust des besten einzelnen nur ein kleines Opfer! Schlimm, daß das
Opfer nottut! Viel schlimmer freilich, wenn der einzelne anders denken und seine
Erhaltung und Entwicklung wichtiger nehmen sollte, als seine Arbeit im Dienste
der Gesellschaft!« Und so bedauert man diesen Jüngling, nicht um seiner
selbst willen, sondern weil ein ergebenes und gegen sich rücksichtsloses
Werkzeug ein sogenannter »braver Mensch« durch
diesen Tod der Gesellschaft verlorengegangen ist. Vielleicht erwägt man
noch, ob es im Interesse der Gesellschaft nützlicher gewesen sein würde,
wenn er minder rücksichtslos gegen sich gearbeitet und sich länger erhalten
hätte ja man gesteht sich wohl einen Vorteil davon zu, schlägt
aber jenen andern Vorteil, daß ein Opfer gebracht ist und die Gesinnung
des Opfertiers sich wieder einmal augenscheinlich bestätigt hat, für
höher und nachhaltiger an. Es ist also einmal die Werkzeug-Natur in den Tugenden,
die eigentlich gelobt wird, wenn die Tugenden gelobt werden, und sodann der blinde
in jeder Tugend waltende Trieb, welcher durch den Gesamt-Vorteil des Individuums
sich nicht in Schranken halten läßt, kurz: die Unvernunft in der Tugend,
vermöge deren das Einzelwesen sich zur Funktion des Ganzen umwandeln läßt.
Das Lob der Tugenden ist das Lob von etwas Privat-Schädlichem das
Lob von Trieben, welche dem Menschen seine edelste Selbstsucht und die Kraft zur
höchsten Obhut über sich selber nehmen. Freilich: zur Erziehung
und zur Einverleibung tugendhafter Gewohnheiten kehrt man eine Reihe von Wirkungen
der Tugend heraus, welche Tugend und Privat-Vorteil als verschwistert erscheinen
lassen und es gibt in der Tat eine solche Geschwisterschaft! Der blind
wütende Fleiß zum Beispiel, diese typische Tugend eines Werkzeugs,
wird dargestellt als der Weg zu Reichtum und Ehre und als das heilsamste Gift
gegen die Langeweile und die Leidenschaften: aber man verschweigt seine Gefahr,
seine höchste Gefährlichkeit. Die Erziehung verfährt durchweg so:
sie sucht den einzelnen durch eine Reihe von Reizen und Vorteilen zu einer Denk-
und Handlungsweise zu bestimmen, welche, wenn sie Gewohnheit, Trieb und Leidenschaft
geworden ist, wider seinen letzten Vorteil, aber »zum allgemeinen
Besten« in ihm und über ihn herrscht. Wie oft sehe ich es, daß
der blind wütende Fleiß zwar Reichtümer und Ehre schafft, aber
zugleich den Organen die Feinheit nimmt, vermöge deren es einen Genuß
an Reichtum und Ehren geben könnte, ebenso, daß jenes Hauptmittel gegen
die Langeweile und die Leidenschaften zugleich die Sinne stumpf und den Geist
widerspenstig gegen neue Reize macht. (Das fleißigste aller Zeitalter
unser Zeitalter weiß aus seinem vielen Fleiße und Gelde nichts
zu machen, als immer wieder mehr Geld und immer wieder mehr Fleiß: es gehört
eben mehr Genie dazu, auszugeben, als zu erwerben! Nun, wir werden unsre
»Enkel« haben!) Gelingt die Erziehung, so ist jede Tugend des einzelnen
eine öffentliche Nützlichkeit und ein privater Nachteil im Sinne des
höchsten privaten Zieles, wahrscheinlich irgendeine geistig-sinnliche
Verkümmerung oder gar der frühzeitige Untergang: man erwäge der
Reihe nach von diesem Gesichtspunkte aus die Tugend des Gehorsams, der Keuschheit,
der Pietät, der Gerechtigkeit. Das Lob des Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften
also desjenigen, der nicht seine ganze Kraft und Vernunft auf seine Erhaltung,
Entwicklung, Erhebung, Förderung, Macht-Erweiterung verwendet, sondern in
bezug auf sich bescheiden und gedankenlos, vielleicht sogar gleichgültig
oder ironisch lebt dieses Lob ist jedenfalls nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit
entsprungen! Der »Nächste« lobt die Selbstlosigkeit, weil er
durch sie Vorteile hat! Dächte der Nächste selber »selbstlos«,
so würde er jenen Abbruch an Kraft, jene Schädigung zu seinen
Gunsten abweisen, der Entstehung solcher Neigungen entgegenarbeiten und vor allem
seine Selbstlosigkeit eben dadurch bekunden, daß er dieselbe nicht gut
nennte! Hiermit ist der Grundwiderspruch jener Moral angedeutet, welche
gerade jetzt sehr in Ehren steht: die Motive zu dieser Moral stehen im
Gegensatz zu ihrem Prinzip! Das, womit sich diese Moral beweisen will,
widerlegt sie aus ihrem Kriterium des Moralischen! Der Satz »du sollst dir
selber entsagen und dich zum Opfer bringen« dürfte, um seiner eignen
Moral nicht zuwiderzugehen, nur von einem Wesen dekretiert werden, welches damit
selber seinem Vorteil entsagte und vielleicht in der verlangten Aufopferung der
einzelnen seinen eigenen Untergang herbeiführte. Sobald aber der Nächste
(oder die Gesellschaft) den Altruismus um des Nutzens willen anempfiehlt,
wird der gerade entgegengesetzte Satz, »du sollst den Vorteil, auch auf
Unkosten alles anderen, suchen«, zur Anwendung gebracht, also in einem Atem
ein »Du sollst« und »Du sollst nicht« gepredigt!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 54-57 |
Die
Anzeichen der Korruption. Man beachte an jenen von Zeit zu Zeit notwendigen
Zuständen der Gesellschaft, welche mit dem Wort »Korruption«
bezeichnet werden, folgende Anzeichen. Sobald irgendwo die Korruption eintritt,
nimmt ein bunter Aberglaube überhand, und der bisherige Gesamtglaube
eines Volkes wird blaß und ohnmächtig dagegen: der Aberglaube ist nämlich
die Freigeisterei zweiten Ranges wer sich ihm ergibt, wählt gewisse
ihm zusagende Formen und Formeln aus und erlaubt sich ein Recht der Wahl. Der
Abergläubische ist, im Vergleich mit dem Religiösen, immer viel mehr
»Person« als dieser, und eine abergläubische Gesellschaft wird
eine solche sein, in der es schon viele Individuen und Lust am Individuellen gibt.
Von diesem Standpunkte aus gesehen, erscheint der Aberglaube immer als ein Fortschritt
gegen den Glauben und als Zeichen dafür, daß der Intellekt unabhängiger
wird und sein Recht haben will. Über Korruption klagen dann die Verehrer
der alten Religion und Religiosität sie haben bisher auch den Sprachgebrauch
bestimmt und dem Aberglauben eine üble Nachrede selbst bei den freiesten
Geistern gemacht. Lernen wir, daß er ein Symptom der Aufklärung
ist. Zweitens beschuldigt man eine Gesellschaft, in der die Korruption
Platz greift, der Erschlaffung: und ersichtlich nimmt in ihr die Schätzung
des Krieges und die Lust am Kriege ab, und die Bequemlichkeiten des Lebens werden
jetzt ebenso heiß erstrebt wie ehedem die kriegerischen und gymnastischen
Ehren. Aber man pflegt zu übersehen, daß jene alte Volks-Energie und
Volks-Leidenschaft, welche durch den Krieg und die Kampfspiele eine prachtvolle
Sichtbarkeit bekam, jetzt sich in unzählige Privat-Leidenschaften umgesetzt
hat und nur weniger sichtbar geworden ist; ja wahrscheinlich ist in Zuständen
der Korruption die Macht und Gewalt der jetzt verbrauchten Energie eines Volkes
größer als je, und das Individuum gibt so verschwenderisch davon aus,
wie es ehedem nicht konnte es war damals noch nicht reich genug dazu! Und
so sind es gerade die Zeiten der »Erschlaffung«, wo die Tragödie
durch die Häuser und Gassen läuft, wo die große Liebe und der
große Haß geboren werden und die Flamme der Erkenntnis lichterloh
zum Himmel aufschlägt. Drittens pflegt man, gleichsam zur Entschädigung
für den Tadel des Aberglaubens und der Erschlaffung, solchen Zeiten der Korruption
nachzusagen, daß sie milder seien und daß jetzt die Grausamkeit, gegen
die ältere gläubigere und stärkere Zeit gerechnet, sehr in Abnahme
komme. Aber auch dem Lobe kann ich nicht beipflichten, ebensowenig als jenem Tadel:
nur so viel gebe ich zu, daß jetzt die Grausamkeit sich verfeinert, und
daß ihre älteren Formen von nun an wider den Geschmack gehen; aber
die Verwundung und Folterung durch Wort und Blick erreicht in Zeiten der Korruption
ihre höchste Ausbildung jetzt erst wird die Bosheit geschaffen
und die Lust an der Bosheit. Die Menschen der Korruption sind witzig und verleumderisch;
sie wissen, daß es noch andere Arten des Mordes gibt als durch Dolch und
Überfall sie wissen auch, daß alles Gutgesagte geglaubt
wird. Viertens: wenn »die Sitten verfallen«, so tauchen zuerst
jene Wesen auf, welche man Tyrannen nennt: es sind die Vorläufer und gleichsam
die frühreifen Erstlinge der Individuen . Noch eine kleine Weile:
und diese Frucht der Früchte hängt reif und gelb am Baume eines Volkes
und nur um dieser Früchte willen gab es diesen Baum! Ist der Verfall
auf seine Höhe gekommen und der Kampf aller Art Tyrannen ebenfalls, so kommt
dann immer der Cäsar, der Schluß-Tyrann, der dem ermüdeten Ringen
um Alleinherrschaft ein Ende macht, indem er die Müdigkeit für sich
arbeiten läßt. Zu seiner Zeit ist gewöhnlich das Individuum am
reifsten und folglich die »Kultur« am höchsten und fruchtbarsten
aber nicht um seinetwillen und nicht durch ihn: obwohl die höchsten
Kultur-Menschen ihrem Cäsar damit zu schmeicheln lieben, daß sie sich
als sein Werk ausgeben. Die Wahrheit aber ist, daß sie Ruhe von außen
nötig haben, weil sie ihre Unruhe und Arbeit in sich haben. In diesen Zeiten
ist die Bestechlichkeit und der Verrat am größten: denn die Liebe zu
dem eben erst entdeckten ego ist jetzt viel mächtiger als die Liebe
zum alten, verbrauchten, totgeredeten »Vaterlande«; und das Bedürfnis,
sich irgendwie gegen die furchtbaren Schwankungen des Glücks sicherzustellen,
öffnet auch edlere Hände, sobald ein Mächtiger und Reicher sich
bereit zeigt, Gold in sie zu schütten. Es gibt jetzt so wenig sichere Zukunft:
da lebt man für heute: ein Zustand der Seele, bei dem alle Verführer
ein leichtes Spiel spielen man läßt sich nämlich auch nur
»für heute« verführen und bestechen und behält sich
die Zukunft und die Tugend vor! Die Individuen, diese wahren An- und Für-sichs,
sorgen, wie bekannt, mehr für den Augenblick als ihre Gegensätze, die
Herden-Menschen, weil sie sich selber für ebenso unberechenbar halten wie
die Zukunft; ebenso knüpfen sie sich gerne an Gewaltmenschen an, weil sie
sich Handlungen und Auskünfte zutrauen, die bei der Menge weder auf Verständnis
noch auf Gnade rechnen können aber der Tyrann oder Cäsar versteht
das Recht des Individuums auch in seiner Ausschreitung und hat ein Interesse daran,
einer kühneren Privatmoral das Wort zu reden und selbst die Hand zu bieten.
Denn er denkt von sich und will über sich gedacht haben, was Napoleon einmal
in seiner klassischen Art und Weise ausgesprochen hat: »Ich habe das Recht,
auf alles, worüber man gegen mich Klage führt, durch ein ewiges Das-bin-ich!
zu antworten. Ich bin abseits von aller Welt, ich nehme von niemandem Bedingungen
an. Ich will, daß man sich auch meinen Phantasien unterwerfe und es ganz
einfach finde, wenn ich mich diesen oder jenen Zerstreuungen hingebe.« So
sprach Napoleon einmal zu seiner Gemahlin, als diese Gründe hatte, die eheliche
Treue ihres Gatten in Frage zu ziehen. Die Zeiten der Korruption sind die,
in welchen die Äpfel vom Baume fallen: ich meine die Individuen, die Samenträger
der Zukunft, die Urheber der geistigen Kolonisation und Neubildung von Staats-
und Gesellschaftsverbänden. Korruption ist nur ein Schimpfwort für die
Herbstzeiten eines Volkes.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 59-62 |
Verschiedene
Unzufriedenheit. Die schwachen und gleichsam weiblichen Unzufriednen
sind die Erfindsamen für die Verschönerung und Vertiefung des Lebens;
die starken Unzufriednen die Mannspersonen unter ihnen, im Bilde zu bleiben
für Verbesserung und Sicherung des Lebens. Die ersteren zeigen darin
ihre Schwäche und Weiberart, daß sie sich gerne zeitweilig täuschen
lassen und wohl schon mit ein wenig Rausch und Schwärmerei einmal fürlieb
nehmen, aber im ganzen nie zu befriedigen sind und an der Unheilbarkeit ihrer
Unzufriedenheit leiden; überdies sind sie die Förderer aller derer,
welche opiatische und narkotische Tröstungen zu schaffen wissen, und eben
darum jenen gram, die den Arzt höher als den Priester schätzen
dadurch unterhalten sie die Fortdauer der wirklichen Notstände! Hätte
es nicht seit den Zeiten des Mittelalters eine Überzahl von Unzufriedenen
dieser Art in Europa gegeben, so würde vielleicht die berühmte europäische
Fähigkeit zur beständigen Verwandlung gar nicht entstanden sein:
denn die Ansprüche der starken Unzufriedenen sind zu grob und im Grunde zu
anspruchslos, um nicht endlich einmal zur Ruhe gebracht werden zu können.
China ist das Beispiel eines Landes, wo die Unzufriedenheit im großen und
die Fähigkeit der Verwandlung seit vielen Jahrhunderten ausgestorben ist;
und die Sozialisten und Staats-Götzendiener Europas könnten es mit ihren
Maßregeln zur Verbesserung und Sicherung des Lebens auch in Europa leicht
zu chinesischen Zuständen und einem chinesischen »Glücke«
bringen, vorausgesetzt, daß sie hier zuerst jene kränklichere, zartere,
weiblichere, einstweilen noch überreichlich vorhandene Unzufriedenheit und
Romantik ausrotten könnten. Europa ist ein Kranker, der seiner Unheilbarkeit
und ewigen Verwandlung seines Leidens den höchsten Dank schuldig ist: diese
beständigen neuen Lagen, diese ebenso beständigen neuen Gefahren, Schmerzen
und Auskunftsmittel haben zuletzt eine intellektuale Reizbarkeit erzeugt, welche
beinahe so viel als Genie, und jedenfalls die Mutter alles Genies ist.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 62-63 |
Nicht
zur Erkenntnis vorausbestimmt. Es gibt eine gar nicht seltene blöde
Demütigkeit, mit der behaftet man ein für allemal nicht zum Jünger
der Erkenntnis taugt. Nämlich: in dem Augenblick, wo ein Mensch dieser Art
etwas Auffälliges wahrnimmt, dreht er sich gleichsam auf dem Fuße um
und sagt sich: »du hast dich getäuscht! Wo hast du deine Sinne gehabt!
Dies darf nicht die Wahrheit sein!« und nun, statt noch einmal schärfer
hinzusehen und hinzuhören, läuft er wie eingeschüchtert dem auffälligen
Dinge aus dem Wege und sucht es sich so schnell wie möglich aus dem Kopfe
zu schlagen. Sein innerlicher Kanon nämlich lautet: »ich will nichts
sehen, was der üblichen Meinung über die Dinge widerspricht! Bin ich
dazu gemacht, neue Wahrheiten zu entdecken? Es gibt schon der alten zu viele.«Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 63 |
Was
heißt Leben? Leben das heißt: fortwährend etwas
von sich abstoßen, das sterben will; Leben das heißt: grausam
und unerbittlich gegen alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an
uns, wird. Leben das heißt also: ohne Pietät gegen Sterbende,
Elende und Greise sein? Immerfort Mörder sein? Und doch hat der alte
Moses gesagt: »Du sollst nicht töten!«Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 63 |
Der
Entsagende. Was tut der Entsagende? Er strebt nach einer höheren
Welt, er will weiter und ferner und höher fliegen als alle Menschen der Bejahung
er wirft vieles weg, was seinen Flug beschweren würde, und
manches darunter, was ihm nicht unwert, nicht unliebsam ist: er opfert es seiner
Begierde zur Höhe. Dieses Opfern, dieses Wegwerfen ist nun gerade das, was
allein sichtbar an ihm wird: danach gibt man ihm den Namen des Entsagenden, und
als dieser steht er vor uns, eingehüllt in seine Kapuze und wie die Seele
eines härenen Hemdes. Mit diesem Effekte, den er auf uns macht, ist er aber
wohl zufrieden: er will vor uns seine Begierde, seinen Stolz, seine Absicht, über
uns hinauszufliegen, verborgen halten. Ja! Er ist klüger, als wir
dachten, und so höflich gegen uns dieser Bejahende! Denn das ist er
gleich uns, auch indem er entsagt.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 64 |
Handel
und Adel. Kaufen und verkaufen gilt jetzt als gemein wie die Kunst
des Lesens und Schreibens; jeder ist jetzt darin eingeübt, selbst wenn er
kein Handelsmann ist, und übt sich noch an jedem Tage in dieser Technik:
ganz wie ehemals, im Zeitalter der wilderen Menschheit, jedermann Jäger war
und sich Tag für Tag in der Technik der Jagd übte. Damals war die Jagd
gemein: aber wie diese endlich ein Privilegium der Mächtigen und Vornehmen
wurde und damit den Charakter der Alltäglichkeit und Gemeinheit verlor
dadurch, daß sie aufhörte notwendig zu sein und eine Sache der Laune
und des Luxus wurde : so könnte es irgendwann einmal mit dem Kaufen
und Verkaufen werden. Es sind Zustände der Gesellschaft denkbar, wo nicht
verkauft und gekauft wird, und wo die Notwendigkeit dieser Technik allmählich
ganz verlorengeht: vielleicht, daß dann einzelne, welche dem Gesetze des
allgemeinen Zustandes weniger unterworfen sind, sich dann das Kaufen und Verkaufen
wie einen Luxus der Empfindung erlauben. Dann erst bekäme der Handel
Vornehmheit, und die Adeligen würden sich dann vielleicht ebensogern mit
dem Handel abgeben, wie bisher mit dem Kriege und der Politik: während umgekehrt
die Schätzung der Politik sich dann völlig geändert haben könnte.
Schon jetzt hört sie auf, das Handwerk des Edelmanns zu sein: und es wäre
möglich, daß man sie eines Tages so gemein fände, um sie, gleich
aller Partei- und Tagesliteratur, unter die Rubrik »Prostitution des Geistes«
zu bringen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 66-67 |
Ketzerei
und Hexerei. Anders denken, als Sitte ist das ist lange nicht
so sehr die Wirkung eines besseren Intellektes als die Wirkung starker, böser
Neigungen, loslösender, isolierender, trotziger, schadenfroher, hämischer
Neigungen. Die Ketzerei ist das Seitenstück zur Hexerei, und gewiß
ebenso wenig als diese etwas Harmloses oder gar an sich selber Verehrungswürdiges.
Die Ketzer und die Hexen sind zwei Gattungen böser Menschen: gemeinsam ist
ihnen, daß sie sich auch als böse fühlen, daß aber ihre
unbezwingliche Lust ist, an dem, was herrscht (Menschen oder Meinungen), sich
schädigend auszulassen. Die Reformation, eine Art Verdoppelung des mittelalterlichen
Geistes, zu einer Zeit, als er bereits das gute Gewissen nicht mehr bei sich hatte,
brachte sie beide in größter Fülle hervor.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 68 |
Letzte
Worte. Man wird sich erinnern, daß der Kaiser Augustus, jener
fürchterliche Mensch, der sich ebenso in der Gewalt hatte und der ebenso
schweigen konnte wie irgendein weiser Sokrates, mit seinem letzten Worte indiskret
gegen sich selber wurde: er ließ zum ersten Male seine Maske fallen, als
er zu verstehen gab, daß er eine Maske getragen und eine Komödie gespielt
habe, er hatte den Vater des Vaterlandes und die Weisheit auf dem Throne gespielt,
gut bis zur Illusion! Plaudite amici, comoedia finita est! (applaudiert,
Freunde, die Komödie ist zu Ende! HB) Der Gedanke des sterbenden
Nero: qualis artifex pereo! (welch ein Künstler
geht in mir zugrunde! HB) war auch der Gedanke des sterbenden Augustus:
Histrionen-Eitelkeit! Histrionen-Schwatzhaftigkeit! Und recht das Gegenstück
zum sterbenden Sokrates! Aber Tiberius starb schweigsam, dieser gequälteste
aller Selbstquäler der war echt und kein Schauspieler! Was
mag dem wohl zuletzt durch den Kopf gegangen sein! Vielleicht dies: »Das
Leben das ist ein langer Tod. Ich Narr, der ich so vielen das Leben verkürzte!
War ich dazu gemacht, ein Wohltäter zu sein? Ich hätte ihnen
das ewige Leben geben sollen: so hätte ich sie ewig sterben sehen
können. Dafür hatte ich ja so gute Augen: qualis spectator
pereo!« Als er nach einem langen Todeskampfe doch wieder zu Kräften
zu kommen schien, hielt man es für ratsam, ihn mit Bettkissen zu ersticken
er starb eines doppelten Todes.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 69 |
Die
Explosiven. Erwägt man, wie explosionsbedürftig die Kraft
junger Männer daliegt, so wundert man sich nicht, sie so unfein und so wenig
wählerisch sich für diese oder jene Sache entscheiden zu sehen: das,
was sie reizt, ist der Anblick des Eifers, der um eine Sache ist, und gleichsam
der Anblick der brennenden Lunte nicht die Sache selber. Die feineren Verführer
verstehen sich deshalb darauf, ihnen die Explosion in Aussicht zu stellen und
von der Begründung ihrer Sache abzusehen: mit Gründen gewinnt man diese
Pulverfässer nicht!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 70 |
Vom
Mangel der vornehmen Form. Soldaten und Führer haben immer noch
ein viel höheres Verhalten zueinander als Arbeiter und Arbeitgeber. Einstweilen
wenigstens steht alle militärisch begründete Kultur noch hoch über
aller sogenannten industriellen Kultur: letztere in ihrer jetzigen Gestalt ist
überhaupt die gemeinste Daseinsform, die es bisher gegeben hat. Hier wirkt
einfach das Gesetz der Not: man will leben und muß sich verkaufen, aber
man verachtet den, der diese Not ausnützt und sich den Arbeiter kauft.
Es ist seltsam, daß die Unterwerfung unter mächtige, furchterregende,
ja schreckliche Personen, unter Tyrannen und Heerführer, bei weitem nicht
so peinlich empfunden wird als diese Unterwerfung unter unbekannte und uninteressante
Personen, wie es alle Größen der Industrie sind: in dem Arbeitgeber
sieht der Arbeiter gewöhnlich nur einen listigen, aussaugenden, auf alle
Not spekulierenden Hund von Menschen, dessen Name, Gestalt, Sitte und Ruf ihm
ganz gleichgültig sind. Den Fabrikanten und Groß-Unternehmern des Handels
fehlten bisher wahrscheinlich allzusehr alle jene Formen und Abzeichen der höheren
Rasse, welche erst die Personen interessant werden lassen; hätten
sie die Vornehmheit des Geburts-Adels im Blick und in der Gebärde, so gäbe
es vielleicht keinen Sozialismus der Massen. Denn diese sind im Grunde bereit
zur Sklaverei jeder Art, vorausgesetzt daß der Höhere über
ihnen sich beständig als höher, als zum Befehlen geboren legitimiert
durch die vornehme Form! Der gemeinste Mann fühlt, daß die Vornehmheit
nicht zu improvisieren ist und daß er in ihr die Frucht langer Zeiten zu
ehren hat aber die Abwesenheit der höheren Form und die berüchtigte
Fabrikanten-Vulgarität mit roten feisten Händen bringen ihn auf den
Gedanken, daß nur Zufall und Glück hier den einen über den andern
erhoben habe: wohlan, so schließt er bei sich, versuchen wir einmal den
Zufall und das Glück! Werfen wir einmal die Würfel! und der Sozialismus
beginnt.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 71-72 |
Arbeit
und Langeweile. Sich Arbeit suchen um des Lohnes willen darin
sind sich in den Ländern der Zivilisation jetzt fast alle Menschen gleich;
ihnen allen ist Arbeit ein Mittel, und nicht selber das Ziel; weshalb sie in der
Wahl der Arbeit wenig fein sind, vorausgesetzt daß sie einen reichlichen
Gewinn abwirft. Nun gibt es seltnere Menschen, welche lieber zugrunde gehen wollen,
als ohne Lust an der Arbeit arbeiten: jene Wählerischen, schwer zu
Befriedigenden, denen mit einem reichlichen Gewinn nicht gedient wird, wenn die
Arbeit nicht selber der Gewinn aller Gewinne ist. Zu dieser seltenen Gattung von
Menschen gehören die Künstler und Kontemplativen aller Art, aber auch
schon jene Müßiggänger, die ihr Leben auf der Jagd, auf Reisen
oder in Liebeshändeln und Abenteuern zubringen. Alle diese wollen Arbeit
und Not, sofern sie mit Lust verbunden ist, und die schwerste, härteste Arbeit,
wenn es sein muß. Sonst aber sind sie von einer entschlossenen Trägheit,
sei es selbst, daß Verarmung, Unehre, Gefahr der Gesundheit und des Lebens
an diese Trägheit geknüpft sein sollte. Sie fürchten die Langeweile
nicht so sehr als die Arbeit ohne Lust: ja sie haben viel Langeweile nötig,
wenn ihnen ihre Arbeit gelingen soll. Für den Denker und für
alle empfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme »Windstille«
der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht;
er muß sie ertragen, muß ihre Wirkung bei sich abwarten
das gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich erlangen
können! Langeweile auf jede Weise von sich scheuchen ist gemein: wie arbeiten
ohne Lust gemein ist. Es zeichnet vielleicht die Asiaten vor den Europäern
aus, daß sie einer längeren, tieferen Ruhe fähig sind als diese;
selbst ihre Narcotica wirken langsam und verlangen Geduld, im Gegensatz zu der
widrigen Plötzlichkeit des europäischen Giftes, des Alkohols.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 72-73 |
Kenntnis
der Not. Vielleicht werden die Menschen und Zeiten durch nichts so
sehr voneinander geschieden als durch den verschiednen Grad von Kenntnis der Not,
den sie haben: Not der Seele wie des Leibes. In bezug auf letztere sind wir Jetzigen
vielleicht allesamt, trotz unsrer Gebrechen und Gebrechlichkeiten, aus Mangel
an reicher Selbst-Erfahrung Stümper und Phantasten zugleich: im Vergleich
zu einem Zeitalter der Furcht dem längsten aller Zeitalter ,
wo der einzelne sich selber gegen Gewalt zu schützen hatte und um dieses
Zieles willen selber Gewaltmensch sein mußte. Damals machte ein Mann seine
reiche Schule körperlicher Qualen und Entbehrungen durch und begriff selbst
in einer gewissen Grausamkeit gegen sich, in einer freiwilligen Übung des
Schmerzes, ein ihm notwendiges Mittel seiner Erhaltung; damals erzog man seine
Umgebung zum Ertragen des Schmerzes, damals fügte man gern Schmerz zu und
sah das Furchtbarste dieser Art über andere ergehen, ohne ein anderes Gefühl
als das der eigenen Sicherheit. Was die Not der Seele aber betrifft, so sehe ich
mir jetzt jeden Menschen darauf an, ob er sie aus Erfahrung oder Beschreibung
kennt; ob er diese Kenntnis zu heucheln doch noch für nötig hält,
etwa als ein Zeichen der feineren Bildung, oder ob er überhaupt an große
Seelenschmerzen im Grunde seiner Seele nicht glaubt und es ihm bei Nennung derselben
ähnlich ergeht wie bei Nennung großer körperlicher Erduldungen:
wobei ihm seine Zahn- und Magenschmerzen einfallen. So aber scheint es mir bei
den meisten jetzt zu stehen. Aus der allgemeinen Ungeübtheit im Schmerz beiderlei
Gestalt und einer gewissen Seltenheit des Anblicks eines Leidenden ergibt sich
nun eine wichtige Folge: man haßt jetzt den Schmerz viel mehr als frühere
Menschen und redet ihm viel übler nach als je, ja man findet schon das Vorhandensein
des Schmerzes als eines Gedankens kaum erträglich und macht dem gesamten
Dasein eine Gewissenssache und einen Vorwurf daraus. Das Auftauchen pessimistischer
Philosophien ist durchaus nicht das Merkmal großer furchtbarer Notstände;
sondern diese Fragezeichen am Werte alles Lebens werden in Zeiten gemacht, wo
die Verfeinerung und Erleichterung des Daseins bereits die unvermeidlichen Mückenstiche
der Seele und des Leibes als gar zu blutig und bösartig befindet und in der
Armut an wirklichen Schmerz-Erfahrungen am liebsten schon quälende allgemeine
Vorstellungen als das Leid höchster Gattung erscheinen lassen möchte.
Es gäbe schon ein Rezept gegen pessimistische Philosophien und die
übergroße Empfindlichkeit, welche mir die eigentliche »Not der
Gegenwart« zu sein scheint : aber vielleicht klingt dies Rezept schon
zu grausam und würde selber unter die Anzeichen gerechnet werden, auf Grund
deren hin man jetzt urteilt: »das Dasein ist etwas Böses«. Nun!
Das Rezept gegen »die Not« lautet: Not.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 77-78 |
Wahrheitssinn.
Ich lobe mir eine jede Skepsis, auf welche mir erlaubt ist zu antworten:
»Versuchen wir's!« Aber ich mag von allen Dingen und allen Fragen,
welche das Experiment nicht zulassen, nichts mehr hören. Dies ist die Grenze
meines »Wahrheitssinnes«: denn dort hat die Tapferkeit ihr Recht verloren.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 80 |
Was
andere von uns wissen. Das, was wir von uns selber wissen und im Gedächtnis
haben, ist für das Glück unsres Lebens nicht so entscheidend, wie man
glaubt. Eines Tages stürzt das, was andre von uns wissen (oder zu
wissen meinen) über uns her und jetzt erkennen wir, daß es das
Mächtigere ist. Man wird mit seinem schlechten Gewissen leichter fertig als
mit seinem schlechten Rufe.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 80 |
Das
Bewußtsein vom Scheine. Wie wundervoll und neu und zugleich wie
schauerlich und ironisch fühle ich mich mit meiner Erkenntnis zum gesamten
Dasein gestellt! Ich habe für mich entdeckt, daß die alte Mensch-
und Tierheit, ja die gesamte Urzeit und Vergangenheit alles empfindenden Seins
in mir fortdichtet, fortliebt, forthaßt, fortschließt ich bin
plötzlich mitten in diesem Traum erwacht, aber nur zum Bewußtsein,
daß ich eben träume und daß ich weiterträumen muß,
um nicht zugrunde zu gehn: wie der Nachtwandler weiterträumen muß,
um nicht hinabzustürzen. Was ist mir jetzt »Schein«! Wahrlich
nicht der Gegensatz irgendeines Wesens was weiß ich von irgendwelchem
Wesen auszusagen, als eben nur die Prädikate seines Scheins! Wahrlich nicht
eine tote Maske, die man einem unbekannten X aufsetzen und auch wohl abnehmen
könnte! Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber, das so
weit in seiner Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, daß hier
Schein und Irrlicht und Geistertanz und nichts mehr ist daß unter
allen diesen Träumenden auch ich, der »Erkennende«, meinen Tanz
tanze, daß der Erkennende ein Mittel ist, den irdischen Tanz in die Länge
zu ziehn, und insofern zu den Festordnern des Daseins gehört, und daß
die erhabene Konsequenz und Verbundenheit aller Erkenntnisse vielleicht das höchste
Mittel ist und sein wird, die Allgemeinheit der Träumerei und die Allverständlichkeit
aller dieser Träumenden untereinander und eben damit die Dauer des Traumes
aufrechtzuerhalten.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 81 |
Der
letzte Edelsinn. Was macht denn »edel«? Gewiß nicht,
daß man Opfer bringt; auch der rasend Wollüstige bringt Opfer. Gewiß
nicht, daß man überhaupt einer Leidenschaft folgt; es gibt verächtliche
Leidenschaften. Gewiß nicht, daß man für andere etwas tut und
ohne Selbstsucht: vielleicht ist die Konsequenz der Selbstsucht gerade bei dem
Edelsten am größten. Sondern daß die Leidenschaft, die
den Edlen befällt, eine Sonderheit ist, ohne daß er um diese Sonderheit
weiß: der Gebrauch eines seltenen und singulären Maßstabes und
beinahe eine Verrücktheit: das Gefühl der Hitze in Dingen, welche sich
für alle andern kalt anfühlen: ein Erraten von Werten, für die
die Waage noch nicht erfunden ist: ein Opferbringen auf Altären, die einem
unbekannten Gotte geweiht sind: eine Tapferkeit ohne den Willen zur Ehre: eine
Selbstgenügsamkeit, welche Überfluß hat und an Menschen und Dinge
mitteilt. Bisher war es also das Seltene und die Unwissenheit um dies Seltensein,
was edel machte. Dabei erwäge man aber, daß durch diese Richtschnur
alles Gewöhnte, Nächste und Unentbehrliche, kurz das am meisten Arterhaltende,
und überhaupt die Regel in der bisherigen Menschheit, unbillig beurteilt
und im ganzen verleumdet worden ist, zugunsten der Ausnahmen. Der Anwalt der Regel
werden das könnte vielleicht die letzte Form und Feinheit sein, in
welcher der Edelsinn auf Erden sich offenbart.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 81-82 |
Die
Begierde nach Leiden. Denke ich an die Begierde, etwas zu tun, wie
sie die Millionen junger Europäer fortwährend kitzelt und stachelt,
welche alle die Langeweile und sich selber nicht ertragen können,
so begreife ich, daß in ihnen eine Begierde etwas zu leiden sein muß,
um aus ihrem Leiden einen probablen Grund zum Tun, zur Tat herzunehmen. Not ist
nötig! Daher das Geschrei der Politiker, daher die vielen falschen, erdichteten,
übertriebenen »Notstände« aller möglichen Klassen und
die blinde Bereitwilligkeit, an sie zu glauben. Diese junge Welt verlangt, von
außen her solle nicht etwa das Glück sondern das
Unglück kommen oder sichtbar werden; und ihre Phantasie ist schon voraus
geschäftig, ein Ungeheuer daraus zu formen, damit sie nachher mit einem Ungeheuer
kämpfen könne. Fühlten diese Notsüchtigen in sich die Kraft,
von innen her sich selber wohlzutun, sich selber etwas anzutun, so würden
sie auch verstehen, von innen her sich eine eigene, selbsteigene Not zu schaffen.
Ihre Erfindungen könnten dann feiner sein, und ihre Befriedigungen könnten
wie gute Musik klingen: während sie jetzt die Welt mit ihrem Notgeschrei
und folglich gar zu oft erst mit dem Notgefühle anfüllen! Sie
verstehen mit sich nichts anzufangen und so malen sie das Unglück
anderer an die Wand: sie haben immer andere nötig! Und immer wieder andere
andere! Verzeihung, meine Freunde, ich habe gewagt, mein Glück an
die Wand zu malen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 82-83 |
Richard
Wagner hat sich bis in die Mitte seines Lebens durch Hegel irreführen lassen;
er tat dasselbe noch einmal, als er später Schopenhauers Lehre aus seinen
Gestalten herauslas und mit »Wille«, »Genie« und »Mitleid«
sich selber zu formulieren begann. Trotzdem wird es wahr bleiben: nichts geht
gerade so sehr wider den Geist Schopenhauers als das eigentlich Wagnerische an
den Helden Wagners ich meine, die Unschuld der höchsten Selbstsucht,
der Glaube an die große Leidenschaft als an das Gute an sich, mit einem
Worte, das Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden. »Das alles riecht eher
noch nach Spinoza als nach mir« würde vielleicht Schopenhauer
sagen. So gute Gründe also Wagner hätte, sich gerade nach anderen Philosophen
umzusehen als nach Schopenhauer: die Bezauberung, der er in betreff dieses Denkers
unterlegen ist, hat ihn nicht nur gegen alle andern Philosophen, sondern sogar
gegen die Wissenschaft selber blind gemacht; immer mehr will seine ganze Kunst
sich als Seitenstück und Ergänzung der Schopenhauerischen Philosophie
geben und immer ausdrücklicher verzichtet sie auf den höheren Ehrgeiz,
Seitenstück und Ergänzung der menschlichen Erkenntnis und Wissenschaft
zu werden.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 118-119 |
Schopenhauerisch
ist zum Beispiel Wagners Ereiferung über die Verderbnis der deutschen Sprache;
und wenn man hierin die Nachahmung gutheißen sollte, so darf doch auch nicht
verschwiegen werden, daß Wagners Stil selber nicht wenig an all den Geschwüren
und Geschwülsten krankt, deren Anblick Schopenhauer so wütend machte,
und daß in Hinsicht auf die deutsch schreibenden Wagnerianer die Wagnerei
sich so gefährlich zu erweisen beginnt, als nur irgendeine Hegelei sich erwiesen
hat. Schopenhauerisch ist Wagners Haß gegen die Juden, denen er selbst in
ihrer größten Tat nicht gerecht zu werden vermag: die Juden sind ja
die Erfinder des Christentums! Schopenhauerisch ist der Versuch Wagners, das Christentum
als ein verwehtes Korn des Buddhismus aufzufassen und für Europa, unter zeitweiliger
Annäherung an katholisch-christliche Formeln und Empfindungen, ein buddhistisches
Zeitalter vorzubereiten. Schopenhauerisch ist Wagners Predigt zugunsten der Barmherzigkeit
im Verkehre mit Tieren .... Wenigstens ist Wagners Haß gegen die Wissenschaft,
der aus seiner Predigt spricht, gewiß nicht vom Geiste der Mildherzigkeit
und Güte eingegeben noch auch, wie es sich von selber versteht, vom
Geiste überhaupt.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 119 |
Bleiben
wir Wagner in dem treu, was an ihm wahr und ursprünglich ist und namentlich
dadurch, daß wir, seine Jünger, uns selber in dem treu bleiben, was
an uns wahr und ursprünglich ist.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 120 |
Es
wäre ein Rückfall für uns, gerade mit unsrer reizbaren Redlichkeit
ganz in die Moral zu geraten und um der überstrengen Anforderungen willen,
die wir hierin an uns stellen, gar noch selber zu tugendhaften Ungeheuern und
Vogelscheuchen zu werden. Wir sollen auch über der Moral stehen können:
und nicht nur stehen, mit der ängstlichen Steifigkeit eines solchen,
der jeden Augenblick auszugleiten und zu fallen fürchtet, sondern auch über
ihr schweben und spielen!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 128 |
Neue
Kämpfe. Nachdem Buddha tot war, zeigte man noch jahrhundertelang
seinen Schatten in einer Höhle einen ungeheuren schauerlichen Schatten.
Gott ist tot: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch jahrtausendelang
Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. Und wir wir
müssen auch noch seinen Schatten besiegen!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 129^ |
Hüten
wir uns! Hüten wir uns, zu denken, daß die Welt ein lebendiges
Wesen sei. Wohin sollte sie sich ausdehnen? Wovon sollte sie sich nähren?
Wie könnte sie wachsen und sich vermehren? Wir wissen ja ungefähr, was
das Organische ist: und wir sollten das unsäglich Abgeleitete, Späte,
Seltene, Zufällige, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen,
Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es jene tun, die das All einen Organismus nennen?
Davor ekelt mir. Hüten wir uns schon davor, zu glauben, daß das All
eine Maschine sei; es ist gewiß nicht auf ein Ziel konstruiert, wir tun
ihm mit dem Wort »Maschine« eine viel zu hohe Ehre an. Hüten
wir uns, etwas so Formvolles, wie die zyklischen Bewegungen unserer Nachbarsterne
überhaupt und überall vorauszusetzen; schon ein Blick in die Milchstraße
läßt Zweifel auftauchen, ob es dort nicht viel rohere und widersprechendere
Bewegungen gibt, ebenfalls Sterne mit ewigen geradlinigen Fallbahnen und dergleichen.
Die astrale Ordnung, in der wir leben, ist eine Ausnahme; diese Ordnung und die
ziemliche Dauer, welche durch sie bedingt ist, hat wieder die Ausnahme der Ausnahmen
ermöglicht: die Bildung des Organischen. Der Gesamtcharakter der Welt ist
dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern
der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle
unsere ästhetischen Menschlichkeiten heißen. Von unserer Vernunft aus
geurteilt, sind die verunglückten Würfe weitaus die Regel, die Ausnahmen
sind nicht das geheime Ziel, und das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise,
die nie eine Melodie heißen darf, und zuletzt ist selbst das Wort
»verunglückter Wurf« schon eine Vermenschlichung, die einen Tadel
in sich schließt. Aber wie dürften wir das All tadeln oder loben! Hüten
wir uns, ihm Herzlosigkeit und Unvernunft oder deren Gegensätze nachzusagen:
es ist weder vollkommen, noch schön, noch edel, und will nichts von alledem
werden, es strebt durchaus nicht danach, den Menschen nachzuahmen! Es wird durchaus
durch keines unserer ästhetischen und moralischen Urteile getroffen! Es hat
auch keinen Selbsterhaltungstrieb und überhaupt keine Triebe; es kennt auch
keine Gesetze. Hüten wir uns, zu sagen, daß es Gesetze in der Natur
gebe. Es gibt nur Notwendigkeiten: da ist keiner, der befiehlt, keiner, der gehorcht,
keiner, der übertritt. Wenn ihr wißt, daß es keine Zwecke gibt,
so wißt ihr auch, daß es keinen Zufall gibt: denn nur neben einer
Welt von Zwecken hat das Wort »Zufall« einen Sinn. Hüten wir
uns, zu sagen, daß Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur
eine Art des Toten, und eine sehr seltene Art. Hüten wir uns, zu denken,
die Welt schaffe ewig Neues. Es gibt keine ewig dauerhaften Substanzen; die Materie
ist ein ebensolcher Irrtum wie der Gott der Eleaten. Aber wann werden wir am Ende
mit unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann werden uns alle diese Schatten Gottes
nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben!
Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen,
neu erlösten Natur zu vernatürlichen!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 129-130 |
Ursprung
der Erkenntnis. Der Intellekt hat ungeheure Zeitstrecken hindurch nichts
als Irrtümer erzeugt; einige davon ergaben sich als nützlich und arterhaltend:
wer auf sie stieß oder sie vererbt bekam, kämpfte seinen Kampf für
sich und seinen Nachwuchs mit größerem Glücke. Solche irrtümliche
Glaubenssätze, die immer weiter vererbt und endlich fast zum menschlichen
Art- und Grundbestand wurden, sind zum Beispiel diese: daß es dauernde Dinge
gebe, daß es gleiche Dinge gebe, daß es Dinge, Stoffe, Körper
gebe, daß ein Ding das sei, als was es erscheine, daß unser Wollen
frei sei, daß was für mich gut ist, auch an und für sich gut sei.
Sehr spät erst traten die Leugner und Anzweifler solcher Sätze auf
sehr spät erst trat die Wahrheit auf, als die unkräftigste Form der
Erkenntnis. Es schien, daß man mit ihr nicht zu leben vermöge, unser
Organismus war auf ihren Gegensatz eingerichtet; alle seine höheren Funktionen,
die Wahrnehmungen der Sinne und jede Art von Empfindung überhaupt, arbeiteten
mit jenen uralt einverleibten Grundirrtümern. Mehr noch: jene Sätze
wurden selbst innerhalb der Erkenntnis zu den Normen, nach denen man »wahr«
und »unwahr« bemaß bis hinein in die entlegensten Gegenden
der reinen Logik. Also: die Kraft der Erkenntnisse liegt nicht in ihrem
Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter
als Lebensbedingung. Wo Leben und Erkennen in Widerspruch zu kommen schienen,
ist nie ernstlich gekämpft worden; da galt Leugnung und Zweifel als Tollheit.
Jene Ausnahme-Denker, wie die Eleaten, welche trotzdem die Gegensätze der
natürlichen Irrtümer aufstellten und festhielten, glaubten daran, daß
es möglich sei, dieses Gegenteil auch zu leben: sie erfanden den Weisen
als den Menschen der Unveränderlichkeit, Unpersönlichkeit, Universalität
der Anschauung, als eins und alles zugleich, mit einem eigenen Vermögen für
jene umgekehrte Erkenntnis; sie waren des Glaubens, daß ihre Erkenntnis
zugleich das Prinzip des Lebens sei. Um dies alles aber behaupten zu können,
mußten sie sich über ihren eignen Zustand täuschen: sie mußten
sich Unpersönlichkeit und Dauer ohne Wechsel andichten, das Wesen des Erkennenden
verkennen, die Gewalt der Triebe im Erkennen leugnen und überhaupt die Vernunft
als völlig freie, sich selbst entsprungene Aktivität fassen; sie hielten
sich die Augen dafür zu, daß auch sie im Widersprechen gegen das Gültige,
oder im Verlangen nach Ruhe oder Alleinbesitz oder Herrschaft zu ihren Sätzen
gekommen waren. Die feinere Entwicklung der Redlichkeit und der Skepsis machte
endlich auch diese Menschen unmöglich; auch ihr Leben und Urteilen ergab
sich als unabhängig von uralten Trieben und Grundirrtümern alles empfindenden
Daseins. Jene feinere Redlichkeit und Skepsis hatte überall dort ihre
Entstehung, wo zwei entgegengesetzte Sätze auf das Leben anwendbar
erschienen, weil sich beide mit den Grundirrtümern vertrugen, wo also über
den höheren oder geringeren Grad des Nutzens für das Leben gestritten
werden konnte; ebenfalls dort, wo neue Sätze sich dem Leben zwar nicht nützlich,
aber wenigstens auch nicht schädlich zeigten, als Äußerungen eines
intellektuellen Spieltriebes, und unschuldig und glücklich gleich allem Spiele.
Allmählich füllte sich das menschliche Gehirn mit solchen Urteilen und
Überzeugungen, es entstand in diesem Knäuel Gärung, Kampf und Machtgelüst.
Nützlichkeit und Lust nicht nur, sondern jede Art von Trieben nahm Partei
in dem Kampfe um die »Wahrheiten«; der intellektuelle Kampf wurde
Beschäftigung, Reiz, Beruf, Pflicht, Würde : das Erkennen und
das Streben nach dem Wahren ordnete sich endlich als Bedürfnis in die anderen
Bedürfnisse ein. Von da an war nicht nur der Glaube und die Überzeugung,
sondern auch die Prüfung, die Leugnung, das Mißtrauen, der Widerspruch
eine Macht, alle »bösen« Instinkte waren der Erkenntnis
untergeordnet und in ihren Dienst gestellt und bekamen den Glanz des Erlaubten,
Geehrten, Nützlichen und zuletzt das Auge und die Unschuld des Guten.
Die Erkenntnis wurde also zu einem Stück Leben selber und als Leben zu einer
immerfort wachsenden Macht: bis endlich die Erkenntnisse und jene uralten Grundirrtümer
aufeinander stießen, beide als Leben, beide als Macht, beide in demselben
Menschen. Der Denker: das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und
jene lebenerhaltenden Irrtümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch
der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenerhaltende Macht bewiesen hat.
Im Verhältnis zu der Wichtigkeit dieses Kampfes ist alles andere gleichgültig:
die letzte Frage um die Bedingung des Lebens ist hier gestellt, und der erste
Versuch wird hier gemacht, mit dem Experiment auf diese Frage zu antworten. Inwieweit
verträgt die Wahrheit die Einverleibung? das ist die Frage, das ist
das Experiment.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 131-133 |
Herkunft
des Logischen. Woher ist die Logik im menschlichen Kopfe entstanden?
Gewiß aus der Unlogik, deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein
muß. Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir jetzt
schließen, gingen zugrunde: es könnte immer noch wahrer gewesen sein!
Wer zum Beispiel das »Gleiche« nicht oft genug aufzufinden wußte,
in betreff der Nahrung oder in betreff der ihm feindlichen Tiere, wer also zu
langsam subsumierte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte nur geringere
Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als der, welcher bei allem Ähnlichen sofort
auf Gleichheit riet. Der überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich
zu behandeln, ein unlogischer Hang denn es gibt an sich nichts Gleiches
, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen. Ebenso mußte, damit
der Begriff der Substanz entstehe, der unentbehrlich für die Logik ist, ob
ihm gleich im strengsten Sinne nichts Wirkliches entspricht, lange Zeit
das Wechselnde an den Dingen nicht gesehen, nicht empfunden worden sein; die nicht
genau sehenden Wesen hatten einen Vorsprung vor denen, welche alles »im
Flusse« sahen. An und für sich ist schon jeder hohe Grad von Vorsicht
im Schließen, jeder skeptische Hang eine große Gefahr für das
Leben. Es würden keine lebenden Wesen erhalten sein, wenn nicht der entgegengesetzte
Hang, lieber zu bejahen als das Urteil auszusetzen, lieber zu irren und zu dichten
als abzuwarten, lieber zuzustimmen als zu verneinen, lieber zu urteilen als gerecht
zu sein außerordentlich stark angezüchtet worden wäre.
Der Verlauf logischer Gedanken und Schlüsse in unserem jetzigen Gehirn
entspricht einem Prozesse und Kampfe von Trieben, die an sich einzeln alle sehr
unlogisch und ungerecht sind; wir erfahren gewöhnlich nur das Resultat des
Kampfes: so schnell und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus
in uns ab.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 133-134 |
Ursache
und Wirkung. »Erklärung« nennen wir's: aber »Beschreibung«
ist es, was uns vor älteren Stufen der Erkenntnis und Wissenschaft auszeichnet.
Wir beschreiben besser wir erklären ebensowenig wie alle Früheren.
Wir haben da ein vielfaches Nacheinander aufgedeckt, wo der naive Mensch und Forscher
älterer Kulturen nur zweierlei sah, »Ursache« und »Wirkung«,
wie die Rede lautete; wir haben das Bild des Werdens vervollkommnet, aber sind
über das Bild, hinter das Bild nicht hinausgekommen. Die Reihe der »Ursachen«
steht viel vollständiger in jedem Falle vor uns, wir schließen: dies
und das muß erst vorangehen, damit jenes folge aber begriffen
haben wir damit nichts. Die Qualität, zum Beispiel bei jedem chemischen Werden,
erscheint nach wie vor als ein »Wunder«, ebenso jede Fortbewegung;
niemand hat den Stoß »erklärt«. Wie könnten wir auch
erklären! Wir operieren mit lauter Dingen, die es nicht gibt, mit Linien,
Flächen, Körpern, Atomen, teilbaren Zeiten, teilbaren Räumen ,
wie soll Erklärung auch nur möglich sein, wenn wir alles erst zum Bilde
machen, zu unserem Bilde! Es ist genug, die Wissenschaft als möglichst getreue
Anmenschlichung der Dinge zu betrachten, wir lernen immer genauer uns selber beschreiben,
indem wir die Dinge und ihr Nacheinander beschreiben. Ursache und Wirkung: eine
solche Zweiheit gibt es wahrscheinlich nie in Wahrheit steht ein Kontinuum
vor uns, von dem wir ein paar Stücke isolieren; so wie wir eine Bewegung
immer nur als isolierte Punkte wahrnehmen, also eigentlich nicht sehen, sondern
erschließen. Die Plötzlichkeit, mit der sich viele Wirkungen abheben,
führt uns irre; es ist aber nur eine Plötzlichkeit für uns. Es
gibt eine unendliche Menge von Vorgängen in dieser Sekunde der Plötzlichkeit,
die uns entgehen. Ein Intellekt, der Ursache und Wirkung als Kontinuum, nicht
nach unserer Art als willkürliches Zerteilt- und Zerstückt-sein, sähe,
der den Fluß des Geschehens sähe würde den Begriff Ursache
und Wirkung verwerfen und alle Bedingtheit leugnen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 134-135 |
Zur
Lehre von den Giften. Es gehört so viel zusammen, damit ein wissenschaftliches
Denken entstehe: und alle diese nötigen Kräfte haben einzeln erfunden,
geübt, gepflegt werden müssen! In ihrer Vereinzelung haben sie aber
sehr häufig eine ganz andere Wirkung gehabt als jetzt, wo sie innerhalb des
wissenschaftlichen Denkens sich gegenseitig beschränken und in Zucht halten
sie haben als Gifte gewirkt, zum Beispiel der anzweifelnde Trieb, der verneinende
Trieb, der abwartende Trieb, der sammelnde Trieb, der auflösende Trieb. Viele
Hekatomben von Menschen sind zum Opfer gebracht worden, ehe diese Triebe lernten,
ihr Nebeneinander zu begreifen und sich miteinander als Funktionen einer organisierenden
Gewalt in einem Menschen zu fühlen! Und wie ferne sind wir noch davon, daß
zum wissenschaftlichen Denken sich auch noch die künstlerischen Kräfte
und die praktische Weisheit des Lebens hinzufinden, daß ein höheres
organisches System sich bildet, in bezug auf welches der Gelehrte, der Arzt, der
Künstler und der Gesetzgeber, so wie wir jetzt diese kennen, als dürftige
Altertümer erscheinen müßten!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 135-136 |
Die
vier Irrtümer. Der Mensch ist durch seine Irrtümer erzogen
worden: er sah sich erstens immer nur unvollständig, zweitens legte er sich
erdichtete Eigenschaften bei, drittens fühlte er sich in einer falschen Rangordnung
zu Tier und Natur, viertens erfand er immer neue Gütertafeln und nahm sie
eine Zeitlang als ewig und unbedingt, so daß bald dieser bald jener menschliche
Trieb und Zustand an der ersten Stelle stand und infolge dieser Schätzung
veredelt wurde. Rechnet man die Wirkung dieser vier Irrtümer weg, so hat
man auch Humanität, Menschlichkeit und »Menschenwürde« hinweggerechnet.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 136 |
Herden-Instinkt.
Wo wir eine Moral antreffen, da finden wir eine Abschätzung und Rangordnung
der menschlichen Triebe und Handlungen. Diese Schätzungen und Rangordnungen
sind immer der Ausdruck der Bedürfnisse einer Gemeinde und Herde: das, was
ihr am ersten frommt und am zweiten und dritten , das ist auch der
oberste Maßstab für den Wert aller einzelnen. Mit der Moral wird der
einzelne angeleitet, Funktion der Herde zu sein und nur als Funktion sich Wert
zuzuschreiben. Da die Bedingungen der Erhaltung einer Gemeinde sehr verschieden
von denen einer andern Gemeinde gewesen sind, so gab es sehr verschiedene Moralen;
und in Hinsicht auf noch bevorstehende wesentliche Umgestaltungen der Herden und
Gemeinden, Staaten und Gesellschaften kann man prophezeien, daß es noch
sehr abweichende Moralen geben wird. Moralität ist Herden-Instinkt im Einzelnen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 136-137 |
Herden-Gewissensbiß.
In den längsten und fernsten Zeiten der Menschheit gab es einen ganz
andern Gewissensbiß als heutzutage. Heute fühlt man sich nur verantwortlich
für das, was man will und tut, und hat in sich selber seinen Stolz: alle
unsere Rechtslehrer gehen von diesem Selbst- und Lustgefühle des einzelnen
aus, wie als ob hier von jeher die Quelle des Rechts entsprungen sei. Aber die
längste Zeit der Menschheit hindurch gab es nichts Fürcherlicheres,
als sich einzeln zu fühlen. Allein sein, einzeln empfinden, weder gehorchen
noch herrschen, ein Individuum bedeuten das war damals keine Lust, sondern
eine Strafe; man wurde verurteilt »zum Individuum«. Gedankenfreiheit
galt als das Unbehagen selber. Während wir Gesetz und Einordnung als Zwang
und Einbuße empfinden, empfand man ehedem den Egoismus als eine peinliche
Sache, als eine eigentliche Not. Selbst sein, sich selber nach eigenem Maß
und Gewicht schätzen das ging damals wider den Geschmack. Die Neigung
dazu würde als Wahnsinn empfunden worden sein: denn mit dem Alleinsein war
jedes Elend und jede Furcht verknüpft. Damals hatte der »freie Wille«
das böse Gewissen in seiner nächsten Nachbarschaft: und je unfreier
man handelte, je mehr der Herden-Instinkt und nicht der persönliche Sinn
aus der Handlung sprach, um so moralischer schätzte man sich. Alles, was
der Herde Schaden tat, sei es, daß der einzelne es gewollt oder nicht gewollt
hatte, machte damals dem einzelnen Gewissensbisse und seinem Nachbar noch
dazu, ja der ganzen Herde! Darin haben wir am allermeisten umgelerntDers., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 137-138 |
Wohlwollen.
Ist es tugendhaft, wenn eine Zelle sich in die Funktion einer stärkeren
Zelle verwandelt? Sie muß es. Und ist es böse, wenn die stärkere
jene assimiliert? Sie muß es ebenfalls; so ist es für sie notwendig,
denn sie strebt nach überreichlichem Ersatz und will sich regenerieren. Demnach
hat man im Wohlwollen zu unterscheiden: den Aneignungstrieb und den Unterwerfungstrieb,
je nachdem der Stärkere oder der Schwächere Wohlwollen empfindet. Freude
und Begehren sind bei dem Stärkeren, der etwas zu seiner Funktion umbilden
will, beisammen: Freude und Begehrtwerdenwollen bei dem Schwächeren, der
Funktion werden möchte. Mitleid ist wesentlich das erstere, eine angenehme
Regung des Aneignungstriebes, beim Anblick des Schwächeren: wobei noch zu
bedenken ist, daß »stark« und »schwach« relative
Begriffe sind.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 138 |
Im
Horizont des Unendlichen. Wir haben das Land verlassen und sind zu
Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns mehr noch, wir haben
das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! Sieh dich vor! Neben dir liegt
der Ozean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da wie
Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du
erkennen wirst, daß er unendlich ist und daß es nichts Furchtbareres
gibt als Unendlichkeit. Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und
nun an die Wände dieses Käfigs stößt! Wehe, wenn das Land-Heimweh
dich befällt, als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre und
es gibt kein »Land« mehr!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 142 |
Der
tolle Mensch. Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört,
der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich
schrie: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« Da dort gerade viele
von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes
Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen
wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet
er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? so schrien und
lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte
sie mit seinen Blicken. »Wohin ist Gott?« rief er, »ich will
es euch sagen! Wir haben ihn getötet ihr und ich! Wir alle
sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das
Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen?
Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie
sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht
fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach
allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein
unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter
geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen
am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm
der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen
Verwesung? auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und
wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?
Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter
unsern Messern verblutet wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser
könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele
werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu
groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden,
um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat
und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen
in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!«
Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen
und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß
sie in Stücke sprang und erlosch. »Ich komme zu früh«, sagte
er dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch
unterwegs und wandert es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.
Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen
Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehn und gehört zu werden. Diese
Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne und doch haben
sie dieselbe getan!« Man erzählt noch, daß der tolle
Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein
Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt,
habe er immer nur dies entgegnet: »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn
sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?«Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 143-144 |
Die
Bedingungen Gottes. »Gott selber kann nicht ohne weise Menschen
bestehen« hat Luther gesagt und mit gutem Rechte; aber »Gott
kann noch weniger ohne unweise Menschen bestehen« das hat der gute
Luther nicht gesagt!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 147 |
Ein
gefährlicher Entschluß. Der christliche Entschluß,
die Welt häßlich und schlecht zu finden, hat die Welt häßlich
und schlecht gemacht.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 147 |
Christentum
und Selbstmord. Das Christentum hat das zur Zeit seiner Entstehung
ungeheure Verlangen nach dem Selbstmorde zu einem Hebel seiner Macht gemacht:
es ließ nur zwei Formen des Selbstmordes übrig, umkleidete sie mit
der höchsten Würde und den höchsten Hoffnungen und verbot alle
anderen auf eine furchtbare Weise. Aber das Martyrium und die langsame Selbstentleibung
des Asketen waren erlaubt.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 147-148 |
Herkunft
der Sünde. Sünde, so wie sie jetzt überall empfunden
wird, wo das Christentum herrscht oder einmal geherrscht hat: Sünde ist ein
jüdisches Gefühl und eine jüdische Erfindung, und in Hinsicht auf
diesen Hintergrund aller christlichen Moralität war in der Tat das Christentum
darauf aus, die ganze Welt zu »verjüdeln«. Bis zu welchem Grade
ihm dies in Europa gelungen ist, das spürt man am feinsten an dem Grade von
Fremdheit, den das griechische Altertum eine Welt ohne Sündengefühle
immer noch für unsre Empfindung hat, trotz allem guten Willen zur
Annäherung und Einverleibung, an dem es ganze Geschlechter und viele ausgezeichnete
einzelne nicht haben fehlen lassen. »Nur wenn du bereuest, ist Gott dir
gnädig« das ist einem Griechen ein Gelächter und ein Ärgernis:
er würde sagen »so mögen Sklaven empfinden«. Hier ist ein
Mächtiger, Übermächtiger und doch Rachelustiger vorausgesetzt:
seine Macht ist so groß, daß ihm ein Schaden überhaupt nicht
zugefügt werden kann außer in dem Punkte der Ehre. Jede Sünde
ist eine Respekts-Verletzung, ein crimen laesae majestatis divinae
und nichts weiter! Zerknirschung, Entwürdigung, Sich-im-Staube-wälzen
das ist die erste und letzte Bedingung, an die seine Gnade sich knüpft:
Wiederherstellung also seiner göttlichen Ehre! Ob mit der Sünde sonst
Schaden gestiftet wird, ob ein tiefes, wachsendes Unheil mit ihr gepflanzt ist,
das einen Menschen nach dem andern wie eine Krankheit faßt und würgt
das läßt diesen ehrsüchtigen Orientalen im Himmel unbekümmert:
Sünde ist ein Vergehen an ihm, nicht an der Menschheit! wem er seine
Gnade geschenkt hat, dem schenkt er auch diese Unbekümmertheit um die natürlichen
Folgen der Sünde. Gott und Menschheit sind hier so getrennt, so entgegengesetzt
gedacht, daß im Grunde an letzterer überhaupt nicht gesündigt
werden kann jede Tat soll nur auf ihre übernatürlichen Folgen
hin angesehen werden, nicht auf ihre natürlichen: so will es das jüdische
Gefühl, dem alles Natürliche das Unwürdige an sich ist. Den Griechen
dagegen lag der Gedanke näher, daß auch der Frevel Würde haben
könne selbst der Diebstahl, wie bei Prometheus, selbst die Abschlachtung
von Vieh als Äußerung eines wahnsinnigen Neides, wie bei Ajax: sie
haben in ihrem Bedürfnis, dem Frevel Würde anzudichten und einzuverleiben,
die Tragödie erfunden eine Kunst und eine Lust, die dem Juden trotz
aller seiner dichterischen Begabung und Neigung zum Erhabnen im tiefsten Wesen
fremd geblieben ist.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 149-150 |
Farbe
der Leidenschaften. Solche Naturen, wie die des Apostels Paulus, haben
für die Leidenschaften einen »bösen Blick«; sie lernen von
ihnen nur das Schmutzige, Entstellende und Herzbrechende kennen ihr idealer
Drang geht daher auf Vernichtung der Leidenschaften aus: im Göttlichen sehen
sie die völlige Reinheit davon. Ganz anders als Paulus und die Juden haben
die Griechen ihren idealen Drang gerade auf die Leidenschaften gewendet und diese
geliebt, gehoben, vergoldet und vergöttlicht; offenbar fühlten sie sich
in der Leidenschaft nicht nur glücklicher, sondern auch reiner und göttlicher
als sonst. Und nun die Christen? Wollten sie hierin zu Juden werden? Sind
sie es vielleicht geworden?Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 151-152 |
Räucherwerk.
Buddha sagt: »Schmeichle deinem Wohltäter nicht!« Man
spreche diesen Spruch nach in einer christlichen Kirche er reinigt sofort
die Luft von allem Christlichen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 152 |
Der
Monotheismus ... war vielleicht die größte Gefahr der bisherigen Menschheit
.... Im Polytheismus lag die Freigeisterei und Vielgeisterei des Menschen vorgebildet:
die Kraft, sich neue und eigne Augen zu schaffen und immer wieder neue und noch
eigenere: so daß es für den Menschen allein unter allen Tieren keine
ewigen Horizonte und Perspektiven gibt.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 153-154 |
Religionskriege.
Der größte Fortschritt der Massen war bis jetzt der Religionskrieg:
denn er beweist, daß die Masse angefangen hat, Begriffe mit Ehrfurcht zu
behandeln. Religionskriege entstehen erst, wenn durch die feineren Streitigkeiten
der Sekten die allgemeine Vernunft verfeinert ist: so daß selbst der Pöbel
spitzfindig wird und Kleinigkeiten wichtig nimmt, ja es für möglich
hält, daß das »ewige Heil der Seele« an den kleinen Unterschieden
der Begriffe hänge.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 154 |
Deutsche
Hoffnungen. Vergessen wir doch nicht, daß die Völkernamen
gewöhnlich Schimpfnamen sind. Die Tartaren sind zum Beispiel ihrem Namen
nach »die Hunde«: so wurden sie von den Chinesen getauft. Die »Deutschen«:
das bedeutet ursprünglich die »Heiden«; so nannten die Goten
nach ihrer Bekehrung die große Masse ihrer ungetauften Stammverwandten,
nach Anleitung ihrer Übersetzung der Septuaginta, in der die Heiden mit dem
Worte bezeichnet werden, welches im Griechischen »die Völker«
bedeutet: man sehe Ulfilas. Es wäre immer noch möglich, daß
die Deutschen aus ihrem alten Schimpfnamen sich nachträglich einen Ehrennamen
machten, indem sie das erste unchristliche Volk Europas würden: wozu
in hohem Maße angelegt zu sein, Schopenhauer ihnen zur Ehre anrechnete.
So käme das Werk Luthers zur Vollendung, der sie gelehrt hat, unrömisch
zu sein und zu sprechen: »hier stehe ich! Ich kann nicht anders!«Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 155 |
Wo
die Reformationen entstehen. Zur Zeit der großen Kirchen-Verderbnis
war in Deutschland die Kirche am wenigsten verdorben: deshalb entstand hier
die Reformation, als das Zeichen, daß schon die Anfänge der Verderbnis
unerträglich empfunden wurden. Verhältnismäßig war nämlich
kein Volk jemals christlicher, als die Deutschen zur Zeit Luthers: ihre christliche
Kultur war eben bereit, zu einer hundertfältigen Pracht der Blüte auszuschlagen
es fehlte nur noch eine Nacht; aber diese brachte den Sturm, der allem
ein Ende machte.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 155-156 |
Mißlingen
der Reformationen. Es spricht für die höhere Kultur der Griechen
selbst in ziemlich frühen Zeiten, daß mehrere Male die Versuche, neue
griechische Religionen zu gründen, gescheitert sind; es spricht dafür,
daß es schon früh eine Menge verschiedenartiger Individuen in Griechenland
gegeben haben muß, deren verschiedenartige Not nicht mit einem einzigen
Rezepte des Glaubens und Hoffens abzutun war. Pythagoras und Plato, vielleicht
auch Empedokles, und bereits viel früher die orphischen Schwarmgeister, waren
darauf aus, neue Religionen zu gründen; und die beiden Erstgenannten hatten
so echte Religionsstifter-Seelen und Talente, daß man sich über
ihr Mißlingen nicht genug verwundern kann: sie brachten es aber nur zu Sekten.
Jedesmal, wo die Reformation eines ganzen Volkes mißlingt und nur Sekten
ihr Haupt emporheben, darf man schließen, daß das Volk schon sehr
vielartig in sich ist und sich von den groben Herdeninstinkten und der Sittlichkeit
der Sitte loszulösen beginnt: ein bedeutungsvoller Schwebezustand, den man
als Sittenverfall und Korruption zu verunglimpfen gewohnt ist: während er
das Reifwerden des Eies und das nahe Zerbrechen der Eierschale ankündigt.
Daß Luthers Reformation im Norden gelang, ist ein Zeichen dafür, daß
der Norden gegen den Süden Europas zurückgeblieben war und noch ziemlich
einartige und einfarbige Bedürfnisse kannte; und es hätte überhaupt
keine Verchristlichung Europas gegeben, wenn nicht die Kultur der alten Welt des
Südens allmählich durch eine übermäßige Hinzumischung
von germanischem Barbarenblut barbarisiert und ihres Kultur-Übergewichtes
verlustig gegangen wäre. Je allgemeiner und unbedingter ein einzelner oder
der Gedanke eines einzelnen wirken kann, um so gleichartiger und um so niedriger
muß die Masse sein, auf die da gewirkt wird; während Gegenbestrebungen
innere Gegenbedürfnisse verraten, welche auch sich befriedigen und durchsetzen
wollen. Umgekehrt darf man immer auf eine wirkliche Höhe der Kultur schließen,
wenn mächtige und herrschsüchtige Naturen es nur zu einer geringen und
sektiererischen Wirkung bringen: dies gilt auch für die einzelnen Künste
und die Gebiete der Erkenntnis. Wo geherrscht wird, da gibt es Massen: wo Massen
sind, da gibt es ein Bedürfnis nach Sklaverei. Wo es Sklaverei gibt, da sind
der Individuen nur wenige, und diese haben die Herdeninstinkte und das Gewissen
gegen sich.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 156-157 |
Vom
Ursprunge der Religion. Das metaphysische Bedürfnis ist nicht
der Ursprung der Religionen, wie Schopenhauer will, sondern nur ein Nachschößling
derselben. Man hat sich unter der Herrschaft religiöser Gedanken an die Vorstellung
einer »anderen (hinteren, unteren, oberen) Welt« gewöhnt und
fühlt bei der Vernichtung der religiösen Gedanken eine unbehagliche
Leere und Entbehrung und nun wächst aus diesem Gefühle wieder
eine »andere Welt« heraus, aber jetzt nur eine metaphysische und nicht
mehr religiöse. Das aber, was in Urzeiten zur Annahme einer »andern
Welt« überhaupt führte, war nicht ein Trieb und Bedürfnis,
sondern ein Irrtum in der Auslegung bestimmter Naturvorgänge, eine
Verlegenheit des Intellekts.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 157-158 |
Was
uns fehlt. Wir lieben die große Natur und haben sie entdeckt:
das kommt daher, daß in unserem Kopfe die großen Menschen fehlen.
Umgekehrt die Griechen: ihr Naturgefühl ist ein anderes als das unsrige.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 159 |
An
die Liebhaber der Zeit. Der entlaufene Priester und der entlassene
Sträfling machen fortwährend Gesichter: was sie wollen, ist ein Gesicht
ohne Vergangenheit. Habt ihr aber schon Menschen gesehn, welche wissen,
daß die Zukunft in ihrem Gesichte sich spiegelt, und welche so höflich
gegen euch, ihr Liebhaber der »Zeit«, sind, daß sie ein Gesicht
ohne Zukunft machen?Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 161 |
Von
einem Kranken. »Es steht schlecht um ihn!« Woran
fehlt es? »Er leidet an der Begierde, gelobt zu werden, und findet
keine Nahrung für sie.« Unbegreiflich! Alle Welt feiert ihn,
und man trägt ihn nicht nur auf den Händen, sondern auch auf den Lippen!
»Ja, aber er hat ein schlechtes Gehör für das Lob. Lobt
ihn ein Freund, so klingt es ihm, als ob dieser sich selber lobe; lobt ihn ein
Feind, so klingt es ihm, als ob dieser dafür gelobt werden wolle; lobt ihn
endlich einer der übrigen es sind gar nicht so viele übrig, so
berühmt ist er! , so beleidigt es ihn, daß man ihn nicht zum
Freund oder Feind haben wolle; er pflegt zu sagen: Was liegt mir an einem,
der gar noch gegen mich den Gerechten zu spielen vermag!«Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 162-163 |
Die
gute Zeit der freien Geister. Die freien Geister nehmen sich auch vor
der Wissenschaft noch ihre Freiheiten und einstweilen gibt man sie ihnen
auch , solange die Kirche noch steht! Insofern haben sie jetzt ihre gute
Zeit.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 165-166 |
Justiz.
Lieber sich bestehlen lassen, als Vogelscheuchen um sich haben das
ist mein Geschmack. Und es ist unter allen Umständen eine Sache des Geschmacks
und nicht mehr!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 166 |
Arm.
Er ist heute arm: aber nicht weil man ihm alles genommen, sondern weil
er alles weggeworfen hat was macht es ihm? Er ist daran gewöhnt, zu
finden. Die Armen sind es, welche seine freiwillige Armut mißverstehen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 167 |
Schlechtes
Gewissen. Alles, was er jetzt tut, ist brav und ordentlich und
doch hat er ein schlechtes Gewissen dabei. Denn das Außerordentliche ist
seine Aufgabe.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 167 |
Der
Denker. Er ist ein Denker: das heißt er versteht sich darauf, die
Dinge einfacher zu nehmen, als sie sind.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 167 |
Gegen
die Lobenden. A: »Man wird nur von seinesgleichen gelobt!«
B: »Ja! Und wer dich lobt, sagt zu dir: du bist meinesgleichen!«Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 168 |
Gegen
manche Verteidigung. Die perfideste Art einer Sache zu schaden ist,
sie absichtlich mit fehlerhaften Gründen verteidigen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 168 |
Kants
Witz. Kant wollte auf eine »alle Welt« vor den Kopf stoßende
Art beweisen, daß »alle Welt« recht habe das war der
heimliche Witz dieser Seele. Er schrieb gegen die Gelehrten zugunsten des Volks-Vorurteils,
aber für Gelehrte und nicht für das Volk.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 168 |
Bedürfnis.
Das Bedürfnis gilt als die Ursache der Entstehung: in Wahrheit ist
es oft nur eine Wirkung des Entstandenen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 171 |
Ursache
und Wirkung. Vor der Wirkung glaubt man an andere Ursachen als nach
der Wirkung.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 173 |
Zweck
der Strafe. Die Strafe hat den Zweck, den zu bessern, welcher straft,
das ist die letzte Zuflucht für die Verteidiger der Strafe.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 174 |
Opfer.
Über Opfer und Aufopferung denken die Opfertiere anders als die
Zuschauer: aber man hat sie von jeher nicht zu Worte kommen lassen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 174 |
Schonung.
Väter und Söhne schonen sich viel mehr untereinander als Mütter
und Töchter.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 174 |
Kritik
der Tiere. Ich fürchte, die Tiere betrachten den Menschen als
ein Wesen ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden
Tierverstand verloren hat, als das wahnwitzige Tier, als das lachende Tier,
als das weinende Tier, als das unglückselige Tier.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 175 |
Die
Natürlichen. »Das Böse hat immer den großen Effekt
für sich gehabt! Und die Natur ist böse! Seien wir also natürlich!«
so schließen im geheimen die großen Effekthascher der Menschheit,
welche man gar zu oft unter die großen Menschen gerechnet hat.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 175 |
Gegen
die Vermittelnden. Wer zwischen zwei entschlossenen Denkern vermitteln
will, ist gezeichnet als mittelmäßig: er hat das Auge nicht dafür,
das Einmalige zu sehen; die Ähnlichseherei und Gleichmacherei ist das Merkmal
schwacher Augen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 176 |
Mangel
an Schweigsamkeit. Sein ganzes Wesen überredet nicht das
kommt daher, daß er nie eine gute Handlung die er tat, verschwiegen hat.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 176 |
Um
die Menge zu bewegen. Muß nicht der, welcher die Menge bewegen
will, der Schauspieler seiner selber sein? Muß er nicht sich selber erst
ins Grotesk-Deutliche übersetzen und seine ganze Person und Sache in dieser
Vergröberung und Vereinfachung vortragen?Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 178 |
Gedanken
und Worte. Man kann auch seine Gedanken nicht ganz in Worten wiedergeben.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 179 |
Mathematik.
Wir wollen die Feinheit und Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften
hineintreiben, so weit dies nur irgend möglich ist; nicht im Glauben, daß
wir auf diesem Wege die Dinge erkennen werden, sondern um damit unsere menschliche
Relation zu den Dingen festzustellen. Die Mathematik ist nur das Mittel der allgemeinen
und letzten Menschenkenntnis.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 180 |
Schuld.
Obschon die scharfsinnigsten Richter der Hexen und sogar die Hexen selber
von der Schuld der Hexerei überzeugt waren, war die Schuld trotzdem nicht
vorhanden. So steht es mit aller Schuld.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 180 |
Verkannte
Leidende. Die großartigen Naturen leiden anders, als ihre Verehrer
sich einbilden: sie leiden am härtesten durch die unedlen, kleinlichen Wallungen
mancher bösen Augenblicke, kurz durch ihren Zweifel an der eigenen Großartigkeit
nicht aber durch die Opfer und Martyrien, welche ihre Aufgabe von ihnen
verlangt. Solange Prometheus Mitleid mit den Menschen hat und sich ihnen opfert,
ist er glücklich und groß in sich; aber wenn er neidisch auf Zeus und
die Huldigungen wird, welche jenem die Sterblichen bringen da leidet er!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 181 |
Nachahmer.
A: »Wie? Du willst keine Nachahmer?« B: »Ich will
nicht, daß man mir etwas nachmache; ich will, daß jeder sich etwas
vormache: dasselbe, was ich tue.« A: »Also ?«Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 182 |
Aus
der Erfahrung. Mancher weiß nicht, wie reich er ist, bis er erfährt,
was für reiche Menschen an ihm noch zu Dieben werden.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 182 |
Die
Leugner des Zufalls. Kein Sieger glaubt an den Zufall.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 183 |
Aus
dem Paradiese. »Gut und Böse sind die Vorurteile Gottes«
sagte die Schlange. Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 183 |
Einmaleins.
Einer hat immer Unrecht: aber mit zweien beginnt die Wahrheit. Einer
kann sich nicht beweisen: aber zweie kann man bereits nicht widerlegen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 183 |
Sub,
specie aeterni. A: »Du entfernst dich immer schneller von den
Lebenden: bald werden sie dich aus ihren Listen streichen!« B: »Es
ist das einzige Mittel, um an dem Vorrecht der Toten teilzuhaben.«
A: »An welchem Vorrecht?« B: »Nicht mehr zu sterben.«Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 183 |
Ohne
Eitelkeit. Wenn wir lieben, so wollen wir, daß unsere Mängel
verborgen bleiben nicht aus Eitelkeit, sondern weil das geliebte Wesen
nicht leiden soll. Ja, der Liebende möchte ein Gott scheinen und auch
dies nicht aus Eitelkeit.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 184 |
Was
wir tun. Was wir tun, wird nie verstanden, sondern immer nur gelobt
und getadelt.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 184 |
Was
macht heroisch? Zugleich seinem höchsten Leide und seiner höchsten
Hoffnung entgegengehn.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 185 |
Woran
glaubst du? Daran: daß die Gewichte aller Dinge neu bestimmt
werden müssen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 185 |
Was
sagt dein Gewissen? »Du sollst der werden, der du bist.«Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 185 |
Wo
liegen deine größten Gefahren? Im Mitleiden.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 185 |
Was
liebst du an anderen? Meine Hoffnungen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 185 |
Wen
nennst du schlecht? Den, der immer beschämen will.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 185 |
Was
ist dir das Menschlichste? Jemandem Scham ersparen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 186 |
Was
ist das Siegel der erreichten Freiheit? Sich nicht mehr vor sich selber
schämen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 186 |
Der
du mit dem Flammenspeere // Meiner Seele Eis zerteilt, // Daß sie brausend
nun zum Meere // Ihrer höchsten Hoffnung eilt: // Heller stets und stets
gesunder, // Frei im liebevollsten Muß: // Also preist sie deine
Wunder, // Schönster Januarius!Genua, im Januar 1882 Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 187 |
Zum
neuen Jahre. Noch lebe ich, noch denke ich: ich muß noch leben,
denn ich muß noch denken. Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum. Heute
erlaubt sich jedermann, seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: nun,
so will auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wünschte und welcher
Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief welcher Gedanke
mir Grund, Bürgschaft und Süßigkeit alles weiteren Lebens sein
soll! Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne
sehen so werde ich einer von denen sein, welche die Dinge schön machen.
Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen
das Häßliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal
die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und,
alles in allem und großen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Jasagender
sein!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 187 |
Vorbereitende
Menschen. Ich begrüße alle Anzeichen dafür, daß
ein männlicheres, ein kriegerisches Zeitalter anhebt, das vor allem die Tapferkeit
wieder zu Ehren bringen wird! Denn es soll einem noch höheren Zeitalter den
Weg bahnen und die Kraft einsammeln, welche jenes einmal nötig haben wird
jenes Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntnis trägt und Kriege
führt um der Gedanken und ihrer Folgen willen. Dazu bedarf es für
jetzt vieler vorbereitender tapferer Menschen, welche doch nicht aus dem Nichts
entspringen können und ebensowenig aus dem Sand und Schleim der jetzigen
Zivilisation und Großstadt-Bildung: Menschen, welche es verstehen, schweigend,
einsam, entschlossen, in unsichtbarer Tätigkeit zufrieden und beständig
zu sein: Menschen, die mit innerlichem Hange an allen Dingen nach dem suchen,
was an ihnen zu überwinden ist: Menschen, denen Heiterkeit, Geduld,
Schlichtheit und Verachtung der großen Eitelkeiten ebenso zu eigen ist,
als Großmut im Siege und Nachsicht gegen die kleinen Eitelkeiten aller Besiegten:
Menschen mit einem scharfen und freien Urteil über alle Sieger und über
den Anteil des Zufalls an jedem Siege und Ruhme: Menschen mit eigenen Festen,
eigenen Werktagen, eigenen Trauerzeiten, ge wohnt und sicher im Befehlen und gleich
bereit, wo es gilt, zu gehorchen, im einen wie im andern gleich stolz, gleich
ihrer eigenen Sache dienend: gefährdetere Menschen, fruchtbarere Menschen,
glücklichere Menschen! Denn, glaubt es mir! das Geheimnis, um die
größte Fruchtbarkeit und den größten Genuß vom Dasein
einzuernten, heißt: gefährlich leben! Baut eure Städte
an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere! Lebt im Kriege mit euresgleichen
und mit euch selber! Seid Räuber und Eroberer, solange ihr nicht Herrscher
und Besitzer sein könnt, ihr Erkennenden! Die Zeit geht bald vorbei, wo es
euch genug sein durfte, gleich scheuen Hirschen in Wäldern versteckt zu leben!
Endlich wird die Erkenntnis die Hand nach dem ausstrecken, was ihr gebührt
sie wird herrschen und besitzen wollen, und ihr mit ihr!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 192 |
Auf
die Schiffe! Erwägt man, wie auf jeden einzelnen eine philosophische
Gesamt-Rechtfertigung seiner Art, zu leben und zu denken, wirkt nämlich
gleich einer wärmenden, sengenden, befruchtenden, eigens ihm leuchtenden
Sonne, wie sie unabhängig von Lob und Tadel, selbstgenugsam, reich, freigebig
an Glück und Wohlwollen macht, wie sie unaufhörlich das Böse zum
Guten umschafft, alle Kräfte zum Blühen und Reifwerden bringt und das
kleine und große Unkraut des Grams und der Verdrießlichkeit gar nicht
aufkommen läßt so ruft man zuletzt verlangend aus: Oh daß
doch viele solche neue Sonnen noch geschaffen würden! Auch der Böse,
auch der Unglückliche, auch der Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein
gutes Recht, seinen Sonnenschein haben! Nicht Mitleiden mit ihnen tut not!
diesen Einfall des Hochmuts müssen wir verlernen, solange auch bisher die
Menschheit gerade an ihm gelernt und geübt hat keine Beichtiger, Seelenbeschwörer
und Sündenvergeber haben wir für sie aufzustellen! Sondern eine neue
Gerechtigkeit tut not! Und eine neue Losung! Und neue Philosophen! Auch
die moralische Erde ist rund! Auch die moralische Erde hat ihre Antipoden! Auch
die Antipoden haben ihr Recht des Daseins! Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken
und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 195-196 |
An
die Moral-Prediger. Ich will keine Moral machen, aber denen, welche
es tun, gebe ich diesen Rat: wollt ihr die besten Dinge und Zustände zuletzt
um alle Ehre und Wert bringen, so fahrt fort, sie in den Mund zu nehmen wie bisher!
Stellt sie an die Spitze eurer Moral und redet von früh bis abend von dem
Glück der Tugend, von der Ruhe der Seele, von der Gerechtigkeit und der immanenten
Vergeltung: so wie ihr es treibt, bekommen alle diese guten Dinge dadurch endlich
eine Popularität und ein Geschrei der Gasse für sich; aber dann wird
auch alles Gold daran abgegriffen sein und mehr noch: alles Gold darin
wird sich in Blei verwandelt haben. Wahrlich, ihr versteht euch auf die umgekehrte
Kunst der Alchimie, auf die Entwertung des Wertvollsten! Greift einmal zum Versuche
nach einem anderen Rezepte, um nicht wie bisher das Gegenteil von dem, was ihr
sucht, zu erreichen: leugnet jene guten Dinge, entzieht ihnen den Pöbel-Beifall
und den leichten Umlauf, macht sie wieder zu verborgenen Schamhaftigkeiten einsamer
Seelen, sagt, Moral sei etwas Verbotenes! Vielleicht gewinnt ihr so die
Art von Menschen für diese Dinge, auf welche einzig etwas ankommt, ich meine
die Heroischen. Aber dann muß etwas zum Fürchten daran sein
und nicht, wie bisher, zum Ekeln! Möchte man nicht heute in Hinsicht der
Moral sagen, wie Meister Eckardt: »ich bitte Gott, daß er mich quitt
mache Gottes!«Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 199 |
Unsere
Luft. Wir wissen es wohl: wer nur wie im Spazierengehen einmal einen
Blick nach der Wissenschaft hin tut, nach Art der Frauen und leider auch vieler
Künstler: für den hat die Strenge ihres Dienstes, diese Unerbittlichkeit
im kleinen wie im großen, diese Schnelligkeit im Wägen, Urteilen, Verurteilen
etwas Schwindel- und Furchteinflößendes. Namentlich erschreckt ihn,
wie hier das Schwerste gefordert, das Beste getan wird, ohne daß dafür
Lob und Auszeichnungen da sind, vielmehr, wie unter Soldaten, fast nur Tadel und
scharfe Verweise laut werden denn das Gutmachen gilt als die Regel,
das Verfehlte als die Ausnahme; die Regel aber hat hier wie überall einen
schweigsamen Mund. Mit dieser »Strenge der Wissenschaft« steht es
nun wie mit der Form und Höflichkeit der allerbesten Gesellschaft
sie erschreckt den Uneingeweihten. Wer aber an sie gewöhnt ist, mag gar nicht
anderswo leben als in dieser hellen, durchsichtigen, kräftigen, stark elektrischen
Luft, in dieser männlichen Luft. Überall sonst ist es ihm nicht
reinlich und luftig genug: er argwöhnt, daß dort seine beste Kunst
niemandem recht von Nutzen und ihm selber nicht zur Freude sein werde, daß
unter Mißverständnissen ihm sein halbes Leben durch die Finger schlüpfe,
daß fortwährend viel Vorsicht, viel Verbergen und Ansichhalten not
tue lauter große und unnütze Einbußen an Kraft! In diesem
strengen und klaren Elemente aber hat er seine Kraft ganz: hier kann er fliegen!
Wozu sollte er wieder hinab in jene trüben Gewässer, wo man schwimmen
und waten muß und seine Flügel mißfarbig macht! Nein!
Da ist es zu schwer für uns zu leben: was können wir dafür, daß
wir für die Luft, die reine Luft geboren sind, wir Nebenbuhler des Lichtstrahls,
und daß wir am liebsten auf Ätherstäubchen gleich ihm reiten würden,
und nicht von der Sonne weg, sondern zu der Sonne hin! Das aber können
wir nicht so wollen wir denn tun, was wir einzig können: der Erde
Licht bringen, »das Licht der Erde« sein! Und dazu haben wir unsere
Flügel und unsere Schnelligkeit und Strenge, um dessenthalben sind wir männlich
und selbst schrecklich, gleich dem Feuer. Mögen die uns fürchten, welche
sich nicht an uns zu wärmen und zu erhellen verstehen!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 200-201 |
Gegen
die Verleumder der Natur. Das sind mir unangenehme Menschen, bei denen
jeder natürliche Hang sofort zur Krankheit wird, zu etwas Entstellendem oder
gar Schmählichem diese haben uns zu der Meinung verführt, die
Hänge und Triebe des Menschen seien böse; sie sind die Ursache unserer
großen Ungerechtigkeit gegen unsere Natur, gegen alle Natur! Es gibt genug
Menschen, die sich ihren Trieben mit Anmut und Sorglosigkeit überlassen dürfen:
aber sie tun es nicht, aus Angst vor jenem eingebildeten »bösen Wesen«
der Natur! Daher ist es gekommen, daß so wenig Vornehmheit unter
den Menschen zu finden ist: deren Kennzeichen es immer sein wird, vor sich keine
Furcht zu haben, von sich nichts Schmähliches zu erwarten, ohne Bedenken
zu fliegen, wohin es uns treibt uns freigeborene Vögel! Wohin wir
auch nur kommen, immer wird es frei und sonnenlicht um uns sein.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 201 |
Widersprechen
können. Jeder weiß jetzt, daß Widerspruch-vertragen-können
ein hohes Zeichen von Kultur ist. Einige wissen sogar, daß der höhere
Mensch den Widerspruch gegen sich wünscht und hervorruft, um einen Fingerzeig
über seine ihm bisher unbekannte Ungerechtigkeit zu bekommen. Aber das Widersprechen-Können,
das erlangte gute Gewissen bei der Feindseligkeit gegen das Gewohnte, Überlieferte,
Geheiligte das ist mehr als jenes Beides und das eigentlich Große,
Neue, Erstaunliche unserer Kultur, der Schritt aller Schritte des befreiten Geistes:
wer weiß das?Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 204 |
Was
man den Künstlern ablernen soll. Welche Mittel haben wir, uns
die Dinge schön, anziehend, begehrenswert zu machen, wenn sie es nicht sind?
und ich meine, sie sind es an sich niemals! Hier haben wir von den Ärzten
etwas zu lernen, wenn sie zum Beispiel das Bittere verdünnen oder Wein und
Zucker in den Mischkrug tun; aber noch mehr von den Künstlern, welche eigentlich
fortwährend darauf aus sind, solche Erfindungen und Kunststücke zu machen.
Sich von den Dingen entfernen, bis man vieles von ihnen nicht mehr sieht und vieles
hinzusehn muß, um sie noch zu sehen oder die Dinge um die
Ecke und wie in einem Ausschnitte sehen oder sie so stellen, daß
sie sich teilweise verstellen und nur perspektivische Durchblicke gestatten
oder sie durch gefärbtes Glas oder im Lichte der Abendröte anschauen
oder ihnen eine Oberfläche und Haut geben, welche keine volle Transparenz
hat: das alles sollen wir den Künstlern ablernen und im übrigen weiser
sein als sie. Denn bei ihnen hört gewöhnlich diese ihre feine Kraft
auf, wo die Kunst aufhört und das Leben beginnt; wir aber wollen die Dichter
unseres Lebens sein, und im Kleinsten und Alltäglichsten zuerst.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 204-205 |
Vorspiele
der Wissenschaft. Glaubt ihr denn, daß die Wissenschaften entstanden
und groß geworden wären, wenn ihnen nicht die Zauberer, Alchimisten,
Astrologen und Hexen vorangelaufen wären als die, welche mit ihren Verheißungen
und Vorspiegelungen erst Durst, Hunger und Wohlgeschmack an verborgenen und
verbotenen Mächten schaffen mußten? Ja, daß unendlich mehr
hat verheißen werden müssen, als je erfüllt werden kann, damit
überhaupt etwas im Reiche der Erkenntnis sich erfülle? Vielleicht
erscheint in gleicher Weise, wie uns sich hier Vorspiele und Vorübungen der
Wissenschaft darstellen, die durchaus nicht als solche geübt und empfunden
wurden, auch irgendeinem fernen Zeitalter die gesamte Religion als Übung
und Vorspiel: vielleicht könnte sie das seltsame Mittel dazu gewesen sein,
daß einmal einzelne Menschen die ganze Selbstgenügsamkeit eines Gottes
und alle seine Kraft der Selbsterlösung genießen können. Ja!
darf man fragen würde denn der Mensch überhaupt ohne jene religiöse
Schule und Vorgeschichte es gelernt haben, nach sich Hunger und Durst zu spüren
und aus sich Sattheit und Fülle zu nehmen? Mußte Prometheus erst wähnen,
das Licht gestohlen zu haben und dafür büßen um
endlich zu entdecken, daß er das Licht geschaffen habe, indem er nach
dem Lichte begehrte, und daß nicht nur der Mensch, sondern auch der
Gott das Werk seiner Hände und Ton in seinen Händen gewesen
sei? Alles nur Bilder des Bildners? ebenso wie der Wahn, der Diebstahl,
der Kaukasus, der Geier und die ganze tragische Prometheia aller Erkennenden?Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 205-206 |
Was
nur Wert hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur
nach die Natur ist immer wertlos : sondern dem hat man einen Wert
einmal gegeben, geschenkt, und wir waren diese Gebenden und Schenkenden!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 207 |
Stoiker
und Epikureer. Der Epikureer sucht sich die Lage, die Personen und
selbst die Ereignisse aus, welche zu seiner äußerst reizbaren intellektuellen
Beschaffenheit passen, er verzichtet auf das übrige das heißt
das allermeiste , weil es eine zu starke und schwere Kost für ihn sein
würde. Der Stoiker dagegen übt sich, Steine und Gewürm, Glassplitter
und Skorpione zu verschlucken und ohne Ekel zu sein; sein Magen soll endlich gleichgültig
gegen alles werden, was der Zufall des Daseins in ihn schüttet er
erinnert an jene arabische Sekte der Assaua, die man in Algier kennenlernt; und
gleich diesen Unempfindlichen hat er auch gerne ein eingeladenes Publikum bei
der Schaustellung seiner Unempfindlichkeit, dessen gerade der Epikureer gerne
enträt der hat ja seinen »Garten«! Für Menschen,
mit denen das Schicksal improvisiert, für solche, die in gewaltsamen Zeiten
und abhängig von plötzlichen und veränderlichen Menschen leben,
mag der Stoizismus sehr ratsam sein. Wer aber einigermaßen absieht, daß
das Schicksal ihm einen langen Faden zu spinnen erlaubt, tut wohl, sich
epikureisch einzurichten; alle Menschen der geistigen Arbeit haben es bisher getan!
Ihnen wäre es nämlich der Verlust der Verluste, die feine Reizbarkeit
einzubüßen und die stoische harte Haut mit Igelstacheln dagegen geschenkt
zu bekommen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 210-211 |
Zugunsten
der Kritik. Jetzt erscheint dir etwas als Irrtum, das du ehedem als
eine Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit geliebt hast: du stößt es von
dir ab und wähnst, daß deine Vernunft darin einen Sieg erfochten habe.
Aber vielleicht war jener Irrtum damals, als du noch ein andrer warst du
bist immer ein andrer , dir ebenso notwendig wie alle deine jetzigen »Wahrheiten«,
gleichsam als eine Haut, die dir vieles verhehlte und verhüllte, was du noch
nicht sehen durftest. Dein neues Leben hat jene Meinung für dich getötet,
nicht deine Vernunft: du brauchst sie nicht mehr, und nun bricht sie in
sich selbst zusammen, und die Unvernunft kriecht wie ein Gewürm aus ihr ans
Licht. Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches
es ist, wenigstens sehr oft, ein Beweis davon, daß lebendige treibende
Kräfte in uns da sind, welche eine Rinde abstoßen. Wir verneinen und
müssen verneinen, weil etwas in uns leben und sich bejahen will, etwas
das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen! Dies zugunsten
der Kritik.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 211 |
Neue
Haustiere. Ich will meinen Löwen und meinen Adler um mich haben,
damit ich allezeit Winke und Vorbedeutungen habe, zu wissen, wie groß oder
wie gering meine Stärke ist. Muß ich heute zu ihnen hinabblicken und
mich vor ihnen fürchten? Und wird die Stunde wiederkommen, wo sie zu mir
hinauf blicken, und in Furcht?Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 215 |
Vom
letzten Stündlein. Stürme sind meine Gefahr: werde ich meinen
Sturm haben, an dem ich zugrunde gehe, wie Oliver Cromwell an seinem Sturme zugrunde
ging? Oder werde ich verlöschen wie ein Licht, das nicht erst der Wind ausbläst,
sondern das seiner selber müde und satt wurde ein ausgebranntes Licht?
Oder endlich: werde ich mich ausblasen, um nicht auszubrennen?Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 215 |
Neue
Vorsicht. Laßt uns nicht mehr so viel an Strafen, Tadeln und
Bessern denken! Einen einzelnen werden wir selten verändern; und wenn es
uns gelingen sollte, so ist vielleicht unbesehens auch etwas mitgelungen: wir
sind durch ihn verändert worden! Sehen wir viel mehr zu, daß unser
eigener Einfluß auf alles Kommende seinen Einfluß aufwiegt
und überwiegt! Ringen wir nicht im direkten Kampfe! und das ist auch
alles Tadeln, Strafen und Bessernwollen. Sondern erheben wir uns selber um so
höher! Geben wir unserem Vorbilde immer leuchtendere Farben! Verdunkeln wir
den andern durch unser Licht! Nein! Wir wollen nicht um seinetwillen selber dunkler
werden, gleich allen Strafenden und Unzufriedenen! Gehen wir lieber beiseite!
Sehen wir weg!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 218-219 |
In
media vita! Nein! Das Leben hat mich nicht enttäuscht! Von Jahr
zu Jahr finde ich es vielmehr wahrer, begehrenswerter und geheimnisvoller
von jenem Tage an, wo der große Befreier über mich kam, jener Gedanke,
daß das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe und
nicht eine Pflicht, nicht ein Verhängnis, nicht eine Betrügerei!
Und die Erkenntnis selber: mag sie für andere etwas anderes sein, zum Beispiel
ein Ruhebett oder der Weg zu einem Ruhebett, oder eine Unterhaltung, oder ein
Müßiggang für mich ist sie eine Welt der Gefahren und Siege,
in der auch die heroischen Gefühle ihre Tanz- und Tummelplätze haben.
»Das Leben ein Mittel der Erkenntnis« mit diesem Grundsatze
im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich
lachen! Und wer verstünde überhaupt gut zu lachen und zu leben, der
sich nicht vorerst auf Krieg und Sieg gut verstünde?Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 219-220 |
Der
Dummheit Schaden tun. Gewiß hat der so hartnäckig und überzeugt
gepredigte Glaube von der Verwerflichkeit des Egoismus im ganzen dem Egoismus
Schaden getan (zugunsten, wie ich hundertmal wiederholen werde, der
Herden-lnstinkte!) namentlich dadurch, daß er ihm das gute Gewissen
nahm und in ihm die eigentliche Quelle alles Unglücks suchen hieß.
»Deine Selbstsucht ist das Unheil deines Lebens« so klang die
Predigt jahrtausendelang: es tat, wie gesagt, der Selbstsucht Schaden und nahm
ihr viel Geist, viel Heiterkeit, viel Erfindsamkeit, viel Schönheit; es verdummte
und verhäßlichte und vergiftete die Selbstsucht! Das philosophische
Altertum lehrte dagegen eine andere Hauptquelle des Unheils: von Sokrates an wurden
die Denker nicht müde zu predigen: »eure Gedankenlosigkeit und Dummheit,
euer Dahinleben nach der Regel, eure Unterordnung unter die Meinung des Nachbars
ist der Grund, weshalb ihr es so selten zum Glücke bringt wir Denker
sind als Denker die Glücklichsten.« Entscheiden wir hier nicht, ob
diese Predigt gegen die Dummheit bessere Gründe für sich hatte als jene
Predigt gegen die Selbstsucht; gewiß aber ist dies, daß sie der Dummheit
das gute Gewissen nahm diese Philosophen haben der Dummheit Schaden
getan!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 222-223 |
Man
schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse.
Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag ißt, das Auge auf das
Börsenblatt gerichtet, man lebt wie einer, der fortwährend etwas
»versäumen könnte«. »Lieber irgend etwas tun als nichts«
auch dieser Grundsatz ist eine Schnur, um aller Bildung und allem höheren
Geschmack den Garaus zu machen. Und so wie sichtlich alle Formen an dieser Hast
der Arbeitenden zugrundegehn: so geht auch das Gefühl für die Form selber,
das Ohr und Auge für die Melodie der Bewegungen zugrunde. Der Beweis dafür
liegt in der jetzt überall geforderten plumpen Deutlichkeit, in allen
den Lagen, wo der Mensch einmal redlich mit Menschen sein will, im Verkehre mit
Freunden, Frauen, Verwandten, Kindern, Lehrern, Schülern, Führern und
Fürsten man hat keine Zeit und keine Kraft mehr für die Zeremonien,
für die Verbindlichkeit mit Umwegen, für allen Esprit der Unterhaltung
und überhaupt für alles Otium. Denn das Leben auf der Jagd nach
Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben,
im beständigen Sich-Verstellen oder Überlisten oder Zuvorkommen: die
eigentliche Tugend ist jetzt, etwas in weniger Zeit zu tun als ein anderer. Und
so gibt es nur selten Stunden der erlaubten Redlichkeit: in diesen aber
ist man müde und möchte sich nicht nur »gehen lassen«, sondern
lang und breit und plump sich hinstrecken. Gemäß diesem Hange
schreibt man jetzt seine Briefe: deren Stil und Geist das eigentliche »Zeichen
der Zeit« sein werden. Gibt es noch ein Vergnügen an Gesellschaft und
an Künsten, so ist es ein Vergnügen, wie es müde gearbeitete Sklaven
sich zurecht machen. Oh über diese Genügsamkeit der »Freude«
bei unsern Gebildeten und Ungebildeten! Oh über diese zunehmende Verdächtigung
aller Freude! Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre
Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits »Bedürfnis der Erholung«
und fängt an sich vor sich selber zu schämen. »Man ist es seiner
Gesundheit schuldig« so redet man, wenn man auf einer Landpartie
ertappt wird. Ja es könnte bald so weit kommen, daß man einem Hange
zur vita contemplativa (das heißt zum spazierengehen mit Gedanken
und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe.
Nun! Ehedem war es umgekehrt: die Arbeit hatte das schlechte Gewissen auf
sich. Ein Mensch von guter Abkunft verbarg seine Arbeit, wenn die Not ihn
zum Arbeiten zwang. Der Sklave arbeitete unter dem Druck des Gefühls, daß
er etwas Verächtliches tue das »Tun« selber war etwas
Verächtliches. »Die Vornehmheit und die Ehre sind allein bei otium
und bellum«: so klang die Stimme des antiken Vorurteils!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 223-224 |
Auch
die Liebe muß man lernen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 227 |
Hoch
die Physik! Wie viel Menschen verstehen denn zu beobachten! Und unter
den wenigen, die es verstehen wie viele beobachten sich selber! »Jeder
ist sich selber der Fernste« das wissen alle Nierenprüfer, zu
ihrem Unbehagen; und der Spruch »erkenne dich selbst!« ist, im Munde
eines Gottes und zu Menschen geredet, beinahe eine Bosheit. .... Und nun rede
mir nicht vom kategorischen Imperativ, mein Freund! dies Wort kitzelt mein
Ohr und ich muß lachen, trotz deiner so ernsthaften Gegenwart: ich gedenke
dabei des alten Kant, der, zur Strafe dafür, daß er »das Ding
an sich« auch eine sehr lächerliche Sache! sich erschlichen
hatte, vom »kategorischen Imperativ« beschlichen wurde und mit ihm
im Herzen sich wieder zu »Gott«, »Seele«, »Freiheit«
und »Unsterblichkeit« zurückverirrte, einem Fuchse gleich,
der sich in seinen Käfig zurückverirrt und seine Kraft
und Klugheit war es gewesen, welche diesen Käfig erbrochen hatte!
Wie? Du bewunderst den kategorischen Imperativ in dir? Diese »Festigkeit«
deines sogenannten moralischen Urteils? Diese »Unbedingtheit« des
Gefühls »so wie ich, müssen hierin alle urteilen«? Bewundere
vielmehr deine Selbstsucht darin! Und die Blindheit, Kleinlichkeit und
Anspruchslosigkeit deiner Selbstsucht! Selbstsucht nämlich ist es, sein
Urteil als Allgemeingesetz zu empfinden; und eine blinde, kleinliche und anspruchslose
Selbstsucht hinwiederum, weil sie verrät, daß du dich selber noch nicht
entdeckt, dir selber noch kein eigenes, eigenstes Ideal geschaffen hast
dies nämlich könnte niemals das eines anderen sein, geschweige denn
aller, aller! Wer noch urteilt »so müßte in diesem
Falle jeder handeln«, ist noch nicht fünf Schritt weit in der Selbsterkenntnis
gegangen: sonst würde er wissen, daß es weder gleiche Handlungen gibt,
noch geben kann daß jede Handlung, die getan worden ist, auf eine
ganz einzige und unwiderbringliche Art getan wurde, und daß es ebenso mit
jeder zukünftigen Handlung stehen wird, daß alle Vorschriften des Handelns
sich nur auf die gröbliche Außenseite beziehen (und selbst die innerlichsten
und feinsten Vorschriften aller bisherigen Moralen) daß mit ihnen
wohl ein Schein der Gleichheit, aber eben nur ein Schein erreicht werden
kann daß jede Handlung, beim Hinblick oder Rückblick
auf sie, eine undurchdringliche Sache ist und bleibt daß unsere Meinungen
von »gut«, »edel«, »groß« durch unsere
Handlungen nie bewiesen werden können, weil jede Handlung unerkennbar ist
daß sicherlich unsere Meinungen, Wertschätzungen und Gütertafeln
zu den mächtigsten Hebeln im Räderwerk unserer Handlungen gehören,
daß aber für jeden einzelnen Fall das Gesetz ihrer Mechanik unnachweisbar
ist. Beschränken wir uns also auf die Reinigung unserer Meinungen
und Wertschätzungen und auf die Schöpfung neuer eigener Gütertafeln
über den »moralischen Wert unserer Handlungen« aber wollen
wir nicht mehr grübeln! Ja, meine Freunde! In Hinsicht auf das ganze moralische
Geschwätz der einen über die andern ist der Ekel an der Zeit! Moralisch
zu Gericht sitzen, soll uns wider den Geschmack gehen! Überlassen wir dies
Geschwätz und diesen üblen Geschmack denen, welche nicht mehr zu tun
haben, als die Vergangenheit um ein kleines Stück weiter durch die Zeit zu
schleppen, und welche selber niemals Gegenwart sind den vielen also, den
allermeisten! Wir aber wollen die werden, die wir sind die Neuen,
die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Ge setzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!
Und dazu müssen wir die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und
Notwendigen in der Welt werden: wir müssen Physiker sein, um in jenem
Sinne Schöpfer sein zu können während bisher alle
Wertschätzungen und Ideale auf Unkenntnis der Physik oder im Widerspruche
mit ihr aufgebaut waren. Und darum: Hoch die Physik! Und höher noch das,
was uns zu ihr zwingt unsere Redlichkeit!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 227-231 |
Geiz
der Natur. Warum ist die Natur so kärglich gegen den Menschen
gewesen, daß sie ihn nicht leuchten ließ, diesen mehr, jenen weniger,
je nach seiner innern Lichtfülle? Warum haben große Menschen nicht
eine so schöne Sichtbarkeit in ihrem Aufgange und Niedergange wie die Sonne?
Wie viel unzweideutiger wäre alles Leben unter Menschen!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 231 |
Der
Wille zum Leiden und die Mitleidigen. Ist es euch selber zuträglich,
vor allem mitleidige Menschen zu sein? Und ist es den Leidenden zuträglich,
wenn ihr es seid? Doch lassen wir die erste Frage für einen Augenblick ohne
Antwort. Das, woran wir am tiefsten und persönlichsten leiden, ist
fast allen anderen unverständlich und unzugänglich: darin sind wir dem
Nächsten verborgen, und wenn er mit uns aus einem Topfe ißt. Überall
aber, wo wir als Leidende bemerkt werden, wird unser Leiden flach ausgelegt; es
gehört zum Wesen der mitleidigen Affektion, daß sie das fremde Leid
des eigentlich Persönlichen entkleidet unsre »Wohltäter«
sind mehr als unsre Feinde die Verkleinerer unsres Wertes und Willens. Bei den
meisten Wohltaten, die Unglücklichen erwiesen werden, liegt etwas Empörendes
in der intellektuellen Leichtfertigkeit, mit der da der Mitleidige das Schicksal
spielt: er weiß nichts von der ganzen inneren Folge und Verflechtung, welche
Unglück für mich oder für dich heißt! Die gesamte Ökonomie
meiner Seele und deren Ausgleichung durch das »Unglück«, das
Aufbrechen neuer Quellen und Bedürfnisse, das Zuwachsen alter Wunden, das
Abstoßen ganzer Vergangenheiten das alles, was mit dem Unglück
verbunden sein kann, kümmert den lieben Mitleidigen nicht: er will helfen
und denkt nicht daran, daß es eine persönliche Notwendigkeit des Unglücks
gibt, daß mir und dir Schrecken, Entbehrungen, Verarmungen, Mitternächte,
Abenteuer, Wagnisse, Fehlgriffe so nötig sind wie ihr Gegenteil, ja daß,
um mich mystisch auszudrücken, der Pfad zum eigenen Himmel immer durch die
Wollust der eigenen Hölle geht. Nein, davon weiß er nichts: die »Religion
des Mitleidens« (oder »das Herz«) gebietet zu helfen, und man
glaubt am besten geholfen zu haben, wenn man am schnellsten geholfen hat! Wenn
ihr Anhänger dieser Religion dieselbe Gesinnung, die ihr gegen die Mitmenschen
habt, auch wirklich gegen euch selber habt, wenn ihr euer eigenes Leiden nicht
eine Stunde auf euch liegen lassen wollt und immerfort allem möglichen Unglücke
von ferne her schon vorbeugt, wenn ihr Leid und Unlust überhaupt als böse,
hassenswert, vernichtungswürdig, als Makel am Dasein empfindet: nun, dann
habt ihr, außer eurer Religion des Mitleidens, auch noch eine andere Religion
im Herzen, und diese ist vielleicht die Mutter von jener die Religion
der Behaglichkeit. Ach, wie wenig wißt ihr vom Glücke des
Menschen, ihr Behaglichen und Gutmütigen! denn das Glück und das Unglück
sind zwei Geschwister und Zwillinge, die miteinander großwachsen oder, wie
bei euch, miteinander klein bleiben!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 233-234 |
Der
sterbende Sokrates. Ich bewundere die Tapferkeit und Weisheit des Sokrates
in allem, was er tat, sagte und nicht sagte. Dieser spöttische und
verliebte Unhold und Rattenfänger Athens, der die übermütigsten
Jünglinge zittern und schluchzen machte, war nicht nur der weiseste Schwätzer,
den es gegeben hat: er war ebenso groß im Schweigen. Ich wollte, er wäre
auch im letzten Augenblicke des Lebens schweigsam gewesen vielleicht gehörte
er dann in eine noch höhere Ordnung der Geister. War es nun der Tod oder
das Gift oder die Frömmigkeit oder die Bosheit irgend etwas löste
ihm in jenem Augenblicke die Zunge und er sagte: »O Kriton, ich bin dem
Asklepios einen Hahn schuldig.« Dieses lächerliche und furchtbare »letzte
Wort« heißt für den, der Ohren hat: »O Kriton, das Leben
ist eine Krankheit!« Ist es möglich! Ein Mann wie er, der heiter
und vor aller Augen wie ein Soldat gelebt hat war Pessimist! Er hatte eben
nur eine gute Miene zum Leben gemacht und zeitlebens sein letztes Urteil, sein
innerstes Gefühl versteckt! Sokrates, Sokrates hat am Leben gelitten!
Und er hat noch seine Rache dafür genommen mit jenem verhüllten,
schauerlichen, frommen und blasphemischen Worte! Mußte ein Sokrates sich
auch noch rächen? War ein Gran Großmut zu wenig in seiner überreichen
Tugend? Ach Freunde! Wir müssen auch die Griechen überwinden!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 236-237 |
Das
größte Schwergewicht. Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts
ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: »Dieses
Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige
Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz
und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und
Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und alles in derselben Reihe
und Folge und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen,
und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird
immer wieder umgedreht und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!«
Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen
und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren
Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: »du bist ein Gott und
nie hörte ich Göttlicheres!« Wenn jener Gedanke über dich
Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht
zermalmen; die Frage bei allem und jedem: »willst du dies noch einmal und
noch unzählige Male?« würde als das größte Schwergewicht
auf deinem Handeln liegen! Oder wie müßtest du dir selber und dem Leben
gut werden, um nach nichts mehr zu verlangen als nach dieser letzten ewigen
Bestätigung und Besiegelung?Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 237 |
Incipit
tragoedia. Als Zarathustra dreißig Jahre alt war, verließ
er seine Heimat und den See Urmi und ging in das Gebirge. Hier genoß er
seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde.
Endlich aber verwandelte sich sein Herz und eines Morgens stand er mit
der Morgenröte auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also: »Du
großes Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht die hättest,
welchen du leuchtest! Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle: du
würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich, meinen
Adler und meine Schlange; aber wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir
deinen Überfluß ab und segneten dich dafür. Siehe! Ich bin meiner
Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zuviel gesammelt
hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken, ich möchte verschenken
und austeilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Torheit und
die Armen wieder einmal ihres Reichtums froh geworden sind. Dazu muß ich
in die Tiefe steigen: wie du des Abends tust, wenn du hinter das Meer gehst und
noch der Unterwelt Licht bringst, du überreiches Gestirn! ich muß,
gleich dir, untergehen, wie die Menschen es nennen, zu denen ich hinab will. So
segne mich denn, du ruhiges Auge, das ohne Neid auch ein allzugroßes Glück
sehen kann! Segne den Becher, welcher überfließen will, daß das
Wasser golden aus ihm fließe und überallhin den Abglanz deiner Wonne
trage! Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder
Mensch werden.« Also begann Zarathustras Untergang.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 238 |
Was
es mit unsrer Heiterkeit auf sich hat. Das größte neuere
Ereignis daß »Gott tot ist«, daß der Glaube an
den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist beginnt bereits seine
ersten Schatten über Europa zu werfen. Für die wenigen wenigstens, deren
Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug für dies Schauspiel
ist, scheint eben irgendeine Sonne untergegangen, irgendein altes tiefes Vertrauen
in Zweifel umgedreht: ihnen muß unsre alte Welt täglich abendlicher,
mißtrauischer, fremder, »älter« scheinen. In der Hauptsache
aber darf man sagen; das Ereignis selbst ist viel zu groß, zu fern, zu abseits
vom Fassungsvermögen vieler, als daß auch nur seine Kunde schon angelangt
heißen dürfte; geschweige denn, daß viele bereits wüßten,
was eigentlich sich damit begeben hat und was alles, nachdem dieser Glaube
untergraben ist, nunmehr einfallen muß, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt,
in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische Moral. Diese
lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die
nun bevorsteht: wer erriete heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder
dieser ungeheuren Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer
Verdüsterung und Sonnenfinsternis, derengleichen es wahrscheinlich noch nicht
auf Erden gegeben hat? .... Selbst wir geborenen Rätselrater, die wir gleichsam
auf den Bergen warten, zwischen Heute und Morgen hingestellt und in den Widerspruch
zwischen Heute und Morgen hineingespannt, wir Erstlinge und Frühgeburten
des kommenden Jahrhunderts, denen eigentlich die Schatten welche Europa alsbald
einwickeln müssen, jetzt schon zu Gesicht gekommen sein sollten: woran
liegt es doch, daß selbst wir ohne rechte Teilnahme für diese Verdüsterung,
vor allem ohne Sorge und Furcht für uns ihrem Heraufkommen entgegensehn?
Stehen wir vielleicht zu sehr noch unter den nächsten Folgen dieses Ereignisses
und diese nächsten Folgen, seine Folgen für uns
sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht traurig
und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht,
Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermutigung, Morgenröte .... In der
Tat, wir Philosophen und »freien Geister« fühlen uns bei der
Nachricht, daß der »alte Gott tot« ist, wie von einer neuen
Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit,
Erstaunen, Ahnung, Erwartung endlich erscheint uns der Horizont wieder
frei, gesetzt selbst, daß er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe
wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden
ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab
es noch niemals ein so »offnes Meer«.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 239-240 |
Inwiefern
auch wir noch fromm sind. In der Wissenschaft haben die Überzeugungen
kein Bürgerrecht, so sagt man mit gutem Grunde: erst wenn sie sich entschließen,
zur Bescheidenheit einer Hypothese, eines vorläufigen Versuchs-Standpunktes,
einer regulativen Fiktion herabzusteigen, darf ihnen der Zutritt und sogar ein
gewisser Wert innerhalb des Reichs der Erkenntnis zugestanden werden immerhin
mit der Beschränkung, unter polizeiliche Aufsicht gestellt zu bleiben, unter
die Polizei des Mißtrauens. Heißt das aber nicht, genauer besehen:
erst wenn die Überzeugung aufhört, Überzeugung zu sein,
darf sie Eintritt in die Wissenschaft erlangen? Finge nicht die Zucht des wissenschaftlichen
Geistes damit an, sich keine Überzeugungen mehr zu gestatten? .... So steht
es wahrscheinlich: nur bleibt übrig zu fragen, ob nicht, damit diese Zucht
anfangen könne, schon eine Überzeugung da sein müsse, und zwar
eine so gebieterische und bedingungslose, daß sie alle andern Überzeugungen
sich zum Opfer bringt. Man sieht, auch die Wissenschaft ruht auf einem Glauben,
es gibt gar keine »voraussetzungslose« Wissenschaft. Die Frage, ob
Wahrheit not tue, muß nicht nur schon vorher bejaht, sondern in dem
Grade bejaht sein, daß der Satz, der Glaube, die Überzeugung darin
zum Ausdruck kommt, »es tut nichts mehr not als Wahrheit, und im
Verhältnis zu ihr hat alles Übrige nur einen Wert zweiten Rangs«.
Dieser unbedingte Wille zur Wahrheit: was ist er? Ist es der Wille, sich
nicht täuschen zu lassen? Ist es der Wille, nicht zu täuschen?
Nämlich auch auf diese letzte Weise könnte der Wille zur Wahrheit interpretiert
werden: vorausgesetzt, daß man unter der Verallgemeinerung »ich will
nicht täuschen« auch den einzelnen Fall »ich will mich nicht
täuschen« einbegreift. Aber warum nicht täuschen? Aber warum nicht
sich täuschen lassen? Man bemerke, daß die Gründe für
das erstere auf einem ganz andern Bereiche liegen als die für das zweite:
man will sich nicht täuschen lassen, unter der Annahme, daß es schädlich,
gefährlich, verhängnisvoll ist, getäuscht zu werden in diesem
Sinne wäre Wissenschaft eine lange Klugheit, eine Vorsicht, eine Nützlichkeit,
gegen die man aber billigerweise einwenden dürfte: wie? ist wirklich das
Sich-nicht-täuschen-lassen-wollen weniger schädlich, weniger gefährlich,
weniger verhängnisvoll? Was wißt ihr von vornherein vom Charakter des
Daseins, um entscheiden zu können, ob der größere Vorteil auf
Seiten des Unbedingt-Mißtrauischen oder des Unbedingt-Zutraulichen ist?
Falls aber beides nötig sein sollte, viel Zutrauen und viel Mißtrauen:
woher dürfte dann die Wissenschaft ihren unbedingten Glauben, ihre Überzeugung
nehmen, auf dem sie ruht, daß Wahrheit wichtiger sei als irgendein andres
Ding, auch als jede andre Überzeugung? Eben diese Überzeugung könnte
nicht entstanden sein, wenn Wahrheit und Unwahrheit sich beide fortwährend
als nützlich bezeigten, wie es der Fall ist. Also kann der Glaube
an die Wissenschaft, der nun einmal unbestreitbar da ist, nicht aus einem solchen
Nützlichkeits-Kalkül seinen Ursprung genommen haben, sondern vielmehr
trotzdem, daß ihm die Unnützlichkeit und Gefährlichkeit des »Willens
zur Wahrheit«, der »Wahrheit um jeden Preis« fortwährend
bewiesen wird. »Um jeden Preis«: oh wir verstehen das gut genug, wenn
wir erst einen Glauben nach dem andern auf diesem Altare dargebracht und abgeschlachtet
haben! Folglich bedeutet »Wille zur Wahrheit« nicht
»ich will mich nicht täuschen lassen«, sondern es bleibt
keine Wahl »ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht«;
und hiermit sind wir auf dem Boden der Moral. Denn man frage sich
nur gründlich: »warum willst du nicht täuschen?« namentlich
wenn es den Anschein haben sollte und es hat den Anschein! als wenn
das Leben auf Anschein, ich meine auf Irrtum, Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung
angelegt wäre, und wenn andrerseits tatsächlich die große Form
des Lebens sich immer auf der Seite der unbedenklichsten polytropoi gezeigt hat.
Es könnte ein solcher Vorsatz vielleicht, mild ausgelegt, eine Don-Quixoterie,
ein kleiner schwärmerischer Aberwitz sein; er könnte aber auch noch
etwas Schlimmeres sein, nämlich ein lebensfeindliches zerstörerisches
Prinzip . .... »Wille zur Wahrheit« das könnte ein versteckter
Wille zum Tode sein. Dergestalt führt die Frage: warum Wissenschaft?
zurück auf das moralische Problem: wozu überhaupt Moral, wenn
Leben, Natur, Geschichte »unmoralisch« sind? Es ist kein Zweifel,
der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an
die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des
Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese »andre Welt«
bejaht, wie? muß er nicht ebendamit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre
Welt verneinen? .... Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus
will, nämlich daß es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf
dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht daß auch wir Erkennenden
von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande
nehmen, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube,
der auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die
Wahrheit göttlich ist .... Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig
wird, wenn nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrtum,
die Blindheit, die Lüge wenn Gott selbst sich als unsre längste
Lüge erweist?Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 240-243 |
Moral
als Problem. Der Mangel an Person rächt sich überall; eine
geschwächte, dünne, ausgelöschte, sich selbst leugnende und verleugnende
Persönlichkeit taugt zu keinem guten Dinge mehr sie taugt am wenigsten
zur Philosophie. Die »Selbstlosigkeit« hat keinen Wert im Himmel und
auf Erden; die großen Probleme verlangen alle die große Liebe,
und dieser sind nur die starken, runden, sicheren Geister fähig, die fest
auf sich selber sitzen. Es macht den erheblichsten Unterschied, ob ein Denker
zu seinen Problemen persönlich steht, so daß er in ihnen sein Schicksal,
seine Not und auch sein bestes Glück hat, oder aber »unpersönlich«:
nämlich sie nur mit den Fühlhörnern des kalten, neugierigen Gedankens
anzutasten und zu fassen versteht. Im letzteren Falle kommt nichts dabei heraus,
so viel läßt sich versprechen: denn die großen Probleme, gesetzt
selbst, daß sie sich fassen lassen, lassen sich von Fröschen und Schwächlingen
nicht halten, das ist ihr Geschmack seit Ewigkeit ein Geschmack übrigens,
den sie mit allen wackeren Weiblein teilen. Wie kommt es nun, daß
ich noch niemandem begegnet bin, auch in Büchern nicht, der zur Moral in
dieser Stellung als Person stünde, der die Moral als Problem und dies Problem
als seine persönliche Not, Qual, Wollust, Leidenschaft kennte? Ersichtlich
war bisher die Moral gar kein Problem; vielmehr das gerade, worin man, nach allem
Mißtrauen, Zwiespalt, Widerspruch, miteinander überein kam, der geheiligte
Ort des Friedens, wo die Denker auch von sich selbst ausruhten, aufatmeten, auflebten.
Ich sehe niemanden, der eine Kritik der moralischen Werturteile gewagt
hätte; ich vermisse hierfür selbst die Versuche der wissenschaftlichen
Neugierde, der verwöhnten versucherischen Psychologen- und Historiker-Einbildungskraft,
welche leicht ein Problem vorwegnimmt und im Fluge erhascht, ohne recht zu wissen,
was da erhascht ist. Kaum daß ich einige spärliche Ansätze ausfindig
gemacht habe, es zu einer Entstehungsgeschichte dieser Gefühle und
Wertschätzungen zu bringen (was etwas anderes ist als eine Kritik derselben
und noch einmal etwas anderes als die Geschichte der ethischen Systeme): in einem
einzelnen Falle habe ich alles getan, um eine Neigung und Begabung für diese
Art Historie zu ermutigen umsonst, wie mir heute scheinen will. Mit diesen
Moral-Historikern (namentlich Engländern) hat es wenig auf sich: sie stehen
gewöhnlich selbst noch arglos unter dem Kommando einer bestimmten Moral und
geben, ohne es zu wissen, deren Schildträger und Gefolge ab; etwa mit jenem
noch immer so treuherzig nachgeredeten Volks-Aberglauben des christlichen Europa,
daß das Charakteristikum der moralischen Handlung im Selbstlosen, Selbstverleugnenden,
Sich-Selbst-Opfernden, oder im Mitgefühle, im Mitleiden gelegen sei. Ihr
gewöhnlicher Fehler in der Voraussetzung ist, daß sie irgendeinen consensus
der Völker, mindestens der zahmen Völker über gewisse Sätze
der Moral behaupten und daraus deren unbedingte Verbindlichkeit, auch für
dich und mich, schließen; oder daß sie umgekehrt, nachdem ihnen die
Wahrheit aufgegangen ist, daß bei verschiedenen Völkern die moralischen
Schätzungen notwendig verschieden sind, einen Schluß auf Unverbindlichkeit
aller Moral machen: was beides gleich große Kindereien sind. Der
Fehler der Feineren unter ihnen ist, daß sie die vielleicht törichten
Meinungen eines Volks über seine Moral oder der Menschen über alle menschliche
Moral aufdecken und kritisieren, also über deren Herkunft, religiöse
Sanktion, den Aberglauben des freien Willens und dergleichen, und ebendamit vermeinen,
diese Moral selbst kritisiert zu haben. Aber der Wert einer Vorschrift »du
sollst« ist noch gründlich verschieden und unabhängig von solcherlei
Meinungen über dieselbe und von dem Unkraut des Irrtums, mit dem sie vielleicht
überwachsen ist: so gewiß der Wert eines Medikaments für den Kranken
noch vollkommen unabhängig davon ist, ob der Kranke wissenschaftlich oder
wie ein altes Weib über Medizin denkt. Eine Moral könnte selbst aus
einem Irrtume gewachsen sein: auch mit dieser Einsicht wäre das Problem ihres
Wertes noch nicht einmal berührt. Niemand also hat bisher den Wert
jener berühmtesten aller Medizinen, genannt Moral, geprüft: wozu
zuallererst gehört, daß man ihn einmal in Frage stellt.
Wohlan! Dies eben ist unser Werk.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 243-245 |
Unser
Fragezeichen. Aber ihr versteht das nicht? In der Tat, man wird Mühe
haben, uns zu verstehn. Wir suchen nach Worten, wir suchen vielleicht auch nach
Ohren. Wer sind wir doch? Wollten wir uns einfach mit einem älteren Ausdruck
Gottlose oder Ungläubige oder auch Immoralisten nennen, wir würden uns
damit noch lange nicht bezeichnet glauben: wir sind alles dreies in einem zu späten
Stadium, als daß man begriffe, als daß ihr begreifen könntet,
meine Herren Neugierigen, wie es einem dabei zumute ist. Nein! nicht mehr mit
der Bitterkeit und Leidenschaft des Losgerissenen, der sich aus seinem Unglauben
noch einen Glauben, einen Zweck, ein Martyrium selbst zurechtmachen muß!
Wir sind abgesotten in der Einsicht und in ihr kalt und hart geworden, daß
es in der Welt durchaus nicht göttlich zugeht, ja noch nicht einmal nach
menschlichem Maße vernünftig, barmherzig oder gerecht: wir wissen es,
die Welt, in der wir leben, ist ungöttlich, unmoralisch, »unmenschlich«
wir haben sie uns allzulange falsch und lügnerisch, aber nach Wunsch
und Willen unsrer Verehrung, das heißt nach einem Bedürfnisse
ausgelegt. Denn der Mensch ist ein verehrendes Tier! Aber er ist auch ein mißtrauisches:
und daß die Welt nicht das wert ist, was wir geglaubt haben, das
ist ungefähr das sicherste, dessen unser Mißtrauen endlich habhaft
geworden ist. So viel Mißtrauen, so viel Philosophie. Wir hüten uns
wohl zu sagen, daß sie weniger wert ist: es erscheint uns heute selbst zum
Lachen, wenn der Mensch in Anspruch nehmen wollte, Werte zu erfinden, welche den
Wert der wirklichen Welt überragen sollten gerade davon sind
wir zurückgekommen als von einer ausschweifenden Verirrung der menschlichen
Eitelkeit und Unvernunft, die lange nicht als solche erkannt worden ist. Sie hat
ihren letzten Ausdruck im modernen Pessimismus gehabt, einen älteren, stärkeren
in der Lehre des Buddha; aber auch das Christentum enthält sie, zweifelhafter
freilich und zweideutiger, aber darum nicht weniger verführerisch. Die ganze
Attitüde »Mensch gegen Welt«, der Mensch als »Welt-verneinendes«
Prinzip, der Mensch als Wertmaß der Dinge, als Welten-Richter, der zuletzt
das Dasein selbst auf seine Waagschalen legt und zu leicht befindet die
ungeheuerliche Abgeschmacktheit dieser Attitüde ist uns als solche zum Bewußtsein
gekommen und verleidet wir lachen schon, wenn wir »Mensch und
Welt« nebeneinandergestellt finden, getrennt durch die sublime Anmaßung
des Wörtchens »und«! Wie aber? Haben wir nicht eben damit, als
Lachende, nur einen Schritt weiter in der Verachtung des Menschen gemacht? Und
also auch im Pessimismus, in der Verachtung des uns erkennbaren Daseins? Sind
wir nicht eben damit dem Argwohne eines Gegensatzes verfallen, eines Gegensatzes
der Welt, in der wir bisher mit unsren Verehrungen zu Hause waren um deren
willen wir vielleicht zu leben aushielten , und einer andren Welt, die
wir selber sind: einem unerbittlichen, gründlichen, untersten Argwohn
über uns selbst, der uns Europäer immer mehr, immer schlimmer in Gewalt
bekommt und leicht die kommenden Geschlechter vor das furchtbare Entweder-Oder
stellen könnte: »entweder schafft eure Verehrungen ab oder euch
selbst!« Das letztere wäre der Nihilismus; aber wäre nicht
auch das erstere der Nihilismus? Dies ist unser Fragezeichen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 245-247 |
Die
Gläubigen und ihr Bedürfnis nach Glauben. Wieviel einer Glauben
nötig hat, um zu gedeihen, wieviel »Festes«, an dem er nicht
gerüttelt haben will, weil er sich daran hält ist ein Gradmesser
seiner Kraft (oder deutlicher geredet, seiner Schwäche). Christentum haben,
wie mir scheint, im alten Europa auch heute noch die meisten nötig: deshalb
findet es auch immer noch Glauben. Denn so ist der Mensch: ein Glaubenssatz könnte
ihm tausendfach widerlegt sein gesetzt, er hätte ihn nötig, so
würde er ihn auch immer wieder für »wahr« halten,
gemäß jenem berühmten »Beweise der Kraft«, von dem
die Bibel redet. Metaphysik haben einige noch nötig; aber auch jenes ungestüme
Verlangen nach Gewißheit, welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch
entladet, das Verlangen, durchaus etwas fest haben zu wollen (während man
es wegen der Hitze dieses Verlangens mir der Begründung der Sicherheit leichter
und läßlicher nimmt): auch das ist noch das Verlangen nach Halt, Stütze,
kurz jener Instinkt der Schwäche, welcher Religionen, Metaphysiken,
Überzeugungen aller Art zwar nicht schafft, aber konserviert. In der
Tat dampft um alle diese positivistischen Systeme der Qualm einer gewissen pessimistischen
Verdüsterung, etwas von Müdigkeit, Fatalismus, Enttäuschung, Furcht
vor neuer Enttäuschung oder aber zur Schau getragener Ingrimm, schlechte
Laune, Entrüstungs-Anarchismus und was es alles für Symptome oder Maskeraden
des Schwächegefühls gibt. Selbst die Heftigkeit, mit der sich unsre
gescheitesten Zeitgenossen in ärmliche Ecken und Engen verlieren, zum Beispiel
in die Vaterländerei (so heiße ich das, was man in Frankreich chauvinisme,
in Deutschland »deutsch« nennt) oder in ästhetische Winkel-Bekenntnisse
nach Art des Pariser naturalisme (der von der Natur nur den Teil hervorzieht
und entblößt, welcher Ekel zugleich und Erstaunen macht man
heißt diesen Teil heute gern la vérité vraie )
oder in Nihilismus nach Petersburger Muster (das heißt in den Glauben
an den Unglauben, bis zum Martyrium dafür), zeigt immer vorerst das Bedürfnis
nach Glauben, Halt, Rückgrat, Rückhalt .... Der Glaube ist immer dort
am meisten begehrt, am dringlichsten nötig, wo es an Willen fehlt: denn der
Wille ist, als Affekt des Befehls, das entscheidende Abzeichen der Selbstherrlichkeit
und Kraft. Das heißt, je weniger einer zu befehlen weiß, um so dringlicher
begehrt er nach einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem Gott, Fürsten,
Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei-Gewissen. Woraus vielleicht abzunehmen
wäre, daß die beiden Weltreligionen, der Buddhismus und das Christentum,
ihren Entstehungsgrund, ihr plötzliches Um-sich-greifen zumal, in einer ungeheuren
Erkrankung des Willens gehabt haben möchten. Und so ist es in Wahrheit
gewesen: beide Religionen fanden ein durch Willens-Erkrankung ins Unsinnige aufgetürmtes,
bis zur Verzweiflung gehendes Verlangen nach einem »du sollst« vor,
beide Religionen waren Lehrerinnen des Fanatismus in Zeiten der Willens-Erschlaffung
und boten damit Unzähligen einen Halt, eine neue Möglichkeit zu wollen,
einen Genuß am Wollen. Der Fanatismus ist nämlich die einzige »Willensstärke«,
zu der auch die Schwachen und Unsichern gebracht werden können, als eine
Art Hypnotisierung des ganzen sinnlich-intellektuellen Systems zugunsten der überreichlichen
Ernährung (Hypertrophie) eines einzelnen Gesichts- und Gefühlspunktes,
der nunmehr dominiert der Christ heißt ihn seinen Glauben.
Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung kommt, daß ihm befohlen werden
muß, wird er »gläubig«; umgekehrt wäre eine Lust und
Kraft der Selbstbestimmung eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist
jedem Glauben jedem Wunsch nach Gewißheit den Abschied gibt, geübt,
wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können
und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie
Geist par excellence.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 251-252 |
Mein
Gedanke ist, wie man sieht: daß das Bewußtsein nicht eigentlich zur
Individual-Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts-und
Herden-Natur ist; daß es, wie daraus folgt, auch nur in bezug auf Gemeinschafts-
und Herden-Nützlichkeit fein entwickelt ist, und daß folglich jeder
von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen,
»sich selbst zu kennen«, doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle
an sich zum Bewußtsein bringen wird, sein »Durchschnittliches«,
daß unser Gedanke selbst fortwährend durch den Charakter des
Bewußtseins durch den in ihm gebietenden »Genius der Gattung«
gleichsam majorisiert und in die Herden-Perspektive zurück-übersetzt
wird. Unsre Handlungen sind im Grunde allesamt auf eine unvergleichliche Weise
persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald
wir sie ins Bewußtsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr
.... Dies ist der eigentliche Phänomenalismus und Perspektivismus, wie ich
ihn verstehe: die Natur des tierischen Bewußtseins bringt es mit
sich, daß die Welt, deren wir bewußt werden können, nur eine
Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte
Welt daß alles, was bewußt wird, eben damit flach, dünn,
relativ-dumm, generell, Zeichen, Herden-Merkzeichen wird, daß mit
allem Bewußtwerden eine große gründliche Verderbnis, Fälschung,
Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist. Zuletzt ist das wachsende
Bewußtsein eine Gefahr; und wer unter den bewußtesten Europäern
lebt, weiß sogar, daß es eine Krankheit ist. Es ist, wie man errät,
nicht der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung
überlasse ich den Erkenntnistheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik
(der Volks-Metaphysik) hängengeblieben sind. Es ist erst recht nicht der
Gegensatz von »Ding an sich« und Erscheinung: denn wir »erkennen«
bei weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen. Wir haben
eben gar kein Organ für das Erkennen, für die »Wahrheit«:
wir »wissen« (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel, als
es im Interesse der Menschen-Herde, der Gattung, nützlich sein mag:
und selbst, was hier »Nützlichkeit« genannt wird, ist zuletzt
auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnisvollste
Dummheit, an der wir einst zugrunde gehn.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 258-259 |
Der
Ursprung unsres Begriffs »Erkenntnis«. Ich nehme diese
Erklärung von der Gasse; ich hörte jemanden aus dem Volke sagen »er
hat mich erkannt« : dabei fragte ich mich: was versteht eigentlich
das Volk unter Erkenntnis? was will es, wenn es »Erkenntnis« will?
Nichts weiter als dies: etwas Fremdes soll auf etwas Bekanntes zurückgeführt
werden. Und wir Philosophen haben wir unter Erkenntnis eigentlich mehr
verstanden? Das Bekannte, das heißt: das woran wir gewöhnt sind, so
daß wir uns nicht mehr darüber wundern, unser Alltag, irgendeine Regel,
in der wir stecken, alles und jedes, in dem wir uns zu Hause wissen wie?
ist unser Bedürfnis nach Erkennen nicht eben dies Bedürfnis nach Bekanntem,
der Wille, unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen etwas aufzudecken,
das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte es nicht der Instinkt der Furcht
sein, der uns erkennen heißt? Sollte das Frohlocken des Erkennenden nicht
eben das Frohlocken des wiedererlangten Sicherheitsgefühls sein? .... Dieser
Philosoph wähnte die Welt »erkannt«, als er sie auf die »Idee«
zurückgeführt hatte: ach, war es nicht deshalb, weil ihm die »Idee«
so bekannt, so gewohnt war? weil er sich so wenig mehr vor der »Idee«
fürchtete? Oh über diese Genügsamkeit der Erkennenden! man
sehe sich doch ihre Prinzipien und Welträtsel-Lösungen darauf an! Wenn
sie etwas an den Dingen, unter den Dingen, hinter den Dingen wiederfinden, das
uns leider sehr bekannt ist, zum Beispiel unser Einmaleins oder unsre Logik oder
unser Wollen und Begehren, wie glücklich sind sie sofort! Denn »was
bekannt ist, ist erkannt«: darin stimmen sie überein. Auch die Vorsichtigsten
unter ihnen meinen, zum mindesten sei das Bekannte leichter erkennbar als
das Fremde; es sei zum Beispiel methodisch geboten, von der »inneren Welt«,
von den »Tatsachen des Bewußtseins« auszugehen, weil sie die
uns bekanntere Welt sei! Irrtum der Irrtümer! Das Bekannte ist das
Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu »erkennen«, das heißt
als Problem zu sehen, das heißt als fremd, als fern, als »außer
uns« zu sehn .... Die große Sicherheit der natürlichen Wissenschaften
im Verhältnis zur Psychologie und Kritik der Bewußtseins-Elemente
unnatürlichen Wissenschaften, wie man beinahe sagen dürfte
ruht gerade darauf, daß sie das Fremde als Objekt nehmen: während es
fast etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges ist, das Nicht-Frem de überhaupt
als Objekt nehmen zu wollen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 259-261 |
Inwiefern
es in Europa immer »künstlerischer« zugehn wird. Die
Lebens-Fürsorge zwingt auch heute noch in unsrer Übergangszeit,
wo so vieles aufhört zu zwingen fast allen männlichen Europäern
eine bestimmte Rolle auf, ihren sogenannten Beruf; einigen bleibt dabei
die Freiheit, eine anscheinende Freiheit, diese Rolle selbst zu wählen, den
meisten wird sie gewählt. Das Ergebnis ist seltsam genug: fast alle Europäer
verwechseln sich in einem vorgerückteren Alter mit ihrer Rolle, sie selbst
sind die Opfer ihres »guten Spiels«, sie selbst haben vergessen, wie
sehr Zufall, Laune, Willkür damals über sie verfügt haben, als
sich ihr »Beruf« entschied und wie viele andre Rollen sie vielleicht
hätten spielen können: denn es ist nunmehr zu spät! Tiefer
angesehn, ist aus der Rolle wirklich Charakter geworden, aus der Kunst
Natur. Es gab Zeitalter, in denen man mit steifer Zuversichtlichkeit, ja mit Frömmigkeit
an seine Vorherbestimmung für gerade dies Geschäft, gerade diesen Broterwerb
glaubte und den Zufall darin, die Rolle, das Willkürliche schlechterdings
nicht anerkennen wollte: Stände, Zünfte, erbliche Gewerbs-Vorrechte
haben mit Hilfe dieses Glaubens es zustande gebracht, jene Ungeheuer von breiten
Gesellschafts-Türmen aufzurichten, welche das Mittelalter auszeichnen und
denen jedenfalls eins nachzurühmen bleibt: Dauerfähigkeit ( und
Dauer ist auf Erden ein Wert ersten Ranges!). Aber es gibt umgekehrte Zeitalter,
die eigentlich demokratischen, wo man diesen Glauben mehr und mehr verlernt und
ein gewisser kecker Glaube und Gesichtspunkt des Gegenteils in den Vordergrund
tritt, jener Athener-Glaube, der in der Epoche des Perikles zuerst bemerkt wird,
jener Amerikaner-Glaube von heute, der immer mehr auch Europäer-Glaube werden
will: wo der einzelne überzeugt ist, ungefähr alles zu können,
ungefähr jeder Rolle gewachsen zu sein, wo jeder mit sich versucht,
improvisiert, neu versucht, mit Lust versucht, wo alle Natur aufhört und
Kunst wird .... Die Griechen, erst in diesen Rollen-Glauben einen
Artisten-Glauben, wenn man will eingetreten, machten, wie bekannt, Schritt
für Schritt eine wunderliche und nicht in jedem Betracht nachahmenswerte
Verwandlung durch: sie wurden wirklich Schauspieler; als solche bezauberten
sie, überwanden sie alle Welt und zuletzt selbst die »Weltüberwinderin«
(denn der Graeculus histrio hat Rom besiegt, und nicht, wie die
Unschuldigen zu sagen pflegen, die griechische Kultur ...). Aber was ich fürchte,
was man heute schon mit Händen greift, falls man Lust hätte, danach
zu greifen, wir modernen Menschen sind ganz schon auf dem gleichen Wege; und jedesmal,
wenn der Mensch anfängt zu entdecken, inwiefern er eine Rolle spielt und
inwieweit er Schauspieler sein kann, wird er Schauspieler .... Damit kommt
dann eine neue Flora und Fauna von Menschen herauf, die in festeren, beschränkteren
Zeitaltern nicht wachsen können oder »unten« gelassen
werden, unter dem Banne und Verdachte der Ehrlosigkeit , es kommen damit
jedesmal die interessantesten und tollsten Zeitalter der Geschichte herauf, in
denen die »Schauspieler«, alle Arten Schauspieler, die eigentlichen
Herren sind. Eben dadurch wird eine andre Gattung Mensch immer tiefer benachteiligt,
endlich unmöglich gemacht, vor allem die großen »Baumeister«;
jetzt erlahmt die bauende Kraft; der Mut, auf lange Fernen hin Pläne zu machen,
wird entmutigt; die organisatorischen Genies fangen an zu fehlen wer wagt
es nunmehr noch, Werke zu unternehmen, zu deren Vollendung man auf Jahrtausende
rechnen müßte? Es stirbt eben jener Grundglaube aus, auf welchen
hin einer dergestalt rechnen, versprechen, die Zukunft im Plane vorwegnehmen,
seinem Plane zum Opfer bringen kann, daß nämlich der Mensch nur insofern
Wert hat, Sinn hat, als er ein Stein in einem großen Baue ist: wozu
er zuallererst fest sein muß, »Stein« sein muß
.... Vor allem nicht Schauspieler! Kurz gesagt ach, es wird lang
genug noch verschwiegen werden! was von nun an nicht mehr gebaut wird,
nicht mehr gebaut werden kann, das ist eine Gesellschaft im alten Versrande
des Wortes; um diesen Bau zu bauen, fehlt alles, voran das Material. Wir alle
sind kein Material mehr für eine Gesellschaft: das ist eine Wahrheit,
die an der Zeit ist! Es dünkt mich gleichgültig, daß einstweilen
noch die kurzsichtigste, vielleicht ehrlichste, jedenfalls lärmendste Art
Mensch, die es heute gibt, unsre Herrn Sozialisten, ungefähr das Gegenteil
glaubt, hofft, träumt, vor allem schreit und schreibt; man liest ja ihr Zukunftswort
»freie Gesellschaft« bereits auf allen Tischen und Wänden. Freie
Gesellschaft? Ja! Ja! Aber ihr wißt doch, ihr Herren, woraus man die baut?
Aus hölzernem Eisen! Aus dem berühmten hölzernen Eisen! Und noch
nicht einmal aus hölzernem.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 261-263 |
Ich
erinnere an drei Fälle. Zuerst an Leibniz' unvergleichliche Einsicht,
mit der er nicht nur gegen Descartes, sondern gegen alles, was bis zu ihm philosophiert
hatte, Recht bekam daß die Bewußtheit nur ein accidens
der Vorstellung ist, nicht deren notwendiges und wesentliches Attribut,
daß also das, was wir Bewußtsein nennen, nur einen Zustand unsrer
geistigen und seelischen Welt ausmacht (vielleicht einen krankhaften Zustand)
und bei weitem nicht sie selbst .... Erinnern wir uns zweitens an Kants
ungeheures Fragezeichen, welches er an den Begriff »Kausalität«
schrieb nicht daß er wie Hume dessen Recht überhaupt bezweifelt
hätte: er begann vielmehr vorsichtig das Reich abzugrenzen, innerhalb dessen
dieser Begriff überhaupt Sinn hat (man ist auch jetzt noch nicht mit dieser
Grenzabsteckung fertig geworden). Nehmen wir drittens den erstaunlichen Griff
Hegels, der damit durch alle logischen Gewohnheiten und Verwöhnungen
durchgriff, als er zu lehren wagte, daß die Artbegriffe sich auseinander
entwickeln: mit welchem Satze die Geister in Europa zur letzten großen wissenschaftlichen
Bewegung präformiert wurden, zum Darwinismus denn ohne Hegel kein
Darwin.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 264 |
In
allen drei Fällen fühlen wir etwas von uns selbst »aufgedeckt«
und erraten und sind dankbar dafür und überrascht zugleich, jeder dieser
drei Sätze ist ein nachdenkliches Stück deutscher Selbsterkenntnis,
Selbsterfahrung, Selbsterfassung. »Unsre innre Welt ist viel reicher, umfänglicher,
verborgener«, so empfinden wir mit Leibniz; als Deutsche zweifeln wir mit
Kant an der Letztgültigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und überhaupt
an allem, was sich causaliter erkennen läßt: das Erkennbare
scheint uns als solches schon geringeren Wertes. Wir Deutsche sind Hegelianer,
auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte, insofern wir (im Gegensatz zu
allen Lateinern) dem Werden, der Entwicklung instinktiv einen tieferen Sinn und
reicheren Wert zumessen als dem, was »ist« wir glauben kaum
an die Berechtigung des Begriffs »Sein« ; ebenfalls insofern
wir unsrer menschlichen Logik nicht geneigt sind einzuräumen, daß sie
die Logik an sich, die einzige Art Logik sei (wir möchten vielmehr uns überreden,
daß sie nur ein Spezialfall sei, und vielleicht einer der wunderlichsten
und dümmsten ).Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 264-265 |
Das
Ereignis, nach welchem dies Problem mit Sicherheit zu erwarten stand, so
daß ein Astronom der Seele Tag und Stunde dafür hätte ausrechnen
können, der Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott, der Sieg des
wissenschaftlichen Atheismus, ist ein gesamteuropäisches Ereignis, an dem
alle Rassen ihren Anteil von Verdienst und Ehre haben sollen. Umgekehrt wäre
gerade den Deutschen zuzurechnen jenen Deutschen, mit welchen Schopenhauer
gleichzeitig lebte , diesen Sieg des Atheismus am längsten und gefährlichsten
verzögert zu haben; Hegel namentlich war sein Verzögerer par
excellence, gemäß dem grandiosen Versuche, den er machte, uns zur
Göttlichkeit des Daseins zu allerletzt noch mit Hilfe unsres sechsten Sinnes,
des »historischen Sinnes«, zu überreden. Schopenhauer war als
Philosoph der erste eingeständliche und unbeugsame Atheist, den wir
Deutschen gehabt haben: seine Feindschaft gegen Hegel hatte hier ihren Hintergrund.
Die Ungöttlichkeit des Daseins galt ihm als etwas Gegebenes, Greifliches,
Undiskutierbares; er verlor jedesmal seine Philosophen-Besonnenheit und geriet
in Entrüstung, wenn er jemanden hier zögern und Umschweife machen sah.
An dieser Stelle liegt seine ganze Rechtschaffenheit: der unbedingte redliche
Atheismus ist eben die Voraussetzung seiner Problemstellung, als ein endlich
und schwer errungener Sieg des europäischen Gewissens, als der folgenreichste
Akt einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich
die Lüge im Glauben an Gott verbietet ....Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 265-266 |
Man
sieht, was eigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat: die
christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit,
die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimiert
zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis.
Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines
Gottes sei; die Geschichte interpretieren zu Ehren einer göttlichen Vernunft,
als beständiges Zeugnis einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlußabsichten;
die eignen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt
haben, wie als ob alles Fügung, alles Wink, alles dem Heil der Seele zuliebe
ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen
gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich,
als Lügnerei, Feminismus, Schwachheit, Feigheit mit dieser Strenge,
wenn irgendwomit, sind wir eben gute Europäer und Erben von Europas
längster und tapferster Selbstüberwindung.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 266 |
Indem
wir die christliche Interpretation dergestalt von uns stoßen und ihren »Sinn«
wie eine Falschmünzerei verurteilen, kommt nun auf eine furchtbare Weise
die Schopenhauerische Frage zu uns: hat denn das Dasein überhaupt
einen Sinn? jene Frage, die ein paar Jahrhunderte brauchen wird, um
auch nur vollständig und in alle ihre Tiefe hinein gehört zu werden.
Was Schopenhauer selbst auf diese Frage geantwortet hat, war man vergebe
es mir etwas Voreiliges, Jugendliches, nur eine Abfindung, ein Stehen-
und Steckenbleiben in eben den christlich-asketischen Moral-Perspektiven, welchen,
mit dem Glauben an Gott, der Glaube gekündigt war
. Aber er
hat die Frage gestellt ....Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 266-267 |
Die
Deutschen von heute sind keine Pessimisten!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 268 |
Der
Bauernaufstand des Geistes. Wir Europäer befinden uns im Anblick
einer ungeheuren Trümmerwelt, wo einiges noch hoch ragt, wo vieles morsch
und unheimlich dasteht, das meiste aber schon am Boden liegt, malerisch genug
wo gab es je schönere Ruinen? und überwachsen mit großem
und kleinem Unkraute. Die Kirche ist diese Stadt des Untergangs: wir sehen die
religiöse Gesellschaft des Christentums bis in die untersten Fundamente erschüttert
der Glaube an Gott ist umgestürzt, der Glaube an das christlich-asketische
Ideal kämpft eben noch seinen letzten Kampf. Ein solches lang und gründlich
gebautes Werk wie das Christentum es war der letzte Römerbau!
konnte freilich nicht mit einem Male zerstört werden; alle Art Erdbeben hat
da rütteln, alle Art Geist, die anbohrt, gräbt, nagt, feuchtet, hat
da helfen müssen. Aber was das Wunderlichste ist: die, welche sich am meisten
darum bemüht haben, das Christentum zu halten, zu erhalten, sind gerade seine
besten Zerstörer geworden die Deutschen. Es scheint, die Deutschen
verstehen das Wesen einer Kirche nicht. Sind sie dazu nicht geistig genug? nicht
mißtrauisch genug? Der Bau der Kirche ruht jedenfalls auf einer südländischen
Freiheit und Freisinnigkeit des Geistes und ebenso auf einem südländischen
Verdachte gegen Natur, Mensch und Geist er ruht auf einer ganz andren Kenntnis
des Menschen, Erfahrung vom Menschen, als der Norden gehabt hat. Die Luthersche
Reformation war in ihrer ganzen Breite die Entrüstung der Einfalt gegen etwas
»Vielfältiges«, um vorsichtig zu reden, ein grobes, biederes
Mißverständnis, an dem viel zu verzeihen ist man begriff den
Ausdruck einer siegreichen Kirche nicht und sah nur Korruption, man mißverstand
die vornehme Skepsis, jenen Luxus von Skepsis und Toleranz, welchen sich
jede siegreiche, selbstgewisse Macht gestattet .... Man übersieht heute gut
genug, wie Luther in allen kardinalen Fragen der Macht verhängnisvoll kurz,
oberflächlich, unvorsichtig angelegt war, vor allem als Mann aus dem Volke,
dem alle Erbschaft einer herrschenden Kaste, aller Instinkt für Macht abging:
so daß sein Werk, sein Wille zur Wiederherstellung jenes Römer-Werks,
ohne daß er es wollte und wußte, nur der Anfang eines Zerstörungswerkes
wurde. Er dröselte auf, er riß zusammen, mit ehrlichem Ingrimme, wo
die alte Spinne am sorgsamsten und längsten gewoben hatte. Er lieferte die
heiligen Bücher an jedermann aus damit gerieten sie endlich in die
Hände der Philologen, das heißt der Vernichter jeden Glaubens, der
auf Büchern ruht. Er zerstörte den Begriff»Kirche«, indem
er den Glauben an die Inspiration der Konzilien wegwarf: denn nur unter der Voraussetzung,
daß der inspirierende Geist, der die Kirche gegründet hat, in ihr noch
lebe, noch baue, noch fortfahre, sein Haus zu bauen, behält der Begriff »Kirche«
Kraft. Er gab dem Priester den Geschlechtsverkehr mit dem Weibe zurück: aber
drei Viertel der Ehrfurcht, deren das Volk, vor allem das Weib aus dem Volke fähig
ist, ruht auf dem Glauben, daß ein Ausnahme-Mensch in diesem Punkte auch
in andren Punkten eine Ausnahme sein wird hier gerade hat der Volksglaube
an etwas Übermenschliches im Menschen, an das Wunder, an den erlösenden
Gott im Menschen, seinen feinsten und verfänglichsten Anwalt. Luther mußte
dem Priester, nachdem er ihm das Weib gegeben hatte, die Ohrenbeichte nehmen,
das war psychologisch richtig; aber damit war im Grunde der christliche Priester
selbst abgeschafft, dessen tiefste Nützlichkeit immer die gewesen ist, ein
heiliges Ohr, ein verschwiegener Brunnen, ein Grab für Geheimnisse zu sein.
»Jedermann sein eigner Priester« hinter solchen Formeln und
ihrer bäuerischen Verschlagenheit versteckte sich bei Luther der abgründliche
Haß auf den »höheren Menschen« und die Herrschaft des »höheren
Menschen«, wie ihn die Kirche konzipiert hatte er zerschlug ein Ideal,
das er nicht zu erreichen wußte, während er die Entartung dieses Ideals
zu bekämpfen und zu verabscheuen schien. Tatsächlich stieß er,
der unmögliche Mönch, die Herrschaft der homines religiosi
von sich; er machte also gerade das selber innerhalb der kirchlichen Gesellschafts-Ordnung,
was er in Hinsicht auf die bürgerliche Ordnung so unduldsam bekämpfte
einen »Bauernaufstand«. Was hinterdrein alles aus seiner
Reformation gewachsen ist, Gutes und Schlimmes, und heute ungefähr überrechnet
werden kann wer wäre wohl naiv genug, Luther um dieser Folgen willen
einfach zu loben oder zu tadeln? Er ist an allem unschuldig, er wußte nicht
was er tat. Die Verflachung des europäischen Geistes, namentlich im Norden,
seine Vergutmütigung, wenn mans lieber mit einem moralischen Worte
bezeichnet hört, tat mit der Lutherschen Reformation einen tüchtigen
Schritt vorwärts, es ist kein Zweifel; und ebenso wuchs durch sie die Beweglichkeit
und Unruhe des Geistes, sein Durst nach Unabhängigkeit, sein Glaube an ein
Recht auf Freiheit, seine »Natürlichkeit«. Will man ihr in letzterer
Hinsicht den Wert zugestehn, das vorbereitet und begünstigt zu haben, was
wir heute als »moderne Wissenschaft« verehren, so muß man freilich
hinzufügen, daß sie auch an der Entartung des modernen Gelehrten mitschuldig
ist, an seinem Mangel an Ehrfurcht, Scham und Tiefe, an der ganzen naiven Treuherzigkeit
und Biedermännerei in Dingen der Erkenntnis, kurz an jenem Plebejismus
des Geistes, der den letzten beiden Jahrhunderten eigentümlich ist und von
dem uns auch der bisherige Pessimismus noch keineswegs erlöst hat,
auch die »modernen Ideen« gehören noch zu diesem Bauernaufstand
des Nordens gegen den kälteren, zweideutigeren, mißtrauischeren Geist
des Südens, der sich in der christlichen Kirche sein größtes Denkmal
gebaut hat. Vergessen wir es zuletzt nicht, was eine Kirche ist, und zwar im Gegensatz
zu jedem »Staate«: eine Kirche ist vor allem ein Herrschafts-Gebilde,
das den geistigeren Menschen den obersten Rang sichert und an die Macht der Geistigkeit
soweit glaubt, um sich alle gröberen Gewaltmittel zu verbieten
damit allein ist die Kirche unter allen Umständen eine vornehmere
Institution als der Staat.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 268-271 |
Die
Rache am Geist und andre Hintergründe der Moral. Die Moral
wo glaubt ihr wohl, daß sie ihre gefährlichsten und tückischsten
Anwälte hat? .... Da ist ein mißratener Mensch, der nicht genug Geist
besitzt, um sich dessen freuen zu können, und gerade Bildung genug, um das
zu wissen; gelangweilt, überdrüssig, ein Selbstverächter; durch
etwas ererbtes Vermögen leider noch um den letzten Trost betrogen, den »Segen
der Arbeit«, die Selbstvergessenheit im »Tagewerk«; ein solcher,
der sich seines Daseins im Grunde schämt vielleicht herbergt er dazu
ein paar kleine Laster und andrerseits nicht umhin kann, durch Bücher,
auf die er kein Recht hat, oder geistigere Gesellschaft, als er verdauen kann,
sich immer schlimmer zu verwöhnen und eitel-reizbar zu machen: ein solcher
durch und durch vergifteter Mensch denn Geist wird Gift, Bildung wird Gift,
Besitz wird Gift, Einsamkeit wird Gift bei dergestalt Mißratenen ,
gerät schließlich in einen habituellen Zustand der Rache, des Willens
zur Rache ..., was glaubt ihr wohl, daß er nötig, unbedingt
nötig hat, um sich bei sich selbst den Anschein von Überlegenheit über
geistigere Menschen, um sich die Lust der vollzogenen Rache, wenigstens
für seine Einbildung, zu schaffen? Immer die Moralität, darauf
darf man wetten, immer die großen Moral-Worte, immer das Bumbum von Gerechtigkeit,
Weisheit, Heiligkeit, Tugend, immer den Stoizismus der Gebärde ( wie
gut versteckt der Stoizismus, was einer nicht hat! ...), immer den Mantel
des klugen Schweigens, der Leutseligkeit, der Milde, und wie alle die Idealisten-Mäntel
heißen, unter denen die unheilbaren Selbstverächter, auch die unheilbar
Eitlen, herumgehn. Man verstehe mich nicht falsch: aus solchen geborenen Feinden
des Geistes entsteht mitunter jenes seltene Stück Menschtum, das vom
Volke unter dem Namen des Heiligen, des Weisen verehrt wird; aus solchen Menschen
kommen jene Untiere der Moral her, welche Lärm machen, Geschichte machen
der heilige Augustin gehört zu ihnen. Die Furcht vor dem Geist, die
Rache am Geist oh wie oft wurden diese triebkräftigen Laster schon
zur Wurzel von Tugenden! Ja zur Tugend! Und, unter uns gefragt, selbst
jener Philosophen-Anspruch auf Weisheit, der hier und da einmal auf Erden
gemacht worden ist, der tollste und unbescheidenste aller Ansprüche
war er nicht immer bisher, in Indien wie in Griechenland, vor allem ein Versteck?
Mitunter vielleicht im Gesichtspunkte der Erziehung, der so viele Lügen heiligt,
als zarte Rücksicht auf Werdende, Wachsende, auf Jünger, welche oft
durch den Glauben an die Person (durch einen Irrtum) gegen sich selbst verteidigt
werden müssen .... In den häufigeren Fällen aber ein Versteck des
Philosophen, hinter welches er sich aus Ermüdung, Alter, Erkaltung, Verhärtung
rettet, als Gefühl vom nahen Ende, als Klugheit jenes Instinkts, den die
Tiere vor dem Tode haben sie gehen beiseite, werden still, wählen
die Einsamkeit, verkriechen sich in Höhlen, werden weise ...., Wie?
Weisheit ein Versteck des Philosophen vor dem Geiste?Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 271-273 |
Was
ist Romantik? Man erinnert sich vielleicht, zum mindesten unter meinen
Freunden, daß ich anfangs mit einigen dicken Irrtümern und Überschätzungen
und jedenfalls als Hoffender auf diese moderne Welt losgegangen bin. Ich
verstand wer weiß, auf welche persönlichen Erfahrungen hin?
den philosophischen Pessimismus des neunzehnten Jahrhunderts, wie als ob
er das Symptom von höherer Kraft des Gedankens, von verwegenerer Tapferkeit,
von siegreicherer Fülle des Lebens sei, als diese dem achtzehnten
Jahrhundert, dem Zeitalter Humes, Kants, Condillacs und der Sensualisten, zu eigen
gewesen sind: so daß mir die tragische Erkenntnis wie der eigentliche Luxus
unsrer Kultur erschien, als deren kostbarste, vornehmste, gefährlichste Art
Verschwendung, aber immerhin, auf Grund ihres Überreichtums, als ihr erlaubter
Luxus. Desgleichen deutete ich mir die deutsche Musik zurecht zum Ausdruck einer
dionysischen Mächtigkeit der deutschen Seele: in ihr glaubte ich das Erdbeben
zu hören, mit dem eine von alters her aufgestaute Urkraft sich endlich Luft
macht gleichgültig dagegen, ob alles, was sonst Kultur heißt,
dabei ins Zittern gerät. Man sieht, ich verkannte damals, sowohl am philosophischen
Pessimismus wie an der deutschen Musik, das was ihren eigentlichen Charakter ausmacht
ihre Romantik. Was ist Romantik? Jede Kunst, jede Philosophie darf
als Heil-und Hilfsmittel im Dienste des wachsenden, kämpfenden Lebens angesehen
werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. Aber es gibt zweierlei Leidende,
einmal die an der Überfülle des Lebens Leidenden, welche eine
dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das
Leben und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden, die
Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntnis
suchen, oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn. Dem
Doppel-Bedürfnisse der letzteren entspricht alle Romantik in Künsten
und Erkenntnissen, ihnen entsprach (und entspricht) ebenso Schopenhauer als Richard
Wagner, um jene berühmtesten und ausdrücklichsten Romantiker zu nennen,
welche damals von mir mißverstanden wurden übrigens nicht
zu ihrem Nachteile, wie man mir in aller Billigkeit zugestehen darf. Der Reichste
an Lebensfülle, der dionysische Gott und Mensch, kann sich nicht nur den
Anblick des Fürchterlichen und Fragwürdigen gönnen, sondern selbst
die fürchterliche Tat und jeden Luxus von Zerstörung, Zersetzung, Verneinung;
bei ihm erscheint das Böse, Unsinnige und Häßliche gleichsam erlaubt,
infolge eines Überschusses von zeugenden, befruchtenden Kräften, welcher
aus jeder Wüste noch ein üppiges Fruchtland zu schaffen imstande ist.
Umgekehrt würde der Leidendste, Lebensärmste am meisten die Milde, Friedlichkeit,
Güte nötig haben, im Denken und im Handeln, womöglich einen Gott,
der ganz eigentlich ein Gott für Kranke, ein »Heiland« wäre;
ebenso auch die Logik, die begriffliche Verständlichkeit des Daseins
denn die Logik beruhigt, gibt Vertrauen , kurz eine gewisse warme, furchtabwehrende
Enge und Einschließung in optimistische Horizonte. Dergestalt lernte ich
allmählich Epikur begreifen, den Gegensatz eines dionysischen Pessimisten,
ebenfalls den »Christen«, der in der Tat nur eine Art Epikureer und,
gleich jenem, wesentlich Romantiker ist, und mein Blick schärfte sich
immer mehr für jene schwierigste und verfänglichste Form des Rückschlusses,
in der die meisten Fehler gemacht werden des Rückschlusses vom Werk
auf den Urheber, von der Tat auf den Täter, vom Ideal auf den, der es nötig
hat, von jeder Denk-und Wertungsweise auf das dahinter kommandierende Bedürfnis.
In Hinsicht auf alle ästhetischen Werte bediene ich mich jetzt dieser
Hauptunterscheidung: ich frage in jedem einzelnen Falle »ist hier der Hunger
oder der Überfluß schöpferisch geworden?« Von vornherein
möchte sich eine andre Unterscheidung mehr zu empfehlen scheinen sie
ist bei weitem augenscheinlicher nämlich das Augenmerk darauf, ob
das Verlangen nach Starrmachen, Verewigen, nach Sein die Ursache des Schaffens
ist oder aber das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach
Zukunft, nach Werden. Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer
angesehen, noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten
und mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach Zerstörung,
Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft
sein (mein terminus ist dafür, wie man weiß, das Wort »dionysisch«),
aber es kann auch der Haß des Mißratenen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen
sein, der zerstört, zerstören muß, weil ihn das Bestehende,
ja alles Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt man sehe sich,
um diesen Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten aus der Nähe an. Der Wille
zum Verewigen bedarf gleichfalls einer zwiefachen Interpretation. Er kann
einmal aus Dankbarkeit und Liebe kommen eine Kunst dieses Ursprungs wird
immer eine Apotheosenkunst sein, dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig-spöttisch
mit Hafis, hell und gütig mit Goethe, und einen Homerischen Licht- und Glorienschein
über alle Dinge breitend. Er kann aber auch jener tyrannische Wille eines
Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturierten sein, welcher das Persönlichste,
Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen
Gesetz und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache
nimmt, dadurch, daß er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur, aufdrückt,
einzwängt, einbrennt. Letzteres ist der romantische Pessimismus in
seiner ausdrucksvollsten Form, sei es als Schopenhauersche Willens-Philosophie,
sei es als Wagnersche Musik der romantische Pessimismus, das letzte große
Ereignis im Schicksal unsrer Kultur. (Daß es noch einen ganz anderen Pessimismus
geben könne, einen klassischen diese Ahnung und Vision gehört
zu mir, als unablöslich von mir, als mein proprium und ipsissimum:
nur daß meinen Ohren das Wort »klassisch« widersteht, es ist
bei weitem zu abgebraucht, zu rund und unkenntlich geworden. Ich nenne jenen Pessimismus
der Zukunft denn er kommt! ich sehe ihn kommen! den dionysischen
Pessimismus.)Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 285-288 |
Warum
wir keine Idealisten sind. Ehemals hatten die Philosophen Furcht vor
den Sinnen: haben wir diese Furcht vielleicht allzusehr verlernt? Wir sind
heute allesamt Sensualisten, wir Gegenwärtigen und Zukünftigen in der
Philosophie, nicht der Theorie nach, aber der Praxis, der Praktik ....
Jene hingegen meinten, durch die Sinne aus ihrer Welt, dem kalten Reiche
der »Ideen«, auf ein gefährliches südlicheres Eiland weggelockt
zu werden: woselbst, wie sie fürchteten, ihre Philosophen-Tugenden wie Schnee
in der Sonne wegschmelzen würden. »Wachs in den Ohren« war damals
beinahe Bedingung des Philosophierens; ein echter Philosoph hörte das Leben
nicht mehr, insofern Leben Musik ist, er leugnete die Musik des Lebens
es ist ein alter Philosophen-Aberglaube, daß alle Musik Sirenen-Musik
ist. Nun möchten wir heute geneigt sein, gerade umgekehrt zu urteilen
(was an sich noch ebenso falsch sein könnte): nämlich daß die
Ideen schlimmere Verführerinnen seien als die Sinne, mit allem ihrem
kalten anämischen Anscheine und nicht einmal trotz diesem Anscheine
sie lebten immer vom »Blute« des Philosophen, sie zehrten immer seine
Sinne aus, ja, wenn man uns glauben will, auch sein »Herz«. Diese
alten Philosophen waren herzlos: Philosophieren war immer eine Art Vampyrismus.
Fühlt ihr nicht an solchen Gestalten, wie noch der Spinozas, etwas tief Änigmatisches
und Unheimliches? Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier abspielt, das beständige
Blässer-werden , die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung?
Ahnt ihr nicht im Hintergrunde irgendeine lange verborgene Blutaussaugerin, welche
mit den Sinnen ihren Anfang macht und zuletzt Knochen und Geklapper übrig
behält, übrig läßt? ich meine Kategorien, Formeln,
Worte (denn, man vergebe mir, das was von Spinoza übrig blieb,
amor intellectualis dei, ist ein Geklapper, nichts mehr! was ist amor,
was deus, wenn ihnen jeder Tropfen Blut fehlt? ...). In summa: aller
philosophische Idealismus war bisher etwas wie Krankheit, wo er nicht, wie im
Falle Platos, die Vorsicht einer überreichen und gefährlichen Gesundheit,
die Furcht vor übermächtigen Sinnen, die Klugheit eines klugen
Sokratikers war. Vielleicht sind wir Modernen nur nicht gesund genug, um
Platos Idealismus nötig zu haben? Und wir fürchten die Sinne
nicht, weil ....Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 289-290 |
»Wissenschaft«
als Vorurteil. Es folgt aus den Gesetzen der Rangordnung, daß
Gelehrte, insofern sie dem geistigen Mittelstande zugehören, die eigentlichen
großen Probleme und Fragezeichen gar nicht in Sicht bekommen dürfen;
zudem reicht ihr Mut und ebenso ihr Blick nicht bis dahin vor allem, ihr
Bedürfnis, das sie zu Forschern macht, ihr inneres Vorausnehmen und Wünschen,
es möchte so und so beschaffen sein, ihr Fürchten und Hoffen
kommt zu bald schon zur Ruhe, zur Befriedigung. Was zum Beispiel den pedantischen
Engländer Herbert Spencer auf seine Weise schwärmen macht und einen
Hoffnungs-Strich, eine Horizont-Linie der Wünschbarkeit ziehen heißt,
jene endliche Versöhnung von »Egoismus und Altruismus«, von der
er fabelt, das macht unsereinem beinahe Ekel eine Menschheit mit solchen
Spencerschen Perspektiven als letzten Perspektiven schiene uns der Verachtung,
der Vernichtung wert! Aber schon daß etwas als höchste Hoffnung
von ihm empfunden werden muß, was anderen bloß als widerliche Möglichkeit
gilt und gelten darf, ist ein Fragezeichen, welches Spencer nicht vorauszusehn
vermocht hätte .... Ebenso steht es mit jenem Glauben, mit dem sich jetzt
so viele materialistische Naturforscher zufrieden geben, dem Glauben an eine Welt,
welche im menschlichen Denken, in menschlichen Wertbegriffen ihr Äquivalent
und Maß haben soll, an eine »Welt der Wahrheit«, der man mit
Hilfe unsrer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgültig beizukommen
vermöchte wie? wollen wir uns wirklich dergestalt das Dasein zu einer
Rechenknechts-Übung und Stubenhockerei für Mathematiker herabwürdigen
lassen? Man soll es vor allem nicht seines vieldeutigen Charakters entkleiden
wollen: das fordert der gute Geschmack, meine Herren, der Geschmack der Ehrfurcht
vor allem, was über euren Horizont geht! Daß allein eine Welt-Interpretation
im Rechte sei, bei der ihr zu Rechte besteht, bei der wissenschaftlich
in eurem Sinne ( ihr meint eigentlich mechanistisch?) geforscht und fortgearbeitet
werden kann, eine solche, die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehen und Greifen
und nichts weiter zuläßt, das ist eine Plumpheit und Naivität,
gesetzt daß es keine Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist. Wäre es
umgekehrt nicht recht wahrscheinlich, daß sich gerade das Oberflächlichste
und Äußerlichste vom Dasein sein Scheinbarstes, seine Haut und
Versinnlichung am ersten fassen ließe? vielleicht sogar allein fassen
ließe? Eine »wissenschaftliche« Welt-Interpretation, wie ihr
sie versteht, könnte folglich immer noch eine der dümmsten, das
heißt sinnärmsten aller möglichen Welt-Interpretationen sein:
dies den Herrn Mechanikern ins Ohr und Gewissen gesagt, die heute gern unter die
Philosophen laufen und durchaus vermeinen, Mechanik sei die Lehre von den ersten
und letzten Gesetzen, auf denen wie auf einem Grundstocke alles Dasein aufgebaut
sein müsse. Aber eine essentiell mechanische Welt wäre eine essentiell
sinnlose Welt! Gesetzt, man schätzte den Wert einer Musik danach ab,
wie viel von ihr gezählt, berechnet, in Formeln gebracht werden könne
wie absurd wäre eine solche »wissenschaftliche« Abschätzung
der Musik! Was hätte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt! Nichts,
geradezu nichts von dem, was eigentlich an ihr »Musik« ist!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 290-292 |
Unser
neues »Unendliches«. Wie weit der perspektivische Charakter
des Daseins reicht oder gar ob es irgendeinen andren Charakter noch hat, ob nicht
ein Dasein ohne Auslegung, ohne »Sinn« eben zum »Unsinn«
wird, ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein
ist das kann, wie billig, auch durch die fleißigste und peinlich-gewissenhafteste
Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der
menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter
seinen perspektivischen Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn. Wir können
nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen,
was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive geben könnte:
zum Beispiel ob irgendwelche Wesen die Zeit zurück oder abwechselnd vorwärts
und rückwärts empfinden können (womit eine andre Richtung des Lebens
und ein andrer Begriff von Ursache und Wirkung gegeben wäre). Aber ich denke,
wir sind heute zum mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit,
von unsrer Ecke aus zu dekretieren, daß man nur von dieser Ecke aus Perspektiven
haben dürfe. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal »unendlich«
geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß
sie unendliche Interpretationen in sich schließt. Noch einmal faßt
uns der große Schauder aber wer hätte wohl Lust, dieses
Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen?
Und etwa das Unbekannte fürderhin als »den Unbekannten«
anzubeten? Ach es sind zu viele ungöttliche Möglichkeiten der
Interpretation mit in dieses Unbekannte eingerechnet, zu viel Teufelei, Dummheit,
Narrheit der Interpretation unsre eigne menschliche, allzumenschliche selbst,
die wir kennen.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 292-293 |
Warum
wir Epikureer scheinen. Wir sind vorsichtig, wir modernen Menschen, gegen
letzte Überzeugungen; unser Mißtrauen liegt auf der Lauer gegen die
Bezauberungen und Gewissens-Überlistungen, welche in jedem starken Glauben,
jedem unbedingten Ja und Nein liegen: wie erklärt sich das? Vielleicht, daß
man darin zu einem guten Teil die Behutsamkeit des »gebrannten Kindes«,
des enttäuschten Idealisten sehn darf, zu einem andern und bessern Teile
aber auch die frohlockende Neugierde eines ehemaligen Eckenstehers, der durch
seine Ecke in Verzweiflung gebracht worden ist und nunmehr im Gegensatz der Ecke
schwelgt und schwärmt, im Unbegrenzten, im »Freien an sich«.
Damit bildet sich ein nahezu epikurischer Erkenntnis-Hang aus, welcher den Fragezeichen-Charakter
der Dinge nicht leichten Kaufs fahren lassen will; insgleichen ein Widerwille
gegen die großen Moral-Worte und -Gebärden, ein Geschmack, der alle
plumpen vierschrötigen Gegensätze ablehnt und sich seiner Übung
in Vorbehalten mit Stolz bewußt ist. Denn das macht unsern Stolz
aus, dieses leichte Zügel-Straffziehn bei unsrem vorwärtsstürmenden
Drange nach Gewißheit, diese Selbstbeherrschung des Reiters auf seinen wildesten
Ritten: nach wie vornämlich haben wir tolle feurige Tiere unter uns, und
wenn wir zögern, so ist es am wenigsten wohl die Gefahr, die uns zögern
macht.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 293-294 |
Wir
Heimatlosen. Es fehlt unter den Europäern von heute nicht an solchen,
die ein Recht haben, sich in einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimatlose zu
nennen ihnen gerade sei meine geheime Weisheit und gaya scienza ausdrücklich
ans Herz gelegt! Denn ihr Los ist hart, ihre Hoffnung ungewiß, es ist ein
Kunststück, ihnen einen Trost zu erfinden aber was hilft es! Wir Kinder
der Zukunft, wie vermöchten wir in diesem Heute zu Hause zu sein! Wir sind
allen Idealen abgünstig, auf welche hin einer sich sogar in dieser zerbrechlichen,
zerbrochenen Übergangszeit noch heimisch fühlen könnte; was aber
deren »Realitäten« betrifft, so glauben wir nicht daran, daß
sie Dauer haben. Das Eis, das heute noch trägt, ist schon sehr dünn
geworden: der Tauwind weht, wir selbst, wir Heimatlosen, sind etwas, das Eis und
andre allzudünne »Realitäten« aufbricht .... Wir »konservieren«
nichts, wir wollen auch in keine Vergangenheit zurück, wir sind durchaus
nicht »liberal«, wir arbeiten nicht für den »Fortschritt«,
wir brauchen unser Ohr nicht erst gegen die Zukunfts-Sirenen des Marktes zu verstopfen
das, was sie singen, »gleiche Rechte«, »freie Gesellschaft«,
»keine Herren mehr und keine Knechte«, das lockt uns nicht!
wir halten es schlechterdings nicht für wünschenswert, daß das
Reich der Gerechtigkeit und Eintracht auf Erden gegründet werde (weil es
unter allen Umständen das Reich der tiefsten Vermittelmäßigung
und Chineserei sein würde), wir freuen uns an allen, die gleich uns die Gefahr,
den Krieg, das Abenteuer lieben, die sich nicht abfinden, einfangen, versöhnen
und verschneiden lassen, wir rechnen uns selbst unter die Eroberer, wir denken
über die Notwendigkeit neuer Ordnungen nach, auch einer neuen Sklaverei
denn zu jeder Verstärkung und Erhöhung des Typus »Mensch«
gehört auch eine neue Art Versklavung hinzu nicht wahr? mit alledem
müssen wir schlecht in einem Zeitalter zu Hause sein, welches die Ehre in
Anspruch zu nehmen liebt, das menschlichste, mildeste, rechtlichste Zeitalter
zu heißen, das die Sonne bisher gesehen hat? Schlimm genug, daß wir
gerade bei diesen schönen Worten um so häßlichere Hintergedanken
haben! Daß wir darin nur den Ausdruck auch die Maskerade der
tiefen Schwächung, der Ermüdung, des Alters, der absinkenden Kraft sehen!
Was kann uns daran gelegen sein, mit was für Flittern ein Kranker seine Schwäche
aufputzt! Mag er sie als seine Tugend zur Schau tragen es unterliegt
ja keinem Zweifel, daß die Schwäche mild, ach so mild, so rechtlich,
so unoffensiv, so »menschlich« macht! Die »Religion des
Mitleidens«, zu der man uns überreden möchte oh wir kennen
die hysterischen Männlein und Weiblein genug, welche heute gerade diese Religion
zum Schleier und Aufputz nötig haben! Wir sind keine Humanitarier; wir würden
uns nie zu erlauben wagen, von unsrer »Liebe zur Menschheit« zu reden
dazu ist unsereins nicht Schauspieler genug! Oder nicht Saint-Simonist
genug, nicht Franzose genug. Man muß schon mit einem gallischen Übermaß
erotischer Reizbarkeit und verliebter Ungeduld behaftet sein, um sich in ehrlicher
Weise sogar noch der Menschheit mit seiner Brunst zu nähern .... Der Menschheit!
Gab es je noch ein scheußlicheres altes Weib unter allen alten Weibern?
( es müßte denn etwa »die Wahrheit« sein: eine Frage
für Philosophen). Nein, wir lieben die Menschheit nicht; andererseits sind
wir aber auch lange nicht »deutsch« genug, wie heute das Wort »deutsch«
gang und gäbe ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhaß das Wort
zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben
zu können, derenthalben sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen
abgrenzt, absperrt. Dazu sind wir zu unbefangen, zu boshaft, zu verwöhnt,
auch zu gut unterrichtet, zu »gereist«: wir ziehen es bei weitem vor,
auf Bergen zu leben, abseits, »unzeitgemäß«, in vergangnen
oder kommenden Jahrhunderten, nur damit wir uns die stille Wut ersparen, zu der
wir uns verurteilt wüßten als Augenzeugen einer Politik, die den deutschen
Geist öde macht, indem sie ihn eitel macht, und kleine Politik außerdem
ist hat sie nicht nötig, damit ihre eigene Schöpfung nicht sofort
wieder auseinanderfällt, sie zwischen zwei Todhasse zu pflanzen? muß
sie nicht die Verewigung der Kleinstaaterei Europas wollen? .... Wir Heimatlosen,
wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt, als »moderne
Menschen«, und folglich wenig versucht, an jener verlognen Rassen-Selbstbewunderung
und Unzucht teilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher
Gesinnung zur Schau trägt und die bei dem Volke des »historischen Sinns«
zwiefach falsch und unanständig anmutet. Wir sind, mit einem Worte
und es soll unser Ehrenwort sein! gute Europäer, die Erben
Europas, die reichen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten
Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes: als solche auch dem Christentum
entwachsen und abhold, und gerade, weil wir aus ihm gewachsen sind, weil
unsre Vorfahren Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit des Christentums
waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand und Vaterland zum Opfer gebracht
haben. Wir tun desgleichen. Wofür doch? Für unsern Unglauben?
Für jede Art Unglauben? Nein, das wißt ihr besser, meine Freunde! Das
verborgne Ja in euch ist stärker als alle Neins und Vielleichts, an
denen ihr mit eurer Zeit krank seid; und wenn ihr aufs Meer müßt, ihr
Auswanderer, zwingt dazu auch euch ein Glaube!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 294-297 |
»Und
werden wieder hell.« Wir Freigebigen und Reichen des Geistes,
die wir gleich offnen Brunnen an der Straße stehn und es niemandem wehren
mögen, daß er aus uns schöpft: wir wissen uns leider nicht zu
wehren, wo wir es möchten, wir können durch nichts verhindern, daß
man uns trübt, finster macht daß die Zeit, in der wir leben,
ihr »Zeitlichstes«, daß deren schmutzige Vögel ihren Unrat,
die Knaben ihren Krimskrams und erschöpfte, an uns ausruhende Wandrer ihr
kleines und großes Elend in uns werfen. Aber wir werden es machen, wie wir
es immer gemacht haben: wir nehmen, was man auch in uns wirft, hinab in unsre
Tiefe denn wir sind tief, wir vergessen nicht und werden wieder
hell.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 297 |
Zwischenrede
des Narren. Das ist kein Misanthrop, der dies Buch geschrieben hat:
der Menschenhaß bezahlt sich heute zu teuer. Um zu hassen, wie man ehemals
den Menschen gehaßt hat, timonisch, im ganzen, ohne Abzug, aus vollem
Herzen, aus der ganzen Liebe des Hasses dazu müßte man
aufs Verachten Verzicht leisten und wieviel feine Freude, wieviel Geduld,
wieviel Gütigkeit selbst verdanken wir gerade unsrem Verachten! Zudem sind
wir damit die »Auserwählten Gottes«: das feine Verachten ist
unser Geschmack und Vorrecht, unsre Kunst, unsre Tugend vielleicht, wir Modernsten
unter den Modernen! .... Der Haß dagegen stellt gleich, stellt gegenüber,
im Haß ist Ehre, endlich: im Haß ist Furcht, ein großer,
guter Teil Furcht. Wir Furchtlosen aber, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters,
wir kennen unsern Vorteil gut genug, um gerade als die Geistigeren in Hinsicht
auf diese Zeit ohne Furcht zu leben. Man wird uns schwerlich köpfen, einsperren,
verbannen; man wird nicht einmal unsre Bücher verbieten und verbrennen. Das
Zeitalter liebt den Geist, es liebt uns und hat uns nötig, selbst wenn wir
es ihm zu verstehn geben müßten, daß wir in der Verachtung Künstler
sind; daß uns jeder Umgang mit Menschen einen leichten Schauder macht; daß
wir mit aller unsrer Milde, Geduld, Menschenfreundlichkeit, Höflichkeit unsre
Nase nicht überreden können, von ihrem Vorurteile abzustehn, welches
sie gegen die Nähe eines Menschen hat; daß wir die Natur lieben, je
weniger menschlich es in ihr zugeht, und die Kunst, wenn sie die Flucht
des Künstlers vor dem Menschen oder der Spott des Künstlers über
den Menschen oder der Spott des Künstlers über sich selber ist.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 297-298 |
»Der
Wanderer« redet. Um unsrer europäischen Moralität einmal
aus der Ferne ansichtig zu werden, um sie an anderen, früheren oder kommenden,
Moralitäten zu messen, dazu muß man es machen, wie es ein Wanderer
macht, der wissen will, wie hoch die Türme einer Stadt sind: dazu verläßt
er die Stadt. »Gedanken über moralische Vorurteile«, falls sie
nicht Vorurteile über Vorurteile sein sollen, setzen eine Stellung außerhalb
der Moral voraus, irgendein Jenseits von Gut und Böse, zu dem man steigen,
klettern, fliegen muß und, im gegebnen Falle, jedenfalls ein Jenseits
von unsrem Gut und Böse, eine Freiheit von allem »Europa«,
letzteres als eine Summe von kommandierenden Werturteilen verstanden, welche uns
in Fleisch und Blut übergegangen sind. Daß man gerade dorthinaus, dorthinauf
will, ist vielleicht eine kleine Tollheit, ein absonderliches, unvernünftiges
»du mußt« denn auch wir Erkennenden haben unsre Idiosynkrasien
des »unfreien Willens« : die Frage ist, ob man wirklich dorthinauf
kann. Dies mag an vielfachen Bedingungen hängen; in der Hauptsache
ist es die Frage danach, wie leicht oder wie schwer wir sind, das Problem unsrer
»spezifischen Schwere«. Man muß sehr leicht sein, um
seinen Willen zur Erkenntnis bis in eine solche Ferne und gleichsam über
seine Zeit hinaus zu treiben, um sich zum Überblick über Jahrtausende
Augen zu schaffen und noch dazu reinen Himmel in diesen Augen! Man muß sich
von vielem losgebunden haben, was gerade uns Europäer von heute drückt,
hemmt, niederhält, schwer macht. Der Mensch eines solchen Jenseits, der die
obersten Wertmaße seiner Zeit selbst in Sicht bekommen will, hat dazu vorerst
nötig, diese Zeit in sich selbst zu »überwinden«
es ist die Probe seiner Kraft und folglich nicht nur seine Zeit, sondern
auch seinen bisherigen Widerwillen und Widerspruch gegen diese Zeit, sein Leiden
an dieser Zeit, seine Zeit-Ungemäßheit, seine Romantik.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 298-299 |
Zur
Frage der Verständlichkeit. Man will nicht nur verstanden werden,
wenn man schreibt, sondern ebenso gewiß auch nicht verstanden werden.
Es ist noch ganz und gar kein Einwand gegen ein Buch, wenn irgend jemand es unverständlich
findet: vielleicht gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers
er wollte nicht von »irgend jemand« verstanden werden. Jeder
vornehmere Geist und Geschmack wählt sich, wenn er sich mitteilen will, auch
seine Zuhörer; indem er sie wählt, zieht er zugleich gegen »die
anderen« seine Schranken. Alle feineren Gesetze eines Stils haben da ihren
Ursprung: sie halten zugleich ferne, sie schaffen Distanz, sie verbieten »den
Eingang«, das Verständnis, wie gesagt während sie denen
die Ohren aufmachen, die uns mit den Ohren verwandt sind. Und daß ich es
unter uns sage und in meinem Falle ich will mich weder durch meine Unwissenheit,
noch durch die Munterkeit meines Temperaments verhindern lassen, euch verständlich
zu sein, meine Freunde: durch die Munterkeit nicht, wie sehr sie auch mich zwingt,
einer Sache geschwind beizukommen, um ihr überhaupt beizukommen. Denn ich
halte es mit tiefen Problemen wie mit einem kalten Bade schnell hinein,
schnell hinaus. Daß man damit nicht in die Tiefe, nicht tief genug hinunter
komme, ist der Aberglaube der Wasserscheuen, der Feinde des kalten Wassers; sie
reden ohne Erfahrung. Oh! Die große Kälte macht geschwind! Und
nebenbei gefragt: bleibt wirklich eine Sache dadurch allein schon unverstanden
und unerkannt, daß sie nur im Fluge berührt, angeblickt, angeblitzt
wird? Muß man durchaus erst auf ihr festsitzen? auf ihr wie auf einem Ei
gebrütet haben? Diu noctuque incubando, wie Newton von sich selbst
sagte? Zum mindesten gibt es Wahrheiten von einer besonderen Scheu und Kitzlichkeit,
deren man nicht anders habhaft wird als plötzlich die man überraschen
oder lassen muß .... Endlich hat meine Kürze noch einen andren Wert:
innerhalb solcher Fragen, wie sie mich beschäftigen, muß ich vieles
kurz sagen, damit es noch kürzer gehört wird. Man hat nämlich als
Immoralist zu verhüten, daß man die Unschuld verdirbt, ich meine die
Esel und die alten Jungfern beiderlei Geschlechts, die nichts vom Leben haben
als ihre Unschuld; mehr noch, meine Schriften sollen sie begeistern, erheben,
zur Tugend ermutigen. Ich wüßte nichts auf Erden, was lustiger wäre
als begeisterte alte Esel zu sehn und Jungfern, welche durch die süßen
Gefühle der Tugend erregt werden: und »das habe ich gesehn«
also sprach Zarathustra. So viel in Absicht der Kürze; schlimmer steht es
mit meiner Unwissenheit, deren ich selbst vor mir selber kein Hehl habe. Es gibt
Stunden, wo ich mich ihrer schäme; freilich ebenfalls Stunden, wo ich mich
dieser Scham schäme. Vielleicht sind wir Philosophen allesamt heute zum Wissen
schlimm gestellt: die Wissenschaft wächst, die Gelehrtesten von uns sind
nahe daran zu entdecken, daß sie zu wenig wissen. Aber schlimmer wäre
es immer noch, wenn es anders stünde wenn wir zu viel wüßten;
unsre Aufgabe ist und bleibt zuerst, uns nicht selber zu verwechseln. Wir sind
etwas anderes als Gelehrte: obwohl es nicht zu umgehn ist, daß wir auch,
unter anderem, gelehrt sind. Wir haben andre Bedürfnisse, ein anderes Wachstum,
eine andre Verdauung: wir brauchen mehr, wir brauchen auch weniger. Wieviel ein
Geist zu seiner Ernährung nötig hat, dafür gibt es keine Formel;
ist aber sein Geschmack auf Unabhängigkeit gerichtet, auf schnelles Kommen
und Gehn, auf Wanderung, auf Abenteuer vielleicht, denen nur die Geschwindesten
gewachsen sind, so lebt er lieber frei mit schmaler Kost als unfrei und gestopft.
Nicht Fett, sondern die größte Geschmeidigkeit und Kraft ist das, was
ein guter Tänzer von seiner Nahrung will und ich wüßte
nicht, was der Geist eines Philosophen mehr zu sein wünschte, als ein guter
Tänzer. Der Tanz nämlich ist sein Ideal, auch seine Kunst, zuletzt auch
seine einzige Frömmigkeit, sein »Gottesdienst«.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 299-301 |
Die
große Gesundheit. Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen,
wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft wir bedürfen
zu einem neuen Zwecke auch eines neuen Mittels, nämlich einer neuen Gesundheit,
einer stärkeren, gewitzteren, zäheren, verwegneren, lustigeren, als
alle Gesundheiten bisher waren. Wessen Seele danach dürstet, den ganzen Umfang
der bisherigen Werte und Wünschbarkeiten erlebt und alle Küsten dieses
idealischen »Mittelmeers« umschifft zu haben, wer aus den Abenteuern
der eigensten Erfahrung wissen will, wie es einem Eroberer und Entdecker des Ideals
zumute ist, insgleichen einem Künstler, einem Heiligen, einem Gesetzgeber,
einem Weisen, einem Gelehrten, einem Frommen, einem Wahrsager, einem Göttlich-Abseitigen
alten Stils: der hat dazu zuallererst eins nötig, die große Gesundheit
eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch
erwirbt und erwerben muß, weil man sie immer wieder preisgibt, preisgeben
muß! .... Und nun, nachdem wir lange dergestalt unterwegs waren, wir Argonauten
des Ideals, mutiger vielleicht als klug ist, und oft genug schiffbrüchig
und zu Schaden gekommen, aber wie gesagt gesünder, als man es uns erlauben
möchte, gefährlich-gesund, immer wieder gesund will es uns scheinen,
als ob wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes Land vor uns haben, dessen
Grenzen noch niemand abgesehn hat, ein Jenseits aller bisherigen Länder und
Winkel des Ideals, eine Welt so überreich an Schönem, Fremdem, Fragwürdigem,
Furchtbarem und Göttlichem, daß unsre Neugierde ebensowohl wie unser
Besitzdurst außer sich geraten sind ach, daß wir nunmehr durch
nichts mehr zu ersättigen sind! Wie könnten wir uns, nach solchen Ausblicken
und mit einem solchen Heißhunger in Gewissen und Wissen, noch am gegenwärtigen
Menschen genügen lassen? Schlimm genug: aber es ist unvermeidlich, daß
wir seinen würdigsten Zielen und Hoffnungen nur mit einem übel aufrecht
erhaltenen Ernste zusehn und vielleicht nicht einmal mehr zusehn. Ein andres Ideal
läuft vor uns her, ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal,
zu dem wir niemanden überreden möchten, weil wir niemandem so leicht
das Recht darauf zugestehn: das Ideal eines Geistes, der naiv, das heißt
ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit
allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hieß;
für den das Höchste, woran das Volk billigerweise sein Wertmaß
hat, bereits so viel wie Gefahr, Verfall, Erniedrigung oder, mindestens, wie Erholung,
Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen bedeuten würde; das Ideal eines menschlich-über
menschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen
wird, zum Beispiel wenn es sich neben den ganzen bisherigen Erden-Ernst, neben
alle Art Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe
wie deren leibhafteste, unfreiwillige Parodie hinstellt und mit dem, trotzalledem,
vielleicht der große Ernst erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen
erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt,
die Tragödie beginnt.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 301-303 |
Epilog.
Aber indem ich zum Schluß dieses düstere Fragezeichen langsam,
langsam hinmale und eben noch willens bin, meinen Lesern die Tugenden des rechten
Lesers oh was für vergessene und unbekannte Tugenden! ins Gedächtnis
zu rufen, begegnet mir's, daß um mich das boshafteste, munterste, koboldigste
Lachen laut wird: die Geister meines Buches selber fallen über mich her,
ziehn mich an den Ohren und rufen mich zur Ordnung. »Wir halten es nicht
mehr aus« rufen sie mir zu ; »fort, fort mit dieser rabenschwarzen
Musik. Ist es nicht rings heller Vormittag um uns? Und grüner weicher Grund
und Rasen, das Königreich des Tanzes? Gab es je eine bessere Stunde, um fröhlich
zu sein? Wer singt uns ein Lied, ein Vormittagslied, so sonnig, so leicht, so
flügge, daß es die Grillen nicht verscheucht daß es die
Grillen vielmehr einlädt, mit zu singen, mit zu tanzen? Und lieber noch einen
einfältigen bäurischen Dudelsack als solche geheimnisvolle Laute, solche
Unkenrufe, Grabesstimmen und Murmeltierpfiffe, mit denen sie uns in ihrer Wildnis
bisher regaliert haben, mein Herr Einsiedler und Zukunftsmusikant! Nein! Nicht
solche Töne! Sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!«
Gefällt es euch so, meine ungeduldigen Freunde? Wohlan! Wer wäre
euch nicht gern zu Willen? Mein Dudelsack wartet schon, meine Kehle auch
sie mag ein wenig rauh klingen, nehmt fürlieb! dafür sind wir im Gebirge.
Aber was ihr zu hören bekommt, ist wenigstens neu; und wenn ihrs nicht versteht,
wenn ihr den Sänger mißversteht, was liegt daran! Das ist nun einmal
»des Sängers Fluch«. Um so deutlicher könnt ihr seine Musik
und Weise hören, um so besser auch nach seiner Pfeife tanzen. Wollt
ihr das?Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 303-304 |
An
GoetheDas Unvergängliche
// Ist nur dein Gleichnis! // Gott, der Verfängliche, // Ist Dichter-Erschleichnis
... // Welt-Rad, das rollende, // Streift Ziel auf Ziel: // Not nennts
der Grollende, // Der Narr nennts Spiel ... // Welt-Spiel, das herrische
// Mischt Sein und Schein: // Das Ewig-Närrische // Mischt uns
hinein!Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 305 |
Dichters
Berufung Als ich jüngst,
mich zu erquicken, // Unter dunklen Bäumen saß, // Hört ich ticken,
leise ticken, // Zierlich, wie nach Takt und Maß. // Böse wurd ich,
zog Gesichter, // Endlich aber gab ich nach, // Bis ich gar, gleich einem
Dichter, // Selber mit im Ticktack sprach.Wie
mir so im Verse-Machen // Silb um Silb ihr Hopsa sprang, // Mußt ich plötzlich
lachen, lachen // Eine Viertelstunde lang. // Du ein Dichter? Du ein Dichter?
// Stehts mit deinem Kopf so schlecht? // »Ja, mein Herr, Sie sind
ein Dichter« // Achselzuckt der Vogel Specht.Wessen
harr ich hier im Busche? // Wem doch laur ich Räuber auf? // Ists ein Spruch?
Ein Bild? Im Husche // Sitzt mein Reim ihm hintendrauf. // Was nur schlüpft
und hüpft, gleich sticht der // Dichter sichs zum Vers zurecht. //
»Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter« // Achselzuckt der Vogel Specht.Reime,
mein ich, sind wie Pfeile? // Wie das zappelt, zittert, springt, // Wenn der Pfeil
in edle Teile // Des Lazerten-Leibchens dringt! // Ach, ihr sterbt dran, arme
Wichter, // Oder taumelt wie bezecht! // »Ja, mein Herr, Sie sind
ein Dichter« // Achselzuckt der Vogel Specht.Schiefe
Sprüchlein voller Eile, // Trunkne Wörtlein, wie sichs drängt!
// Bis ihr alle, Zeil an Zeile, // An der Ticktack-Kette hängt. // Und es
gibt grausam Gelichter, // Das dies freut? Sind Dichter schlecht?
// »Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter« // Achselzuckt der
Vogel Specht.Höhnst du, Vogel?
Willst du scherzen? // Stehts mit meinem Kopf schon schlimm, // Schlimmer stünds
mit meinem Herzen? // Fürchte, fürchte meinen Grimm! // ] Doch
der Dichter Reime flicht er // Selbst im Grimm noch schlecht und recht.
// »Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter« // Achselzuckt der
Vogel Specht.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 305-307 |
Sils
MariaHier saß ich, wartend,
wartend, doch auf nichts, // Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts
// Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, // Ganz See, ganz Mittag,
ganz Zeit ohne Ziel. // Da, plötzlich, Freundin! wurde eins zu zwei
// Und Zarathustra ging an mir vorbei.Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 315-316 |
I c h
l e h r e e u c h d e n
Ü b e r m e n s c h e n .
Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan,
ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus:
und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn,
als den Menschen überwinden? Was ist der Affe für den Menschen? Ein
Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und eben das soll der Mensch für
den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham: Ihr
habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm.
Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgendein
Affe.Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter
von Pflanze und von Gespenst. Aber heisse ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen
werden? Seht, ich lehre euch den Übermenschen! Der Übermensch ist der
Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 8 |
Seht!
Ich zeige euch den l e t z t e n M e n s c h e n .
Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?
so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und
auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist
unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. »Wir
haben das Glück erfunden« sagen die letzten Menschen und blinzeln.
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 13 |
Sie
haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben; denn man braucht Wärme.
Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.
Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher.
Ein Thor, der noch über Steine und Menschen stolpert! Ein wenig Gift ab und
zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen
Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt,
dass die Unterhaltung nicht angreife. Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 13-14 |
Man
wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren
? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und Eine
Heerde! Jeder will das Gleiche. Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht
freiwillig ins Irrenhaus. »Ehemals war alle Welt irre«
sagen die Feinsten und blinzeln. Man ist klug und weiß Alles, was geschehn
ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch; aber man versöhnt
sich bald - sonst verdirbt es den Magen. Man hat sein Lüstchen für den
Tag und sein Lüstchen für die Nacht, aber man ehrt die Gesundheit. »Wir
haben das Glück erfunden« sagen die letzten Menschen und blinzeln.
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 14 |
»Nicht
doch«, sprach Zarathustra, »du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht,
daran ist nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zugrunde: dafür
will ich dich mit meinen Händen begraben.«
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 16 |
Drei
Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, und
zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe. Vieles Schwere
giebt es dem Geiste, dem starken, tragsamen Geiste, dem Ehrfurcht innewohnt: nach
dem Schweren und Schwersten verlangt seine Stärke. Was ist schwer?
so fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder, dem Kameele gleich, und will
gut beladen sein. .... Neue Werthe schaffen - das vermag auch der Löwe noch
nicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen - das vermag die Macht des
Löwen. Freiheit sich schaffen zu neuen Werthen und ein heiliges Nein auch
vor der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf es des Löwen. .... Unschuld
ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes
Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens,
meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: s e i n e n
Willen will nun der Geist, s e i n e Welt
gewinnt sich der Weltverlorene.
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 25-27 |
Der
Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss: und darum sollst du deine Tugenden
lieben denn du wirst an ihnen zugrunde gehn.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 40 |
Dass
Jedermann lesen lernen darf, verdirbt auf die Dauer nicht allein das Schreiben,
sondern auch das Denken.
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 44 |
Einst
war der Geist Gott, dann wurde er zum Menschen und jetzt wird er gar noch Pöbel.
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 44 |
Und
auch ihr, denen das Leben wilde Arbeit und Unruhe ist: seid ihr nicht sehr müde
des Lebens? Seid ihr nicht sehr reif für die Predigt des Todes? Ihr alle,
denen die wilde Arbeit lieb ist und das Schnelle, Neue, Fremde ihr ertragt
euch schlecht, euer Fleiß ist Fluch und Wille, sich selber zu vergessen.
Wenn ihr mehr an das Leben glaubtet, würdet ihr weniger euch dem Augenblicke
hinwerfen. Aber ihr habt zum Warten nicht Inhalt genug in euch und selbst
zur Faulheit nicht!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 52-53 |
Überall
ertönt die Stimme derer, welche den Tod predigen: und die Erde ist voll von
Solchen, welchen der Tod gepredigt werden muss. Oder »das ewige Leben«:
das gilt mir gleich, wofern sie nur schnell dahinfahren!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 53 |
Ihr
sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr
als den langen.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 54 |
Euch
rathe ich nicht zur Arbeit, sondern zum Kampfe. Euch rate ich nicht zum Frieden,
sondern zum Siege. Eure Arbeit sei ein Kampf, euer Friede sei ein Sieg!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55 |
Man
kann nur schweigen und stillsitzen, wenn man Pfeil und Bogen hat: sonst schwätzt
und zankt man. Euer Friede sei ein Sieg!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55 |
Ihr
sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute
Krieg ist es, der jede Sache heiligt.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55 |
Der
Krieg und der Muth haben mehr große Dinge gethan, als die Nächstenliebe.
Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55 |
Euren
höchsten Gedanken aber sollt ihr euch von mir befehlen lassen und
er lautet: der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 56 |
So
lebt euer Leben des Gehorsams und des Krieges! Was liegt am Lang-Leben! Welcher
Krieger will geschont sein!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 56 |
Ich
schone euch nicht, ich liebe euch von Grund aus, meine Brüder im Kriege!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 56 |
Vom
neuen Götzen. Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden,
doch nicht bei uns, meine Brüder: da giebt es Staaten. Staat? Was ist das?
Wohlan! Jetzt thut mir die Ohren auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort vom Tode
der Völker. Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt
es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: »Ich, der Staat,
bin das Volk.« Lüge ist's! Schaffende waren es, die schufen die Völker
und hängten einen Glauben und eine Liebe über sie hin: also dienten
sie dem Leben. Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für Viele und heissen
sie Staat: sie hängen ein Schwert und hundert Begierden über sie hin.
Wo es noch Volk giebt, da versteht es den Staat nicht und hasst ihn als bösen
Blick und Sünde an Sitten und Rechten. Dieses Zeichen gebe ich euch: jedes
Volk spricht seine Zunge des Guten und Bösen: die versteht der Nachbar nicht.
Seine Sprache erfand es sich in Sitten und Rechten. Aber der Staat lügt in
allen Zungen der Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt
und was er auch hat, gestohlen hat er's. Falsch ist Alles an ihm; mit gestohlenen
Zähnen beisst er, der Bissige. Falsch sind selbst seine Eingeweide. Sprachverwirrung
des Guten und Bösen: dieses Zeichen gebe ich euch als Zeichen des Staates.
Wahrlich, den Willen zum Tode deutet dieses Zeichen! Wahrlich, es winkt den Predigern
des Todes! Viel zu Viele werden geboren: für die Überflüssigen
ward der Staat erfunden! Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zu-Vielen!
Wie er sie schlingt und kaut und wiederkäut! »Auf der Erde ist nichts
Grösseres als ich: der ordnende Finger bin ich Gottes« also
brüllt das Unthier. Und nicht nur Langgeohrte und Kurzgeäugte sinken
auf die Kniee! Ach, auch in euch, ihr großen Seelen, raunt er seine düsteren
Lügen! Ach, er erräth die reichen Herzen, die gerne sich verschwenden!
Ja, auch euch erräth er, ihr Besieger des alten Gottes! Müde wurdet
ihr im Kampfe, und nun dient eure Müdigkeit noch dem neuen Götzen! Helden
und Ehrenhafte möchte er um sich aufstellen, der neue Götze! Gerne sonnt
er sich im Sonnenschein guter Gewissen das kalte Unthier! Alles will er
euch geben, wenn ihr ihn anbetet, der neue Götze: also kauft er sich den
Glanz eurer Tugenden und den Blick eurer stolzen Augen. Ködern will er mit
euch die Viel-zu Vielen! Ja, ein Höllenkunststück ward da erfunden,
ein Pferd des Todes, klirrend im Putz göttlicher Ehren! Ja, ein Sterben für
Viele ward da erfunden, das sich selber als Leben preist: wahrlich, ein Herzensdienst
allen Predigern des Todes! Staat nenne ich's, wo alle Gifttrinker sind, Gute und
Schlimme: Staat, wo alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme: Staat, wo der
langsame Selbstmord aller »das Leben« heisst. Seht mir doch
diese Überflüssigen! Sie stehlen sich die Werke der Erfinder und die
Schätze der Weisen: Bildung nennen sie ihren Diebstahl und alles wird
ihnen zu Krankheit und Ungemach! Seht mir doch diese Überflüssigen!
Krank sind sie immer, sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung. Sie verschlingen
einander und können sich nicht einmal verdauen. Seht mir doch diese Überflüssigen!
Reichtümer erwerben sie und werden ärmer damit. Macht wollen sie und
zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld diese Unvermögenden! Seht
sie klettern, diese geschwinden Affen! Sie klettern übereinander hinweg und
zerren sich also in den Schlamm und die Tiefe. Hin zum Throne wollen sie alle:
ihr Wahnsinn ist es als ob das Glück auf dem Throne sässe! Oft
sitzt der Schlamm auf dem Thron - und oft auch der Thron auf dem Schlamme. Wahnsinnige
sind sie mir alle und kletternde Affen und Überheisse. Übel riecht mir
ihr Götze, das kalte Unthier: übel riechen sie mir alle zusammen, diese
Götzendiener. Meine Brüder, wollt ihr denn ersticken im Dunste ihrer
Mäuler und Begierden? Lieber zerbrecht doch die Fenster und springt ins Freie!
Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von der Götzendienerei
der Überflüssigen! Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht
fort von dem Dampfe dieser Menschenopfer! Frei steht großen Seelen auch
jetzt noch die Erde. Leer sind noch viele Sitze für Einsame und Zweisame,
um die der Geruch stiller Meere weht. Frei steht noch großen Seelen ein
freies Leben. Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt
sei die kleine Armut! Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch,
der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Nothwendigen, die
einmalige und unersetzliche Weise. Dort, wo der Staat a u f h ö r t
so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen
und die Brücken des Übermenschen?Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 57-60 |
Wahrlich,
das schlaue Ich, das lieblose, das seinen Nutzen im Nutzen Vieler will: das ist
nicht der Heerde Ursprung, sondern ihr Untergang.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 72 |
Tausend
Ziele gab es bisher, denn tausend Völker gab es. Nur die Fessel der tausend
Nacken fehlt noch, es fehlt das Eine Ziel. Noch hat die Menschheit kein Ziel.
Aber sagt mir doch, meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt,
fehlt da nicht auch sie selber noch?Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 72 |
Ihr
drängt euch um den Nächsten und habt schöne Worte dafür. Aber
ich sage euch: eure Nächstenliebe ist eure schlechte Liebe zu euch selber.
Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selber und möchtet euch daraus
eine Tugend machen: aber ich durchschaue euer »Selbstloses«.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 73 |
Das
Du ist älter als das Ich; das Du ist heilig gesprochen, aber noch nicht das
Ich: so drängt sich der Mensch hin zum Nächsten.
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 73 |
Meine
Brüder, zur Nächstenliebe rathe ich euch nicht: ich rathe euch zur Fernsten-Liebe.
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 75 |
Einsamer,
du gehst den Weg zu dir selber! Und an dir selber führt dein Weg vorbei,
und an deinen sieben Teufeln!
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 78 |
Der
Mann soll zum Kriege erzogen werden und das Weib zur Erholung des Kriegers: alles
Andere ist Thorheit.
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 81 |
Du
gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 82 |
Ich
habe eine Frage für dich allein, mein Bruder: wie ein Senkblei werfe ich
diese Frage in deine Seele, dass ich wisse, wie tief sie sei. Du bist jung und
wünschest dir Kind und Ehe. Aber ich frage dich: bist du ein Mensch, der
ein Kind sich wünschen d a r f ? Bist du
der Siegreiche, der Selbstbezwinger, der Gebieter der Sinne, der Herr deiner Tugenden?
Also frage ich dich. Oder redet aus deinem Wunsche das Thier und die Nothdurft?
Oder Vereinsamung? Oder Unfriede mit dir? Ich will, dass dein Sieg und deine
Freiheit sich nach einem Kinde sehne. Lebendige Denkmale sollst du bauen deinem
Siege und deiner Befreiung. Über dich sollst du hinausbauen. Aber erst mußt
du mir selber gebaut sein, rechtwinklig an Leib und Seele. Nicht nur fort sollst
du dich pflanzen, sondern hinauf! Dazu helfe dir der Garten der Ehe. Einen höheren
Leib sollst du schaffen, eine erste Bewegung, ein aus sich rollendes Rad, - einen
Schaffenden sollst du schaffen. Ehe: so heisse ich den Willen zu Zweien, das Eine
zu schaffen, das mehr ist, als die es schufen.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 86 |
Viele
sterben zu spät, und einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre:
»stirb zur rechten Zeit!« Stirb zur rechten Zeit; also lehrt es Zarathustra.
Freilich, wer nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte der je zur rechten Zeit sterben?
Möchte er doch nie geboren sein! Also rathe ich den Überflüssigen.
Aber auch die Überflüssigen tun noch wichtig mit ihrem Sterben, und
auch die hohlste Nuß will noch geknackt sein. Wichtig nehmen Alle das Sterben:
aber noch ist der Tod kein Fest. Noch erlernten die Menschen nicht, wie man die
schönsten Feste weiht. Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den Lebenden
ein Stachel und ein Gelöbnis wird. Seinen Tod stirbt der Vollbringende, siegreich,
umringt von Hoffenden und Gelobenden. Also sollte man sterben lernen; und es sollte
kein Fest geben, wo ein solcher Sterbender nicht der Lebenden Schwüre weihte!
Also zu sterben ist das Beste; das zweite aber ist: im Kampfe zu sterben und eine
große Seele zu verschwenden. Aber dem Kämpfenden gleich verhasst wie
dem Sieger ist euer grinsender Tod, der heranschleicht wie ein Dieb und
doch als Herr kommt. Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt,
weil i c h will. Und wann werde ich wollen? Wer ein
Ziel hat und einen Erben, der will den Tod zur rechten Zeit für Ziel und
Erben.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 89-90 |
Sagt
mir, meine Brüder: was gilt uns als Schlechtes und Schlechtestes? Ist es
nicht E n t a r t u n g ?
Und auf Entartung rathen wir immer, wo die schenkende Seele fehlt.
Aufwärts geht unser Weg, von der Art hinüber zur Über-Art. Aber
ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: »Alles für
mich.«Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 94 |
Arzt,
hilf dir selber: so hilfst du auch deinem Kranken noch. Das sei seine beste Hilfe,
dass er den mit Augen sehe, der sich selber heil macht.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 96 |
Ihr
Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch,
die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen
und aus ihm der Übermensch.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 96-97 |
Der
Mensch der Erkenntnis muss nicht nur seine Feinde lieben, sondern auch seine Freunde
hassen können. Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der
Schüler bleibt. Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen? Ihr verehrt
mich; aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch,
daß euch nicht eine Bildsäule erschlage! Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra?
Aber was liegt an Zarathustra? Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an
allen Gläubigen! Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich.
So tun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben. Nun heiße
ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet
habt, will ich euch wiederkehren. Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder,
werde ich mir dann meine Verlorenen suchen; mit einer andern Liebe werde ich euch
dann lieben. Und einst noch sollt ihr mir Freunde geworden sein und Kinder einer
Hoffnung: dann will ich zum dritten Male bei euch sein, daß ich den großen
Mittag mit euch feiere. Und das ist der große Mittag, da der Mensch auf
der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg
zum Abende als seine höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem
neuen Morgen. Alsda wird sich der Untergehende selber segnen, daß er ein
Hinübergehender sei; und die Sonne seiner Erkenntnis wird ihm im Mittage
stehn.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 97-98 |
» T o d t
s i n d a l l e G ö t t e r :
n u n w o l l e n w i r ,
d a s s d e r Ü b e r m e n s c h
l e b e . « diess
sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 98 |
Könntet
ihr einen Gott s c h a f f e n ?
So schweigt mir doch von allen Göttern! Wohl aber könntet
ihr den Übermenschen schaffen. Nicht ihr vielleicht selber, meine Brüder!
Aber zu Vätern und Vorfahren könntet ihr euch umschaffen des Übermenschen:
und Diess sei euer bestes Schaffen!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 105 |
Ach,
wo in der Welt geschahen grössere Thorheiten, als bei den Mitleidigen? Und
was in der Welt stiftete mehr Leid als die Thorheiten der Mitleidigen? Wehe allen
Liebenden, die nicht noch eine Höhe haben, welche über ihrem Mitleiden
ist! Also sprach der Teufel einst zu mir: »auch Gott hat seine Hölle:
das ist seine Liebe zu den Menschen.« Und jüngst hörte ich ihn
dies Wort sagen: »Gott ist todt; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist
Gott gestorben.« Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 111 |
Und
noch von Grösseren, als alle Erlöser waren, müsst ihr, meine Brüder,
erlöst werden, wollt ihr zur Freiheit den Weg finden! Niemals noch gab es
einen Übermenschen. Nackt sah ich Beide, den grössten und den kleinsten
Menschen: - Allzuähnlich sind sie noch einander. Wahrlich, auch den Grössten
fand ich - allzumenschlich!
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 115 |
Von
den Taranteln. Siehe, das ist der Tarantel Höhle! Willst du sie
selber sehn? Hier hängt ihr Netz: rühre daran, dass es erzittert. Da
kommt sie willig: willkommen, Tarantel! Schwarz sitzt auf deinem Rücken dein
Dreieck und Wahrzeichen; und ich weiss auch, was in deiner Seele sitzt. Rache
sitzt in deiner Seele: wohin du beissest, da wächst schwarzer Schorf; mit
Rache macht dein Gift die Seele drehend! Also rede ich zu euch im Gleichnis, die
ihr die Seelen drehend macht, ihr Prediger der G l e i c h h e i t !
Taranteln seid ihr mir und versteckte Rachsüchtige! Aber ich will eure Verstecke
schon ans Licht bringen: darum lache ich euch ins Antlitz mein Gelächter
der Höhe. Darum reisse ich an eurem Netze, dass eure Wut euch aus eurer Lügen-Höhle
locke, und eure Rache hervorspringe hinter eurem Wort »Gerechtigkeit«.
Denn d a s s d e r M e n s c h
e r l ö s t w e r d e
v o n d e r R a c h e :
das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach
langen Unwettern. Aber anders wollen es freilich die Taranteln. »Das gerade
heisse uns Gerechtigkeit, dass die Welt voll werde von den Unwettern unsrer Rache«
also reden sie mit einander. »Rache wollen wir üben und Beschimpfung
an Allen, die uns nicht gleich sind« so geloben sich die Tarantel-Herzen.
»Und Wille zur Gleichheit das selber soll fürderhin
der Name für Tugend werden; und gegen Alles, was Macht hat, wollen wir unser
Geschrei erheben!« Ihr Prediger der Gleichheit, der Tyrannen-Wahnsinn der
Ohnmacht schreit also aus euch nach »Gleichheit«: eure heimlichsten
Tyrannen-Gelüste vermummen sich also in Tugend-Worte! Vergrämter Dünkel,
verhaltener Neid, vielleicht eurer Väter Dünkel und Neid: aus euch bricht's
als Flamme heraus und Wahnsinn der Rache. Was der Vater schwieg, das kommt im
Sohne zum Reden; und oft fand ich den Sohn als des Vaters entblösstes Geheimnis.
Den Begeisterten gleichen sie: aber nicht das Herz ist es, was sie begeistert
sondern die Rache. Und wenn sie fein und kalt werden, ist's nicht der Geist,
sondern der Neid, der sie fein und kalt macht. Ihre Eifersucht führt sie
auch auf der Denker Pfade; und diess ist das Merkmal ihrer Eifersucht immer
gehn sie zu weit: dass ihre Müdigkeit sich zuletzt noch auf Schnee schlafen
legen muss. Aus jeder ihrer Klagen tönt Rache, in jedem ihrer Lobsprüche
ist ein Wehetun; und Richter-sein scheint ihnen Seligkeit. Also aber rate ich
euch, meine Freunde: misstraut Allen, in welchen der Trieb, zu strafen, mächtig
ist! Das ist Volk schlechter Art und Abkunft; aus ihren Gesichtern blickt der
Henker und der Spürhund. Misstraut Allen denen, die viel von ihrer Gerechtigkeit
reden! Wahrlich, ihren Seelen fehlt es nicht nur an Honig. Und wenn sie sich selber
»die Guten und Gerechten« nennen, so vergeßt nicht, dass ihnen
zum Pharisäer nichts fehlt als Macht! Meine Freunde, ich will nicht
vermischt und verwechselt werden. Es giebt Solche, die predigen meine Lehre vom
Leben: und zugleich sind sie Prediger der Gleichheit und Taranteln. Dass sie dem
Leben zu Willen reden, ob sie gleich in ihrer Höhle sitzen, diese Gift-Spinnen,
und abgekehrt vom Leben: das macht, sie wollen damit wehetun. Solchen wollen sie
damit wehetun, die jetzt die Macht haben: denn bei diesen ist noch die Predigt
vom Tode am besten zu Hause. Wäre es anders, so würden die Taranteln
anders lehren: und gerade sie waren ehemals die besten Welt-Verleumder und Ketzer-Brenner.
Mit diesen Predigern der Gleichheit will ich nicht vermischt und verwechselt sein.
Denn so redet mir die Gerechtigkeit: »die Menschen sind nicht gleich«.
Und sie sollen es auch nicht werden! Was wäre denn meine Liebe zum Übermenschen,
wenn ich anders spräche? Auf tausend Brücken und Stegen sollen sie sich
drängen zur Zukunft, und immer mehr Krieg und Ungleichheit soll zwischen
sie gesetzt sein: so lässt mich meine große Liebe reden! Erfinder von
Bildern und Gespenstern sollen sie werden in ihren Feindschaften, und mit ihren
Bildern und Gespenstern sollen sie noch gegeneinander den höchsten Kampf
kämpfen! Gut und Böse, und Reich und Arm, und Hoch und Gering, und Alle
Namen der Werthe: Waffen sollen es sein und klirrende Merkmale davon, dass das
Leben sich immer wieder selber überwinden muss! In die Höhe will es
sich bauen mit Pfeilern und Stufen, das Leben selber: in weite Fernen will es
blicken und hinaus nach seligen Schönheiten d a r u m
braucht es Höhe! Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen und Widerspruch
der Stufen und Steigenden! Steigen will das Leben und steigend sich überwinden.
Und seht mir doch, meine Freunde! Hier, wo der Tarantel Höhle ist, heben
sich eines alten Tempels Trümmer aufwärts seht mir doch mit erleuchteten
Augen hin! Wahrlich, wer hier einst seine Gedanken in Stein nach Oben thürmte,
um das Geheimnis Alles Lebens wusste er gleich dem Weisesten! Dass Kampf und Ungleiches
auch noch in der Schönheit sei, und Krieg um Macht und Übermacht: das
lehrt er uns hier im deutlichsten Gleichnis. Wie sich göttlich hier Gewölbe
und Bogen brechen, im Ringkampfe: wie mit Licht und Schatten sie wider einander
streben, die göttlich-Strebenden Also sicher und schön lasst
uns auch Feinde sein, meine Freunde! Göttlich wollen wir w i d e r
einander streben! Wehe! Da biss mich selber die Tarantel, meine alte Feindin!
Göttlich sicher und schön biss sie mich in den Finger! »Strafe
muss sein und Gerechtigkeit« so denkt sie: »nicht umsonst soll
er hier der Feindschaft zu Ehren Lieder singen!« Ja, sie hat sich gerächt!
Und wehe! nun wird sie mit Rache auch noch meine Seele drehend machen! Dass ich
mich aber nicht drehe, meine Freunde, bindet mich fest hier an diese Säule!
Lieber noch Säulen-Heiliger will ich sein, als Wirbel der Rachsucht! Wahrlich,
kein Dreh- und Wirbelwind ist Zarathustra; und wenn er ein Tänzer ist, nimmermehr
doch ein Tarantel-Tänzer!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 124-127 |
Wo
ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden
fand ich den Willen, Herr zu sein. Dass dem Stärkeren diene das Schwächere,
dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein
will: dieser Lust allein mag es nicht entraten. Und wie das Kleinere sich dem
Größeren hingiebt, dass es Lust und Macht am Kleinsten habe: also giebt
sich auch das Grösste noch hin und setzt um der Macht willen das Leben
dran. Das ist die Hingebung des Grössten, dass es Wagnis ist und Gefahr,
und um den Tod ein Würfelspielen.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 143-144 |
Und
wo Opferung und Dienste und Liebesblicke sind: auch da ist Wille, Herr zu sein.
Auf Schleichwegen schleicht sich da der Schwächere in die Burg und bis ins
Herz dem Mächtigeren und stiehlt da Macht. Und diess Geheimnis redete
das Leben selber zu mir: »Siehe«, sprach es, »ich bin das, w a s
s i c h i m m e r s e l b e r
ü b e r w i n d e n
m u s s . Freilich, ihr heisst es Wille zur Zeugung
oder Trieb zum Zwecke, zum Höheren, Ferneren, Vielfacheren: aber all diess
ist Eins und Ein Geheimnis. Lieber noch gehe ich unter, als dass ich diesem Einen
absagte; und wahrlich, wo es Untergang giebt und Blätterfallen, siehe, da
opfert sich Leben um Macht! Dass ich Kampf sein muss und Werden und Zweck
und der Zwecke Widerspruch: ach, wer meinen Willen erräth, erräth wohl
auch, auf welchen k r u m m e n Wegen
er gehen muss! Was ich auch schaffe und wie ich's auch liebe, bald muss
ich Gegner ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 144 |
Und
auch du, Erkennender, bist nur ein Pfad und Fußtapfen meines Willens: wahrlich,
mein Wille zur Macht wandelt auch auf den Füßen deines Willens zur
Wahrheit! Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoss vom
»Willen zum Dasein«: diesen Willen giebt es nicht! Denn: was
nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das
noch zum Dasein wollen!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 144-145 |
Nur,
wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern so
lehre ich's dich Wille zur Macht!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 145 |
Also
lehrte mich einst das Leben: und daraus löse ich euch, ihr Weisesten, noch
das Räthsel eures Herzens. Wahrlich, ich sage euch: Gutes und Böses,
das unvergänglich wäre das gibt es nicht! Aus sich selber muss
es sich immer wieder überwinden.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 145 |
»Und
das heisse mir aller Dinge u n b e f l e c k t e
Erkenntnis, dass ich von den Dingen Nichts will: ausser dass ich vor ihnen da
liegen darf wie ein Spiegel mit hundert Augen.«
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 153 |
Wo
ist Unschuld? Wo der Wille zur Zeugung ist. Und wer über sich hinaus
schaffen will, der hat mir den reinsten Willen. Wo ist die Schönheit ?
Wo ich mit allem Willen wollen muss; wo ich lieben und untergehn will, dass ein
Bild nicht nur Bild bleibe. Lieben und Untergehn: das reimt sich seit Ewigkeiten.
Wille zur Liebe: das ist, willig auch sein zum Tode. Also rede ich zu euch Feiglingen!
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 153 |
Wahrlich,
der Sonne gleich liebe ich das Leben und alle tiefen Meere. Und diess heisst m i r
Erkenntnis: alles Tiefe soll hinauf zu meiner Höhe!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 155 |
Denn
die Menschen sind n i c h t gleich: so spricht
die Gerechtigkeit.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 158 |
»Seit
ich den Leib besser kenne«, sagte Zarathustra zu einem seiner Jünger
»ist mir der Geist nur noch gleichsam Geist; und alles das Unvergängliche
das ist auch nur ein Gleichnis.«Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 159 |
Die
Erde ... hat eine Haut; und diese Haut hat Krankheiten. Eine dieser Krankheiten
heisst zum Beispiel: »Mensch«.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 164 |
Lasst
euch nur umstürzen! Dass ihr wieder zum Leben kommt, und zu euch die
Tugend!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 165 |
Also
redete ich vor dem Feuerhunde: da unterbrach er mich mürrisch und fragte:
»Kirche? Was ist denn das?« »Kirche?« antwortete ich,
»das ist eine Art von Staat, und zwar die verlogenste. Doch schweig still,
du Heuchelhund! Du kennst deine Art wohl am besten schon! Gleich dir selber ist
der Staat ein Heuchelhund; gleich dir redet er gern mit Rauch und Gebrülle
dass er glauben mache, gleich dir, er rede aus dem Bauch der Dinge. Denn
er will durchaus das wichtigste Thier auf Erden sein, der Staat; und man glaubt's
ihm auch.« Als ich das gesagt hatte, gebärdete sich der Feuerhund
wie unsinnig vor Neid. »Wie?« schrie er, »das wichtigste Thier
auf Erden? Und man glaubt's ihm auch?« Und so viel Dampf und grässliche
Stimmen kamen ihm aus dem Schlunde, dass ich meinte, er werde vor Ärger und
Neid ersticken.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 165-166 |
Ihr
höchsten Menschen, denen mein Auge begegnete! das ist mein Zweifel an euch
und mein heimliches Lachen: ich rathe, ihr würdet meinen Übermenschen
Teufel heissen!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 181-182 |
Da
sprach es wieder ohne Stimme zu mir: »Was liegt an ihrem Spotte! Du bist
Einer, der das Gehorchen verlernt hat: nun sollst du befehlen! Weisst du nicht,
wer allen am nöthigsten tut? Der Grosses befiehlt. Grosses vollführen
ist schwer: aber das Schwerere ist, Grosses befehlen.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 185 |
Gelobt
sei, was hart macht! Ich lobe das Land nicht, wo Butter und Honig fliesst!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 190 |
Mitleiden
... ist der tiefste Abgrund: so tief der Mensch in das Leben sieht, so tief sieht
er auch in das Leiden.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 195 |
»Alles
Gerade lügt«, murmelte verächtlich der Zwerg. »Alle Wahrheit
ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.«Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 196 |
Muss
nicht, was laufen k a n n von allen Dingen, schon einmal
diese Gasse gelaufen sein? Muß nicht, was geschehn k a n n
von allen Dingen, schon einmal geschehn, gethan, vorübergelaufen sein? Und
wenn Alles schon dagewesen ist: was hältst du Zwerg von diesem Augenblick?
Muß auch dieser Torweg nicht schon dagewesen sein?Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 196 |
Wahrlich,
ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: »über allen
Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr,
der Himmel Übermuth.«
. Diesen Übermuth und diese Narrheit
stellte ich an die Stelle jenes Willens, als ich lehrte: »bei Allem ist
Eins unmöglich - Vernünftigkeit!« Ein wenig Vernunft zwar, ein
Same der Weisheit zerstreut von Stern zu Stern, - dieser Sauerteig ist allen Dingen
eingemischt: um der Narrheit willen ist Weisheit allen Dingen eingemischt! Ein
wenig Weisheit ist schon möglich, aber diese selige Sicherheit fand ich an
allen Dingen: dass sie lieber noch auf den Füssen des Zufalls - tanzen.
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 205 |
Ich
gehe durch dies Volk und halte die Augen offen: sie sind k l e i n e r
geworden und werden immer kleiner d a s a b e r
m a c h t i h r e L e h r e
v o n G l ü c k u n d
T u g e n d . Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 209 |
Fuss
und Augen sollen nicht lügen, noch sich einander Lügen strafen. Aber
es ist viel Lügnerei bei den kleinen Leuten. Einige von ihnen wollen, aber
die Meisten werden nur gewollt. Einige von ihnen sind ächt, aber die Meisten
sind schlechte Schauspieler. Es gibt Schauspieler wider Wissen unter ihnen und
Schauspieler wider Willen , die Ächten sind immer selten, sonderlich
die ächten Schauspieler.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 209- |
Des
Mannes ist hier wenig: darum vermännlichen sich ihre Weiber. Denn nur wer
Mannes genug ist, wird im Weibe d a s W e i b
e r l ö s e n . Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 209-210 |
Und
diese Heuchelei fand ich unter ihnen am schlimmsten: dass auch Die, welche befehlen,
die Tugenden Derer heucheln, welche dienen.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 210 |
Soviel
Güte, soviel Schwäche sehe ich. Soviel Gerechtigkeit und Mitleiden,
soviel Schwäche.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 210 |
Tugend
ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: damit machten sie den Wolf zum Hunde
und den Menschen selber zu des Menschen bestem Hausttiere.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 210 |
Ach,
dass ihr mein Wort verstündet: »thut immerhin, was ihr wollt
aber seid erst solche, die w o l l e n k ö n n e n ! «
»Liebt immerhin euren Nächsten gleich euch, aber seid mir erst
Solche, die s i c h s e l b e r
l i e b e n mit der grossen Liebe lieben,
mit der grossen Verachtung lieben!« Also spricht Zarathustra, der Gottlose.
Doch was rede ich, wo niemand m e i n e
Ohren hat! Es ist hier noch eine Stunde zu früh für mich. Mein eigner
Vorläufer bin ich unter diesem Volke, mein eigner Hahnen-Ruf durch dunkle
Gassen. Aber i h r e Stunde kommt! Und es kommt auch
die meine! Stündlich werden sie kleiner, ärmer, unfruchtbarer
armes Kraut! armes Erdreich! Und b a l d sollen sie
mir dastehn wie dürres Gras und Steppe, und wahrlich! ihrer selber müde
und mehr, als nach Wasser, nach F e u e r
lechzend! Oh gesegnete Stunde des Blitzes! Oh Geheimnis vor Mittag! Laufende
Feuer will ich einst noch aus ihnen machen und Verkünder mit Flammen-Zungen:
verkünden sollen sie einst noch mit Flammen-Zungen: Er kommt, er ist
nahe, d e r g r o s s e
M i t t a g ! Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 212-213 |
Der
Rest: das sind immer die Allermeisten, der Alltag, der Überfluß, die
Viel-zu-Vielen diese alle sind feige!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 223 |
Wer
Alles bei den Menschen begreifen wollte, der müsste Alles angreifen.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 229 |
Sonderlich
Die, welche sich »die Guten« heissen, fand ich als die giftigsten
Fliegen: sie stechen in aller Unschuld, sie lügen in aller Unschuld; wie
v e r m ö c h t e n
sie gegen mich gerecht zu sein! Wer unter den Guten lebt, den lehrt Mitleid
lügen. Mitleid macht dumpfe Luft allen freien Seelen. Die Dummheit der Guten
nämlich ist unergründlich. Mich selber verbergen und meinen Reichtum
das lernte ich da unten: denn jeden fand ich noch arm am Geiste. Das war
der Lug meines Mitleidens, dass ich bei Jedem wusste, daß ich Jedem
es ansah und anroch, was ihm Geistes g e n u g
und was ihm schon Geistes z u v i e l war!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 230 |
Wer
da segnen lehrte, der lehrte auch fluchen: welches sind in der Welt die drei bestverfluchten
Dinge? Diese will ich auf die Wage tun. W o l l u s t ,
H e r r s c h s u c h t ,
S e l b s t s u c h t :
diese drei wurden bisher am besten verflucht und am schlimmsten beleu- und belügenmundet
diese drei will ich menschlich gut abwägen.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 232 |
Widriger
aber sind mir noch alle Speichellecker; und das widrigste Thier von Mensch, das
ich fand, das taufte ich Schmarotzer: das wollte nicht lieben und doch von Liebe
leben.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 240 |
Das
Vergangne am Menschen zu erlösen und alles »Es war« umzuschaffen,
bis der Wille spricht: »Aber so wollte ich es! So werde ich's wollen «
Dies hiess ich ihnen Erlösung, Dies allein lehrte ich sie Erlösung
heissen. Nun warte ich m e i n e r
Erlösung , dass ich zum letzten Male zu ihnen gehe. Denn noch Ein Mal
will ich zu den Menschen: u n t e r ihnen will
ich untergehen, sterbend will ich ihnen meine reichste Gabe geben! Der Sonne lernte
ich das ab, wenn sie hinabgeht, die Überreiche: Gold schüttet sie da
ins Meer aus unerschöpflichem Reichthume, also, dass der ärmste
Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! Dies nämlich sah ich einst und wurde
der Thränen nicht satt im Zuschauen Der Sonne gleich will auch Zarathustra
untergehn: nun sitzt er hier und wartet, alte zerbrochene Tafeln um sich und auch
neue Tafeln halbbeschriebene. Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 245 |
Siehe,
hier ist eine neue Tafel: aber wo sind meine Brüder, die sie mit mir zu Thale
und in fleischerne Herzen tragen? Also heischt es meine große Liebe
zu den Fernsten: s c h o n e d e i n e n
N ä c h s t e n n i c h t !
Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss. Es gibt vielerlei Weg und
Weise der Überwindung: da siehe d u zu! Aber nur ein Possenreisser
denkt: »der Mensch kann auch ü b e r s p r u n g e n
werden.« Überwinde dich selber noch in deinem Nächsten: und ein
Recht, das du dir rauben kannst, sollst du dir nicht geben lassen! Was du thust,
das kann dir keiner wieder thun. Siehe, es giebt keine Vergeltung. Wer sich nicht
befehlen kann, der soll gehorchen. Und Mancher k a n n
sich befehlen, aber da fehlt noch viel, dass er sich auch gehorche!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 245-246 |
Also
will es die Art edler Seelen: sie wollen Nichts u m s o n s t
haben, am wenigsten das Leben. Wer vom Pöbel ist, der will umsonst leben;
wir Anderen aber, denen das Leben sich gab wir sinnen immer darüber,
w a s wir am besten d a g e g e n
geben! Und wahrlich, dies ist eine vornehme Rede, welche spricht: »Was u n s
das Leben verspricht, das wollen w i r dem Leben
halten!« Man soll nicht geniessen wollen, wo man nicht zu geniessen giebt.
Und man soll nicht geniessen w o l l e n !
Genuss und Unschuld nämlich sind die schamhaftesten Dinge: Beide wollen nicht
gesucht sein. Man soll sie h a b e n , aber
man soll eher noch nach Schuld und Schmerzen s u c h e n ! Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 246 |
Gute
Menschen reden nie die Wahrheit ....Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 247 |
N e b e n
dem bösen Gewissen wuchs bisher alles W i s s e n !
Zerbrecht, zerbrecht mir, ihr Erkennenden, die alten Tafeln!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 247 |
Oh
meine Brüder, zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 249 |
Denn
es könnte einmal kommen, dass der Pöbel Herr würde, und in seichten
Gewässern alle Zeit ertränke. Darum, oh meine Brüder, bedarf es
eines n e u e n A d e l s ,
der allem Pöbel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue
Tafeln neu das Wort schreibt »edel«. Vieler Edlen nämlich bedarf
es und vielerlei Edlen, d a s s e s
A d e l g e b e ! Oder,
wie ich einst im Gleichnis sprach: »Das eben ist Göttlichkeit, dass
es Götter, aber keinen Gott giebt!«Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 250 |
Wo
der schlimmste aller Bäume wuchs, das Kreuz, an dem Lande ist Nichts
zu loben!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 251 |
Oh
meine Brüder, nicht zurück soll euer Adel schauen, sondern h i n a u s !
Vertriebene sollt ihr sein aus allen Vater- und Urväterländern! Eurer
K i n d e r L a n d
sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel das unentdeckte, im fernsten
Meere! Nach ihm heisse ich eure Segel suchen und suchen! An euren Kindern sollt
ihr g u t m a c h e n ,
dass ihr eurer Väter Kinder seid: Alles Vergangene sollt ihr so erlösen!
Diese neue Tafel stelle ich über euch!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 251 |
Zerbrecht,
zerbrecht mir die alten Tafeln der Nimmer-Frohen!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 252 |
Der
Beste ist noch Etwas, das überwunden werden muss!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 253 |
Zerbrecht,
zerbrecht mir, oh meine Brüder, diese alten Tafeln der Frommen! Zersprecht
mir die Sprüche der Welt-Verleumder!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 253 |
Und
so ist es immer schwacher Menschen Art: sie verlieren sich auf ihren Wegen. Und
zuletzt fragt noch ihre Müdigkeit: »wozu gingen wir jemals Wege! Es
ist alles gleich!« D e n e n klingt es lieblich
zu Ohren, dass gepredigt wird: »Es verlohnt sich nichts! Ihr sollt nicht
wollen!« Dies aber ist eine Predigt zur Knechtschaft.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 254 |
Wollen
befreit: denn Wollen ist Schaffen: so lehre ich. Und n u r
zum Schaffen sollt ihr lernen! Und auch das Lernen sollt ihr erst von mir l e r n e n ,
das Gut-Lernen!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 254 |
Ich
schließe Kreise um mich und heilige Grenzen; immer Wenigere steigen mit
mir auf immer höhere Berge: ich baue ein Gebirge aus immer heiligeren Bergen.
Wohin ihr aber auch mit mir steigen mögt, oh meine Brüder: seht
zu, daß nicht ein S c h m a r o t z e r
mit euch steige! Schmarotzer: das ist ein Gewürm, ein kriechendes, geschmiegtes,
das fett werden will an euren kranken wunden Winkeln. Und d a s
ist seine Kunst, dass ersteigende Seelen errät, wo sie müde sind: in
euren Gram und Unmut, in eure zarte Scham baut er sein ekles Nest. Wo der Starke
schwach, der Edle allzumild ist dahinein baut er sein ekles Nest: der Schmarotzer
wohnt, wo der Große kleine wunde Winkel hat. Was ist die höchste Art
alles Seienden und was die geringste? Der Schmarotzer ist die geringste Art; wer
aber höchster Art ist, der ernährt die meisten Schmarotzer. Die Seele
nämlich, welche die längste Leiter hat und am tiefsten hinunter kann:
wie sollten nicht an der die meisten Schmarotzer sitzen? die umfänglichste
Seele, welche am weitesten in sich laufen und irren und schweifen kann; die nothwendigste,
welche sich aus Lust in den Zufall stürzt: die seiende Seele, welche
ins Werden taucht; die habende, welche ins Wollen und Verlangen w i l l :
die sich selber fliehende, die sich selber im weitesten Kreise einholt;
die weiseste Seele, welcher die Narrheit am süssesten zuredet: die
sich selber liebendste, in der alle Dinge ihr Strömen und Widerströmen
und Ebbe und Flut haben: o hwie sollte d i e h ö c h s t e
S e e l e nicht die schlimmsten Schmarotzer haben?Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 256-257 |
Oh
meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll
man auch noch stossen! Das Alles von heute das fällt, das verfällt:
wer wollte es halten! Aber ich ich w i l l es
noch stoßen!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 257-258 |
Ihr
sollt nur Feinde haben, die zu hassen sind, aber nicht Feinde zum Verachten: ihr
müsst stolz auf euren Feind sein: also lehrte ich schon Ein Mal.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 258 |
Der
Mensch nämlich ist das beste Raubthier. Allen Thieren hat der Mensch schon
ihre Tugenden abgeraubt: das macht, von allen Thieren hat es der Mensch am schwersten
gehabt. Nur noch die Vögel sind über ihm. Und wenn der Mensch noch fliegen
lernte, wehe! w o h i n a u f
würde seine Raublust fliegen!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 259 |
So
will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den einen, gebärtüchtig das
andre, beide aber tanztüchtig mit Kopf und Beinen. Und verloren sei uns der
Tag, wo nicht einmal getanzt wurde! Und falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der
es nicht ein Gelächter gab!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 260 |
Nicht
nur fort euch zu pflanzen, sondern h i n a u f
dazu, oh meine Brüder, helfe euch der Garten der Ehe!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 260 |
Im
Erdbeben alter Völker brechen neue Quellen aus.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 261 |
Die
Menschen-Gesellschaft: die ist ein Versuch, so lehre ich's ein langes Suchen:
sie sucht aber den Befehlenden! ein Versuch, oh meine Brüder! Und
k e i n »Vertrag«! Zerbrecht, zerbrecht
mir solch Wort der Weich-Herzen und Halb- und Halben!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 261 |
Oh
meine Brüder! Bei welchen liegt doch die grösste Gefahr aller Menschen-Zukunft?
Ist es nicht bei den Guten und Gerechten? Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 261 |
Und
was für Schaden auch die Bösen thun mögen: der Schaden der Guten
ist der schädlichste Schaden! Und was für Schaden auch die Welt-Verleumder
thun mögen: der Schaden der Guten ist der schädlichste Schaden. Oh meine
Brüder, den Guten und Gerechten sah einer einmal ins Herz, der da sprach:
»es sind die Pharisäer«. Aber man verstand ihn nicht. Die Guten
und Gerechten selber durften ihn nicht verstehen: ihr Geist ist eingefangen in
ihr gutes Gewissen. Die Dummheit der Guten ist unergründlich klug. Das aber
ist die Wahrheit: die Guten m ü s s e n
Pharisäer sein sie haben keine Wahl! Die Guten m ü s s e n
den kreuzigen, der sich seine eigne Tugend erfindet! Das i s t
die Wahrheit! Der zweite aber, der ihr Land entdeckte, Land, Herz und Erdreich
der Guten und Gerechten: das war, der da fragte: »wen hassen sie am meisten?«
Den S c h a f f e n d e n
hassen sie am meisten: den, der Tafeln bricht und alte Werte, den Brecher
den heissden sie Verbrecher. Die Guten nämlich die k ö n n e n
nicht schaffen: die sind immer der Anfang vom Ende: sie kreuzigen den,
der neue Werte auf neue Tafeln schreibt, sie opfern sich die Zukunft sie
kreuzigen alle Menschen-Zukunft! Die Guten die waren immer der Anfang vom
Ende.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 262 |
Und
was ich einst sagte vom »letzten Menschen«? Bei welchen liegt
die grösste Gefahr aller Menschen-Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und
Gerechten? Z e r b r e c h t ,
z e r b r e c h t m i r
d i e G u t e n u n d
G e r e c h t e n ! Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 263 |
Ihr
flieht von mir? Ihr seid erschreckt? Ihr zittert vor diesem Worte? Oh meine Brüder,
als ich euch die Guten zerbrechen hiessund die Tafeln der Guten: da erst schiffte
ich den Menschen ein auf seine hohe See. Und nun erst kommt ihm der große
Schrecken, das grosse Umsich-sehn, die grosse Krankheit, der grosse Ekel, die
grosse See-Krankheit. Falsche Küsten und falsche Sicherheiten lehrten euch
die Guten; in Lügen der Guten wart ihr geboren und geborgen. Alles ist in
den Grund hinein verlogen und verbogen durch die Guten. Aber wer das Land »Mensch«
entdeckte, entdeckte auch das Land »Menschen-Zukunft«. Nun sollt ihr
mir Seefahrer sein, wackere, geduldsame! Aufrecht geht mir beizeiten, oh meine
Brüder, lernt aufrecht gehn! Das Meer stürmt: Viele wollen an euch sich
wieder aufrichten. Das Meer stürmt: alles ist im Meere. Wohlan! Wohlauf!
Ihr alten Seemanns-Herzen! Was Vaterland! D o r t h i n
will unser Steuer, wo unser K i n d e r - L a n d
ist! Dorthinaus, stürmischer als das Meer, stürmt unsre grosse Sehnsucht!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 263-264 |
»Warum
so hart!« sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle; »sind
wir denn nicht Nah-Verwandte?« Warum so weich? Oh meine Brüder,
also frage ich euch: seid ihr denn nicht meine Brüder? Warum so weich,
so weichend und nachgebend? Warum ist so viel Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen?
So wenig Schicksal in eurem Blicke? Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche:
wie könntet ihr mit mir siegen? Und wenn eure Härte nicht blitzen
und scheiden und zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir
schaffen? Die Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muss es euch dünken,
eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, Seligkeit, auf
dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, härter als
Erz, edler als Erz. Ganz hart ist allein das Edelste. Diese neue Tafel, oh meine
Brüder, stelle ich über euch: w e r d e t
h a r t ! Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 264 |
Oh
du mein Wille! Du Wende aller Not, du m e i n e
Nothwendigkeit! Bewahre mich vor allen kleinen Siegen! Du Schickung meiner Seele,
die ich Schicksal heisse! Du In-mir! Über-mir! Bewahre und spare mich auf
zu einem großen Schicksale! Und deine letzte Grösse, mein Wille, spare
dir für dein Letztes auf daß du unerbittlich bist in deinem
Siege! Ach, wer unterlag nicht seinem Siege! Ach, wessen Auge dunkelte nicht in
dieser trunkenen Dämmerung! Ach, wessen Fuß taumelte nicht und verlernte
im Siege stehen! Dass ich einst bereit und reif sei im großen
Mittage: bereit und reif gleich glühendem Erze, blitzschwangrer Wolke und
schwellendem Milch-Euter: bereit zu mir selber und zu meinem verborgensten
Willen: ein Bogen brünstig nach seinem Pfeile, ein Pfeil brünstig nach
seinem Sterne: ein Stern, bereit und reif in seinem Mittage, glühend,
durchbohrt, selig vor vernichtenden Sonnen-Pfeilen: eine Sonne selber und
ein unerbittlicher Sonnen-Wille, zum Vernichten bereit im Siegen! Oh Wille, Wende
aller Not, du m e i n e Nothwendigkeit! Spare
mich auf zu einem grossen Siege!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 264-265 |
Es
ist eine schöne Narrethei, das Sprechen: damit tanzt der Mensch über
alle Dinge.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 268 |
Wie
lieblich ist alles Reden und alle Lüge der Töne! Mit Tönen tanzt
unsre Liebe auf bunten Regenbögen. Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 268 |
Alles
geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles
blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles
wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet,
Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem
Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall.
Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 268-269 |
Oh
ihr Schalks-Narren und Drehorgeln! antwortete Zarathustra und lächelte wieder,
wie gut wißt ihr, was sich in sieben Tagen erfüllen musste: ....Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 269 |
U n d
i h r s c h a u t e t
d e m A l l e n z u ?
Oh meine Thiere, seid auch ihr grausam? Habt ihr meinem grossen Schmerze zuschaun
wollen, wie Menschen thun? Der Mensch nämlich ist das grausamste Thier.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 270 |
Der
Mensch ist gegen sich selber das grausamste Thier; und bei Allem, was sich »Sünder«
und »Kreuzträger« und »Büsser« heisst, überhört
mir die Wollust nicht, die in diesem Klagen und Anklagen ist!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 269 |
Und
ich selber will ich damit des Menschen Ankläger sein? Ach, meine Thiere,
Das allein lernte ich bisher, dass dem Menschen sein Bösestes nöthig
ist zu seinem Besten, dass alles Böseste seine beste Kraft ist und
der härteste Stein dem höchsten Schaffenden; und dass der Mensch besser
u n d böser werden muß: Nicht an d i e s
Marterholz war ich geheftet, dass ich weiß: der Mensch ist böse
sondern ich schrie, wie noch niemand geschrien hat: »Ach, dass sein Bösestes
so gar klein ist! Ach, dass sein Bestes so gar klein ist!« Der grosse Überdruss
am Menschen d e r würgte mich und war mir in
den Schlund gekrochen: und was der Wahrsager wahrsagte: »Alles ist gleich,
es lohnt sich nichts, Wissen würgt.« Eine lange Dämmerung hinkte
vor mir her, eine todesmüde, todestrunkene Traurigkeit, welche mit gähnendem
Munde redete. »Ewig kehrt er wieder, der Mensch, dess du müde bist,
der kleine Mensch« so gähnte meine Traurigkeit und schleppte
den Fuss und konnte nicht einschlafen. Zur Höhle wandelte sich mir die Menschen-Erde,
ihre Brust sank hinein, alles Lebendige ward mir Menschen-Moder und Knochen und
morsche Vergangenheit. Mein Seufzen sass auf allen Menschen-Gräbern und konnte
nicht mehr aufstehn; mein Seufzen und Fragen unkte und würgte und nagte und
klagte bei Tag und Nacht: »ach, der Mensch kehrt ewig wieder! Der
kleine Mensch kehrt ewig wieder!« Nackt hatte ich einst beide gesehn, den
größten Menschen und den kleinsten Menschen: allzuähnlich einander
allzumenschlich auch den Größten noch! Allzuklein der Größte!
das war mein Überdruss am Menschen! Und ewige Wiederkunft auch des
Kleinsten! das war mein Überdruß an allem Dasein!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 270 |
»Sprich
nicht weiter«, antworteten ihm abermals seine Thiere; »lieber noch,
du Genesender, mache dir erst eine Leier zurecht, eine neue Leier!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 271 |
Denn
deine Tiere wissen es wohl, oh Zarathustra, wer du bist und werden mußt:
siehe, d u b i s t d e r
L e h r e r d e r e w i g e n
W i e d e r k u n f t
, das ist nun d e i n Schicksal!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 271 |
Siehe,
wir wissen, was du lehrst: dass alle Dinge ewig wiederkehren und wir selber mit,
und dass wir schon ewige Male dagewesen sind, und alle Dinge mit uns. Du lehrst,
dass es ein grosses Jahr des Werdens gibt, ein Ungeheuer von grossem Jahre: das
muss sich, einer Sanduhr gleich, immer wieder von neuem umdrehn, damit es von
neuem ablaufe und auslaufe: so dass alle diese Jahre sich selber gleich
sind, im Grössten und auch im Kleinsten, so dass wir selber in jedem großen
Jahre uns selber gleich sind, im Grössten und auch im Kleinsten.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 272 |
Aber
der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlungen bin der wird
mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft.
Ich komme wieder, mit dieser Sonne, mit dieser Erde, mit diesem Adler, mit dieser
Schlange n i c h t zu einem neuen Leben
oder besseren Leben oder ähnlichen Leben: ich komme ewig wieder zu
diesem gleichen und selbigen Leben, im Grössten und auch im Kleinsten, dass
ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre, dass ich wieder das Wort
spreche vom großen Erden- und Menschen-Mittage, dass ich wieder den Menschen
den Übermenschen künde. Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem
Wort: so will es mein ewiges Loos , als Verkündiger gehe ich zu Grunde!
Die Stunde kam nun, dass der Untergehende sich selber segnet. Also e n d e t
Zarathustra's Untergang.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 273 |
Oh
wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen
Ring der Ringe, - dem Ring der Wiederkunft! Nie noch fand ich das Weib, von dem
ich Kinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich liebe
dich, oh Ewigkeit! D e n n i c h
l i e b e d i c h ,
o h E w i g k e i t ! Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 283-287 |
D e r
nämlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend, heranziehend, hinaufziehend,
aufziehend, ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister, der sich nicht umsonst
einstmals zusprach: »Werde, der du bist!«Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 293 |
Ich
aber und mein Schicksal wir reden nicht zum Heute, wir reden auch nicht
zum Niemals: wir haben zum Reden schon Geduld und Zeit und Überzeit. Denn
einst muss er doch kommen und darf nicht vorübergehn. Wer muss einst kommen
und darf nicht vorübergehn? Unser grosser Hazar, das ist unser grosses fernes
Menschen-Reich, das Zarathustra-Reich von tausend Jahren.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 294 |
Einstmals
ich glaub, im Jahr des Heiles Eins // Sprach die Sibylle,
trunken sonder Weins: // »Weh, nun geht's schief! // Verfall! Verfall! Nie
sank die Welt so tief! // Rom sank zur Hure und zur Huren-Bude, // Roms
Caesar sank zum Vieh, Gott selbst ward Jude!«Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 303 |
Verlange
Viel das rät mein Stolz! // Und rede kurz das rät mein
andrer Stolz!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 312 |
Ich
liebe die grossen Verachtenden. Der Mensch aber ist Etwas, das überwunden
werden muss.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 328 |
So
wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich.
Wir sollten ihnen nämlich Eins ablernen: das Wiederkäuen. Und wahrlich,
wenn der Mensch auch die ganze Welt gewönne und lernte das Eine nicht, das
Wiederkäuen: was hülfe es! Er würde nicht seine Trübsal los
seine große Trübsal: die aber heißt heute Ekel. Wer hat heute
von Ekel nicht Herz, Mund und Augen voll? Auch du! Auch du! Aber siehe doch diese
Kühe an!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 330 |
Die
Kühe aber schauten dem Allen zu und wunderten sich. »Sprich nicht von
mir, du Wunderlicher! Lieblicher!« sagte Zarathustra und wehrte seiner Zärtlichkeit,
»sprich mir erst von dir! Bist du nicht der freiwillige Bettler, der einst
einen großen Reichtum von sich warf, der sich seines Reichthums schämte
und der Reichen, und zu den Ärmsten floh, dass er ihnen seine Fülle
und sein Herz schenke? Aber sie nahmen ihn nicht an.« »Aber sie nahmen
mich nicht an«, sagte der freiwillige Bettler, »du weisst es ja. So
gieng ich endlich zu den Thieren und zu diesen Kühen.« »Da lerntest
du«, unterbrach Zarathustra den Redenden, »wie es schwerer ist, recht
geben als recht nehmen, und dass gut schenken eine K u n s t
ist und die letzte listigste Meister-Kunst der Güte.« »Sonderlich
heutzutage«, antwortete der freiwillige Bettler: »heute nämlich,
wo alles Niedrige aufständisch ward und scheu und auf seine Art hoffärtig:
nämlich auf Pöbel-Art. Denn es kam die Stunde, du weisst es ja, für
den großen schlimmen langen langsamen Pöbel- und Sklaven-Aufstand:
der wächst und wächst! Nun empört die Niedrigen alles Wohltun und
kleine Weggeben; und die Überreichen mögen auf der Hut sein! Wer heute
gleich bauchichten Flaschen tröpfelt aus allzuschmalen Hälsen
solchen Flaschen bricht man heute gern den Hals. Lüsterne Gier, gallichter
Neid, vergrämte Rachsucht, Pöbel-Stolz: das sprang mir alles ins Gesicht.
Es ist nicht mehr wahr, daß die Armen selig sind. Das Himmelreich aber ist
bei den Kühen.« »Und warum ist es nicht bei den Reichen?«
fragte Zarathustra versuchend, während er den Kühen wehrte, die den
Friedfertigen zutraulich anschnauften. »Was versuchst du mich?« antwortete
dieser. »Du weisst es selber besser noch als ich. Was trieb mich doch zu
den Ärmsten, oh Zarathustra? War es nicht der Ekel vor unsern Reichsten?
vor den Sträflingen des Reichtums, welche sich ihren Vortheil aus
jedem Kehricht auflesen, mit kalten Augen, geilen Gedanken, vor diesem Gesindel,
das gen Himmel stinkt, vor diesem vergüldeten, verfälschten Pöbel,
dessen Väter Langfinger oder Aasvögel oder Lumpensammler waren, mit
Weibern willfährig, lüstern, vergesslich sie habens nämlich
alle nicht weit zur Hure Pöbel oben, Pöbel unten! Was ist heute
noch arm und reich! Diesen Unterschied verlernte ich
da floh ich davon, weiter, immer weiter, bis ich zu diesen Kühen kam.«Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 331-332 |
Es
wird mir wahrlich zu viel; diess Gebirge wimmelt, mein Reich ist nicht mehr von
dieser Welt, ich brauche neue Berge.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 334 |
Am
späten Nachmittage war es erst, dass Zarathustra, nach langem umsonstigen
Suchen und Umherstreifen, wieder zu seiner Höhle heimkam. Als er aber derselben
gegenüberstand, nicht zwanzig Schritt mehr von ihr ferne, da geschah das,
was er jetzt am wenigsten erwartete: von Neuem hörte er den grossen N o t h s c h r e i .
Und, erstaunlich! diess Mal kam derselbige aus seiner eignen Höhle. Es war
aber ein langer vielfältiger seltsamer Schrei, und Zarathustra unterschied
deutlich, dass er sich aus vielen Stimmen zusammensetze: mochte er schon, aus
der Ferne gehört, gleich dem Schrei aus einem einzigen Munde klingen. Da
sprang Zarathustra auf seine Höhle zu, und siehe! welches Schauspiel erwartete
ihn erst nach diesem Hörspiele! Denn da sassen sie allesamt beieinander,
an denen er des Tags vorübergegangen war: der König zur Rechten und
der König zur Linken, der alte Zauberer, der Papst, der freiwillige Bettler,
der Schatten, der Gewissenhafte des Geistes, der traurige Wahrsager und der Esel;
der hässlichste Mensch aber hatte sich eine Krone aufgesetzt und zwei Purpurgürtel
umgeschlungen denn er liebte es, gleich allen Hässlichen, sich zu
verkleiden und schön zu tun. Inmitten aber dieser betrübten Gesellschaft
stand der Adler Zarathustras, gesträubt und unruhig, denn er sollte
auf zu vieles antworten, wofür sein Stolz keine Antwort hatte; die kluge
Schlange aber hing um seinen Hals. Dies alles schaute Zarathustra mit grosser
Verwunderung; dann aber prüfte er jeden Einzelnen seiner Gäste mit leutseliger
Neugierde, las ihre Seelen ab und wunderte sich von Neuem. Inzwischen hatten sich
die Versammelten von ihren Sitzen erhoben und warteten mit Ehrfurcht, dass Zarathustra
reden werde. Zarathustra aber sprach also: »Ihr Verzweifelnden! Ihr Wunderlichen!
Ich hörte also e u r e n Nothschrei? Und
nun weiss ich auch, wo Der zu suchen ist, den ich umsonst heute suchte: d e r
h ö h e r e M e n s c h
: in meiner eignen Höhle sitzt er, der höhere
Mensch! Aber was wundere ich mich! Habe ich ihn nicht selber zu mir gelockt, durch
Honig-Opfer und listige Lockrufe meines Glücks?Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 342-343 |
»Meine
Gäste, ihr höheren Menschen, ich will deutsch und deutlich mit euch
reden. Nicht auf e u c h wartete ich hier in diesen
Bergen.« (»....«) »Ihr mögt wahrlich insgesamt höhere
Menschen sein«, fuhr Zarathustra fort, »aber für mich
seid ihr nicht hoch und stark genug. Für mich, das heisst: für das Unerbittliche,
das in mir schweigt, aber nicht immer schweigen wird. Und gehört ihr zu mir,
so doch nicht als mein rechter Arm. Wer nämlich selber auf kranken und zarten
Beinen steht, gleich euch, der will vor Allem, ob er's weiss oder sich verbirgt:
dass er g e s c h o n t werde.
Meine Arme und meine Beine aber schone ich nicht, i c h
s c h o n e m e i n e
K r i e g e r n i c h t :
wieso könntet ihr zu m e i n e m Kriege
taugen? Mit euch verdürbe ich mir jeden Sieg noch. Und mancher von euch fiele
schon um, wenn er nur den lauten Schall meiner Trommeln hörte. Auch seid
ihr mir nicht schön genug und wohlgeboren. Ich brauche reine glatte Spiegel
für meine Lehren; auf eurer Oberfläche verzerrt sich noch mein eignes
Bildnis. Eure Schultern drückt manche Last, manche Erinnerung; manch schlimmer
Zwerg hockt in euren Winkeln. Es giebt verborgenen Pöbel auch in euch. Und
seid ihr auch hoch und höherer Art: vieles an euch ist krumm und missgestalt.
Da ist kein Schmied in der Welt, der euch mir zurecht und gerade schlüge.
Ihr seid nur Brücken: mögen Höhere auf euch hinüberschreiten!
Ihr bedeutet Stufen: so zürnt Dem nicht, der über euch hinweg in s e i n e
Höhe steigt! Aus eurem Samen mag auch mir einst ein echter Sohn und vollkommener
Erbe wachsen: aber das ist ferne. Ihr selber seid Die nicht, welchen mein Erbgut
und Name zugehört. Nicht auf euch warte ich hier in diesen Bergen, nicht
mit euch darf ich zum letzten Male niedersteigen. Als Vorzeichen kamt ihr mir
nur, dass schon Höhere zu mir unterwegs sind, n i c h t
die Menschen der grossen Sehnsucht, des grossen Ekels, des grossen Überdrusses
und das, was ihr den Überrest Gottes nanntet. Nein! Nein! Drei Mal
Nein! Auf A n d e r e warte ich hier in diesen
Bergen und will meinen Fuss nicht ohne sie von dannen heben, auf Höhere,
Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemutere, solche, die rechtwinklig gebaut sind
an Leib und Seele: l a c h e n d e
L ö w e n müssen kommen! Oh, meine Gastfreunde,
ihr Wunderlichen hörtet ihr noch nichts von meinen Kindern? Und dass
sie zu mir unterwegs sind? Sprecht mir doch von meinen Gärten, von meinen
glückseligen Inseln, von meiner neuen schönen Art warum sprecht
ihr mir nicht davon? Diess Gastgeschenk erbitte ich mir von eurer Liebe, dass
ihr mir von meinen Kindern sprecht. Hierzu bin ich reich, hierzu ward ich arm:
was gab ich nicht hin, was gäbe ich nicht hin, dass ich Eins hätte:
d i e s e Kinder, d i e s e
lebendige Pflanzung, d i e s e Lebensbäume
meines Willens und meiner höchsten Hoffnung!«Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 346-347 |
Als
ich zum ersten Male zu den Menschen kam, da that ich die Einsiedler-Thorheit,
die große Thorheit: ich stellte mich auf den Markt. Und als ich zu Allen
redete, redete ich zu Keinem. Des Abends aber waren Seiltänzer meine Genossen,
und Leichname; und ich selber fast ein Leichnam. Mit dem neuen Morgen aber kam
mir eine neue Wahrheit: da lernte ich sprechen »Was geht mich Markt und
Pöbel und Pöbel-Lärm und lange Pöbel-Ohren an!« Ihr
höheren Menschen, Diess lernt von mir: auf dem Markt glaubt niemand an höhere
Menschen. Und wollt ihr dort reden, wohlan! Der Pöbel aber blinzelt »wir
sind alle gleich«. »Ihr höheren Menschen« so blinzelt
der Pöbel »es giebt keine höheren Menschen, wir sind Alle
gleich, Mensch ist Mensch, vor Gott sind wir Alle gleich!« Vor Gott!
Nun aber starb dieser Gott. Vor dem Pöbel aber wollen wir nicht gleich
sein. Ihr höheren Menschen, geht weg vom Markt!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 352 |
Vor
Gott! Nun aber starb dieser Gott! Ihr höheren Menschen, dieser Gott
war eure grösste Gefahr. Seit er im Grabe liegt, seid ihr erst wieder auferstanden.
Nun erst kommt der große Mittag, nun erst wird der höhere Mensch
Herr! Verstandet ihr diess Wort, oh meine Brüder? Ihr seid erschreckt: wird
euren Herzen schwindlig? Klafft euch hier der Abgrund? Kläfft euch hier der
Höllenhund? Wohlan! Wohlauf! Ihr höheren Menschen! Nun erst kreisst
der Berg der Menschen-Zukunft. Gott starb: nun wollen wir dass der Übermensch
lebe.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 353 |
Die
Sorglichsten fragen heute: »wie bleibt der Mensch erhalten?« Zarathustra
aber fragt als der einzige und erste: »wie wird der Mensch ü b e r w u n d e n ? «
Der Übermensch liegt mir am Herzen, d e r ist mein
Erstes und Einziges und n i c h t der Mensch:
nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidendste, nicht der
Beste. Oh meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist,
dass er ein Übergang ist und ein Untergang. Und auch an euch ist Vieles,
das mich lieben und hoffen macht. Dass ihr verachtetet, ihr höheren Menschen,
das macht mich hoffen. Die großen Verachtenden nämlich sind die großen
Verehrenden. Dass ihr verzweifeltet, daran ist Viel zu ehren. Denn ihr lerntet
nicht, wie ihr euch ergäbet, ihr lerntet die kleinen Klugheiten nicht. Heute
nämlich wurden die kleinen Leute Herr: die predigen alle Ergebung und Bescheidung
und Klugheit und Fleiss und Rücksicht und das lange Und-so-weiter der kleinen
Tugenden. Was von Weibsart ist, was von Knechtsart stammt und sonderlich der Pöbel-Mischmasch:
D a s will nun Herr werden alles Menschen-Schicksals
oh Ekel! Ekel! Ekel! Das frägt und frägt und wird nicht müde: »wie
erhält sich der Mensch, am besten, am längsten, am angenehmsten?«
Damit sind sie die Herren von heute. Diese Herren von heute überwindet
mir, oh meine Brüder diese kleinen Leute: d i e
sind des Übermenschen grösste Gefahr! Überwindet mir, ihr höheren
Menschen, die kleinen Tugenden, die kleinen Klugheiten, die Sandkorn-Rücksichten,
den Ameisen-Kribbelkram, das erbärmliche Behagen, das »Glück der
Meisten« ! Und lieber verzweifelt, als dass ihr euch ergebt. Und,
wahrlich, ich liebe euch dafür, dass ihr heute nicht zu leben wisst, ihr
höheren Menschen! So nämlich lebt i h r
am Besten!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 353-354 |
Habt
ihr Muth, oh meine Brüder? Seid ihr herzhaft? Nicht Muth vor Zeugen, sondern
Einsiedler- und Adler-Muth, dem auch kein Gott mehr zusieht? Kalte Seelen, Maultiere,
Blinde, Trunkene heissen mir nicht herzhaft. Herz hat, wer Furcht kennt, aber
Furcht zwingt; wer den Abgrund sieht, aber mit S t o l z .
Wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen, wer mit Adlers-Krallen den
Abgrund f a s s t : Der hat Muth.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 354 |
»Der
Mensch ist böse« so sprachen mir zum Troste alle Weisesten.
Ach, wenn es heute nur noch wahr ist! Denn das Böse ist des Menschen beste
Kraft. »Der Mensch muss besser und böser werden« so lehre
ich. Das Böseste ist nöthig zu des Übermenschen Bestem. Das mochte
gut sein für jenen Prediger der kleinen Leute, dass er litt und trug an des
Menschen Sünde. Ich aber erfreue mich der grossen Sünde als meines großen
T r o s t e s . Solches
ist aber nicht für lange Ohren gesagt. Jedwedes Wort gehört auch nicht
in jedes Maul. Das sind feine ferne Dinge: nach denen sollen nicht Schafs-Klauen
greifen!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 355 |
Ihr
höheren Menschen, meint ihr, ich sei da, gut zu machen, was ihr schlecht
machtet? Oder ich wollte fürderhin euch Leidende bequemer betten? Oder euch
Unstäten, Verirrten, Verkletterten neue leichtere Fussteige zeigen? Nein!
Nein! Drei Mal Nein! Immer Mehr, immer Bessere eurer Art sollen zu Grunde gehn
denn ihr sollt es immer schlimmer und härter haben. So allein
so allein wächst der Mensch in d i e Höhe,
wo der Blitz ihn trifft und zerbricht: hoch genug für den Blitz! Auf Weniges,
auf Langes, auf Fernes geht mein Sinn und meine Sehnsucht: was gienge mich euer
kleines, vieles, kurzes Elend an! Ihr leidet mir noch nicht genug! Denn ihr leidet
an euch, ihr littet noch nicht a m M e n s c h e n .
Ihr würdet lügen, wenn ihr's anders sagtet! Ihr leidet Alle nicht, woran
i c h litt.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 355 |
Es
ist mir nicht genug, dass der Blitz nicht mehr schadet. Nicht ableiten will ich
ihn: er soll lernen für m i c h arbeiten.
Meine Weisheit sammelt sich lange schon gleich einer Wolke, sie wird stiller
und dunkler. So tut jede Weisheit, welche e i n s t
Blitze gebären soll. Diesen Menschen von Heute will ich nicht Licht
sein, nicht Licht heissen. D i e will ich blenden.
Blitz meiner Weisheit! stich ihnen die Augen aus!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 356 |
Wollt
Nichts über euer Vermögen: es giebt eine schlimme Falschheit bei Solchen,
die über ihr Vermögen wollen. Sonderlich, wenn sie grosse Dinge wollen!
Denn sie wecken Misstrauen gegen grosse Dinge, diese feinen Falschmünzer
und Schauspieler: bis sie endlich falsch vor sich selber sind, schieläugig,
übertünchter Wurmfrass, bemäntelt durch starke Worte, durch Aushänge-Tugenden,
durch glänzende falsche Werke. Habt da eine gute Vorsicht, ihr höheren
Menschen! Nichts nämlich gilt mir heute kostbarer und seltner als Redlichkeit.
Ist diess Heute nicht des Pöbels? Pöbel aber weiss nicht, was gross,
was klein, was gerade und redlich ist: der ist unschuldig krumm, der lügt
immer.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 356 |
Habt
heute ein gutes Misstrauen, ihr höheren Menschen, ihr Beherzten! Ihr Offenherzigen!
Und haltet eure Gründe geheim! Diess Heute nämlich ist des Pöbels.
Was der Pöbel ohne Gründe einst glauben lernte, wer könnte ihm
durch Gründe das umwerfen? Und auf dem Markte überzeugt man mit
Gebärden. Aber Gründe machen den Pöbel misstrauisch. Und wenn da
einmal die Wahrheit zum Siege kam, so fragt euch mit gutem Misstrauen: »welch
starker Irrtum hat für sie gekämpft?« Hütet euch auch vor
den Gelehrten! Die hassen euch: denn sie sind unfruchtbar! Sie haben kalte vertrocknete
Augen, vor ihnen liegt jeder Vogel entfedert. Solche brüsten sich damit,
dass sie nicht lügen: aber Ohnmacht zur Lüge ist lange noch nicht Liebe
zur Wahrheit. Hütet euch! Freiheit von Fieber ist lange noch nicht Erkenntnis!
Ausgekälteten Geistern glaube ich nicht. Wer nicht lügen kann, weiss
nicht, was Wahrheit ist.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 357 |
Wollt
ihr hoch hinaus, so braucht die eignen Beine! Lasst euch nicht empor t r a g e n ,
setzt euch nicht auf fremde Rücken und Köpfe! Du aber stiegst zu Pferde?
Du reitest nun hurtig hinauf zu deinem Ziele? Wohlan, mein Freund! Aber dein lahmer
Fuß sitzt auch mit zu Pferde! Wenn du an deinem Ziele bist, wenn du von
deinem Pferde springst: auf deiner Höhe gerade, du höherer Mensch
wirst du stolpern!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 357 |
Ihr
Schaffenden, ihr höheren Menschen! Man ist nur für das eigne Kind schwanger.
Lasst euch nichts vorreden, einreden! Wer ist denn euer Nächster? Und handelt
ihr auch »für den Nächsten« ihr schafft doch nicht
für ihn! Verlernt mir doch diess »Für«, ihr Schaffenden:
eure Tugend gerade will es, dass ihr kein Ding mit »für« und
»um« und »weil« thut. Gegen diese falschen kleinen Worte
sollt ihr euer Ohr zukleben. Das »für den Nächsten« ist
die Tugend nur der kleinen Leute: da heisst es »gleich und gleich«
und »Hand wäscht Hand« sie haben nicht Recht noch Kraft
zu eurem Eigennutz! In eurem Eigennutz, ihr Schaffenden, ist der Schwangeren Vorsicht
und Vorsehung! Was niemand noch mit Augen sah, die Frucht: die schirmt und schont
und nährt eure ganze Liebe. Wo eure ganze Liebe ist, bei eurem Kinde, da
ist auch eure ganze Tugend! Euer Werk, euer Wille ist e u e r
»Nächster«: lasst euch keine falschen Werte einreden!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 358 |
Ihr
Schaffenden, ihr höheren Menschen! Wer gebären muss, der ist krank;
wer aber geboren hat, ist unrein. Fragt die Weiber: man gebiert nicht, weil es
Vergnügen macht. Der Schmerz macht Hühner und Dichter gackern. Ihr Schaffenden,
an euch ist viel Unreines. Das macht, ihr musstet Mütter sein. Ein neues
Kind: oh, wie viel neuer Schmutz kam auch zur Welt! Geht beiseite! Und wer geboren
hat, soll seine Seele rein waschen!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 358 |
Seid
nicht tugendhaft über eure Kräfte! Und wollt Nichts von euch wider die
Wahrscheinlichkeit! Geht in den Fusstapfen, wo schon eurer Väter Tugend ging!
Wie wolltet ihr hoch steigen, wenn nicht eurer Väter Wille mit euch steigt?
Wer aber Erstling sein will, sehe zu, dass er nicht auch Letztling werde! Und
wo die Laster eurer Väter sind, darin sollt ihr nicht Heilige bedeuten wollen!
Wessen Väter es mit Weibern hielten und mit starken Weinen und Wildschweinen:
was wäre es, wenn der von sich Keuschheit wollte? Eine Narrheit wäre
es! Viel, wahrlich, dünkt es mich für einen Solchen, wenn er Eines oder
Zweier oder Dreier Weiber Mann ist. Und stiftete er Klöster und schriebe
über die Tür: »der Weg zum Heiligen« ich spräche
doch: wozu! es ist eine neue Narrheit! Er stiftete sich selber ein Zucht- und
Fluchthaus: wohl bekomm's! Aber ich glaube nicht daran. In der Einsamkeit wächst,
was Einer in sie bringt, auch das innere Vieh. Solchergestalt widerräth sich
vielen die Einsamkeit. Gab es Schmutzigeres bisher auf Erden als Wüsten-Heilige?
U m d i e herum war nicht nur der Teufel
los sondern auch das Schwein.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 359 |
Scheu,
beschämt, ungeschickt, einem Tiger gleich, dem der Sprung missriet: also,
ihr höheren Menschen, sah ich oft euch beiseite schleichen. Ein Wurf missriet
euch. Aber, ihr Würfelspieler, was liegt daran! Ihr lerntet nicht spielen
und spotten, wie man spielen und spotten muss! Sitzen wir nicht immer an einem
grossen Spott- und Spieltische? Und wenn euch Grosses missriet, seid ihr selber
darum missraten? Und missrietet ihr selber, missriet darum der Mensch?
Missriet aber der Mensch: wohlan! wohlauf!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 359-360 |
Je
höher von Art, je seltener gerät ein Ding. Ihr höheren Menschen
hier, seid ihr nicht alle missgeraten? Seid guten Muths, was liegt daran!
Wie Vieles ist noch möglich! Lernt über euch selber lachen, wie man
lachen muss! Was Wunders auch, dass ihr missrietet und halb gerietet, ihr Halbzerbrochenen!
Drängt und stösst sich nicht in euch des Menschen Z u k u n f t ?
Des Menschen Fernstes, Tiefstes, Sternen-Höchstes, seine ungeheure Kraft:
schäumt das nicht alles gegen einander in eurem Topfe? Was Wunders, dass
mancher Topf zerbricht! Lernt über euch lachen, wie man lachen muss! Ihr
höheren Menschen, oh wie Vieles ist noch möglich! Und wahrlich, wie
Viel gerieth schon! Wie reich ist diese Erde an kleinen guten vollkommenen Dingen,
an Wohlgerathenem! Stellt kleine gute vollkommene Dinge um euch, ihr höheren
Menschen! Deren goldene Reife heilt das Herz. Vollkommnes lehrt hoffen.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 360 |
Welches
war hier auf Erden bisher die grösste Sünde? War es nicht das Wort dessen,
der sprach: »Wehe denen, die hier lachen!« Fand er zum Lachen auf
der Erde selber keine Gründe? So suchte er nur schlecht. Ein Kind findet
hier noch Gründe. Der liebte nicht genug: sonst hätte er auch
uns geliebt, die Lachenden! Aber er hasste und höhnte uns, Heulen und Zähneklappern
verhiess er uns. Muss man denn gleich fluchen, wo man nicht liebt? Das
dünkt mich ein schlechter Geschmack. Aber so that er, dieser Unbedingte.
Er kam vom Pöbel. Und er selber liebte nur nicht genug: sonst hätte
er weniger gezürnt, dass man ihn nicht liebe. Alle grosse Liebe w i l l
nicht Liebe die will mehr. Geht aus dem Wege allen solchen Unbedingten!
Das ist eine arme kranke Art, eine Pöbel-Art: sie sehn schlimm diesem Leben
zu, sie haben den bösen Blick für diese Erde. Geht aus dem Wege allen
solchen Unbedingten! Sie haben schwere Füsse und schwüle Herzen
sie wissen nicht zu tanzen. Wie möchte Solchen wohl die Erde leicht sein!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 361 |
Krumm
kommen alle guten Dinge ihrem Ziele nahe. Gleich Katzen machen sie Buckel, sie
schnurren innewendig vor ihrem nahen Glücke alle guten Dinge lachen.
Der Schritt verrät, ob Einer schon auf s e i n e r
Bahn schreitet: so seht mich gehn! Wer aber seinem Ziele nahe kommt, der tanzt.
Und, wahrlich, zum Standbild ward ich nicht, noch stehe ich nicht da, starr, stumpf,
steinern, eine Säule; ich liebe geschwindes Laufen. Und wenn es auf Erden
auch Moor und dicke Trübsal giebt: wer leichte Füsse hat, läuft
über Schlamm noch hinweg und tanzt wie auf gefegtem Eise. Erhebt eure Herzen,
meine Brüder, hoch! höher! Und vergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt
auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem
Kopf!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 361-362 |
Diese
Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setzte mir diese Krone
auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter. Keinen Anderen fand ich heute
stark genug dazu. Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit
den Flügeln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit
und fertig, ein Selig-Leichtfertiger: Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra
der Wahrlacher, kein Ungeduldiger, kein Unbedingter, einer, der Sprünge und
Seitensprünge liebt; ich selber setzte mir diese Krone auf!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 362 |
Erhebt
eure Herzen, meine Brüder, hoch! höher! Und vergesst mir auch die Beine
nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht
auch auf dem Kopf! Es giebt auch im Glück schweres Gethier, es giebt Plumpfüssler
von Anbeginn. Wunderlich mühn sie sich ab, einem Elephanten gleich, der sich
müht auf dem Kopf zu stehn. Besser aber noch närrisch sein vor Glücke
als närrisch vor Unglücke, besser plump tanzen, als lahm gehn. So lernt
mir doch meine Weisheit ab: auch das schlimmste Ding hat zwei gute Kehrseiten,
auch das schlimmste Ding hat gute Tanzbeine: so lernt mir doch euch
selbst, ihr höheren Menschen, auf eure rechten Beine stellen! So verlernt
mir doch Trübsal-Blasen und alle Pöbel-Traurigkeit! Oh wie traurig dünken
mich heute des Pöbels Hanswürste noch! Diess Heute aber ist des Pöbels.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 362-363 |
Dem
Winde thut mir gleich, wenn er aus seinen Berghöhlen stürzt: nach seiner
eignen Pfeife will er tanzen, die Meere zittern und hüpfen unter seinen Fusstapfen.
Der den Eseln Flügel giebt, der Löwinnen melkt, gelobt sei dieser gute
unbändige Geist, der allem Heute und allem Pöbel wie ein Sturmwind kommt,
der Distel- und Tiftelköpfen feind ist und allen welken Blättern
und Unkräutern: gelobt sei dieser wilde gute freie Sturmgeist, welcher auf
Mooren und Trübsalen wie auf Wiesen tanzt! Der die Pöbel-Schwindhunde
hasst und alles missratene düstere Gezücht: gelobt sei dieser Geist
aller freien Geister, der lachende Sturm, welcher allen Schwarzsichtigen, Schwärsüchtigen
Staub in die Augen bläst! Ihr höheren Menschen, euer Schlimmstes ist:
ihr lerntet alle nicht tanzen, wie man tanzen muss über euch hinweg
tanzen! Was liegt daran, dass ihr missrietet! Wie vieles ist noch möglich!
So l e r n t doch über euch hinweg lachen!
Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer, hoch! höher! Und vergesst mir
auch das gute Lachen nicht! Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone:
euch, meinen Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig;
ihr höheren Menschen, l e r n t mir
lachen!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 363-364 |
Und
da stehe ich schon, Als Europäer, Ich kann nicht anders, Gott helfe mir!
Amen!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 381 |
D i e
W ü s t e w ä c h s t :
w e h D e m , d e r
W ü s t e n b i r g t ! Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 381 |
Eins
aber weiss ich, von dir selber lernte ich's einst, oh Zarathustra: wer
am gründlichsten tödten will, der l a c h t .
Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man so sprachst
du einst. Oh Zarathustra, du Verborgener, du Vernichter ohne Zorn, du gefährlicher
Heiliger, du bist ein Schelm!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 388 |
Es
lohnt sich auf der Erde zu leben: ein Tag, ein Fest mit Zarathustra lehrte mich
die Erde lieben. War D a s das Leben?
will ich zum Tode sprechen. Wohlan! Noch Ein Mal! Meine Freunde, was
dünket euch? Wollt ihr nicht gleich mir zum Tode sprechen: War D a s
das Leben? Um Zarathustras Willen, wohlan! Noch Ein Mal!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 392 |
Weh
spricht: »Vergeh! Weg, du Wehe!« Aber Alles, was leidet, will leben,
dass es reif werde und lustig und sehnsüchtig, sehnsüchtig nach
Fernerem, Höherem, Hellerem. »Ich will Erben, so spricht Alles, was
leidet, ich will Kinder, ich will nicht m i c h « ,
Lust aber will nicht Erben, nicht Kinder Lust will sich selber,
will Ewigkeit, will Wiederkunft, will Alles-sich-ewig-gleich.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 397-398 |
Mitternacht
ist auch Mittag ....Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 398 |
D e n n
a l l e L u s t w i l l
E w i g k e i t ! Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 398 |
Lust
will a l l e r Dinge Ewigkeit, w i l l
t i e f e , t i e f e
E w i g k e i t ! Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 399 |
Oh
Mensch! Gib Acht! // Was spricht die tiefe Mitternacht? // »Ich schlief,
ich schlief , // Aus tiefem Traum bin ich erwacht: // Die Welt ist
tief, // Und tiefer als der Tag gedacht. // Tief ist ihr Weh , // Lust
tiefer noch als Herzeleid: // Weh spricht: Vergeh! // Doch alle Lust will Ewigkeit
, // will tiefe, tiefe Ewigkeit!Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 400 |
Mein
Leid und mein Mitleiden was liegt daran! Trachte ich denn nach G l ü c k e ?
Ich trachte nach meinem W e r k e ! Wohlan!
Der Löwe kam, meine Kinder sind nahe, Zarathustra ward reif, meine
Stunde kam: Dies ist m e i n Morgen, m e i n
Tag hebt an: h e r a u f n u n ,
h e r a u f , d u g r o s s e r
M i t t a g ! «
Also sprach Zarathustra und verliess seine Höhle, glühend und stark,
wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt.Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 404 |
Grundsatz:
das, was im Kampf mit den Tieren dem Menschen seinen Sieg errang, hat zugleich
die schwierige und gefährliche krankhafte Entwicklung des Menschen mit sich
gebracht. Er ist das noch nicht festgestellte Tier.Ders., Frühjahr 1884, in: Nachgelassene Fragmente (25 [428], KSA,
11, 125) |
Ist Pessimismus
notwendig das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Mißratenseins,
der ermüdeten und geschwächten Instinkte? wie er es bei den Indern
war, wie er es, allem Anschein nach, bei uns, den »modernen« Menschen
und Europäern ist? Gibt es einen Pessimismus der Stärke? Eine
intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische
des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle
des Daseins? Gibt es vielleicht ein Leiden an der Überfülle selbst?
Eine versucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks, die nach dem Furchtbaren
verlangt, als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde, an dem sie ihre
Kraft erproben kann? an dem sie lernen will, was »das Fürchten«
ist? Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten, stärksten, tapfersten
Zeit, der tragische Mythus? Und das ungeheure Phänomen des Dionysischen?
Was, aus ihm geboren, die Tragödie? Und wiederum: das, woran die Tragödie
starb, der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit
des theoretischen Menschen wie? könnte nicht gerade dieser Sokratismus
ein Zeichen des Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich
lösenden Instinkte sein? Und die »griechische Heiterkeit« des
späteren Griechentums nur eine Abendröte? Der epikurische Wille gegen
den Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden? Und die Wissenschaft selbst,
unsere Wissenschaft ja, was bedeutet überhaupt, als Symptom des Lebens
angesehn, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher alle Wissenschaft?
Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem
Pessimismus? Eine feine Notwehr gegen die Wahrheit? Und, moralisch
geredet, etwas wie Feig- und Falschheit? Unmoralisch geredet, eine Schlauheit?
O Sokrates, Sokrates, war das vielleicht dein Geheimnis? O geheimnisvoller Ironiker,
war dies vielleicht deine Ironie?Ders., Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 3-4 |
Christentum
war von Anfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und Überdruß
des Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein »anderes«
oder »besseres« Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte.
Der Haß auf die »Welt«, der Fluch auf die Affekte, die Furcht
vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits
besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen ins Nichts, ans Ende, ins Ausruhen,
hin zum »Sabbat der Sabbate« dies alles dünkte mich, ebenso
wie der unbedingte Wille des Christentums, nur moralische Werte gelten
zu lassen, immer wie die gefährlichste und unheimlichste Form aller möglichen
Formen eines »Willens zum Untergang«, zum mindesten ein Zeichen tiefster
Erkrankung, Müdigkeit, Mißmutigkeit, Erschöpfung, Verarmung an
Leben, denn vor der Moral (insonderheit christlichen, das heißt unbedingten
Moral) muß das Leben beständig und unvermeidlich Unrecht bekommen,
weil Leben etwas essentiell Unmoralisches ist, muß endlich
das Leben, erdrückt unter dem Gewichte der Verachtung und des ewigen Neins,
als begehrens-unwürdig, als unwert an sich empfunden werden.Ders., Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 10 |
Und
das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist, der nicht vor langem noch den Willen
zur Herrschaft über Europa, die Kraft zur Führung Europas gehabt hatte,
eben letztwillig und endgültig abdankte und, unter dem pomphaften Vorwande
einer Reichs-Begründung, seinen Übergang zur Vermittelmäßigung,
zur Demokratie und den »modernen Ideen« machte!Ders., Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 12 |
Abseits
freilich von allen übereilten Hoffnungen und fehlerhaften Nutzanwendungen
auf Gegenwärtigstes, mit denen ich mir damals mein erstes Buch verdarb, bleibt
das große dionysische Fragezeichen, wie es darin gesetzt ist, auch in betreff
der Musik, fort und fortbestehn: wie müßte eine Musik beschaffen sein,
welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre, gleich der deutschen,
sondern dionysischen?Ders., Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 12 |
Leben
selbst ist Wille zur Macht -: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten
und häufigsten Folgen davon.Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 13, in: Werke III, S.
24 bzw. 578 |
Es dämmert jetzt vielleicht
in fünf, sechs Köpfen, daß Physik auch nur eine Welt-Auslegung
und Zurechtlegung und nicht eine Welt-Erklärung ist: aber, insofern sie sich
auf den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muß auf lange
hinaus noch als mehr, nämlich als Erklärung gelten.Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 13, in: Werke III, S.
24 bzw. 578 |
Philosophen .... Ihr Denken
ist in der Tat viel weniger ein Entdecken als ein Wiedererkennenm eine Rück-
und Heimkerh in einen fernen uralten Gesamt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe
einstmals herausgewachsen sind Philosophieren ist insofern eine Art von
Atavismus höchsten Ranges.Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 20, in: Werke III, S.
29-30 bzw. 583-584 |
Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit
alles indischen, griechischen, deutschen Philosophierens erklärt sich einfach
genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden,
daß, dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik ich meine dank
der unbewußten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen
von vornherein alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge
der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten
der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint. Philosophen des ural-altaischen
Sprachbereichs (in dem der Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt ist) werden
mit großer Wahrscheinlichkeit anders »in die Welt« blicken und
auf andern Pfaden zu finden sein als Indogermanen oder Muselmänner: der Bann
bestimmter grammatischer Funktionen ist im letzten Grunde der Bann physiologischer
Werturteile und Rasse-Bedingungen. So viel zur Zurückweisung von Lockes
Oberflächlichkeit in bezug auf die Herkunft der Ideen.Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 20, in: Werke III, S.
30 bzw. 584 |
Man vergebe es mir als einem
alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste
den Finger zu legen: aber jene »Gesetzmäßigkeit der Natur«,
von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob besteht nur dank
eurer Ausdeutung und schlechten »Philologie« sie ist kein Tatbestand,
kein »Text«, vielmehr nur eine naiv-humanitäre Zurechtmachung
und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele
sattsam entgegenkommt!Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 22, in: Werke III, S.
32 bzw. 586 |
Die Frage ist zuletzt, ob wir
den Willen wirklich als wirkend anerkennen, ob wir an die Kausalität des
Willens glauben: tun wir das und im Grunde ist der Glaube daran eben unser
Glaube an Kausalität selbst , so müssen wir den Versuch machen,
die Willens-Kausalität hypothetisch als die einzige zu setzen. »Wille«
kann natürlich nur auf »Wille« wirken und nicht auf »Stoffe«
(nicht auf »Nerven« zum Beispiel ): genug, man muß die
Hypothese wagen, ob nicht überall, wo »Wirkungen« anerkannt werden,
Wille auf Wille wirkt und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern
eine Kraft darin tätig wird, eben Willenskraft, Willens- Wirkung ist.
Gesetzt endlich, daß es gelänge, unser gesamtes Triebleben als die
Ausgestaltung und Verzweigung einer Grundform des Willens zu erklären
nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist ; gesetzt, daß
man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen
könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung
es ist ein Problem fände, so hätte man damit sich das
Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht.
Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren »intelligiblen Charakter«
hin bestimmt und bezeichnet sie wäre eben »Wille zur Macht«
und nichts außerdem.Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 36, in: Werke III, S.
47 bzw. 601 |
Wer sich selbst verachtet,
achtet sich doch immer noch dabei als Verächter.Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 78, in: Werke III, S.
73 bzw. 627 |
Eine Seele, die sich gelebt
weiß, aber selbst niocht lebt, verrät ihren Bodensatz ihr Unterstes
kommt herauf.Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 79, in: Werke III, S.
73 bzw. 627 |
Gerade
hier ... sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende
Müdigkeit, den Willen gegen das Leben sich wehrend, die letzte Krankheit
sich zärtlich und schwermütig sich ankündigend: ich verstand die
immer mehr um sich greifend Mildeids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff
und krank machte, als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordnen europäischen
Kultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Eiropäer-Buddhismus?
zum - Nihilismus? ....Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 213 bzw. 767 |
Man
hat bisher auch nicht im entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, »den
Guten« für höherwertig als »den Bösen« anzusetzen,
höherwertig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit
in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet).
Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im »Guten«
auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung,
ein Gift, ein Narkotikum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft
lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile,
niedriger? .... So daß gerade die Moral daran schuld wäre, wenn eine
an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch
niemals erreicht würde? So daß gerade die Moral die Gefahr der Gefahren
wäre?Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 214 bzw. 768 |
Der
Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, daß das Ressentiment selbst
schöpferisch wird und Werte gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen
die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre
Rache schadlos halten.Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 228 bzw. 782 |
Während
alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst,
sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem »Außerhalb«,
zu einem »Anders«, zu einem »Nicht-selbst«: und dies
Nein ist ihre schöpferische Tat. Diese Umkehrung des werte-setzenden Blicks
- diese notwendige Richtung nach außen statt zurück auf sich
selber - gehört eben zum Resentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn,
immer zuerst einer Gegen- und Außenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen,
äußerer Reize, um überhaupt zu agieren - ihre Aktion ist von Grund
auf Reaktion. Das Umgekehrte ist bei der vornehmen Wertungsweise der Fall: sie
agiert und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich
selber noch dankbarer, noch frohlockender ja zu sagen - ihr negativer Begriff
»niedrig«, »gemein«, »schlecht« ist nur ein
nachgeborenes blasses Kontrastbild im Verhältnis zu ihrem positiven, durch
und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff »wir
Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen!«Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 228-220 bzw.
782-783 |
Während der vornehme Mensch
vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit lebt (gennaios
»edelbürtig« unterstreicht die Nuance »aufrichtig«
und auch wohl »naiv«), so ist der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig,
noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele schielt;
sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hintertüren, alles Versteckte
mutet ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf
das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern,
Sich-demütigen.Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 230 bzw. 784 |
Das
Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, vollzieht
und erschöpft sich ... in einer sofortigen Reaktion, es vergiftet
darum nicht: andrerseits tritt es in unzähligen Fällen gar nicht auf
wo es bei allen Schwachen und Ohnmächtigen unvermeidlich ist.Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 230 bzw. 784 |
Wieviel
Ehrfurcht vor seinen Feinden hat schon ein vornehmer Mensch! - und eine solche
Ehrfurcht ist schon eine Brücke zur Liebe .... Er verlangt ja seinen Feind
für sich, als seine Auszeichnung, er hält ja keinen andren Feind aus,
als einen solchen, an dem nichts zu verachten und sehr viel zu ehren ist!
Dagegen stelle man sich »den Feind« vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment
konzipiert - und hier gerade ist seine Tat, seine Schöpfung: er hat »den
bösen Feind« konzipiert, »den Bösen«, und zwar
als Gegenbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch
noch einen »Guten« ausdenkt - sich selbst ! ....Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 231 bzw. 785 |
Der
Mensch hat allzulange seine natürlichen Hänge mit »bösem
Blick« betrachtet, so daß sie sich in ihm schließlich mit dem
»schlechten Gewissen« verschwistert haben. Ein umgekehrter Versuch
wäre an sich möglich aber wer ist stark genug dazu? , nämlich
die unnatürlichen Hänge, alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen,
Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Tierwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die
allesamt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten
Gewissen zu verschwistern. An wen sich heute mit solchen Hoffnungen und Ansprüchen
wenden? .... Gerade die guten Menschen hätte man damit gegen sich; dazu,
wie billig, die bequemen, die versöhnten, die eitlen, die schwärmerischen,
die müden. .... Was beleidigt tiefer, was trennt so gründlich ab, als
etwas von der Strenge und Höhe merken zu lassen, mit der man sich selbst
behandelt? Und wiederum wie entgegenkommend, wie liebreich zeigt sich alle
Welt gegen uns, sobald wir es machen wie alle Welt und uns »gehen lassen«
wie alle Welt!Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 282 bzw. 836 |
Aber
irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische
Gegenwart ist, muß er uns doch kommen, der erlösende Mensch der großen
Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft
aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke
mißverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei
während sie nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit
ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder ans Licht kommt, die Erlösung
dieser Wirklichkeit heimbringe: ihre Erlösung von dem Fluche, den das bisherige
Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen
Ideal erlösen wird als von dem, was aus ihm wachsen mußte, vom großen
Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags
und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde
ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgibt, dieser Antichrist und
Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts er muß einst
kommen ....Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 282-283 bzw.
836-837 |
An dieser Stelle geziemt mir nur
eins, zu schweigen: ich vergriffe mich sonst an dem, was einem Jüngeren allein
freisteht, einem »Zukünftigeren«, einem Stärkeren, als ich
bin was allein Zarathustra freisteht, Zarathustra dem Gottlosen ....Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 283 bzw. 837 |
Ein
verheirateter Philosoph gehört in die Komödie, das ist mein Satz:
und jene Ausnahme Sokrates der boshafte Sokrates hat sich, scheint es,
ironice verheiratet, eigens um gerade diesen Satz zu demonstrieren.Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 295 bzw. 849 |
Das
asketische Ideal entspringt dem Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerierenden
Lebens, welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein
kämpft; es deutet auf eine partielle physiologische Hemmung und Ermüdung
hin, gegen welche die tiefsten, intakt gebliebenen Instinkte des Lebens unausgesetzt
mit neuen Mitteln und Erfindungen ankämpfen. Das asketische Ideal ist ein
solches Mittel: es steht also gerade umgekehrt, als es die Verehrer dieses Ideals
meinen das Leben ringt in ihm und durch dasselbe mit dem Tode und gegen
den Tod, das asketische Ideal ist ein Kunstgriff in der Erhaltung des Lebens.
Daß dasselbe in dem Maße, wie die Geschichte es lehrt, über den
Menschen walten und mächtig werden konnte, insonderheit überall dort,
wo die Zivilisation und Zähmung des Menschen durchgesetzt wurde, darin drückt
sich eine große Tatsache aus: die Krankhaftigkeit im bisherigen Typus
des Menschen, zum mindesten des zahm gemachten Menschen, das physiologische Ringen
des Menschen mit dem Tode (genauer: mit dem Überdrusse am Leben, mit der
Ermüdung, mit dem Wunsche nach dem »Ende«).Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 307-308 bzw.
861-862 |
Der asketische Priester ist der
fleischgewordne Wunsch nach einem Anders-sein, Anders wo-sein, und zwar der höchste
Grad dieses Wunsches, dessen eigentliche Inbrunst und Leidenschaft: aber eben
die Macht seines Wünschens ist die Fessel, die ihn hier anbindet; eben damit
wird er zum Werkzeug, das daran arbeiten muß, günstigere Bedingungen
für das Hier-sein und Mensch-sein zu schaffen eben mit dieser Macht
hält er die ganze Herde der Mißratnen, Verstimmten, Schlechtweggekommnen,
Verunglückten, An-sich-Leidenden jeder Art am Dasein fest, indem er ihnen
instinktiv als Hirt vorangeht. Man versteht mich bereits: dieser asketische Priester,
dieser anscheinende Feind des Lebens, dieser Verneinende er gerade
gehört zu den ganz großen konservierenden und Ja-schaffenden
Gewalten des Lebens .... Woran sie hängt, jene Krankhaftigkeit?Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 308 bzw. 862 |
Denn
der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgendein
Tier sonst, daran ist kein Zweifel er ist das kranke Tier: woher kommt
das? Sicherlich hat er auch mehr gewagt, geneuert, getrotzt, das Schicksal herausgefordert
als alle übrigen Tiere zusammengenommen: er, der große Experimentator
mit sich, der Unbefriedigte, Ungesättigte, der um die letzte Herrschaft mit
Tier, Natur und Göttern ringt er, der immer noch Unbezwungne, der
ewig-Zukünftige, der vor seiner eignen drängenden Kraft keine Ruhe mehr
findet, so daß ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn im Fleische
jeder Gegenwart wühlt wie sollte ein solches mutiges und reiches Tier
nicht auch das am meisten gefährdete, das am längsten und tiefsten kranke
unter allen kranken Tieren sein? .... Der Mensch hat es satt, oft genug, es gibt
ganze Epidemien dieses Satthabens ( so um 1348 herum, zur Zeit des Totentanzes):
aber selbst noch dieser Ekel, diese Müdigkeit, dieser Verdruß an sich
selbst alles tritt an ihm so mächtig heraus, daß es sofort wieder
zu einer neuen Fessel wird. Sein Nein, das er zum Leben spricht, bringt wie durch
einen Zauber eine Fülle zarterer Jas ans Licht; ja, wenn er sich verwundet,
dieser Meister der Zerstörung, Selbstzerstörung hinterdrein ist
es die Wunde selbst, die ihn zwingt, zu leben ....Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 308 bzw. 862 |
Je
normaler die Krankhaftigkeit am Menschen ist und wir können diese Normalität
nicht in Abrede stellen , um so höher sollte man die seltnen Fälle der
seelisch-leiblichen Mächtigkeit, die Glücksfälle des Menschen in Ehren
halten, um so strenger die Wohlgeratenen vor der schlechtesten Luft, der Kranken-Luft
behüten. Tut man das? .... Die Kranken sind die größte Gefahr für die Gesunden;
nicht von den Stärksten kommt das Unheil für die Starken, sondern von den
Schwächsten. Weiß man das?Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863 |
Ins
große gerechnet, ist es durchaus nicht die Furcht vor dem Menschen, deren Verminderung
man wünschen dürfte: denn diese Furcht zwingt die Starken dazu, stark, unter Umständen
furchtbar zu sein sie hält den wohlgeratenen Typus Mensch aufrecht.
Was zu fürchten ist, was verhängnisvoll wirkt wie kein andres Verhängnis, das
wäre nicht die große Furcht, sondern der große Ekel vor dem Menschen; insgleichen
das große Mitleid mit dem Menschen. Gesetzt, daß diese beiden eines Tags
sich begatteten, so würde unvermeidlich sofort etwas vom Unheimlichsten zur Welt
kommen, der »letzte Wille« des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus.
Und in der Tat: hierzu ist viel vorbereitet. Wer nicht nur seine Nase zum Riechen
hat, sondern auch seine Augen und Ohren, der spürt fast überall, wohin er heute
auch nur tritt, etwas wie Irrenhaus-, wie Krankenhaus-Luft ich rede, wie
billig, von den Kulturgebieten des Menschen, von jeder Art »Europa«, das es nachgerade
auf Erden gibt.Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863 |
Die
Krankhaften sind des Menschen große Gefahr: nicht die Bösen, nicht
die »Raubtiere«. Die von vornherein Verunglückten, Niedergeworfnen, Zerbrochenen
- sie sind es, die Schwächsten sind es, welche am meisten das Leben unter
Menschen unterminieren, welche unser Vertrauen zum Leben, zum Menschen, zu uns
am gefährlichsten vergiften und in Frage stellen.Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863 |
Wo
entginge man ihm, jenem verhängten Blick, von dem man eine tiefe Traurigkeit mit
fortträgt, jenem zurückgewendeten Blick des Mißgebornen von Anbeginn, der es verrät,
wie ein solcher Mensch zu sich selber spricht jenem Blick, der ein Seufzer
ist! »Möchte ich irgend jemand anderes sein!« so seufzt dieser Blick: »aber da
ist keine Hoffnung. Ich bin, der ich bin: wie käme ich von mir selber los? Und
doch habe ich mich satt!«Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863 |
Auf
solchem Boden der Selbstverachtung, einem eigentlichen Sumpfboden, wächst jedes
Unkraut, jedes Giftgewächs, und alles so klein, so versteckt, so unehrlich, so
süßlich. Hier wimmeln die Würmer der Rach- und Nachgefühle; hier stinkt die Luft
nach Heimlichkeiten und Uneingeständlichkeiten; hier spinnt sich beständig das
Netz der bösartigsten Verschwörung - der Verschwörung der Leidenden gegen die
Wohlgeratenen und Siegreichen, hier wird der Aspekt des Siegreichen gehaßt.Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309-310 bzw.
863-864 |
Sie wandeln unter uns herum als
leibhafte Vorwürfe, als Warnungen an uns wie als ob Gesundheit, Wohlgeratenheit,
Stärke, Stolz, Machtgefühl an sich schon lasterhafte Dinge seien, für
die man einst büßen, bitter büßen müsse: o wie sie
im Grunde dazu selbst bereit sind, büßen zu machen, wie sie darnach
dürsten, Henker zu sein. Unter ihnen gibt es in Fülle die zu Richtern
verkleideten Rachsüchtigen, welche beständig das Wort »Gerechtigkeit«
wie einen giftigen Speichel im Munde tragen, immer gespitzen Mundes, immer bereit,
alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und guten Muts seine Straße
zieht.Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 310 bzw. 864 |
Der
Wille der Kranken, irgendeine Form der Überlegenheit darzustellen, ihr Instinkt
für Schleichwege, die zu einer Tyrannei über die Gesunden führen
wo fände er sich nicht, dieser Wille gerade der Schwächsten zur
Macht! Das kranke Weib insonderheit: niemand übertrifft es in Raffinements,
zu herrschen, zu drücken, zu tyrannisieren. Das kranke Weib schont dazu nichts
Lebendiges, nichts Totes, es gräbt die begrabensten Dinge wieder auf (die
Bogos sagen: »das Weib ist eine Hyäne«). Man blicke in die Hintergründe
jeder Familie, jeder Körperschaft, jedes Gemeinwesens: überall der Kampf
der Kranken gegen die Gesunden ein stiller Kampf zumeist mit kleinen Giftpulvern,
mit Nadelstichen, mit tückischem Dulder-Mienenspiele, mitunter aber auch
mit jenem Kranken-Pharisäismus der lauten Gebärde, der am liebsten »die
edle Entrüstung« spielt. Bis in die geweihten Räume der Wissenschaft
hinein möchte es sich hörbar machen, das heisere Entrüstungs-Gebell
der krankhaften Hunde, die bissige Verlogenheit und Wut solcher »edlen«
Pharisäer ....Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 310-311 bzw.
864-865 |
Das sind alles Menschen des Ressentiment,
diese physiologisch Verunglückten und Wurmstichigen, ein ganzes zitterndes
Erdreich unterirdischer Rache, unerschöpflich, unersättlich in Ausbrüchen
gegen die Glücklichen und ebenso in Maskeraden der Rache, in Vorwänden
zur Rache: wann würden sie eigentlich zu ihrem letzten, feinsten, sublimsten
Triumph der Rache kommen? Dann unzweifelhaft, wenn es ihnen gelänge, ihr
eignes Elend, alles Elend überhaupt den Glücklichen ins Gewissen
zu schieben: so daß diese sich eines Tags ihres Glücks zu schämen
begännen und vielleicht untereinander sich sagten »es ist eine Schande,
glücklich zu sein! es gibt zu viel Elend!« .... Aber es könnte
gar kein größeres und verhängnisvolleres Mißverständnis
geben, als wenn dergestalt die Glücklichen, die Wohlgeratenen, die Mächtigen
an Leib und Seele anfingen, an ihrem Recht auf Glück zu zweifeln.
Fort mit dieser »verkehrten Welt«!Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 311 bzw. 865 |
Hat
man in aller Tiefe begriffen und ich verlange, daß man hier gerade
tief greift, tief begreift , inwiefern es schlechterdings nicht die Aufgabe
der Gesunden sein kann, Kranke zu warten, Kranke gesund zu machen, so ist damit
auch eine Notwendigkeit mehr begriffen die Notwendigkeit von Ärzten
und Krankenwärtern, die selber krank sind: und nunmehr haben und halten
wir den Sinn des asketischen Priesters mit beiden Händen. Der asketische
Priester muß uns als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken
Herde gelten: damit erst verstehen wir seine ungeheure historische Mission. Die
Herrschaft über Leidende ist sein Reich ....Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 312 bzw. 866 |
Der
Priester ... bringt Salben und Balsam mit, es ist kein Zweifel; aber erst hat
er nötig, zu verwunden, um Arzt zu sein; indem er dann den Schmerz stillt,
den die Wunde macht, vergiftet er zugleich die Wunde darauf vor
allem nämlich versteht er sich, dieser Zauberer und Raubtier-Bändiger,
in dessen Umkreis alles Gesunde notwendig krank und alles Kranke notwendig zahm
wird. Er verteidigt in der Tat gut genug seine kranke Herde, dieser seltsame Hirt
er verteidigt sie auch gegen sich, gegen die in der Herde selbst glimmende
Schlechtigkeit, Tücke, Böswilligkeit und was sonst allen Süchtigen
und Kranken untereinander zu eigen ist, er kämpft klug, hart und heimlich
mit der Anarchie und der jederzeit beginnenden Selbstauflösung innerhalb
der Herde, in welcher jener gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das
Ressentiment, sich beständig häuft und häuft. Diesen Sprengstoff
so zu entladen, daß er nicht die Herde und nicht den Hirten zersprengt,
das ist sein eigentliches Kunststück, auch seine oberste Nützlichkeit;
wollte man den Wert der priesterlichen Existenz in die kürzeste Formel fassen,
so wäre geradewegs zu sagen: der Priester ist der Richtungs-Veränderer
des Ressentiment.Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 313-314 bzw.
867-868 |
Es gibt, streng geurteilt, gar
keine »voraussetzungslose« Wissenschaft, der Gedanke einer solchen
ist unausdenkbar, paralogisch: eine Philosophie, ein »Glaube« muß
immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn,
eine Grenze, eine Methode, ein Recht auf Dasein gewinnt. (Wer es umgekehrt versteht,
wer zum Beispiel sich anschickt, die Philosophie »auf streng wissenschaftliche
Grundlage« zu stellen, der hat dazu erst nötig, nicht nur die Philosophie,
sondern auch die Wahrheit selber auf den Kopf zu stellen: die ärgste
Anstands-Verletzung, die es in Hinsicht auf zwei so ehrwürdige Frauenzimmer
geben kann!) Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 336 bzw. 890 |
Ja,
es ist kein Zweifel und hiermit lasse ich meine »fröhliche Wissenschaft«
zu Worte kommen, vgl. deren fünftes Buch: (II 208) »der Wahrhaftige,
in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft
voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur
und der Geschichte; und insofern er diese andre Welt bejaht, wie?
muß er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt
verneinen? .... Es ist immer noch ein metaphysischer Glaube, auf
dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht auch wir Erkennenden von heute,
wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch wir nehmen unser Feuer noch von
jenem Brande, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube,
der auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die
Wahrheit göttlich ist .... Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig
wird, wenn nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrtum,
die Blindheit, die Lüge wenn Gott selbst sich als unsre längste
Lüge erweist?« Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 336-337 bzw.
890-891 |
Die Wissenschaft selber bedarf
nunmehr einer Rechtfertigung (womit noch nicht einmal gesagt sein soll, daß
es eine solche für sie gibt). Man sehe sich auf diese Frage die ältesten
und die jüngsten Philosophien an: in ihnen allen fehlt ein Bewußtsein
darüber, inwiefern der Wille zur Wahrheit selbst erst einer Rechtfertigung
bedarf, hier ist eine Lücke in jeder Philosophie woher kommt das?
Weil das asketische Ideal über alle Philosophie bisher Herr war, weil
Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst gesetzt wurde, weil Wahrheit
gar nicht Problem sein durfte. Versteht man dies »durfte«? Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 337 bzw. 891 |
Von
dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist,
gibt es auch ein neues Problem: das vom Werte der Wahrheit. Der
Wille zur Wahrheit bedarf einer Kritik bestimmen wir hiermit unsre eigene
Aufgabe , der Wert der Wahrheit ist versuchsweise einmal in Frage
zu stellen .... (Wem dies zu kurz gesagt scheint, dem sei empfohlen, jenen Abschnitt
der »fröhlichen Wissenschaft« nachzulesen, welcher den Titel
trägt: »Inwiefern auch wir noch fromm sind«: (II 206 ff.), am
besten das ganze fünfte Buch des genannten Werks, insgleichen die Vorrede
zur »Morgenröte«.) Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 337 bzw. 891 |
Sieht
man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das Tier Mensch bisher
keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; »wozu Mensch überhaupt?«
war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte;
hinter jedem großen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch größeres
»Umsonst;!« Das eben bedeutet das asketische Ideal: daß
etwas fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen umstand
- er wußte sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen,
er litt am Problem seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache
ein krankhaftes Tier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem,
sondern daß die Antwort fehlte für den Schrei der Frage »wozu
leiden?« Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Tier, verneint
an sich nicht das Leiden; er will es; er sucht es selbst auf, vorausgesetzt,
daß man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens.
Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher
über der Menschheit ausgebreitet lag - und das asketische Ideal bot ihr
einen Sinn! Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 345 bzw. 899 |
Nein!
Man komme mir nicht mit der Wissenschaft, wenn ich nach dem natürlichen Antagonisten
des asketischen Ideals suche, wenn ich frage: »wo ist der gegnerische Wille,
in dem sich sein gegnerisches Ideal ausdrückt?« Dazu steht die
Wissenschaft lange nicht genug auf sich selber, sie bedarf in jedem Betrachte
erst eines Wert-Ideals, einer werteschaffenden Macht, in deren Dienste
sie an sich selber glauben darf sie selbst ist niemals werteschaffend.
Ihr Verhältnis zum asketischen Ideal ist an sich durchaus noch nicht antagonistisch;
sie stellt in der Hauptsache sogar eher noch die vorwärtstreibende Kraft
in dessen innerer Ausgestaltung dar. Ihr Widerspruch und Kampf bezieht sich, feiner
geprüft, gar nicht auf das Ideal selbst, sondern nur auf dessen Außenwerke,
Einkleidung, Maskenspiel, auf dessen zeitweilige Verhärtung, Verholzung,
Verdogmatisierung sie macht das Leben in ihm wieder frei, indem sie das
Exoterische an ihm verneint. Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 337-338 bzw.
891-892 |
Diese beiden, Wissenschaft und
asketisches Ideal, sie stehen ja auf einem Boden ich gab dies schon zu
verstehen : nämlich auf der gleichen Überschätzung der Wahrheit
(richtiger: auf dem gleichen Glauben an die Unabschätzbarkeit, Unkritisierbarkeit
der Wahrheit), eben damit sind sie sich notwendig Bundesgenossen so daß
sie, gesetzt, daß sie bekämpft werden, auch immer nur gemeinsam bekämpft
und in Frage gestellt werden können. Eine Wertabschätzung des asketischen
Ideals zieht unvermeidlich auch eine Wertabschätzung der Wissenschaft nach
sich: dafür mache man sich bei Zeiten die Augen hell, die Ohren spitz!
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338 bzw. 892 |
(Die
Kunst, vorweg gesagt, denn ich komme irgendwann des längeren darauf
zurück die Kunst, in der gerade die Lüge sich heiligt,
der Wille zur Täuschung das gute Gewissen zur Seite hat, ist dem asketischen
Ideale viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft: so empfand
es der Instinkt Platos, dieses größten Kunstfeindes, den Europa bisher
hervorgebracht hat. Plato gegen Homer: das ist der ganze, der echte Antagonismus
dort der »Jenseitige« besten Willens, der große Verleumder
des Lebens, hier dessen unfreiwilliger Vergöttlicher, die goldene Natur.
Eine Künstler-Dienstbarkeit im Dienste des asketischen Ideals ist deshalb
die eigentlichste Künstler-Korruption, die es geben kann, leider eine der
allergewöhnlichsten: denn nichts ist korruptibler als ein Künstler.)
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338 bzw. 892 |
Auch
physiologisch nachgerechnet, ruht die Wissenschaft auf dem gleichen Boden wie
das asketische Ideal: eine gewisse Verarmung des Lebens ist hier wie dort
die Voraussetzung, die Affekte kühl geworden, das Tempo verlangsamt,
die Dialektik an Stelle des Instinktes, der Ernst den Gesichtern und Gebärden
aufgedrückt (der Ernst, dieses unmißverständlichste Abzeichen
des mühsameren Stoffwechsels, des ringenden, schwerer arbeitenden Lebens).
Man sehe sich die Zeiten eines Volkes an, in denen der Gelehrte in den Vordergrund
tritt: es sind Zeiten der Ermüdung, oft des Abends, des Niederganges
die überströmende Kraft, die Lebens-Gewißheit, die Zukunfts-Gewißheit
sind dahin. Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338 bzw. 892 |
Das
Übergewicht des Mandarinen bedeutet niemals etwas Gutes: so wenig als die Heraufkunft
der Demokratie, der Friedens-Schiedsgerichte an Stelle der Kriege, der Frauen-Gleichberechtigung,
der Religion des Mitleids und was es sonst alles für Symptome des absinkenden
Lebens gibt. (Wissenschaft als Problem gefaßt; was bedeutet Wissenschaft?
vgl. darüber die Vorrede zur »Geburt der Tragödie«.) Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338-339 bzw.
892-893 |
Nein! diese »moderne Wissenschaft«
macht euch nur dafür die Augen auf! ist einstweilen die beste
Bundesgenossin des asketischen Ideals, und gerade deshalb, weil sie die unbewußteste,
die unfreiwilligste, die heimlichste und unterirdischste ist! Sie haben bis jetzt
ein Spiel gespielt, die »Armen des Geistes« und die wissenschaftlichen
Widersacher jenes Ideals (man hüte sich, anbei gesagt, zu denken, daß
sie deren Gegensatz seien, etwa als die Reichen des Geistes das
sind sie nicht, ich nannte sie Hektiker des Geistes). Diese berühmten
Siege der letzteren: unzweifelhaft, es sind Siege aber worüber?
Das asketische Ideal wurde ganz und gar nicht in ihnen besiegt, es wurde eher
damit stärker, nämlich unfaßlicher, geistiger, verfänglicher gemacht,
daß immer wieder eine Mauer, ein Außenwerk, das sich an dasselbe angebaut
hatte und seinen Aspekt vergröberte, seitens der Wissenschaft schonungslos
abgelöst, abgebrochen worden ist. Meint man in der Tat, daß etwa die
Niederlage der theologischen Astronomie eine Niederlage jenes Ideals bedeute?
.... Ist damit vielleicht der Mensch weniger bedürftig nach einer
Jenseitigkeits-Lösung seines Rätsels von Dasein geworden, daß
dieses Dasein sich seitdem noch beliebiger, eckensteherischer, entbehrlicher in
der sichtbaren Ordnung der Dinge ausnimmt? Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 339 bzw. 893 |
Ist
nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung
seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte? Ach, der Glaube an seine
Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin
er ist Tier geworden, Tier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt,
er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott ((»Kind Gottes«,
»Gottmensch«) war .... Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine
schiefe Ebene geraten er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte
weg wohin? ins Nichts? ins »durchbohrende Gefühl seines Nichts«?
.... Wohlan! dies eben wäre der gerade Weg ins alte Ideal?
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 339 bzw. 893 |
Alle
Wissenschaft (und keineswegs nur die Astronomie, über deren demütigende
und herunterbringende Wirkung Kant ein bemerkenswertes Geständnis gemacht
hat, »sie vernichtet meine Wichtigkeit« ...), alle Wissenschaft, die
natürliche sowohl, wie die unnatürliche so heiße
ich die Erkenntnis-Selbstkritik , ist heute darauf aus, dem Menschen seine
bisherige Achtung vor sich auszureden, wie als ob dieselbe nichts als ein bizarrer
Eigendünkel gewesen sei; man könnte sogar sagen, sie habe ihren eigenen
Stolz, ihre eigene herbe Form von stoischer Ataraxie darin, diese mühsam
errungene Selbstverachtung des Menschen als dessen letzten, ernstesten
Anspruch auf Achtung bei sich selbst aufrechtzuerhalten (mit Recht, in der Tat:
denn der Verachtende ist immer noch einer, der »das Achten nicht verlernt
hat« ...). Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 339-340 bzw.
893-894 |
Wird damit dem asketischen Ideale
eigentlich entgegengearbeitet? Meint man wirklich allen Ernstes noch (wie
es die Theologen eine Zeitlang sich einbildeten), daß etwa Kants Sieg
über die theologische Begriffs-Dogmatik ((raquo;Gott«, »Seele«,
»Freiheit«, »Unsterblichkeit«) jenem Ideale Abbruch getan
habe? wobei es uns einstweilen nichts angehn soll, ob Kant selber etwas
Derartiges überhaupt auch nur in Absicht gehabt hat. Gewiß ist, daß
alle Art Transzendentalisten seit Kant wieder gewonnenes Spiel haben sie
sind von den Theologen emanzipiert: welches Glück! er hat ihnen jenen
Schleichweg verraten, auf dem sie nunmehr auf eigne Faust und mit dem besten wissenschaftlichen
Anstande den »Wünschen ihres Herzens« nachgehn dürfen. Insgleichen:
wer dürfte es nunmehr den Agnostikern verargen, wenn sie, als die Verehrer
des Unbekannten und Geheimnisvollen an sich, das Fragezeichen selbst jetzt
als Gott anbeten? .... Gesetzt, daß alles, was der Mensch »erkennt«, seinen
Wünschen nicht genugtut, ihnen vielmehr widerspricht und Schauder macht,
welche göttliche Ausflucht, die Schuld davon nicht im »Wünschen«, sondern
im »Erkennen« suchen zu dürfen! . .... »Es gibt kein Erkennen: folglich
gibt es einen Gott«: welche neue elegantia syllogismi! welcher
Triumph des asketischen Ideals! Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 340 bzw. 894 |
Oder
zeigte vielleicht die gesamte moderne Geschichtsschreibung eine lebensgewissere,
idealgewissere Haltung? Ihr vornehmster Anspruch geht jetzt dahin, Spiegel
zu sein; sie lehnt alle Teleologie ab; sie will nichts mehr »beweisen«; sie verschmäht
es, den Richter zu spielen, und hat darin ihren guten Geschmack sie bejaht
so wenig, als sie verneint, sie stellt fest, sie »beschreibt« ....
Dies alles ist in einem hohen Grade asketisch; es ist aber zugleich in einem noch
höheren Grade nihilistisch .... Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 340-341 bzw.
894-895 |
Hundertmal schlimmer sind die »Beschaulichen«
: ich wüßte nichts, was so sehr Ekel machte, als solch ein »objektiver«
Lehnstuhl, solch ein duftender Genüßling vor der Historie, halb Pfaff,
halb Satyr, Parfum Renan, der schon mit dem hohen Falsett seines Beifalls verrät,
was ihm abgeht, wo es ihm abgeht, wo in diesem Falle die Parze ihre grausame Schere
ach! allzu chirurgisch gehandhabt hat! Das geht mir wider den Geschmack, auch
wider die Geduld: behalte bei solchen Aspekten seine Geduld, wer nichts an ihr
zu verlieren hat mich ergrimmt solch ein Aspekt, solche »Zuschauer«
erbittern mich gegen das »Schauspiel«, mehr noch als das Schauspiel
(die Historie selbst, man versteht mich), unversehens kommen mir dabei anakreontische
Launen. Diese Natur, die dem Stier das Horn, dem Löwen das chasm
odonion gab, wozu gab mir die Natur den Fuß? .... Zum Treten,
beim heiligen Anakreon! und nicht nur zum Davonlaufen; zum Zusammentreten der
morschen Lehnstühle, der feigen Beschaulichkeit, des lüsternen Eunuchentums
vor der Historie, der Liebäugelei mit asketischen Idealen, der Gerechtigkeits-Tartüfferie
der Impotenz! Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 341-342 bzw.
895-896 |
Alle meine Ehrfurcht dem asketischen
Ideale, sofern es ehrlich ist! solange es an sich selber glaubt und uns
keine Possen vormacht! Aber ich mag alle diese koketten Wanzen nicht, deren Ehrgeiz
unersättlich darin ist, nach dem Unendlichen zu riechen, bis zuletzt das
Unendliche nach Wanzen riecht; ich mag die übertünchten Gräber
nicht, die das Leben schauspielern; ich mag die Müden und Vernutzten nicht,
welche sich in Weisheit einwickeln und »objektiv« blicken; ich mag
die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine Tarnkappe von Ideal um ihren
Strohwisch von Kopf tragen; ich mag die ehrgeizigen Künstler nicht, die den
Asketen und Priester bedeuten möchten und im Grunde nur tragische Hanswürste
sind; ich mag auch sie nicht, diese neuesten Spekulanten in Idealismus, die Antisemiten,
welche heute ihre Augen christlich-arisch-biedermännisch verdrehn und durch
einen jede Geduld erschöpfenden Mißbrauch des wohlfeilsten Agitationsmittels,
der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Elemente des Volkes aufzuregen suchen
.... Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 342 bzw. 896 |
Europa
ist heute reich und erfinderisch vor allem in Erregungsmitteln, es scheint nichts
nötiger zu haben als Stimulantia und gebrannte Wasser: daher auch die ungeheure
Fälscherei in Idealen, diesen gebranntesten Wassern des Geistes, daher auch
die widrige, übelriechende, verlogne, pseudo-alkoholische Luft überall.
Ich möchte wissen, wieviel Schiffsladungen von nachgemachtem Idealismus,
von Helden-Kostümen und Klapperblech großer Worte, wieviel Tonnen verzuckerten
spirituosen Mitgefühls, wieviel Stelzbeine »edler Entrüstung«
zur Nachhilfe geistig Plattfüßiger, wieviel Komödianten des christlich-moralischen
Ideals heute aus Europa exportiert werden müßten, damit seine Luft
wieder reinlicher röche .... Ersichtlich steht in Hinsicht auf diese Überproduktion
eine neue HandelsMöglichkeit offen, ersichtlich ist mit kleinen Ideal-Götzen
und zugehörigen »Idealisten« ein neues »Geschäft«
zu machen man überhöre diesen Zaunpfahl nicht! Wer hat Mut genug
dazu? wir haben es in der Hand, die ganze Erde zu »idealisieren«!..
Aber was rede ich von Mut: hier tut eins nur not, eben die Hand, eine unbefangne,
eine sehr unbefangne Hand .... Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 342-343 bzw.
896-897 |
Genug! Genug! Lassen wir diese
Kuriositäten und Komplexitäten des modernsten Geistes, an denen ebensoviel
zum Lachen als zum Verdrießen ist: gerade unser Problem kann deren entraten,
das Problem von der Bedeutung des asketischen Ideals was hat dasselbe mit
gestern und heute zu tun! Jene Dinge sollen von mir in einem andren Zusammenhange
gründlicher und härter angefaßt werden (unter dem Titel »Zur
Geschichte des europäischen Nihilismus«; ich verweise dafür auf
ein Werk, das ich vorbereite: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung
aller Werte). Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 343 bzw. 897 |
Worauf
es mir allein ankommt, hier hingewiesen zu haben, ist dies: das asketische Ideal
hat auch in der geistigsten Sphäre einstweilen immer nur noch eine Art von
wirklichen Feinden und Schädigern: das sind die Komödianten dieses Ideals
denn sie wecken Mißtrauen. Überall sonst, wo der Geist heute
streng, mächtig und ohne Falschmünzerei am Werke ist, entbehrt er jetzt
überhaupt des Ideals der populäre Ausdruck für diese Abstinenz
ist »Atheismus« : abgerechnet seines Willens zur Wahrheit.
Dieser Wille aber, dieser Rest von Ideal, ist, wenn man mir glauben will,
jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulierung, esoterisch
ganz und gar, alles Außenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest,
als sein Kern. Der unbedingte redliche Atheismus ( und seine Luft
allein atmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters!) steht demgemäß
nicht im Gegensatz zu jenem Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur
eine seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schlußformen und inneren
Folgerichtigkeiten er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer
zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge
im Glauben an Gott verbietet. (Derselbe Entwicklungsgang in Indien, in vollkommner
Unabhängigkeit und deshalb etwas beweisend; dasselbe Ideal zum gleichen Schlusse
zwingend; der entscheidende Punkt fünf Jahrhunderte vor der europäischen
Zeitrechnung erreicht, mit Buddha, genauer: schon mit der Sankhyam-Philosophie,
diese dann durch Buddha popularisiert und zur Religion gemacht.) Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 343-344 bzw.
897-898 |
Was, in aller Strenge gefragt,
hat eigentlich über den christlichen Gott gesiegt? Die Antwort steht
in meiner »fröhlichen Wissenschaft« (II, 227 f.): »Die
christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit,
die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimiert
zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis.
Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines
Gottes sei; die Geschichte interpretieren zu Ehren einer göttlichen Vernunft,
als beständiges Zeugnis einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlußabsichten;
die eignen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt
haben, wie als ob alles Fügung, alles Wink, alles dem Heil der Seele zu Liebe
ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen
gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich,
als Lügnerei, Feminismus, Schwachheit, Feigheit mit dieser Strenge,
wenn irgendwomit, sind wir eben gute Europäer und Erben von Europas
längster und tapferster Selbstüberwindung.« Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 344 bzw. 898 |
Alle
großen Dinge gehen durch sich selbst zugrunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung:
so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der notwendigen »Selbstüberwindung«
im Wesen des Lebens immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der
Ruf: »patere legem, quam ipse tulisti.« Dergestalt ging das
Christentum als Dogma zugrunde, an seiner eignen Moral; dergestalt muß
nun auch das Christentum als Moral noch zugrunde gehn wir stehen
an der Schwelle dieses Ereignisses. Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen
Schluß nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren stärksten
Schluß, ihren Schluß gegen sich selbst; dies aber geschieht,
wenn sie die Frage stellt »was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?«
.... Und hier rühre ich wieder an mein Problem, an unser Problem, meine
unbekannten Freunde ( denn noch weiß ich von keinem
Freunde): welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, daß
in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewußtsein gekommen
wäre? .... An diesem Sich-bewußt-werden des Willens zur Wahrheit geht
von nun an daran ist kein Zweifel die Moral zugrunde: jenes große
Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europas
aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste
aller Schauspiele .... Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 344-345 bzw.
898-899 |
Sieht man vom asketischen Ideale
ab: so hatte der Mensch, das Tier Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden
enthielt kein Ziel; »wozu Mensch überhaupt?« war eine
Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem
großen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch größeres
»Umsonst!« Das eben bedeutet das asketische Ideal: daß etwas
fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen umstand
er wußte sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen,
er litt am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache
ein krankhaftes Tier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem,
sondern daß die Antwort fehlte für den Schrei der Frage »wozu
leiden?« Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Tier, verneint an
sich nicht das Leiden; er will es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt,
daß man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens.
Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher
über der Menschheit ausgebreitet lag und das asketische Ideal bot
ihr einen Sinn! Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 345 bzw. 899 |
Es
war bisher der einzige Sinn; irgend ein Sinn ist besser als gar kein Sinn; das
asketische Ideal war in jedem Betracht das »faute de mieux« par
excellence, das es bisher gab. In ihm war das Leben ausgelegt; die ungeheure
Leere schien ausgefüllt; die Tür schloß sich vor allem selbstmörderischen
Nihilismus zu. Die Auslegung - es ist kein Zweifel - brachte neues Leiden mit
sich; tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben nagenderes: sie brachte alles
Leiden unter die Perspektive der Schuld .... Aber trotz alledem - der Mensch
war damit gerettet, er hatte einen Sinn, er war fürderhin nicht mehr wie
ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, des »Ohne-Sinns«; er
konnte nunmehr etwas wollen - gleichgültig zunächst, wohin, wozu,
womit er wollte: der Wille selbst war gerettet. Man kann sich schlechterdings
nicht verbergen, was eigentlich jenes ganze Wollen ausdrückt, das
vom asketischen Ideale her seine Richtung bekommen hat: dieser Haß gegen
das Menschliche, mehr noch gegen das Tierische, mehr noch gegen das Stoffliche;
dieser Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst; die Furcht vor dem Glück
und der Schönheit, dieses Verlangen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden,
Tod, Wunsch, Verlangen selbst - das alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen,
einen Willen zum Nichts, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Aufglehnung
gegen die grundsätzlichen Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt
ein Wille! .... Und, um es noch zum Schluß zu sagen, was ich
anfangs sagte: lieber will noch der Mensch das Nichts wollen als nicht
wollen .... Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 345-346 bzw.
899-900 |
Um
allein zu leben, muß man ein Tier oder ein Gott sein sagt Aristoteles.
Fehlt der dritte Fall: man muß beides sein Philosoph.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 389 bzw.
943 |
Aus
der Kriegsschule des Lebens. Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 389 bzw.
943 |
Der Mensch strebt nicht nach
Glück; nur der Engländer tut das.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 390 bzw.
944 |
»Böse Menschen haben keine
Lieder.« - Wie kommt es, daß die Russen Lieder haben?Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 392 bzw.
946 |
Wenn das Weib männliche Tugenden
hat, so ist es zum Davonlaufen; und wenn es keine männliche Tugenden hat,
so läuft es selbst davon.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 392 bzw.
951 |
Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit,
daß die großen Weisen Niedergangs-Typen sind, zuerst gerade
in einem Falle aufgegangen, wo ihr am stärksten das gelehrte und ungelehrte
Vorurteil entgegensteht: ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome,
als Werkzeuge der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch
(»Geburt der Tragödie«, 1872).Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 397 bzw.
951 |
Sokrates gehörte, seiner Herkunft
nach, zum niedersten Volk: Sokrates war Pöbel.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 398 bzw.
952 |
Mit Sokrates schlägt der griechische
Geschmack zugunsten der Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor allem wird
damit ein vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik
obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren
ab: sie galten als schlechte Manieren, sie stellten bloß. Man warnte die
Jugend vor ihnen.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 399 bzw.
953 |
Der Dialektiker überläßt
seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot zu sein: er macht wütend, er macht
zugleich hilflos. Der Dialektiker depotenziert den Intellekt seines Gegners.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 400 bzw.
954 |
Der Moralismus der griechischen Philosophen
von Plato ab ist pathologisch bedingt: ebenso ihre Schätzung der Dialektik.
Vernunft = Tugend = Glück heißt bloß: man muß es dem Sokrates
nachmachen und gegen die dunklen Begehrungen ein Tageslicht in Permanenz herstellen
das Tageslicht der Vernunft. Man muß klug, klar, hell um jeden
Preis sein: jedes Nachgeben an die Instinkte, ans Unbewußte führt hinab
....Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 401 bzw.
955 |
Ich habe zu verstehn gegeben, womit
Sokrates faszinierte: er schien ein Arzt, ein Heiland zu sein. Ist es nötig,
noch den Irrtum aufzuzeigen, der in seinem Glauben an die »Vernünftigkeit
um jeden Preis« lag? Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen
und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, daß
sie gegen dieselbe Krieg machen.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 401 bzw.
955 |
Es ist ein Selbstbetrug seitens der
Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten,
daß sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht außerhalb
ihrer Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder
ein Ausdruck der décadence sie verändern deren Ausdruck,
sie schaffen sie selbst nicht weg.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 401 bzw.
955 |
Sie fragen mich, was alles Idiosynkrasie
bei den Philosophen ist? .... Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr
Haß gegen die Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägyptizismus.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 403 bzw.
957 |
Die »Vernunft« ist die
Ursache, daß wir das Zeugnis der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das
Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht .... Aber damit
wird Heraklit ewig recht behalten, daß das Sein eine leere Fiktion ist.
Die »scheinbare« Welt ist die einzige: die »wahre Welt«
ist nur hinzugelogen ....Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 404 bzw.
958 |
Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft,
als wir uns entschlossen haben, das Zeugnis der Sinne anzunehmen
als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist
Mißgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie,
Psychologie, Erkenntnistheorie. Oder Formal-Wissenschaft, Zeichen-Lehre:
wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit
gar nicht vor, nicht einmal als Problem: ebensowenig als die Frage, welchen Wert
überhaupt eine solche Zeichen-Konvention, wie die Logik ist, hat.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 404 bzw.
958 |
Ehemals nahm man die Veränderung,
den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als
Zeichen dafür, daß etwas da sein müsse, das uns irreführe.
Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurteil uns zwingt,
Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen,
uns gewissermaßen verstrickt in den Irrtum, nezessitiert zum Irrtum;
so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind,
daß hier der Irrtum ist. Es steht damit nicht anders als mit den
Bewegungen des großen Gestirns: bei ihnen hat der Irrtum unser Auge, hier
hat er unsre Sprache zum beständigen Anwalt.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 405 bzw.
959 |
Die vier großen Irrtümer
: (1) Irrtum
der Verwechslung von Ursache und Folge. .... (2)
Irrtum einer falschen Ursächlichkeit. .... (3)
Irrtum der imaginären Ursachen. .... (4)
Irrtum vom freien Willen. ....Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 417-424
bzw. 971-978 |
Man
kennt meine Forderung an den Philosophen, sich jenseits von Gut und Böse
zu stellen die Illusion des moralischen Urteils unter sich zu haben.
Diese Forderung folgt aus einer Einsicht, die von mir zum ersten Male formuliert
worden ist: daß es gar keine moralischen Tatsachen gibt.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 425 bzw.
979 |
Das moralische Urteil hat das mit dem
religiösen gemein, daß es an Realitäten glaubt, die keine sind.
Moral ist nur eine Ausdeutung gewisser Phänomene, bestimmter geredet, eine
Mißdeutung. Das moralische Urteil gehört, wie das religiöse,
einer Stufe der Unwissenheit zu, auf der selbst der Begriff des Realen, die Unterscheidung
des Realen und Imaginären noch fehlt: so daß »Wahrheit«
auf solcher Stufe lauter Dinge bezeichnet, die wir heute »Einbildungen«
nennen. Das moralische Urteil ist insofern nie wörtlich zu nehmen: als solches
enthält es immer nur Widersinn. Aber es bleibt als Semiotik unschätzbar:
es offenbart, für den Wissenden wenigstens, die wertvollsten Realitäten
von Kulturen und Innerlichkeiten, die nicht genug wußten, um sich
selbst zu »verstehn«. Moral ist bloß Zeichenrede, bloß
Symptomatologie: man muß bereits wissen, worum es sich handelt, um
von ihr Nutzen zu ziehn.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 425 bzw.
979 |
Zu allen Zeiten
hat man die Menschen »verbessern« wollen: dies vor allem hieß
Moral. Aber unter dem gleichen Wort ist das Allerverschiedenste von Tendenz versteckt.
Sowohl die Zähmung der Bestie Mensch, als die Züchtung
einer bestimmten Gattung Mensch ist »Besserung« genannt worden: erst
diese zoologischen termini drücken Realitäten aus Realitäten
freilich, von denen der typische »Verbesserer«, der Priester, nichts
weiß nichts wissen will.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 425 bzw.
979 |
Die Zähmung
eines Tieres seine »Besserung« nennen ist in unsern Ohren beinahe
ein Scherz. Wer weiß, was in Menagerien geschieht, zweifelt daran, daß
die Bestie daselbst »verbessert« wird. Sie wird geschwächt, sie
wird weniger schädlich gemacht, sie wird durch den depressiven Affekt der
Furcht, durch Schmerz, durch Wunden, durch Hunger zur krankhaften Bestie.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 425-426
bzw. 979-980 |
Nicht anders steht es mit
dem gezähmten Menschen, den der Priester »verbessert« hat. Im
frühen Mittelalter, wo in der Tat die Kirche vor allem eine Menagerie war,
machte man allerwärts auf die schönsten Exemplare der »blonden
Bestie« Jagd man »verbesserte« zum Beispiel die vornehmen
Germanen. Aber wie sah hinterdrein ein solcher »verbesserter«, ins
Kloster verführter Germane aus? Wie eine Karikatur des Menschen, wie eine
Mißgeburt: er war zum »Sünder« geworden, er stak im Käfig,
man hatte ihn zwischen lauter schreckliche Begriffe eingesperrt .... Da lag er
nun, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig; voller Haß
gegen die Antriebe zum Leben, voller Verdacht gegen alles, was noch stark und
glücklich war. Kurz, ein »Christ« .... Physiologisch geredet:
im Kampf mit der Bestie kann Krankmachen das einzige Mittel sein, sie schwach
zu machen. Das verstand die Kirche: sie verdarb den Menschen, sie schwächte
ihn aber sie nahm in Anspruch, ihn »verbessert« zu haben.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 426 bzw.
980 |
Nehmen wir den andern Fall der sogenannten
Moral, den Fall der Züchtung einer bestimmten Rasse und Art. Das großartigste
Beispiel dafür gibt die indische Moral, als »Gesetz des Manu«
zur Religion sanktioniert. Hier ist die Aufgabe gestellt, nicht weniger als vier
Rassen auf einmal zu züchten: eine priesterliche, eine kriegerische, eine
händler- und ackerbauerische, endlich eine Dienstboten-Rasse, die Sudras.
Ersichtlich sind wir hier nicht mehr unter Tierbändigern: eine hundertmal
mildere und vernünftigere Art Mensch ist die Voraussetzung, um auch nur den
Plan einer solchen Züchtung zu konzipieren. Man atmet auf, aus der christlichen
Kranken- und Kerkerluft in diese gesündere, höhere, weitere Welt einzutreten.
Wie armselig ist das »Neue Testament« gegen Manu, wie schlecht riecht
es! Aber auch diese Organisation hatte nötig, furchtbar zu
sein nicht diesmal im Kampf mit der Bestie, sondern mit ihrem Gegensatz-Begriff,
dem Nicht-Zucht-Menschen, dem Mischmasch-Menschen, dem Tschandala. Und wieder
hatte sie kein andres Mittel, ihn ungefährlich, ihn schwach zu machen, als
ihn krank zu machen es war der Kampf mit der »großen Zahl«.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 426-427
bzw. 980-981 |
Vielleicht gibt es nichts
unserm Gefühle Widersprechenderes als diese Schutzmaßregeln der indischen
Moral. Das dritte Edikt zum Beispiel (Avadana-Sastra I), das »von den unreinen
Gemüsen«, ordnet an, daß die einzige Nahrung, die den Tschandala
erlaubt ist, Knoblauch und Zwiebeln sein sollen, in Anbetracht, daß die
heilige Schrift verbietet, ihnen Korn oder Früchte, die Körner tragen,
oder Wasser oder Feuer zu geben. Dasselbe Edikt setzt fest, daß das
Wasser, welches sie nötig haben, weder aus den Flüssen, noch aus den
Quellen, noch aus den Teichen genommen werden dürfe, sondern nur aus den
Zugängen zu Sümpfen und aus Löchern, welche durch die Fußtapfen
der Tiere entstanden sind. Insgleichen wird ihnen verboten, ihre Wäsche zu
waschen und sich selbst zu waschen, da das Wasser, das ihnen aus Gnade
zugestanden wird, nur benutzt werden darf, den Durst zu löschen. Endlich
ein Verbot an die Sudra-Frauen, den Tschandala-Frauen bei der Geburt beizustehn,
insgleichen noch eins für die letzteren, einander dabei beizustehn.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 427 bzw.
981 |
Der Erfolg einer solchen Sanitäts-Polizei
blieb nicht aus: mörderische Seuchen, scheußliche Geschlechtskrankheiten
und daraufhin wieder »das Gesetz des Messers«, die Beschneidung für
die männlichen, die Abtragung der kleinen Schamlippen für die weiblichen
Kinder anordnend. Manu selbst sagt: »die Tschandala sind die Frucht
von Ehebruch, Inzest und Verbrechen ( dies die notwendige Konsequenz
des Begriffs Züchtung). Sie sollen zu Kleidern nur die Lumpen von Leichnamen
haben, zum Geschirr zerbrochne Töpfe, zum Schmuck altes Eisen, zum Gottesdienst
nur die bösen Geister; sie sollen ohne Ruhe von einem Ort zum andern schweifen.
Es ist ihnen verboten, von links nach rechts zu schreiben und sich der rechten
Hand zum Schreiben zu bedienen: der Gebrauch der rechten Hand und des Von-links-nach-rechts
ist bloß den Tugendhaften vorbehalten, den Leuten von Rasse.«Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 427 bzw.
981 |
Diese Verfügungen sind lehrreich
genug: in ihnen haben wir einmal die arische Humanität, ganz rein, ganz ursprünglich
wir lernen, daß der Begriff »reines Blut« der Gegensatz
eines harmlosen Begriffs ist. Andrerseits wird klar, in welchem Volk sich
der Haß, der Tschandala-Haß gegen diese »Humanität«
verewigt hat, wo er Religion, wo er Genie geworden ist .... Unter diesem
Gesichtspunkte sind die Evangelien eine Urkunde ersten Ranges; noch mehr das Buch
Henoch. Das Christentum, aus jüdischer Wurzel und nur verständlich
als Gewächs dieses Bodens, stellt die Gegenbewegung gegen jede Moral
der Züchtung, der Rasse, des Privilegiums dar es ist die antiarische
Religion par excellence: das Christentum die Umwertung aller arischen Werte,
der Sieg der Tschandala-Werte, das Evangelium den Armen, den Niedrigen gepredigt,
der Gesamt-Aufstand alles Niedergetretenen, Elenden, Mißratenen, Schlechtweggekommenen
gegen die »Rasse« die unsterbliche Tschandala-Rache als Religion
der Liebe.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 427-428
bzw. 981-982 |
Die
Moral der Züchtung und die Moral der Zähmung sind in den
Mitteln, sich durchzusetzen, vollkommen einander würdig: wir dürfen
als obersten Satz hinstellen, daß, um Moral zu machen, man den unbedingten
Willen zum Gegenteil haben muß. Dies ist das große, das unheimliche
Problem, dem ich am längsten nachgegangen bin: die Psychologie der »Verbesserer«
der Menschheit. Eine kleine und im Grunde bescheidne Tatsache, die der sogenannten
pia fraus, gab mir den ersten Zugang zu diesem Problem: die pia fraus,
das Erbgut aller Philosophen und Priester, die die Menschheit »verbesserten«.
Weder Manu, noch Plato, noch Konfuzius, noch die jüdischen und christlichen
Lehrer haben je an ihrem Recht zur Lüge gezweifelt. Sie haben an ganz
andren Rechten nicht gezweifelt .... In Formel ausgedrückt dürfte man
sagen: alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden
sollte, waren von Grund aus unmoralisch.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 428 bzw.
982 |
Man mache einen Überschlag: es
liegt nicht nur auf der Hand, daß die ... Kultur niedergeht, es fehlt auch
nicht am zureichenden Grund dafür. Niemand kann zuletzt mehr ausgeben, als
er hat das gilt von Einzelnen, das gilt von Völkern. Gibt man sich
für Macht, für große Politik, für Wirtschaft, Weltverkehr,
Parlamentarismus, Militär-Interessen aus gibt man das Quantum Verstand,
Ernst, Wille, Selbstüberwindung, das man ist, nach dieser Seite weg,
so fehlt es auf der andern Seite.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 431 bzw.
985 |
Die Kultur und
der Staat man betrüge sich hierüber nicht sind Antagonisten:
»Kultur-Staat« ist bloß eine moderne Idee. Das eine lebt vom
andern, das eine gedeiht auf Unkosten des andern. Alle großen Zeiten der
Kultur sind politische Niedergangs-Zeiten: was groß ist im Sinn der Kultur,
war unpolitisch, selbst antipolitisch ....Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 431 bzw.
985 |
Dem ganzen höheren
Erziehungswesen in Deutschland ist die Hauptsache abhanden gekommen: Zweck sowohl
als Mittel zum Zweck. Daß Erziehung, Bildung selbst Zweck
ist und nicht »das Reich« , daß es zu diesem
Zweck der Erzieher bedarf und nicht der Gymnasiallehrer und
Universitäts-Gelehrten man vergaß das .... Erzieher tun not,
die selbst erzogen sind, überlegne, vornehme Geister, in jedem Augenblick
bewiesen, durch Wort und Schweigen bewiesen, reife, süß gewordene Kulturen
nicht die gelehrten Rüpel, welche Gymnasium und Universität
der Jugend heute als »höhere Ammen« entgegenbringt. Die Erzieher
fehlen, die Ausnahmen der Ausnahmen abgerechnet, die erste Vorbedingung
der Erziehung: daher der Niedergang der deutschen Kultur. Eine jener allerseltensten
Ausnahmen ist mein verehrungswürdiger Freund Jacob Burckhardt in Basel: ihm
zuerst verdankt Basel seinen Vorrang von Humanität. Was die »höheren
Schulen« Deutschlands tatsächlich erreichen, das ist eine brutale Abrichtung,
um, mit möglichst geringem Zeitverlust, eine Unzahl junger Männer für
den Staatsdienst nutzbar, ausnutzbar zu machen. »Höhere Erziehung«
und Unzahl das widerspricht sich von vornherein. Jede höhere Erziehung
gehört nur der Ausnahme: man muß privilegiert sein, um ein Recht auf
ein so hohes Privilegium zu haben.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 432 bzw.
986 |
Was bedingt
den Niedergang der deutschen Kultur? Daß »höhere Erziehung«
kein Vorrecht mehr ist der Demokratismus der »allgemeinen«,
der gemein gewordnen »Bildung«.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 433 bzw.
987 |
Es steht
niemandem mehr frei, im jetzigen Deutschland seinen Kindern eine vornehme Erziehung
zu geben: unsre »höheren« Schulen sind allesamt auf die zweideutigste
Mittelmäßigkeit eingerichtet, mit Lehrern, mit Lehrplänen, mit
Lehrzielen. Und überall herrscht eine unanständige Hast, wie als ob
etwas versäumt wäre, wenn der junge Mann mit 23 Jahren noch nicht »fertig«
ist, noch nicht Antwort weiß auf die »Hauptfrage«: welchen
Beruf? Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht »Berufe«,
genau deshalb, weil sie sich berufen weiß .... Sie hat Zeit, sie nimmt sich
Zeit, sie denkt gar nicht daran, »fertig« zu werden mit dreißig
Jahren ist man, im Sinne hoher Kultur, ein Anfänger, ein Kind. Unsre
überfüllten Gymnasien, unsre überhäuften, stupid gemachten
Gymnasiallehrer sind ein Skandal: um diese Zustände in Schutz zu nehmen,
wie es jüngst die Professoren von Heidelberg getan haben, dazu hat man vielleicht
Ursachen Gründe dafür gibt es nicht.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 433 bzw.
987 |
Anti-Darwin.
Was den berühmten »Kampf ums Leben« betrifft, so scheint
er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme;
der Gesamt-Aspekt des Lebens ist nicht die Notlage, die Hungerlage, vielmehr
der Reichtum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung wo gekämpft
wird, kämpft man um Macht .... Man soll nicht Malthus mit der Natur
verwechseln. Gesetzt aber, es gibt diesen Kampf und in der Tat,
er kommt vor , so läuft er leider umgekehrt aus, als die Schule Darwins
wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen dürfte: nämlich
zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen.
Die Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden
immer wieder über die Starken Herr das macht, sie sind die große
Zahl, sie sind auch klüger .... Darwin hat den Geist vergessen (
das ist englisch!), die Schwachen haben mehr Geist .... Man muß Geist
nötig haben, um Geist zu bekommen man verliert ihn, wenn man ihn nicht
mehr nötig hat. Wer die Stärke hat, entschlägt sich des Geistes
( »laß fahren dahin!« denkt man heute in Deutschland »
das Reich muß uns doch bleiben« ...). Ich verstehe unter Geist,
wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die große
Selbstbeherrschung und alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört
ein großer Teil der sogenannten Tugend).Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 444-445
bzw. 998-999 |
Ich trage es den Deutschen
nach, sich über Kant und seine »Philosophie der Hintertüren«,
wie ich sie nenne, vergriffen zu haben das war nicht der Typus der
intellektuellen Rechtschaffenheit. Das andre, was ich nicht hören
mag, ist ein berüchtigtes »und«: die Deutschen sagen »Goethe
und Schiller«, ich fürchte, sie sagen »Schiller
und Goethe« .... Kennt man noch nicht diesen Schiller? Es
gibt noch schlimmere »und«; ich habe mit meinen eigenen Ohren, allerdings
nur unter Universitäts-Professoren, gehört »Schopenhauer und
Hartmann«.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 445-446
bzw. 999-1000 |
Was den Menschen rechtfertigt,
ist seine Realität sie wird ihn ewig rechtfertigen. Um wie viel mehr
wert ist der wirkliche Mensch, verglichen mit irgendeinem bloß gewünschten,
erträumten, erstunkenen und erlogenen Menschen? mit irgendeinem idealen
Menschen? .... Und nur der ideale Mensch geht dem Philosophen wider den GeschmackDers., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 453-454
bzw. 1007-1008 |
Naturwert des Egoismus.
Die Selbstsucht ist so viel wert, als der physiologisch wert ist, der sie
hat: sie kann sehr viel wert sein, sie kann nichtswürdig und verächtlich
sein. Jeder Einzelne darf daraufhin angesehn werden, ob er die aufsteigende oder
die absteigende Linie des Lebens darstellt. Mit einer Entscheidung darüber
hat man auch einen Kanon dafür, was seine Selbstsucht wert ist. Stellt er
das Aufsteigen der Linie dar, so ist in der Tat sein Wert außerordentlich
und um des Gesamt-Lebens willen, das mit ihm einen Schritt weiter
tut, darf die Sorge um Erhaltung, um Schaffung seines optimum von Bedingungen
selbst extrem sein. Der Einzelne, das »Individuum«, wie Volk und Philosoph
das bisher verstand, ist ja ein Irrtum: er ist nichts für sich, kein Atom,
kein »Ring der Kette«, nichts bloß Vererbtes von ehedem
er ist die ganze eine Linie Mensch bis zu ihm hin selber noch .... Stellt er die
absteigende Entwicklung, den Verfall, die chronische Entartung, Erkrankung dar
( Krankheiten sind, ins Große gerechnet, bereits Folgeerscheinungen
des Verfalls, nicht dessen Ursachen), so kommt ihm wenig Wert zu, und die
erste Billigkeit will, daß er den Wohlgeratnen so wenig als möglich
wegnimmt. Er ist bloß noch deren Parasit ....Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 454 bzw.
1008 |
Christ und Anarchist.
Wenn der Anarchist, als Mundstück niedergehender Schichten der Gesellschaft,
mit einer schönen Entrüstung »Recht«, »Gerechtigkeit«,
»gleiche Rechte« verlangt, so steht er damit nur unter dem Drucke
seiner Unkultur, welche nicht zu begreifen weiß, warum er eigentlich
leidet woran er arm ist, an Leben .... Ein Ursachen-Trieb ist in
ihm mächtig: jemand muß schuld daran sein, daß er sich schlecht
befindet .... Auch tut ihm die »schöne Entrüstung« selber
schon wohl, es ist ein Vergnügen für alle armen Teufel, zu schimpfen
es gibt einen kleinen Rausch von Macht. Schon die Klage, das Sich-Beklagen
kann dem Leben einen Reiz geben, um dessentwillen man es aushält: eine feinere
Dosis Rache ist in jeder Klage, man wirft sein Schlechtbefinden, unter
Umständen selbst seine Schlechtigkeit denen, die anders sind, wie ein Unrecht,
wie ein unerlaubtes Vorrecht vor. »Bin ich eine Kanaille, so solltest du
es auch sein«: auf diese Logik hin macht man Revolution. Das Sich-Beklagen
taugt in keinem Falle etwas: es stammt aus der Schwäche. Ob man sein Schlecht-Befinden
andern oder sich selber zumißt ersteres tut der Sozialist,
letzteres zum Beispiel der Christ , macht keinen eigenlichen Unterschied.
Das Gemeinsame, sagen wir auch das Unwürdige daran ist, daß
jemand schuld daran sein soll, daß man leidet kurz, daß der
Leidende sich gegen sein Leiden den Honig der Rache verordnet. Die Objekte dieses
Rach-Bedürfnisses als eines Lust-Bedürfnisses sind Gelegenheits-Ursachen:
der Leidende findet überall Ursachen, seine kleine Rache zu kühlen,
ist er Christ, nochmals gesagt, so findet er sie in sich .... Der
Christ und der Anarchist Beide sind décadents. Aber
auch wenn der Christ die »Welt« verurteilt, verleumdet, beschmutzt,
so tut er es aus dem gleichen Instinkte, aus dem der sozialistische Arbeiter die
Gesellschaft verurteilt, verleumdet, beschmutzt: das »Jüngste
Gericht« selbst ist noch der süße Trost der Rache die
Revolution, wie sie auch der sozialistische Arbeiter erwartet, nur etwas ferner
gedacht .... Das »Jenseits« selbst wozu ein Jenseits, wenn
es nicht ein Mittel wäre, das Diesseits zu beschmutzen?Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 455 bzw.
1009 |
Kritik der décadence-Moral.
Eine »altruistische« Moral, eine Moral, bei der die Selbstsucht
verkümmert , bleibt unter allen Umständen ein schlechtes Anzeichen.
Dies gilt vom Einzelnen, dies gilt namentlich von Völkern. Es fehlt am Besten,
wenn es an der Selbstsucht zu fehlen beginnt. Instinktiv das Sich-Schädliche
wählen, Gelockt-werden durch »uninteressierte« Motive
gibt beinahe die Formel ab für décadence. »Nicht seinen
Nutzen suchen« das ist bloß das moralische Feigenblatt für
eine ganz andere, nämlich physiologische Tatsächlichkeit: »ich
weiß meinen Nutzen nicht mehr zu finden« .... Disgregation
der Instinkte! Es ist zu Ende mit ihm, wenn der Mensch altruistisch wird.
Statt naiv zu sagen »ich bin nichts mehr wert«, sagt die Moral-Lüge
im Munde des décadent: »Nichts ist etwas wert, das Leben
ist nichts wert« .... Ein solches Urteil bleibt zuletzt eine große
Gefahr, es wirkt ansteckend auf dem ganzen morbiden Boden der Gesellschaft
wuchert es bald zu tropischer Begriffs-Vegetation empor, bald als Religion (Christentum),
bald als Philosophie (Schopenhauerei). Unter Umständen vergiftet eine solche
aus Fäulnis gewachsene Giftbaum-Vegetation mit ihrem Dunste weithin, auf
Jahrtausende hin das Leben ....Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 456 bzw.
1010 |
Moral für Ärzte.
Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande
ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetieren in feiger
Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das
Recht zum Leben verlorengegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe
Verachtung nach sich ziehn. Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler
dieser Verachtung zu sein nicht Rezepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis
Ekel vor ihrem Patienten .... Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die
des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens,
des aufsteigenden Lebens, das rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen
des entartenden Lebens verlangt zum Beispiel für das Recht
auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben
....Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 456 bzw.
1010 |
Auf eine stolze Art sterben, wenn
es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien
Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit Helle und Freudigkeit,
inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so daß ein wirkliches Abschiednehmen
noch möglich ist, wo der noch da ist, der sich verabschiedet, insgleichen
ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine Summierung
des Lebens alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften
Komödie, die das Christentum mit der Sterbestunde getrieben hat. Man soll
es dem Christentume nie vergessen, daß es die Schwäche des Sterbenden
zu Gewissens-Notzucht, daß es die Art des Todes selbst zu Wert-Urteilen
über Mensch und Vergangenheit gemißbraucht hat! Hier gilt es,
allen Feigheiten des Vorurteils zum Trotz, vor allem die richtige, das heißt
physiologische Würdigung des sogenannten natürlichen Todes herzustellen:
der zuletzt auch nur ein »unnatürlicher«, ein Selbstmord ist.
Man geht nie durch jemand anderes zugrunde, als durch sich selbst. Nur ist es
der Tod unter den verächtlichsten Bedingungen, ein unfreier Tod, ein Tod
zur unrechten Zeit, ein Feiglings-Tod. Man sollte, aus Liebe zum Leben
, den Tod anders wollen, frei, bewußt, ohne Zufall, ohne Überfall
....Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 456-457
bzw. 1010-1011 |
Endlich ein Rat für
die Herrn Pessimisten und andre décadents. Wir haben es nicht in der Hand
zu verhindern, geboren zu werden: aber wir können diesen Fehler denn
bisweilen ist es ein Fehler wieder gutmachen. Wenn man sich abschafft,
tut man die achtungswürdigste Sache, die es gibt: man verdient beinahe damit,
zu leben .... Die Gesellschaft, was sage ich! das Leben selber hat mehr
Vorteil davon als durch irgendwelches »Leben« in Entsagung, Bleichsucht
und andrer Tugend man hat die andern von seinem Anblick befreit, man hat
das Leben von einem Einwand befreit .... Der Pessimismus, pur ... beweist
sich erst durch die Selbst-Widerlegung der Herrn Pessimisten: man muß
einen Schritt weiter gehn in seiner Logik, nicht bloß mit »Wille und
Vorstellung«, wie Schopenhauer es tat, das Leben verneinen , man muß
Schopenhauer zuerst verneinen .... Der Pessimismus, anbei gesagt, so ansteckend
er ist, vermehrt trotzdem nicht die Krankhaftigkeit einer Zeit, eines Geschlechts
im ganzen: er ist deren Ausdruck. Man verfällt ihm, wie man der Cholera verfällt:
man muß morbid genug dazu schon angelegt sein. Der Pessimismus selbst macht
keinen einzigen décadent mehr; ich erinnere an das Ergebnis der
Statistik, daß die Jahre, in denen die Cholera wütet, sich in der Gesamt-Ziffer
der Sterbefälle nicht von andern Jahrgängen unterscheiden.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 457-458
bzw. 1011-1012 |
Ob wir moralischer geworden
sind. Gegen meinen Begriff »jenseits von Gut und Böse«
hat sich, wie zu erwarten stand, die ganze Ferozität der moralischen
Verdummung ... ins Zeug geworfen: ich hätte artige Geschichten davon zu erzählen.
Vor allem gab man mir die »unleugbare Überlegenheit« unsrer Zeit
im sittlichen Urteil zu überdenken, unsern wirklich hier gemachten Fortschritt:
ein Cesare Borgia sei, im Vergleich mit uns, durchaus nicht als ein »höherer
Mensch«, als eine Art Übermensch, wie ich es tue, aufzustellen
.... Ein Schweizer Redakteur, vom »Bund«, ging so weit, nicht ohne
seine Achtung vor dem Mut zu solchem Wagnis auszudrücken, den Sinn meines
Werks dahin zu »verstehn«, daß ich mit demselben die Abschaffung
aller anständigen Gefühle beantragte. Sehr verbunden! ich erlaube
mir, als Antwort, die Frage aufzuwerfen, ob wir wirklich moralischer geworden
sind. Daß alle Welt das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen ....
Wir modernen Menschen, sehr zart, sehr verletztlich und hundert Rücksichten
gebend und nehmend, bilden uns in der Tat ein, diese zärtliche Menschlichkeit,
die wir darstellen, diese erreichte Einmütigkeit in der Schonung,
in der Hilfsbereitschaft, im gegenseitigen Vertrauen, sei ein positiver Fortschritt,
damit seien wir weit über die Menschen der Renaissance hinaus. Aber so denkt
jede Zeit, so muß sie denken. Gewiß ist, daß wir uns
nicht in Renaissance-Zustände hineinstellen dürften, nicht einmal hineindenken:
unsre Nerven hielten jene Wirklichkeit nicht aus, nicht zu reden von unsern Muskeln.
Mit diesem Unvermögen ist aber kein Fortschritt bewiesen, sondern nur eine
andre, eine spätere Beschaffenheit, eine schwächere, zärtlichere,
verletztlichere, aus der sich notwendig eine rücksichtenreiche Moral
erzeugt.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 458 bzw.
1012 |
Denken wir unsre Zartheit und Spätheit,
unsre physiologische Alterung weg, so verlöre auch unsre Moral der »Vermenschlichung«
sofort ihren Wert an sich hat keine Moral Wert : sie würde uns
selbst Geringschätzung machen. Zweifeln wir andrerseits nicht daran, daß
wir Modernen mit unsrer dick wattierten Humanität, die durchaus an keinen
Stein sich stoßen will, den Zeitgenossen Cesare Borgias eine Komödie
zum Totlachen abgeben würden. In der Tat, wir sind über die Maßen
unfreiwillig spaßhaft, mit unsren modernen »Tugenden« .... Die
Abnahme der feindseligen und mißtrauen-weckenden Instinkte und das
wäre ja unser »Fortschritt« stellt nur eine der Folgen
in der allgemeinen Abnahme der Vitalität dar: es kostet hundertmal
mehr Mühe, mehr Vorsicht, ein so bedingtes, so spätes Dasein durchzusetzen.
Da hilft man sich gegenseitig, da ist jeder bis zu einem gewissen Grade Kranker
und jeder Krankenwärter. Das heißt dann »Tugend« :
unter Menschen, die das Leben noch anders kannten, voller, verschwenderischer,
überströmender, hätte man's anders genannt, »Feigheit«
vielleicht, »Erbärmlichkeit«, »Altweiber-Moral« ....Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 458-459
bzw. 1012-1013 |
Unsre Milderung der Sitten
das ist mein Satz, das ist, wenn man will, meine Neuerung
ist eine Folge des Niedergangs; die Härte und Schrecklichkeit der Sitte kann
umgekehrt eine Folge des Überschusses von Leben sein. Dann nämlich darf
auch viel gewagt, viel herausgefordert, viel auch vergeudet werden. Was
Würze ehedem des Lebens war, für uns wäre es Gift .... Indifferent
zu sein auch das ist eine Form der Stärke dazu sind wir gleichfalls
zu alt, zu spät: unsre Mitgefühls-Moral, vor der ich als der erste gewarnt
habe, ... ist ein Ausdruck mehr der physiologischen Überreizbarkeit, die
allem, was décadent ist, eignet. Jene Bewegung, die mit der Mitleids-Moral
Schopenhauers versucht hat, sich wissenschaftlich vorzuführen
ein sehr unglücklicher Versuch! ist die eigentliche décadence-Bewegung
in der Moral, sie ist als solche tief verwandt mit der christlichen Moral. Die
starken Zeiten, die vornehmen Kulturen sehen im Mitleiden, in der »Nächstenliebe«,
im Mangel an Selbst und Selbstgefühl etwas Verächtliches.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 459 bzw.
1013 |
Die Zeiten sind zu messen nach ihren
positiven Kräften und dabei ergibt sich jene so verschwenderische
und verhängnisreiche Zeit der Renaissance als die letzte große Zeit,
und wir, wir Modernen mit unsrer ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe,
mit unsern Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der
Wissenschaftlichkeit sammelnd, ökonomisch, machinal als eine
schwache Zeit .... Unsre Tugenden sind bedingt, sind herausgefordert
durch unsre Schwäche .... Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 459 bzw.
1013 |
Die »Gleichheit«, eine
gewisse tatsächliche Anähnlichung, die sich in der Theorie von »gleichen
Rechten« nur zum Ausdruck bringt, gehört wesentlich zum Niedergang:
die Kluft zwischen Mensch und Mensch, Stand und Stand, die Vielheit der Typen,
der Wille, selbst zu sein, sich abzuheben , das, was ich Pathos der Distanz
nenne, ist jeder starken Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite
zwischen den Extremen wird heute immer kleiner die Extreme selbst verwischen
sich endlich bis zur Ähnlichkeit .... Alle unsre politischen Theorien und
Staats-Verfassungen, das »Deutsche Reich« durchaus nicht ausgenommen,
sind Folgerungen, Folge-Notwendigkeiten des Niedergangs; die unbewußte Wirkung
der décadence ist bis in die Ideale einzelner Wissenschaften hinein
Herr geworden. Mein Einwand gegen die ganze Soziologie in England und Frankreich
bleibt, daß sie nur die Verfalls-Gebilde der Sozietät aus Erfahrung
kennt und vollkommen unschuldig die eignen Verfalls-Instinkte als Norm
des soziologischen Werturteils nimmt. Das niedergehende Leben, die Abnahme
aller organisierenden, das heißt trennenden, Klüfte aufreißenden,
unter- und überordnenden Kraft formuliert sich in der Soziologie von heute
zum Ideal .... Unsre Sozialisten sind décadents, aber auch
Herr Herbert Spencer ist ein décadent er sieht im Sieg des
Altruismus etwas Wünschenswertes!Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 459-460
bzw. 1013-1014 |
Mein Begriff von Freiheit.
Der Wert einer Sache liegt mitunter nicht in dem, was man mit ihr erreicht,
sondern in dem, was man für sie bezahlt was sie uns kostet.
Ich gebe ein Beispiel. Die liberalen Institutionen hören alsbald auf, liberal
zu sein, sobald sie erreicht sind: es gibt später keine ärgeren und
gründlicheren Schädiger der Freiheit als liberale Institutionen. Man
weiß ja, was sie zuwege bringen: sie unterminieren den Willen zur Macht,
sie sind die zur Moral erhobene Nivellierung von Berg und Tal, sie machen klein,
feige und genüßlich mit ihnen triumphiert jedesmal das Herdentier.
Liberalismus: auf deutsch Herden-Vertierung .... Dieselben Institutionen
bringen, so lange sie noch erkämpft werden, ganz andre Wirkungen hervor;
sie fördern dann in der Tat die Freiheit auf eine mächtige Weise. Genauer
zugesehn, ist es der Krieg, der diese Wirkungen hervorbringt, der Krieg um
liberale Institutionen, der als Krieg die illiberalen Instinkte dauern
läßt. Und der Krieg erzieht zur Freiheit. Denn was ist Freiheit? Daß
man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Daß man die Distanz, die
uns abtrennt, festhält. Daß man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung,
selbst gegen das Leben gleichgültiger wird. Daß man bereit ist, seiner
Sache Menschen zu opfern, sich selber nicht abgerechnet. Freiheit bedeutet, daß
die männlichen, die kriegs- und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft haben
über andre Instinkte, zum Beispiel über die des »Glücks«.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 460-461
bzw. 1014-1015 |
Der freigewordne
Mensch, um wie viel mehr der freigewordne Geist, tritt mit Füßen auf
die verächtliche Art von Wohlbefinden, von dem Krämer, Christen, Kühe,
Weiber, Engländer und andre Demokraten träumen. Der freie Mensch ist
Krieger.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 461 bzw.
1015 |
Wonach mißt sich die Freiheit,
bei Einzelnen wie bei Völkern? Nach dem Widerstand, der überwunden werden
muß, nach der Mühe, die es kostet, oben zu bleiben. Den höchsten
Typus freier Menschen hätte man dort zu suchen, wo beständig der höchste
Widerstand überwunden wird: fünf Schritte weit von der Tyrannei, dicht
an der Schwelle der Gefahr der Knechtschaft. Dies ist psychologisch wahr, wenn
man hier unter den »Tyrannen« unerbittliche und furchtbare Instinkte
begreift, die das Maximum von Autorität und Zucht gegen sich herausfordern
schönster Typus Julius Cäsar ; dies ist auch politisch
wahr, man mache nur seinen Gang durch die Geschichte. Die Völker, die etwas
wert waren, wert wurden, wurden dies nie unter liberalen Institutionen:
die große Gefahr machte etwas aus ihnen, das Ehrfurcht verdient,
die Gefahr, die uns unsre Hilfsmittel, unsre Tugenden, unsre Wehr und Waffen,
unsern Geist erst kennen lehrt die uns zwingt, stark zu sein .... Erster
Grundsatz: man muß es nötig haben, stark zu sein: sonst wird man's
nie. Jene großen Treibhäuser für starke, für die stärkste
Art Mensch, die es bisher gegeben hat, die aristokratischen Gemeinwesen in der
Art von Rom und Venedig verstanden Freiheit genau in dem Sinne, wie ich das Wort
Freiheit verstehe: als etwas, das man hat und nicht hat, das man will,
das man erobert ....Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 461 bzw.
1015 |
Kritik der Modernität.
Unsre Institutionen taugen nichts mehr: darüber ist man einmütig.
Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an uns. Nachdem uns alle Instinkte
abhanden gekommen sind, aus denen Institutionen wachsen, kommen uns Institutionen
überhaupt abhanden, weil wir nicht mehr zu ihnen taugen. Demokratismus
war jederzeit die Niedergangs-Form der organisierenden Kraft: ich habe schon in
»Menschliches, Allzumenschliches« (I, 682) die moderne Demokratie
samt ihren Halbheiten, wie »Deutsches Reich«, als Verfallsform
des Staats gekennzeichnet. Damit es Institutionen gibt, muß es eine
Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen
zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus,
zur Solidarität von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts
in infinitum. Ist dieser Wille da, so gründet sich etwas wie das Imperium
Romanum: oder wie Rußland, die einzige Macht, die heute Dauer im
Leibe hat, die warten kann, die etwas noch versprechen kann Rußland,
der Gegensatz-Begriff zu der erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei
und Nervosität, die mit der Gründung des Deutschen Reichs in einen kritischen
Zustand eingetreten ist .... Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht mehr, aus
denen Institutionen wachsen, aus denen Zukunft wächst: seinem »modernen
Geiste« geht vielleicht nichts so sehr wider den Strich.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 461-462
bzw. 1015-1016 |
Man lebt für heute,
man lebt sehr geschwind man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt
man »Freiheit«. Was aus Institutionen Institutionen macht,
wird verachtet, gehaßt, abgelehnt: man glaubt sich in der Gefahr einer neuen
Sklaverei, wo das Wort »Autorität« auch nur laut wird. Soweit
geht die décadence im Wert-Instinkte unsrer Politiker, unsrer politischen
Parteien: sie ziehn instinktiv vor, was auflöst, was das Ende beschleunigt
.... Zeugnis die moderne Ehe. Aus der modernen Ehe ist ersichtlich alle
Vernunft abhanden gekommen: das gibt aber keinen Einwand gegen die Ehe ab, sondern
gegen die Modernität. Die Vernunft der Ehe sie lag in der juristischen
Alleinverantwortlichkeit des Mannes: damit hatte die Ehe Schwergewicht, während
sie heute auf beiden Beinen hinkt. Die Vernunft der Ehe sie lag in ihrer
prinzipiellen Unlösbarkeit: damit bekam sie einen Akzent, der, dem Zufall
von Gefühl, Leidenschaft und Augenblick gegenüber, sich Gehör
zu schaffen wußte. Sie lag insgleichen in der Verantwortlichkeit der
Familien für die Auswahl der Gatten. Man hat mit der wachsenden Indulgenz
zugunsten der Liebes-Heirat geradezu die Grundlage der Ehe, das, was erst
aus ihr eine Institution macht, eliminiert. Man gründet eine Institution
nie und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man gründet die Ehe nicht,
wie gesagt, auf die »Liebe« man gründet sie auf den Geschlechtstrieb,
auf den Eigentumstrieb (Weib und Kind als Eigentum), auf den Herrschafts-Trieb,
der sich beständig das kleinste Gebilde der Herrschaft, die Familie, organisiert,
der Kinder und Erben braucht, um ein erreichtes Maß von Macht, Einfluß,
Reichtum auch physiologisch festzuhalten, um lange Aufgaben, um Instinkt-Solidarität
zwischen Jahrhunderten vorzubereiten. Die Ehe als Institution begreift bereits
die Bejahung der größten, der dauerhaftesten Organisationsform in sich:
wenn die Gesellschaft selbst nicht als Ganzes für sich gutsagen kann
bis in die fernsten Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt keinen
Sinn. Die moderne Ehe verlor ihren Sinn folglich schafft
man sie ab.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 462-463
bzw. 1016-1017 |
Die Arbeiter-Frage.
Die Dummheit, im Grunde die Instinkt-Entartung, welche heute die Ursache
aller Dummheiten ist, liegt darin, daß es eine Arbeiter-Frage gibt. Über
gewisse Dinge fragt man nicht: erster Imperativ des Instinkts. Ich
sehe durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen will,
nachdem man erst eine Frage aus ihm gemacht hat. Er befindet sich viel zu gut,
um nicht Schritt für Schritt mehr zu fragen, unbescheidner zu fragen. Er
hat zuletzt die große Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen vorüber,
daß hier sich eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein
Typus Chinese zum Stande herausbilde: und dies hätte Vernunft gehabt, dies
wäre geradezu eine Notwendigkeit gewesen. Was hat man getan? Alles,
um auch die Voraussetzung dazu im Keime zu vernichten man hat die Instinkte,
vermöge deren ein Arbeiter als Stand möglich, sich selber möglich
wird, durch die unverantwortlichste Gedankenlosigkeit in Grund und Boden zerstört.
Man hat den Arbeiter militärtüchtig gemacht, man hat ihm das Koalitions-Recht,
das politische Stimmrecht gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz
heute bereits als Notstand (moralisch ausgedrückt als Unrecht)
empfindet? Aber was will man? nochmals gefragt. Will man einen Zweck, muß
man auch die Mittel wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie
zu Herrn erzieht.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 463-464
bzw. 1017-1018 |
»Freiheit, die
ich nicht meine ....« In solchen Zeiten, wie heute, seinen
Instinkten überlassen sein, ist ein Verhängnis mehr. Diese Instinkte
widersprechen, stören sich, zerstören sich untereinander; ich definierte
das Moderne bereits als den physiologischen Selbst-Widerspruch. Die Vernunft
der Erziehung würde wollen, daß unter einem eisernen Drucke wenigstens
eins dieser Instinkt-Systeme paralysiert würde, um einem andern zu
erlauben, zu Kräften zu kommen, stark zu werden, Herr zu werden. Heute müßte
man das Individuum erst möglich machen, indem man dasselbe beschneidet:
möglich, das heißt ganz .... Das Umgekehrte geschieht: der
Anspruch auf Unabhängigkeit, auf freie Entwicklung, auf laisser aller wird
gerade von denen am hitzigsten gemacht, für die kein Zügel zu streng
wäre dies gilt in politicis, dies gilt in der Kunst. Aber das
ist ein Symptom der décadence: unser moderner Begriff »Freiheit«
ist ein Beweis von Instinkt-Entartung mehr.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 464 bzw.
1018 |
Den Konservativen ins Ohr gesagt.
Was man früher nicht wußte, was man heute weiß, wissen
könnte , eine Rückbildung, eine Umkehr in irgendwelchem
Sinn und Grade ist gar nicht möglich. Wir Physiologen wenigstens wissen das.
Aber alle Priester und Moralisten haben daran geglaubt sie wollten
die Menschheit auf ein früheres Maß von Tugend zurückbringen,
zurückschrauben. Moral war immer ein Prokrustes-Bett. Selbst die Politiker
haben es darin den Tugendpredigern nachgemacht: es gibt auch heute noch Parteien,
die als Ziel den Krebsgang aller Dinge träumen. Aber es steht niemandem
frei, Krebs zu sein. Es hilft nichts: man muß vorwärts, will sagen
Schritt für Schritt weiter in der décadence ( dies meine
Definition des modernen »Fortschritts« ...). Man kann diese Entwicklung
hemmen und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer
und plötzlicher machen: mehr kann man nicht.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 464-465
bzw. 1018-1019 |
Fortschritt in meinem
Sinne. Auch ich rede von »Rückkehr zur Natur«, obwohl
es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein Hinaufkommen ist
hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und Natürlichkeit, eine
solche, die mit großen Aufgaben spielt, spielen darf .... Um es im Gleichnis
zu sagen: Napoleon war ein Stück »Rückkehr zur Natur«, so
wie ich sie verstehe (zum Beispiel in rebus tacticis, noch mehr, wie die Militärs
wissen, im Strategischen). Aber Rousseau wohin wollte der
eigentlich zurück? Rousseau, dieser erste moderne Mensch, Idealist und Kanaille
in einer Person; der die moralische »Würde« nötig hatte,
um seinen eignen Aspekt auszuhalten; krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser
Selbstverachtung. Auch diese Mißgeburt, welche sich an die Schwelle der
neuen Zeit gelagert hat, wollte »Rückkehr zur Natur« wohin,
nochmals gefragt, wollte Rousseau zurück? Ich hasse Rousseau noch
in der Revolution: sie ist der welthistorische Ausdruck für diese
Doppelheit von Idealist und Kanaille. Die blutige Farce, mit der sich diese Revolution
abspielte, ihre »Immoralität«, geht mich wenig an: was ich hasse,
ist ihre Rousseausche Moralität die sogenannten »Wahrheiten«
der Revolution, mit denen sie immer noch wirkt und alles Flache und Mittelmäßige
zu sich überredet. Die Lehre von der Gleichheit! .... Aber es gibt gar kein
giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst gepredigt,
während sie das Ende der Gerechtigkeit ist . .... »Den Gleichen Gleiches,
den Ungleichen Ungleiches« das wäre die wahre Rede der
Gerechtigkeit: und, was daraus folgt, »Ungleiches niemals gleich machen.«
Daß es um jene Lehre von der Gleichheit herum so schauerlich und
blutig zuging, hat dieser »modernen Idee« par excellence eine Art
Glorie und Feuerschein gegeben, so daß die Revolution als Schauspiel
auch die edelsten Geister verführt hat. Das ist zuletzt kein Grund, sie mehr
zu achten. Ich sehe nur einen, der sie empfand, wie sie empfunden werden
muß, mit Ekel Goethe.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 469-470
bzw. 1023-1024 |
Goethe kein
deutsches Ereignis, sondern ein europäisches: ein großartiger Versuch,
das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur,
durch ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art
Selbstüberwindung von seiten dieses Jahrhunderts. Er trug dessen stärkste
Instinkte in sich: die Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische,
das Idealistische, das Unreale und Revolutionäre ( letzteres ist nur
eine Form des Unrealen). Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike,
insgleichen Spinoza zu Hilfe, vor allem die praktische Tätigkeit; er umstellte
sich mit lauter geschlossenen Horizonten; er löste sich nicht vom Leben ab,
er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich
auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das war Totalität;
er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille
( in abschreckendster Scholastik durch Kant gepredigt, den Antipoden Goethes);
er disziplinierte sich zur Ganzheit, er schuf sich .... Goethe war, inmitten
eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter Realist: er sagte Ja zu
allem, was ihm hierin verwandt war er hatte kein größeres Erlebnis
als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe konzipierte einen starken,
hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden,
vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichtum
der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit
ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke,
weil er das, woran die durchschnittliche Natur zugrunde gehn würde, noch
zu seinem Vorteil zu brauchen weiß; den Menschen, für den es nichts
Verbotenes mehr gibt, es sei denn die Schwäche, heiße sie nun
Laster oder Tugend .... Ein solcher freigewordner Geist steht mit einem
freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, daß
nur das Einzelne verwerflich ist, daß im Ganzen sich alles erlöst und
bejaht er verneint nicht mehr .... Aber ein solcher Glaube ist der
höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos
getauft.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 470-471
bzw. 1024-1025 |
Man könnte sagen, daß
in gewissem Sinne das neunzehnte Jahrhundert das alles auch erstrebt hat,
was Goethe als Person erstrebte: eine Universalität im Verstehn, im Gutheißen,
ein An-sich-heran-kommen-lassen von jedwedem, einen verwegnen Realismus, eine
Ehrfurcht vor allem Tatsächlichen. Wie kommt es, daß das Gesamt-Ergebnis
kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein nihilistisches Seufzen, ein Nicht-wissen-wo-aus-noch-ein,
ein Instinkt von Ermüdung, der in praxi fortwährend dazu treibt, zum
achtzehnten Jahrhundert zurückzugreifen? ( zum Beispiel als Gefühls-Romantik,
als Altruismus und Hyper-Sentimentalität, als Feminismus im Geschmack, als
Sozialismus in der Politik). Ist nicht das neunzehnte Jahrhundert, zumal in seinem
Ausgange, bloß ein verstärktes verrohtes achtzehntes Jahrhundert,
das heißt ein décadence-Jahrhundert? So daß Goethe nicht
bloß für Deutschland, sondern für ganz Europa bloß ein Zwischenfall,
ein schönes Umsonst gewesen wäre? Aber man mißversteht
große Menschen, wenn man sie aus der armseligen Perspektive eines öffentlichen
Nutzens ansieht. Daß man keinen Nutzen aus ihnen zu ziehen weiß, das
gehört selbst vielleicht zur Größe.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 471-472
bzw. 1025-1026 |
Goethe ist der letzte Deutsche,
vor dem ich Ehrfurcht habe: er hätte drei Dinge empfunden, die ich empfinde,
auch verstehen wir uns über das »Kreuz« .... Man fragt
mich öfter, wozu ich eigentlich deutsch schriebe: nirgendswo würde
ich schlechter gelesen, als im Vaterlande. Aber wer weiß zuletzt, ob ich
auch nur wünsche, heute gelesen zu werden? Dinge schaffen,
an denen umsonst die Zeit ihre Zähne versucht; der Form nach, der Substanz
nach um eine kleine Unsterblichkeit bemüht sein ich war noch nie
bescheiden genug, weniger von mir zu verlangen. Der Aphorismus, die Sentenz, in
denen ich als der erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der »Ewigkeit«;
mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder andre in einem Buche
sagt was jeder andre in einem Buche nicht sagt .... Ich habe
der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Zarathustra:
ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 472 bzw.
1026 |
Erst in den dionysischen Mysterien,
in der Psychologie des dionysischen Zustands spricht sich die Grundtatsache
des hellenischen Instinkts aus sein »Wille zum Leben«. Was
verbürgte sich der Hellene mit diesen Mysterien? Das ewige Leben,
die ewige Wiederkehr des Lebens; die Zukunft in der Vergangenheit verheißen
und geweiht; das triumphierende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus;
das wahre Leben als das Gesamt-Fortleben durch die Zeugung, durch die Mysterien
der Geschlechtlichkeit. Den Griechen war deshalb das geschlechtliche Symbol
das ehrwürdige Symbol an sich, der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen
antiken Frömmigkeit. Alles einzelne im Akte der Zeugung, der Schwangerschaft,
der Geburt erweckte die höchsten und feierlichsten Gefühle. In der Mysterienlehre
ist der Schmerz heilig gesprochen: die »Wehen der Gebärerin«
heiligen den Schmerz überhaupt, alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende
bedingt den Schmerz .... Damit es die ewige Lust des Schaffens gibt, damit
der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, muß es auch ewig die
»Qual der Gebärerin« geben .... Dies alles bedeutet das Wort
Dionysos: ich kenne keine höhere Symbolik als diese griechische Symbolik,
die der Dionysien. In ihnen ist der tiefste Instinkt des Lebens, der zur Zukunft
des Lebens, zur Ewigkeit des Lebens, religiös empfunden, der Weg selbst
zum Leben, die Zeugung, als der heilige Weg .... Erst das Christentum,
mit seinem Ressentiment gegen das Leben auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlichkeit
etwas Unreines gemacht: es warf Kot auf den Anfang, auf die Voraussetzung
unsres Lebens.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 477-478
bzw. 1031-1032 |
Die Psychologie des Orgiasmus
als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen
selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel zum Begriff
des tragischen Gefühls, das sowohl von Aristoteles als in Sonderheit
von unsern Pessimisten mißverstanden worden ist. Die Tragödie ist so
fern davon, etwas für den Pessimismus der Hellenen im Sinne Schopenhauers
zu beweisen, daß sie vielmehr als dessen entscheidende Ablehnung und Gegen-Instanz
zu gelten hat. Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten
Problemen, der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten Typen der
eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend das nannte ich dionysisch,
das erriet ich als die Brücke zur Psychologie des tragischen Dichters.
Nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem
gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen so
verstand es Aristoteles : sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus,
die ewige Lust des Werdens selbst zu sein jene Lust, die auch noch
die Lust am Vernichten in sich schließt. Und damit berühre ich wieder
die Stelle, von der ich einstmals ausging die »Geburt der Tragödie«
war meine erste Umwertung aller Werte: damit stelle ich mich wieder auf den Boden
zurück, aus dem mein Wollen, mein Können wächst ich,
der letzte Jünger des Philosophen Dionysos ich, der Lehrer der ewigen
Wiederkunft.Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 478 bzw.
1032 |
»Warum so hart! «
sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle: »sind wir denn nicht Nah-Verwandte?«
Warum so weich? O meine Brüder, also frage ich euch: seid ihr denn nicht
meine Brüder? Warum so weich, so weichend und nachgebend? Warum ist
so viel Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen? so wenig Schicksal in eurem Blicke?
Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet ihr einst
mit mir siegen? Und wenn eure Härte nicht blitzen und schneiden und
zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir schaffen? Alle Schaffenden
nämlich sind hart. Und Seligkeit muß es euch dünken, eure Hand
auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, Seligkeit, auf dem
Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, härter als Erz,
edler als Erz. Ganz hart allein ist das Edelste. Diese neue Tafel, o meine Brüder,
stelle ich über euch: Werdet hart!Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 479 bzw.
1033 |
Hat man sich
für die Abzeichen des Niedergangs ein Auge gemacht, so versteht man auch
die Moral man versteht, was sich unter ihren heiligsten Namen und Wertformeln
versteckt: das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die große Müdigkeit.
Moral verneint das Leben .... Zu einer solchen Aufgabe war mir eine Selbstdisziplin
vonnöten Partei zu nehmen gegen alles Kranke an mir, eingerechnet
Wagner, eingerechnet Schopenhauer, eingerechnet die ganze moderne »Menschlichkeit«.
Eine tiefe Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung gegen alles Zeitliche,
Zeitgemäße: und als höchsten Wunsch das Auge Zarathustras,
ein Auge, das die ganze Tatsache Mensch aus ungeheurer Ferne übersieht
unter sich sieht .... Einem solchen Ziele welches Opfer wäre ihm nicht
gemäß? welche »Selbst-Überwindung«! welche »Selbst-Verleugnung«!.
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 3-4 |
Mein
größtes Erlebnis war eine Genesung. Wagner gehört bloß
zu meinen Krankheiten. Nicht daß ich gegen diese Krankheit undankbar sein
möchte. Wenn ich mit dieser Schrift den Satz aufrechterhalte, daß Wagner
schädlich ist, so will ich nicht weniger aufrechthalten, wem er trotzdem
unentbehrlich ist dem Philosophen. Sonst kann man vielleicht ohne Wagner
auskommen: dem Philosophen aber steht es nicht frei, Wagners zu entraten. Er hat
das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein dazu muß er deren bestes
Wissen haben. Aber wo fände er für das Labyrinth der modernen Seele
einen eingeweihteren Führer, einen beredteren Seelenkündiger als Wagner?
Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder
ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt. Und umgekehrt:
man hat beinahe eine Abrechnung über den Wert des Modernen gemacht, wenn
man über Gut und Böse bei Wagner mit sich im klaren ist. Ich
verstehe es vollkommen, wenn heut ein Musiker sagt: »ich hasse Wagner, aber
ich halte keine andere Musik mehr aus«. Ich
würde aber auch einen Philosophen verstehen, der erklärte: »Wagner
resümiert die Modernität. Es hilft nichts, man muß erst
Wagnerianer sein.« Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 4 |
Auch
dieses Werk erlöst, nicht Wagner allein ist ein »Erlöser«.
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 9 |
Sie
ziehen selbst das Problem Wagners dem Bizets vor? Auch ich unterschätze
es nicht, es hat seinen Zauber. Das Problem der Erlösung ist selbst ein ehrwürdiges
Problem. Wagner hat über nichts so tief wie über die Erlösung nachgedacht:
seine Oper ist die Oper der Erlösung. Irgendwer will bei ihm immer erlöst
sein: bald ein Männlein, bald ein Fräulein dies ist sein Problem.
Und wie reich er sein Leitmotiv variiert! Welche seltenen, welche tiefsinnigen
Ausweichungen! Wer lehrte es uns, wenn nicht Wagner, daß die Unschuld mit
Vorliebe interessante Sünder erlöst? (der Fall im Tannhäuser).
Oder daß selbst der ewige Jude erlöst wird, seßhaft wird,
wenn er sich verheiratet? (der Fall im Fliegenden Holländer). Oder
daß alte verdorbene Frauenzimmer es vorziehn, von keuschen Jünglingen
erlöst zu werden? (der Fall Kundry). Oder daß schöne Mädchen
am liebsten durch einen Ritter erlöst werden, der Wagnerianer ist? (der Fall
in den Meistersingern). Oder daß auch verheiratete Frauen gerne durch
einen Ritter erlöst werden? (der Fall Isoldens). Oder daß »der
alte Gott«, nachdem er sich moralisch in jedem Betracht kompromittiert hat,
endlich durch einen Freigeist und Immoralisten erlöst wird? (der Fall im
»Ring«). Bewundern Sie insonderheit diesen letzten Tiefsinn!
Verstehn Sie ihn? Ich hüte mich, ihn zu verstehn. Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 10-11 |
Daß
man noch andere Lehren aus den genannten Werken ziehn kann, möchte ich eher
beweisen als bestreiten. Daß man durch ein Wagnersches Ballett zur Verzweiflung
gebracht werden kann und zur Tugend! (nochmals der Fall Tannhäusers).
Daß es von den schlimmsten Folgen sein kann, wenn man nicht zur rechten
Zeit zu Bett geht (nochmals der Fall Lohengrins). Daß man nie zu
genau wissen soll, mit wem man sich eigentlich verheiratet (zum drittenmal der
Fall Lohengrins). Tristan und Isolde verherrlichen den vollkommnen
Ehegatten, der, in einem gewissen Falle, nur eine Frage hat: »aber warum
habt ihr mir das nicht eher gesagt? Nichts einfacher als das!« Antwort:
»Das kann ich dir nicht sagen; und was du frägst, das kannst du nie
erfahren.« Der Lohengrin enthält eine feierliche In-Acht-Erklärung
des Forschens und Fragens. Wagner vertritt damit den christlichen Begriff »du
sollst und mußt glauben«. Es ist ein Verbrechen am Höchsten,
am Heiligsten, wissenschaftlich zu sein .... Der fliegende Holländer
predigt die erhabne Lehre, daß das Weib auch den Unstetesten festmacht,
wagnerisch geredet, »erlöst«. Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 11-12 |
Ins
Wirkliche übersetzt: die Gefahr der Künstler, der Genies ... liegt im
Weibe: die anbetenden Weiber sind ihr Verderb. Fast keiner hat Charakter
genug, um nicht verdorben »erlöst« zu werden, wenn er
sich als Gott behandelt fühlt er kondeszendiert alsbald zum
Weibe. Der Mann ist feige vor allem Ewig-Weiblichen: das wissen die Weiblein.
In vielen Fällen der weiblichen Liebe, und vielleicht gerade in den
berühmtesten, ist Liebe nur ein feinerer Parasitismus, ein Sich-Einnisten
in eine fremde Seele, mitunter selbst in ein fremdes Fleisch ach! wie sehr
immer auf »des Wirtes« Unkosten! Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 12 |
Gerade,
weil nichts moderner ist als diese Gesamterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit
der nervösen Maschinerie, ist Wagner der moderne Künstler par
excellence, der Cagliostro der Modernität. In seiner Kunst ist auf die verführerischste
Art gemischt, was heute alle Welt am nötigsten hat die drei großen
Stimulantia der Erschöpften, das Brutale, das Künstliche
und das Unschuldige (Idiotische). Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 17 |
Wagner
... hat ... das Mittel erraten, müde Nerven zu reizen er hat die Musik
damit krank gemacht. Seine Erfindungsgabe ist keine kleine in der Kunst, die Erschöpftesten
wieder aufzustacheln, die Halbtoten ins Leben zu rufen. Er ist der Meister hypnotischer
Griffe, er wirft die Stärksten noch wie Stiere um. Der Erfolg Wagners
sein Erfolg bei den Nerven und folglich bei den Frauen hat die ganze
ehrgeizige Musiker-Welt zu Jüngern seiner Geheimkunst gemacht. Und nicht
nur die ehrgeizige, auch die kluge .... Man macht heute nur Geld mit kranker
Musik; unsre großen Theater leben von Wagner. Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 17 |
Der
Parsifal wird in der Kunst der Verführung ewig seinen Rang behalten,
als der Geniestreich der Verführung .... Ich bewundere dies Werk,
ich möchte es selbst gemacht haben; in Ermangelung davon verstehe ich
es .... Wagner war nie besser inspiriert als am Ende. Das Raffinement im Bündnis
von Schönheit und Krankheit geht hier so weit, daß es über Wagners
frühere Kunst gleichsam Schatten legt sie erscheint zu hell, zu gesund.
Versteht ihr das? Die Gesundheit, die Helligkeit als Schatten wirkend? als Einwand
beinahe? .... So weit sind wir schon reine Toren .... Niemals gab es einen
größeren Meister in dumpfen hieratischen Wohlgerüchen nie
lebte ein gleicher Kenner alles kleinen Unendlichen, alles Zitternden und Überschwänglichen,
aller Feminismen aus dem Idiotikon des Glücks! Trinkt nur, meine Freunde,
die Philtren dieser Kunst! Ihr findet nirgends eine angenehmere Art, euren Geist
zu entnerven, eure Männlichkeit unter einem Rosengebüsche zu vergessen
.... Ah dieser alte Zauberer! Dieser Klingsor aller Klingsore! Wie er uns
damit den Krieg macht! uns, den freien Geistern! Wie er jeder Feigheit der modernen
Seele mit Zaubermädchen-Tönen zu Willen redet! Es gab nie einen
solchen Todhaß auf die Erkenntnis! Man muß Zyniker sein,
um hier nicht verführt zu werden, man muß beißen können,
um hier nicht anzubeten. Wohlan, alter Verführer! Der Zyniker warnt dich
cave canem .... Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 37 |
In
der engeren Sphäre der sogenannten moralischen Werte ist kein größerer
Gegensatz aufzufinden als der einer Herren-Moral und der Moral der christlichen
Wertbegriffe: letztere, auf einem durch und durch morbiden Boden gewachsen (
die Evangelien führen uns genau dieselben physiologischen Typen vor, welche
die Romane Dostojewskis schildern), die Herren-Moral (»römisch«,
»heidnisch«, »klassisch«, »Renaissance«) umgekehrt
als die Zeichensprache der Wohlgeratenheit, des aufsteigenden Lebens, des
Willens zur Macht als Prinzips des Lebens. Die Herren-Moral bejaht ebenso
instinktiv, wie die christliche verneint (»Gott«, »Jenseits«,
»Entselbstung« lauter Negationen). Die erstere gibt aus ihrer Fülle
an die Dinge ab sie verklärt, sie verschönt, sie vernünftigt
die Welt , die letztere verarmt, verblaßt, verhäßlicht
den Wert der Dinge, sie verneint die Welt. »Welt« ein christliches
Schimpfwort. Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 44-45 |
Diese
Gegensatzformen in der Optik der Werte sind beide notwendig: es sind Arten zu
sehen, denen man mit Gründen und Widerlegungen nicht beikommt. Man widerlegt
das Christentum nicht, man widerlegt eine Krankheit des Auges nicht. Daß
man den Pessimismus wie eine Philosophie bekämpft hat, war der Gipfelpunkt
des gelehrten Idiotentums. Die Begriffe »wahr« und »unwahr«
haben, wie mir scheint, in der Optik keinen Sinn. Wogegen man sich allein
zu wehren hat, das ist die Falschheit, die Instinkt-Doppelzüngigkeit, welche
diese Gegensätze nicht als Gegensätze empfinden will: wie es zum Beispiel
Wagners Wille war, der in solchen Falschheiten keine kleine Meisterschaft hatte.
Nach der Herren-Moral, der vornehmen Moral hinschielen ( die isländische
Sage ist beinahe deren wichtigste Urkunde ) und dabei die Gegenlehre, die
vom »Evangelium der Niedrigen«, vom Bedürfnis der Erlösung,
im Munde führen!Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 45 |
Das
Bedürfnis nach Erlösung, der Inbegriff aller christlichen Bedürfnisse
... ist die ehrlichste Ausdrucksform der décadence, es ist das überzeugteste,
schmerzhafteste Ja-sagen zu ihr in sublimen Symbolen und Praktiken. Der Christ
will von sich loskommen .... Die vornehme Moral, die Herren-Moral, hat
umgekehrt ihre Wurzel in einem triumphierenden Ja-sagen zu sich
sie ist Selbstbejahung, Selbstverherrlichung des Lebens ....Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 45-46 |
Ich
erinnere daran, wie der letzte Deutsche vornehmen Geschmacks, wie Goethe das Kreuz
empfand. Man sucht umsonst nach wertvolleren, nach notwendigeren Gegensätzen.Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 46 |
Anmerkung.
Über den Gegensatz »vornehme Moral« und »christliche
Moral« unterrichtete zuerst meine »Genealogie der Moral«:
es gibt vielleicht keine entscheidendere Wendung in der Geschichte der religiösen
und moralischen Erkenntnis. Dies Buch, mein Prüfstein für das, was zu
mir gehört, hat das Glück, nur den höchstgesinnten und strengsten
Geistern zugänglich zu sein: dem Reste fehlen die Ohren dafür.
Man muß seine Leidenschaft in Dingen haben, wo sie heute niemand hat.Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 46 |
Der
moderne Mensch stellt, biologisch, einen Widerspruch der Werte dar, er
sitzt zwischen zwei Stühlen, er sagt in einem Atem Ja und Nein.Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 46 |
Aber
wir alle haben wider Wissen, wider Willen, Werte, Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter
Abkunft im Leibe wir sind, physiologisch betrachtet, falsch .... Eine Diagnostik
der modernen Seele womit begänne sie? Mit einem resoluten Einschnitt
in diese Instinkt-Widersprüchlichkeit, mit der Herauslösung ihrer Gegensatz-Werte,
mit der Vivisektion vollzogen an ihrem lehrreichsten Fall.Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 47 |
Sehen wir uns ins
Gesicht. Wir sind Hyperboreer, wir wissen gut genug, wie abseits wir leben.
»Weder zu Lande noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden«:
das hat schon Pindar von uns gewußt. Jenseits des Nordens, des Eises, des
Todes - unser Leben, unser Glück.« .... Wir haben das
Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden
des Labyrinths. Wer fand ihn sonst? Der moderne Mensch etwa? »Ich
weiß nicht aus, noch ein; ich bin alles, was nicht aus noch ein weiß«
seufzt der moderne Mensch .... An dieser Modernität waren wir
krank, am faulen Frieden, am feigen Kompromiß, an der ganzen tugendhaften
Unsauberkeit des modernen Ja und Nein. Diese Toleranz ... des Herzens, die alles
»verzeiht«, weil sie alles »begreift«. Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 611 bzw. 1165 |
Was
ist gut? - Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die
Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? - Alles was aus der Schwäche
stammt. Was ist Glück? - Das Gefühl davon, daß die Macht wächst
- daß ein Widerstand überwunden wird. Nicht Zufriedenheit, sondern
mehr Macht, nicht Friede überhaupt, sondern Krieg, nicht Tugend,
sondern Tüchtigkeit (Tugend im Renaissance-Stile, virtù, moralinfreie
Tugend). Die Schwachen und Mißratenen sollen zu Grunde gehn: erster Satz
unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen. Was ist schädlicher
als irgend ein Laster? - Das Mitleiden der Tat mit allen Mißratenen und
Schwachen - das Christentum .... Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 611-612 bzw. 1165-1166 |
Nicht,
was die Menschheit ablösen soll in der Reihenfolge der Wesen, ist das Problem,
das ich hiermit stelle (- der Mensch ist ein Ende -): sondern welchen Typus
Mensch man züchten soll, wollen soll, als den höherwertigeren,
lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren. Dieser höherwertige Typus ist
oft schon dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals
als gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden,
er war bisher beinahe das Furchtbare; - und aus der Furcht heraus wurde
der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Haustier, das
Herdentier, das kranke Tier Mensch, - der Christ .... Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 611-612 bzw. 1165-1166 |
Die
Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren
oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der »Fortschritt«
ist bloß eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee. Der Europäer
von heute bleibt in seinem Werte tief unter dem Europäer der Renaissance;
Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgendwelcher Notwendigkeit
Erhöhung, Steigerung, Verstärkung. Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 612 bzw. 1166 |
In
einem andern Sinne gibt es ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle
an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Kulturen heraus,
mit denen in der Tat sich ein höherer Typus darstellt: etwas, das
im Verhältnis zur Gesamt-Menschheit eine Art Übermensch ist. Solche
Glücksfälle des großen Gelingens waren immer möglich und
werden vielleicht immer möglich sein. Und selbst ganze Geschlechter, Stämme,
Völker können unter Umständen einen solchen Treffer darstellen.
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 612 bzw. 1166 |
Man
soll das Christentum nicht schmücken und herausputzen: es hat einen Todkrieg
gegen diesen höheren Typus Mensch gemacht, es hat alle Grundinstinkte
dieses Typus in Bann getan, es hat aus diesen Instinkten das Böse, den Bösen
herausdestilliert der starke Mensch als der typisch Verwerfliche, der »verworfene
Mensch«. Das Christentum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Mißratnen
genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte
des starken Lebens gemacht; es hat die Vernunft selbst der geistig stärksten
Naturen verdorben, indem es die obersten Werte der Geistigkeit als sündhaft,
als irreführend, als Versuchungen empfinden lehrte. Das jammervollste
Beispiel: die Verderbnis Pascals, der an die Verderbnis seiner Vernunft durch
die Erbsünde glaubte, während sie nur durch sein Christentum verdorben
war! Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 613 bzw. 1167 |
Es
ist ein schmerzliches, ein schauerliches Schauspiel, das mir aufgegangen ist:
ich zog den Vorhang weg von der Verdorbenheit des Menschen. Dies Wort,
in meinem Munde, ist wenigstens gegen einen Verdacht geschützt: daß
es eine moralische Anklage des Menschen enthält. Es ist ich möchte
es nochmals unterstreichen moralinfrei gemeint: und dies bis zu
dem Grade, daß jene Verdorbenheit gerade dort von mir am stärksten
empfunden wird, wo man bisher am bewußtesten zur »Tugend«, zur
»Göttlichkeit« aspirierte. Ich verstehe Verdorbenheit, man errät
es bereits, im Sinne von décadence: meine Behauptung ist, daß alle
Werte, in denen jetzt die Menschheit ihre oberste Wünschbarkeit zusammenfaßt,
décadence-Werte sind. Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 613 bzw. 1167 |
Ich
nenne ein Tier, eine Gattung, ein Individuum verdorben, wenn es seine Instinkte
verliert, wenn es wählt, wenn es vorzieht, was ihm nachteilig ist.
Eine Geschichte der »höheren Gefühle«, der »Ideale
der Menschheit« und es ist möglich, daß ich sie erzählen
muß wäre beinahe auch die Erklärung dafür, weshalb
der Mensch so verdorben ist. Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 613 bzw. 1167 |
Das
Leben selbst gilt mir als Instinkt für Wachstum, für Dauer, für
Häufung von Kräften, für Macht: wo der Wille zur Macht fehlt,
gibt es Niedergang. Meine Behauptung ist, daß allen obersten Werten der
Menschheit dieser Wille fehlt daß Niedergangs-Werte, nihilistische
Werte unter den heiligsten Namen die Herrschaft führen. Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 613-614 bzw. 1167-1168 |
Das
Mitleiden kreuzt im ganzen großen das Gesetz der Entwicklung, welches das
Gesetz der Selektion ist. Es erhält, was zum Untergange reif ist,
es wehrt sich zugunsten der Enterbten und Verurteilten des Lebens, es gibt durch
die Fülle des Mißratenen aller Art, das es im Leben festhält,
dem Leben selbst einen düsteren und fragwürdigen Aspekt. Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 614 bzw. 1168 |
Man
hat gewagt, das Mitleiden eine Tugend zu nennen ( in jeder vornehmen
Moral gilt es als Schwäche ); man ist weitergegangen, man hat aus ihm
die Tugend, den Boden und Ursprung aller Tugenden gemacht nur freilich,
was man stets im Auge behalten muß, vom Gesichtspunkt einer Philosophie
aus, welche nihilistisch war, welche die Verneinung des Lebens auf ihr
Schild schrieb. Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 614 bzw. 1168 |
Schopenhauer
war in seinem Recht damit: durch das Mitleid wird das Leben verneint, verneinungswürdiger
gemacht Mitleiden ist die Praxis des Nihilismus. Nochmals gesagt: dieser
depressive und kontagiöse Instinkt kreuzt jene Instinkte, welche auf Erhaltung
und Wert-Erhöhung des Lebens aus sind: er ist eben so als Multiplikator
des Elends wie als Konservator alles Elenden ein Hauptwerkzeug zur Steigerung
der décadence Mitleiden überredet zum Nichts! .... Man
sagt nicht »Nichts«: man sagt dafür »Jenseits«: oder
»Gott«; oder »das wahre Leben«; oder Nirwana, Erlösung,
Seligkeit .... Diese unschuldige Rhetorik aus dem Reich der religiös-moralischen
Idiosynkrasie erscheint sofort viel weniger unschuldig, wenn man begreift,
welche Tendenz hier den Mantel sublimer Worte um sich schlägt: die
lebensfeindliche Tendenz. Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 614-615 bzw. 1168-1169 |
Schopenhauer
war lebensfeindlich: deshalb wurde ihm das Mitleid zur Tugend .... Aristoteles
sah, wie man weiß, im Mitleiden einen krankhaften und gefährlichen
Zustand, dem man gut täte, hier und da durch ein Purgativ beizukommen: er
verstand die Tragödie als Purgativ. Vom Instinkte des Lebens aus müßte
man in der Tat nach einem Mittel suchen, einer solchen krankhaften und gefährlichen
Häufung des Mitleids, wie sie der Fall Schopenhauers (und leider auch unsre
gesamte literarische und artistische décadence von St. Petersburg bis Paris,
von Tolstoi bis Wagner) darstellt, einen Stich zu versetzen: damit sie platzt
.... Nichts ist ungesunder, inmitten unsrer ungesunden Modernität, als das
christliche Mitleid. Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier
das Messer führen das gehört zu uns, das ist unsre
Art Menschenliebe, damit sind wir Philosophen, wir Hyperboreer! Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 615 bzw. 1169 |
Wir
leiten den Menschen nicht mehr vom »Geist«, von der »Gottheit«
ab, wir haben ihn unter die Tiere zurückgestellt. Er gilt uns als das stärkste
Tier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist seine Geistigkeit. Wir wehren
uns andrerseits gegen eine Eitelkeit, die auch hier wieder laut werden möchte:
wie als ob der Mensch die große Hinterabsicht der tierischen Entwicklung
gewesen sei. Er ist durchaus keine Krone der Schöpfung: ...: der Mensch ist,
relativ genommen, das mißratenste Tier, das krankhafteste, das von seinen
Instinkten am gefährlichsten abgeirrte freilich, mit alledem, auch
das interessanteste! Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 620 bzw. 1174 |
Weder
die Moral noch die Religion berührt sich im Christentume mit irgendeinem
Punkte der Wirklichkeit. Lauter imaginäre Ursachen (»Gott«,
»Seele«, »Ich«, »Geist«, »der freie
Wille« oder auch »der unfreie«): lauter imaginäre
Wirkungen (»Sünde«, »Erlösung«, »Gnade«,
»Strafe«, »Vergebung der Sünde«). Ein Verkehr zwischen
imaginären Wesen (»Gott«, »Geister«, »Seelen«);
eine imaginäre Naturwissenschaft (anthropozentrisch; völliger
Mangel des Begriffs der natürlichen Ursachen); eine imaginäre Psychologie
(lauter Selbst-Mißverständnisse, Interpretationen angenehmer oder unangenehmer
Allgemeingefühle, zum Beispiel der Zustände des nervus sympathicus,
mit Hilfe der Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie »Reue«,
»Gewissensbiß«, »Versuchung des Teufels«, »die
Nähe Gottes«); eine imaginäre Teleologie (»das Reich
Gottes«, »das Jüngste Gericht«, »das ewige Leben«).
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 621 bzw. 1175 |
Ein
Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch noch seinen eignen Gott. In ihm
verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist, seine Tugenden, es
projiziert seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür
danken kann. Wer reich ist, will abgeben; ein stolzes Volk braucht einen Gott,
um zu opfern .... Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine
Form der Dankbarkeit. Man ist für sich selber dankbar: dazu braucht man einen
Gott. Ein solcher Gott muß nützen und schaden können, muß
Freund und Feind sein können man bewundert ihn im Guten wie im Schlimmen.
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 622 bzw. 1176 |
Die
widernatürliche Kastration eines Gottes zu einem Gotte bloß
des Guten läge hier außerhalb aller Wünschbarkeit. Man hat den
bösen Gott so nötig als den guten: man verdankt ja die eigne Existenz
nicht gerade der Toleranz, der Menschenfreundlichkeit .... Was läge an einem
Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Hohn, List, Gewalttat kennte? dem vielleicht
nicht einmal die entzückenden ardeurs des Siegs und der Vernichtung bekannt
wären? Man würde einen solchen Gott nicht verstehn: wozu sollte man
ihn haben? Freilich: wenn ein Volk zugrunde geht; wenn es den Glauben an
Zukunft, seine Hoffnung auf Freiheit endgültig schwinden fühlt; wenn
ihm die Unterwerfung als erste Nützlichkeit, die Tugenden der Unterworfenen
als Erhaltungsbedingungen ins Bewußtsein treten, dann muß sich
auch sein Gott verändern. Er wird jetzt Duckmäuser, furchtsam, bescheiden,
rät zum »Frieden der Seele«, zum Nicht-mehr-hassen, zur Nachsicht,
zur »Liebe« selbst gegen Freund und Feind. Er moralisiert beständig,
er kriecht in die Höhle jeder Privattugend, wird Gott für jedermann,
wird Privatmann, wird Kosmopolit .... Ehemals stellte er ein Volk, die Stärke
eines Volkes, alles Aggressive und Machtdurstige aus der Seele eines Volkes dar:
jetzt ist er bloß noch der gute Gott. Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 622 bzw. 1176 |
In
der Tat, es gibt keine andre Alternative für Götter: entweder
sind sie der Wille zur Macht und so lange werden sie Volksgötter sein
, oder aber die Ohnmacht zur Macht und dann werden sie notwendig
gut. Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 622 bzw. 1176 |
Wo
in irgendwelcher Form der Wille zur Macht niedergeht, gibt es jedesmal auch einen
physiologischen Rückgang, eine décadence. Die Gottheit der décadence,
beschnitten an ihren männlichsten Tugenden und Trieben, wird nunmehr notwendig
zum Gott der Physiologisch-Zurückgezogenen, der Schwachen. Sie heißen
sich selbst nicht die Schwachen, sie heißen sich »die Guten«.
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 623 bzw. 1177 |
Verfall
eines Gottes: Gott ward »Ding an sich«Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 624 bzw. 1178 |
Mit
meiner Verurteilung des Christentums möchte ich kein Unrecht gegen eine verwandte
Religion begangen haben, die der Zahl der Bekenner nach sogar überwiegt:
gegen den Buddhismus. Beide gehören als nihilistische Religionen zusammen
sie sind décadence-Religionen , beide sind voneinander
in der merkwürdigsten Weise getrennt. Daß man sie jetzt vergleichen
kann, dafür ist der Kritiker des Christentums den indischen Gelehrten tief
dankbar. Der Buddhismus ist hundertmal realistischer als das Christentum
er hat die Erbschaft des objektiven und kühlen Probleme-Stellens im
Leibe, er kommt nach einer Hunderte von Jahren dauernden philosophischen Bewegung;
der Begriff »Gott« ist bereits abgetan, als er kommt. Der Buddhismus
ist die einzige eigentlich positivistische Religion, die uns die Geschichte
zeigt, auch noch in seiner Erkenntnistheorie (einem strengen Phänomenalismus
), er sagt nicht mehr »Kampf gegen die Sünde«, sondern,
ganz der Wirklichkeit das Recht gebend, »Kampf gegen das Leiden«.
Er hat dies unterscheidet ihn tief vom Christentum die Selbst-Betrügerei
der Moral-Begriffe bereits hinter sich, er steht, in meiner Sprache geredet,
jenseits von Gut und Böse. Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 625 bzw. 1179 |
Die
physiologischen Tatsachen, auf denen er ruht und die er ins Auge faßt, sind:
einmal eine übergroße Reizbarkeit der Sensibilität, welche sich
als raffinierte Schmerzfähigkeit ausdrückt, sodann eine Übergeistigung,
ein allzulanges Leben in Begriffen und logischen Prozeduren, unter dem der Person-Instinkt
zum Vorteil des »Unpersönlichen« Schaden genommen hat (
beides Zustände, die wenigstens einige meiner Leser, die »Objektiven«,
gleich mir selbst, aus Erfahrung kennen weiden). Auf Grund dieser physiologischen
Bedingungen ist eine Depression entstanden: gegen diese geht Buddha hygienisch
vor. Er wendet dagegen das Leben im Freien an, das Wanderleben; die Mäßigung
und die Wahl in der Kost; die Vorsicht gegen alle Spirituosa; die Vorsicht insgleichen
gegen alle Affekte, die Galle machen, die das Blut erhitzen; keine Sorge,
weder für sich, noch für andre. Er fordert Vorstellungen, die entweder
Ruhe geben oder erheitern er erfindet Mittel, die anderen sich abzugewöhnen.
Er versteht die Güte, das Gütigsein als gesundheit-fördernd. Gebet
ist ausgeschlossen, ebenso wie die Askese; kein kategorischer Imperativ,
kein Zwang überhaupt, selbst nicht innerhalb der Klostergemeinschaft
( man kann wieder hinaus ). Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 625-626 bzw. 1179-1180 |
Das
alles wären Mittel, um jene übergroße Reizbarkeit zu verstärken.
Eben darum fordert er auch keinen Kampf gegen Andersdenkende; seine Lehre wehrt
sich gegen nichts mehr als gegen das Gefühl der Rache, der Abneigung,
des ressentiment ( »nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft
zu Ende«: der rührende Refrain des ganzen Buddhismus...). Und das mit
Recht: gerade diese Affekte wären vollkommen ungesund in Hinsicht auf die
diätetische Hauptabsicht. Die geistige Ermüdung, die er vorfindet und
die sich in einer allzugroßen »Objektivität« (das heißt
Schwächung des Individual-Interesses, Verlust an Schwergewicht, an »Egoismus«)
ausdrückt, bekämpft er mit einer strengen Zurückführung auch
der geistigsten Interessen auf die Person. In der Lehre Buddhas wird der
Egoismus Pflicht: das »eins ist not«, das »wie kommst du
vom Leiden los« reguliert und begrenzt die ganze geistige Diät (
man darf sich vielleicht an jenen Athener erinnern, der der reinen »Wissenschaftlichkeit«
gleichfalls den Krieg machte, an Sokrates, der den Personal-Egoismus auch im Reich
der Probleme zur Moral erhob). Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 626 bzw. 1180 |
Das
Christentum will über Raubtiere Herr werden; sein Mittel ist, sie
krank zu machen die Schwächung ist das christliche Rezept zur
Zähmung, zur »Zivilisation«. Der Buddhismus ist eine Religion
für den Schluß und die Müdigkeit der Zivilisation, das Christentum
findet sie noch nicht einmal vor es begründet sie unter Umständen.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 628 bzw. 1182 |
Was
ist jüdische, was ist christliche Moral? Der Zufall um seine Unschuld gebracht;
das Unglück mit dem Begriff »Sünde« beschmutzt; das Wohlbefinden
als Gefahr, als »Versuchung«; das physiologische Übelbefinden
mit dem Gewissens-Wurm vergiftet.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 632 bzw. 1186 |
Der
Gottesbegriff gefälscht; der Moralbegriff gefälscht die jüdische
Priesterschaft blieb dabei nicht stehn. Man konnte die ganze Geschichte
Israels nicht brauchen: fort mit ihr! Diese Priester haben jenes Wunderwerk
von Fälschung zustande gebracht, als deren Dokumente uns ein guter Teil der
Bibel vorliegt: sie haben ihre eigne Volks-Vergangenheit mit einem Hohn ohnegleichen
gegen jede Überlieferung, gegen jede historische Realität, ins Religiöse
übersetzt, das heißt, aus ihr einen stupiden Heils-Mechanismus
von Schuld gegen Javeh und Strafe, von Frömmigkeit gegen Javeh und Lohn gemacht.
Wir würden diesen schmachvollsten Akt der Geschichts-Fälschung viel
schmerzhafter empfinden, wenn uns nicht die kirchliche Geschichts- Interpretation
von Jahrtausenden fast stumpf für die Forderungen der Rechtschaffenheit in
historicis gemacht hätte. Und der Kirche sekundierten die Philosophen: die
Lüge der »sittlichen Weltordnung« geht durch die ganze Entwicklung
selbst der neueren Philosophie. .... Die Realität an Stelle dieser
erbarmungswürdigen Lüge heißt: eine parasitische Art Mensch, die
nur auf Kosten aller gesunden Bildungen des Lebens gedeiht, der Priester,
mißbraucht den Namen Gottes: er nennt einen Zustand der Gesellschaft, in
dem der Priester den Wert der Dinge bestimmt, »das Reich Gottes«;
er nennt die Mittel, vermöge deren ein solcher Zustand erreicht oder aufrechterhalten
wird, »den Willen Gottes«; er mißt, mit einem kaltblütigen
Zynismus, die Völker, die Zeiten, die Einzelnen danach ab, ob sie der Priester-Übermacht
nützten oder widerstrebten.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 632-633 bzw. 1186-1187 |
Von
nun an sind alle Dinge des Lebens so geordnet, daß der Priester überall
unentbehrlich ist; in allen natürlichen Vorkommnissen des Lebens, bei
der Geburt, der Ehe, der Krankheit, dem Tode, gar nicht vom »Opfer«
(der Mahlzeit) zu reden, erscheint der heilige Parasit, um sie zu entnatürlichen
in seiner Sprache: zu »heiligen« .... Denn dies muß man
begreifen: jede natürliche Sitte, jede natürliche Institution (Staat,
Gerichtsordnung, Ehe, Kranken- und Armenpflege), jede vom Instinkt des Lebens
eingegebne Forderung, kurz alles, was seinen Wert in sich hat, wird durch
den Parasitismus des Priesters (oder der »sittlichen Weltordnung«)
grundsätzlich wertlos, wert-widrig gemacht: es bedarf nachträglich
einer Sanktion eine wertverleihende Macht tut not, welche die Natur
darin verneint, welche eben damit erst einen Wert schafft .... Der Priester
entwertet, entheiligt die Natur: um diesen Preis besteht er überhaupt.
Der Ungehorsam gegen Gott, das heißt gegen den Priester, gegen »das
Gesetz«, bekommt nun den Namen »Sünde«; die Mittel, sich
wieder »mit Gott zu versöhnen«, sind, wie billig, Mittel, mit
denen die Unterwerfung unter den Priester nur noch gründlicher gewährleistet
ist: der Priester allein »erlöst« .... Psychologisch nachgerechnet,
werden in jeder priesterlich organisierten Gesellschaft die »Sünden«
unentbehrlich: sie sind die eigentlichen Handhaben der Macht, der Priester lebt
von den Sünden, er hat nötig, daß »gesündigt«
wird .... Oberster Satz: »Gott vergibt dem, der Buße tut«
auf deutsch: der sich dem Priester unterwirft.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 634 bzw. 1188 |
Auf
einem dergestalt falschen Boden, wo jede Natur, jeder Naturwert, jede Realität
die tiefsten Instinkte der herrschenden Klasse wider sich hatte, wuchs das Christentum
auf, eine Todfeindschafts-Form gegen die Realität, die bisher nicht übertroffen
worden ist. Das »heilige Volk«, das für alle Dinge nur Priester-Werte,
nur Priester-Worte übrig behalten hatte und mit einer Schluß-Folgerichtigkeit,
die Furcht einflößen kann, alles, was sonst noch an Macht auf Erden
bestand, als »unheilig«, als »Welt«, als »Sünde«
von sich abgetrennt hatte dies Volk brachte für seinen Instinkt eine
letzte Formel hervor, die logisch war bis zur Selbstverneinung: es verneinte,
als Christentum, noch die letzte Form der Realität, das »heilige
Volk«, das »Volk der Ausgewählten«, die jüdische
Realität selbst. Der Fall ist ersten Rangs: die kleine aufständische
Bewegung, die auf den Namen des Jesus von Nazareth getauft wird, ist der jüdische
Instinkt noch einmal anders gesagt, der Priester-Instinkt, der den
Priester als Realität nicht mehr verträgt, die Erfindung einer noch
abgezogneren Daseinsform, einer noch unrealeren Vision der Welt
....Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 634-635 bzw. 1188-1189 |
Dieser
heilige Anarchist, der das niedere Volk, die Ausgestoßnen und »Sünder«,
die Tschandala innerhalb des Judentums zum Widerspruch gegen die herrschende
Ordnung aufrief mit einer Sprache, falls den Evangelien zu trauen wäre,
die auch heute noch nach Sibirien führen würde, war ein politischer
Verbrecher, so weit eben politische Verbrecher in einer absurd-unpolitischen
Gemeinschaft möglich waren. Dies brachte ihn ans Kreuz: der Beweis dafür
ist die Aufschrift des Kreuzes. Er starb für seine Schuld es
fehlt jeder Grund dafür, so oft es auch behauptet worden ist, daß er
für die Schuld andrer starb.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 635 bzw. 1189 |
Der
Instinkt-Haß gegen die Realität .... Die Instinkt-Ausschließung
aller Abneigung, aller Feindschaft, aller Grenzen und Distanzen im Gefühl
.... Dies sind die zwei physiologischen Realitäten, auf denen,
aus denen die Erlösungs-Lehre gewachsen ist.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 637-638 bzw. 1191-1192 |
Der
eine Gott und der eine Sohn Gottes: beides Erzeugnisse des Ressentiment.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 650 bzw. 1204 |
Der
Buddhismus verspricht nicht, sondern hält, das Christentum verspricht alles,
aber hält nichts.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 649-650 bzw. 1203-204 |
Der
»frohen Botschaft« folgte auf dem Fuß die allerschlimmste:
die des Paulus. In Paulus verkörpert sich der Gegensatz-Typus zum »frohen
Botschafter«, das Genie im Haß, in der Vision des Hasses, in der unerbittlichen
Logik des Hasses. Was hat dieser Dysangelist alles dem Hasse zum Opfer gebracht!
Vor allem den Erlöser: er schlug ihn an sein Kreuz.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 650 bzw. 1204 |
Wenn
man das Schwergewicht des Lebens nicht ins Leben, sondern ins »Jenseits«
verlegt ins Nichts , so hat man dem Leben überhaupt das
Schwergewicht genommen. Die große Lüge von der Personal-Unsterblichkeit
zerstört jede Vernunft, jede Natur im Instinkte alles, was wohltätig,
was lebenfördernd, was zukunftverbürgend in den Instinkten ist, erregt
nunmehr Mißtrauen. So zu leben, daß es keinen Sinn mehr hat
zu leben, das wird jetzt zum »Sinn« des Lebens. Wozu Gemeinsinn, wozu
Dankbarkeit noch für Herkunft und Vorfahren, wozu mitarbeiten, zutrauen,
irgendein Gesamtwohl fördern und im Auge haben? Ebenso viele »Versuchungen«,
ebenso viele Ablenkungen vom »rechten Weg« »eins ist
not«. Daß jeder als »unsterbliche Seele« mit jedem gleichen
Rang hat, daß in der Gesamtheit aller Wesen das »Heil« jedes
Einzelnen eine ewige Wichtigkeit in Anspruch nehmen darf, daß kleine Mucker
und Dreiviertels-Verrückte sich einbilden dürfen, daß um ihretwillen
die Gesetze der Natur beständig durchbrochen werden eine solche
Steigerung jeder Art Selbstsucht ins Unendliche, ins Unverschämte
kann man nicht mit genug Verachtung brandmarken. Und doch verdankt das Christentum
dieser erbarmungswürdigen Schmeichelei vor der Personal-Eitelkeit
seinen Sieg gerade alles Mißratene, Aufständisch-Gesinnte,
Schlechtweg-gekommne, den ganzen Auswurf und Abhub der Menschheit hat es damit
zu sich überredet. Das »Heil der Seele« auf deutsch: »die
Welt dreht sich um mich« .... Das Gift der Lehre »gleiche Rechte
für alle« das Christentum hat es am grundsätzlichsten ausgesät;
das Christentum hat jedem Ehrfurchts-und Distanz-Gefühl zwischen Mensch und
Mensch, das heißt der Voraussetzung zu jeder Erhöhung, zu jedem Wachstum
der Kultur einen Todkrieg aus den heimlichsten Winkeln schlechter Instinkte gemacht
es hat aus dem Ressentiment der Massen sich seine Hauptwaffe geschmiedet
gegen uns, gegen alles Vornehme, Frohe, Hochherzige auf Erden, gegen unser Glück
auf Erden. Die »Unsterblichkeit« jedem Petrus und Paulus zugestanden,
war bisher das größte, das bösartigste Attentat auf die vornehme
Menschlichkeit.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 651 bzw. 1205 |
Und
unterschätzen wir das Verhängnis nicht, das vom Christentum aus sich
bis in die Politik eingeschlichen hat! Niemand hat heute mehr den Mut zu Sonderrechten,
zu Herrschaftsrechten, zu einem Ehrfurchtsgefühl vor sich und seinesgleichen
zu einem Pathos der Distanz. Unsre Politik ist krank an diesem
Mangel an Mut! Der Aristokratismus der Gesinnung wurde durch die Seelen-Gleichheits-Lüge
am unterirdischsten untergraben; und wenn der Glaube an das »Vorrecht der
Meisten« Revolutionen macht und machen wird das Christentum
ist es, man zweifle nicht daran, christliche Werturteile sind es, welche
jede Revolution bloß in Blut und Verbrechen übersetzt! Das Christentum
ist ein Aufstand alles Am-Boden-Kriechenden gegen das, was Höhe hat:
das Evangelium der »Niedrigen« macht niedrig.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 651-652 bzw. 1205-1206 |
Die
Evangelien sind unschätzbar als Zeugnis für die bereits unaufhaltsame
Korruption innerhalb der ersten Gemeinde.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 652 bzw. 1206 |
Der
Christ, diese ultima ratio der Lüge, ist der Jude noch einmal
dreimal selbst.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 652 bzw. 1206 |
Indem
sie Gott richten lassen, richten sie selber; indem sie Gott verherrlichen, verherrlichen
sie sich selber ....Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 653 bzw. 1207 |
Man
lese die Evangelien als Bücher der Verführung mit Moral: die
Moral wird von diesen kleinen Leuten mit Beschlag belegt sie wissen, was
es auf sich hat mit der Moral! Die Menschheit wird am besten genasführt
mit der Moral!Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 653 bzw. 1207 |
Paulus
war der größte aller Apostel der Rache.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 655 bzw. 1209 |
Hat
man eigentlich die berühmte Geschichte verstanden, die am Anfang der Bibel
steht von der Höllenangst Gottes vor der Wissenschaft? Man
hat sie nicht verstanden. Dies Priesterbuch par excellence beginnt, wie
billig, mit der großen inneren Schwierigkeit des Priesters: er hat
nur eine große Gefahr, folglich hat »Gott« nur eine große
Gefahr.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 658 bzw. 1212 |
Der
alte Gott, ganz »Geist«, ganz Hoherpriester, ganz Vollkommenheit,
lustwandelt in seinen Gärten: nur daß er sich langweilt. Gegen die
Langeweile kämpfen Götter selbst vergebens. Was tut er? Er erfindet
den Menschen der Mensch ist unterhaltend. Aber siehe da, auch der Mensch
langweilt sich. Das Erbarmen Gottes mit der einzigen Not, die alle Paradiese an
sich haben, kennt keine Grenzen: er schuf alsbald noch andre Tiere. Erster
Fehlgriff Gottes: der Mensch fand die Tiere nicht unterhaltend er herrschte
über sie, er wollte nicht einmal »Tier« sein. Folglich
schuf Gott das Weib. Und in der Tat, mit der Langeweile hatte es nun ein Ende
aber auch mit anderem noch! Das Weib war der zweite Fehlgriff Gottes.
»Das Weib ist seinem Wesen nach Schlange, Heva« das
weiß jeder Priester; »vom Weib kommt jedes Unheil in der Welt«
das weiß ebenfalls jeder Priester. »Folglich kommt von ihm
auch die Wissenschaft«. .... Erst durch das Weib lernte der Mensch
vom Baume der Erkenntnis kosten. Was war geschehn? Den alten Gott ergriff
eine Höllenangst. Der Mensch selbst war sein größter Fehlgriff
geworden, er hatte sich einen Rivalen geschaffen, die Wissenschaft macht gottgleich,
es ist mit Priestern und Göttern zu Ende, wenn der Mensch wissenschaftlich
wird! Moral: die Wissenschaft ist das Verbotene an sich sie allein
ist verboten. Die Wissenschaft ist die erste Sünde, der Keim aller
Sünde, die Erbsünde. Dies allein ist Moral. »Du
sollst nicht erkennen« der Rest folgt daraus.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 658-659 bzw. 1212-1213 |
Die
Höllenangst Gottes verhinderte ihn nicht, klug zu sein. Wie wehrt man sich
gegen die Wissenschaft? das wurde für lange sein Hauptproblem. Antwort: fort
mit dem Menschen aus dem Paradiese! Das Glück, der Müßiggang bringt
auf Gedanken alle Gedanken sind schlechte Gedanken. Der Mensch soll nicht
denken. Und der »Priester an sich« erfindet die Not, den Tod,
die Lebensgefahr der Schwangerschaft, jede Art von Elend, Alter, Mühsal,
die Krankheit vor allem lauter Mittel im Kampfe mit der Wissenschaft!
Die Not erlaubt dem Menschen nicht, zu denken. Und trotzdem! entsetzlich!
Das Werk der Erkenntnis türmt sich auf, himmelstürmend, götterandämmernd
was tun! Der alte Gott erfindet den Krieg, er trennt die Völker,
er macht, daß die Menschen sich gegenseitig vernichten ( die Priester
haben immer den Krieg nötig gehabt ...). Der Krieg unter anderem ein
großer Störenfried der Wissenschaft! Unglaublich! Die Erkenntnis,
die Emanzipation vom Priester, nimmt selbst trotz Kriegen zu. Und
ein letzter Entschluß kommt dem alten Gotte: »der Mensch ward wissenschaftlich
es hilft nichts, man muß ihn ersäufen!«Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 659-660 bzw. 1213-1214 |
Man
hat mich verstanden. Der Anfang der Bibel enthält die ganze Psychologie
des Priesters. Der Priester kennt nur eine große Gefahr: das ist
die Wissenschaft der gesunde Begriff von Ursache und Wirkung. Aber die
Wissenschaft gedeiht im ganzen nur unter glücklichen Verhältnissen
man muß Zeit, man muß Geist überflüssig haben, um
zu »erkennen«. »Folglich muß man den Menschen unglücklich
machen« dies war zu jeder Zeit die Logik des Priesters. Man
errät bereits, was, dieser Logik gemäß, damit erst in die Welt
gekommen ist die »Sünde«. Der Schuld- und Strafbegriff,
die ganze »sittliche Weltordnung« ist erfunden gegen die Wissenschaft
gegen die Ablösung des Menschen vom Priester. Der Mensch soll
nicht hinaus-, er soll in sich hineinsehn; er soll nicht klug und
vorsichtig, als Lernender, in die Dinge sehn, er soll überhaupt gar
nicht sehn: er soll leiden. Und er soll so leiden, daß er jederzeit
den Priester nötig hat.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 660 bzw. 1214 |
Das
Christentum steht auch im Gegensatz zu aller geistigen Wohlgeratenheit
es kann nur die kranke Vernunft als christliche Vernunft brauchen,
es nimmt die Partei alles Idiotischen, es spricht den Fluch aus gegen den »Geist«,
gegen die superbia des gesunden Geistes. Weil die Krankheit zum Wesen des Christentums
gehört, muß auch der typisch-christliche Zustand, »der
Glaube«, eine Krankheitsform sein, müssen alle geraden, rechtschaffnen,
wissenschaftlichen Wege zur Erkenntnis von der Kirche als verbotene Wege
abgelehnt werden. Der Zweifel bereits ist eine Sünde .... Der vollkommne
Mangel an psychologischer Reinlichkeit beim Priester im Blick sich verratend
ist eine Folgeerscheinung der décadence man hat die
hysterischen Frauenzimmer, andrerseits rachitisch angelegte Kinder darauf hin
zu beobachten, wie regelmäßig Falschheit aus Instinkt, Lust zu lügen,
um zu lügen, Unfähigkeit zu geraden Blicken und Schritten der Ausdruck
von décadence ist. »Glaube« heißt Nicht-wissen-wollen,
was wahr ist. Der Pietist, der Priester beiderlei Geschlechts, ist falsch, weil
er krank ist: sein Instinkt verlangt, daß die Wahrheit an keinem
Punkt zu Rechte kommt. »Was krank macht, ist gut; was aus der Fülle,
aus dem Überfluß, aus der Macht kommt, ist böse«:
so empfindet der Gläubige. Die Unfreiheit zur Lüge daran
errate ich jeden vorherbestimmten Theologen.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 664 bzw. 1218 |
Man
lasse sich nicht irreführen: große Geister sind Skeptiker. Zarathustra
ist ein Skeptiker. Die Stärke, die Freiheit aus der Kraft und Überkraft
des Geistes beweist sich durch Skepsis.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 666-667 bzw. 1220-1221 |
Ein
Geist, der Großes will, der auch die Mittel dazu will, ist mit Notwendigkeit
Skeptiker. Die Freiheit von jeder Art Überzeugungen gehört zur
Stärke, das Frei-Blicken-können. Die große Leidenschaft, der Grund
und die Macht seines Seins, noch aufgeklärter, noch despotischer, als er
selbst es ist, nimmt seinen ganzen Intellekt in Dienst; sie macht unbedenklich;
sie gibt ihm Mut sogar zu unheiligen Mitteln; sie gönnt ihm unter
Umständen Überzeugungen. Die Überzeugung als Mittel: vieles
erreicht man nur mittelst einer Überzeugung. Die große Leidenschaft
braucht, verbraucht Überzeugungen, sie unterwirft sich ihnen nicht
sie weiß sich souverän. Umgekehrt: das Bedürfnis nach Glauben,
nach irgend etwas Unbedingtem von Ja und Nein, der Carlylismus, wenn man mir dies
Wort nachsehn will, ist ein Bedürfnis der Schwäche. Der Mensch
des Glaubens, der »Gläubige« jeder Art ist notwendig ein abhängiger
Mensch ein solcher, der sich nicht als Zweck, der von sich aus überhaupt
nicht Zwecke ansetzen kann. Der »Gläubige« gehört sich nicht,
er kann nur Mittel sein, er muß verbraucht werden, er hat jemand
nötig, der ihn verbraucht. Sein Instinkt gibt einer Moral der Entselbstung
die höchste Ehre: zu ihr überredet ihn alles, seine Klugheit, seine
Erfahrung, seine Eitelkeit. Jede Art Glaube ist selbst ein Ausdruck von Entselbstung,
von Selbst-Entfremdung. Erwägt man, wie notwendig den allermeisten ein Regulativ
ist, das sie von außen her bindet und fest macht, wie der Zwang, in einem
höheren Sinn die Sklaverei, die einzige und letzte Bedingung ist,
unter der der willensschwächere Mensch, zumal das Weib, gedeiht: so versteht
man auch die Überzeugung, den »Glauben«. Der Mensch der Überzeugung
hat in ihr sein Rückgrat. Viele Dinge nicht sehn, in keinem Punkte unbefangen
sein, Partei sein durch und durch, eine strenge und notwendige Optik in allen
Werten haben das allein bedingt es, daß eine solche Art Mensch überhaupt
besteht. Aber damit ist sie der Gegensatz, der Antagonist des Wahrhaftigen
der Wahrheit .... Dem Gläubigen steht es nicht frei, für die
Frage »wahr« und »unwahr« überhaupt ein Gewissen
zu haben: rechtschaffen sein an dieser Stelle wäre sofort sein Untergang.
Die pathologische Bedingtheit seiner Optik macht aus dem Überzeugten den
Fanatiker Savonarola, Luther, Rousseau, Robespierre, Saint-Simon ,
den Gegensatz-Typus des starken, des freigewordnen Geistes. Aber die große
Attitüde dieser kranken Geister, dieser Epileptiker des Begriffs,
wirkt auf die große Masse die Fanatiker sind pittoresk, die Menschheit
sieht Gebärden lieber, als daß sie Gründe hört.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 667-668 bzw. 1221-1222 |
Einen
Schritt weiter in der Psychologie der Überzeugung, des »Glaubens«.
Es ist schon lange von mir zur Erwägung anheimgegeben worden, ob nicht die
Überzeugungen gefährlichere Feinde der Wahrheit sind als die Lügen
(Menschliches, Allzumenschliches I, Aphorismus 54 und 483). Diesmal möchte
ich die entscheidende Frage tun: besteht zwischen Lüge und Überzeugung
überhaupt ein Gegensatz? Alle Welt glaubt es; aber was glaubt nicht
alle Welt! Eine jede Überzeugung hat ihre Geschichte, ihre Vorformen,
ihre Tentativen und Fehlgriffe: sie wird Überzeugung, nachdem sie
es lange nicht ist, nachdem sie es noch länger kaum ist. Wie?
könnte unter diesen Embryonal-Formen der Überzeugung nicht auch die
Lüge sein? Mitunter bedarf es bloß eines Personen-Wechsels:
im Sohn wird Überzeugung, was im Vater noch Lüge war. Ich nenne
Lüge: etwas nicht sehn wollen, das man sieht, etwas nicht so sehn
wollen, wie man es sieht: ob die Lüge vor Zeugen oder ohne Zeugen statthat,
kommt nicht in Betracht. Die gewöhnlichste Lüge ist die, mit der man
sich selbst belügt; das Belügen andrer ist relativ der Ausnahmefall.
Nun ist dies Nicht-sehn-wollen, was man sieht, dies Nicht-so-sehn-wollen,
wie man es sieht, beinahe die erste Bedingung für alle, die Partei sind,
in irgendwelchem Sinne: der Parteimensch wird mit Notwendigkeit Lügner.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 668 bzw. 1222 |
Darf
man sich noch darüber wundern, wenn, aus Instinkt, alle Parteien, auch die
deutschen Historiker, die großen Worte der Moral im Munde haben daß
die Moral beinahe dadurch fortbesteht, daß der Parteimensch jeder
Art jeden Augenblick sie nötig hat?Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 668-669 bzw. 1222-1223 |
Es
gibt Fragen, wo über Wahrheit und Unwahrheit dem Menschen die Entscheidung
nicht zusteht; alle obersten Fragen, alle obersten Wert-Probleme sind jenseits
der menschlichen Vernunft .... Die Grenzen der Vernunft begreifen das
erst ist wahrhaft Philosophie.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 669 bzw. 1223 |
Der
Mensch kann von sich nicht selber wissen, was gut und böse ist, darum
lehrte ihn Gott seinen Willen. Moral: der Priester lügt nicht
die Frage »wahr« oder »unwahr« gibt es nicht in solchen
Dingen, von denen Priester reden; diese Dinge erlauben gar nicht zu lügen.
Denn um zu lügen, müßte man entscheiden können, was
hier wahr ist. Aber das kann eben der Mensch nicht; der Priester ist damit
nur das Mundstück Gottes. Ein solcher Priester-Syllogismus ist durchaus
nicht bloß jüdisch und christlich; das Recht zur Lüge und die
Klugheit der »Offenbarung« gehört dem Typus Priester an,
den décadence-Priestern so gut als den Heidentum-Priestern ( Heiden
sind alle, die zum Leben ja sagen, denen »Gott« das Wort für
das große Ja zu allen Dingen ist). Das »Gesetz«, der
»Wille Gottes«, das »heilige Buch«, die »Inspiration«
alles nur Worte für die Bedingungen, unter denen der Priester
zur Macht kommt, mit denen er seine Macht aufrecht erhält diese
Begriffe finden sich auf dem Grunde aller Priester-Organisationen, aller priesterlichen
oder philosophisch- priesterlichen Herrschaftsgebilde. Die »heilige Lüge«- dem
Konfuzius, dem Gesetzbuch des Manu, dem Mohammed, der christlichen Kirche gemeinsam
: sie fehlt nicht bei Plato. »Die Wahrheit ist da«: dies bedeutet,
wo nur es laut wird, der Priester lügt.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 669-670 bzw. 1223-1224 |
Ich
lese mit einem entgegengesetzten Gefühle das Gesetzbuch des Manu,
ein unvergleichlich geistiges und überlegenes Werk, das mit der Bibel auch
nur in einem Atem nennen eine Sünde wider den Geist wäre. Man
errät sofort: es hat eine wirkliche Philosophie hinter sich, in sich, nicht
bloß ein übelriechendes Judain von Rabbinismus und Aberglauben ....Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 670 bzw. 1224 |
Man
ertappt die Unheiligkeit der christlichen Mittel in flagranti, wenn man
den christlichen Zweck einmal an dem Zweck des Manu-Gesetzbuches mißt
wenn man diesen größten Zweck-Gegensatz unter starkes Licht
bringt. Es bleibt dem Kritiker des Christentums nicht erspart, das Christentum
verächtlich zu machen. Ein solches Gesetzbuch, wie das des
Manu, entsteht wie jedes gute Gesetzbuch: es resümiert die Erfahrung, Klugheit
und Experimental-Moral von langen Jahrhunderten, es schließt ab, es schafft
nichts mehr. Die Voraussetzung zu einer Kodifikation seiner Art ist die Einsicht,
daß die Mittel einer langsam und kostspielig erworbenen Wahrheit Autorität
zu schaffen, grundverschieden von denen sind, mit denen man sie beweisen würde.
Ein Gesetzbuch erzählt niemals den Nutzen, die Gründe, die Kasuistik
in der Vorgeschichte eines Gesetzes: eben damit würde es den imperativischen
Ton einbüßen, das »du sollst«, die Voraussetzung dafür,
daß gehorcht wird. Das Problem liegt genau hierin. An einem gewissen
Punkte der Entwicklung eines Volks erklärt die einsichtigste, das heißt
rück- und hinausblickendste Schicht desselben, die Erfahrung, nach der gelebt
werden soll das heißt kann , für abgeschlossen.
Ihr Ziel geht dahin, die Ernte möglichst reich und vollständig von den
Zeiten des Experiments und der schlimmen Erfahrung heimzubringen. Was folglich
vor allem jetzt zu verhüten ist, das ist das Noch-Fort-Experimentieren, die
Fortdauer des flüssigen Zustands der Werte, das Prüfen, Wählen,
Kritik-Üben der Werte in infinitum.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 671 bzw. 1225 |
Ein
Gesetzbuch nach Art des Manu aufstellen, heißt einem Volke fürderhin
zugestehn, Meister zu werden, vollkommen zu werden die höchste Kunst
des Lebens zu ambitionieren. Dazu muß es unbewußt gemacht werden:
dies der Zweck jeder heiligen Lüge. Die Ordnung der Kasten, das oberste,
das dominierende Gesetz, ist nur die Sanktion einer Natur-Ordnung, Natur-Gesetzlichkeit
ersten Ranges, über die keine Willkür, keine »moderne Idee«
Gewalt hat.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 672 bzw. 1226 |
Es
treten in jeder gesunden Gesellschaft, sich gegenseitig bedingend, drei physiologisch
verschieden-gravitierende Typen auseinander, von denen jeder seine eigne Hygiene,
sein eignes Reich von Arbeit, seine eigne Art Vollkommenheits-Gefühl und
Meisterschaft hat. Die Natur, nicht Manu, trennt die vorwiegend Geistigen,
die vorwiegend Muskel- und Temperaments-Starken und die weder im einen, noch im
andern ausgezeichneten dritten, die Mittelmäßigen, voneinander ab
die letzteren als die große Zahl, die ersteren als die Auswahl. Die oberste
Kaste ich nenne sie die Wenigsten hat als die vollkommne
auch die Vorrechte der wenigsten: dazu gehört es, das Glück, die Schönheit,
die Güte auf Erden darzustellen. Nur die geistigsten Menschen haben die Erlaubnis
zur Schönheit, zum Schönen: nur bei ihnen ist Güte nicht
Schwäche. Pulchrum est paucorum bominum: das Gute ist ein Vorrecht. Nichts
kann ihnen dagegen weniger zugestanden werden als häßliche Manieren
oder ein pessimistischer Blick, ein Auge, das verhäßlicht ,
oder gar eine Entrüstung über den Gesamt-Aspekt der Dinge. Die Entrüstung
ist das Vorrecht der Tschandala; der Pessimismus desgleichen. »Die Welt
ist vollkommen« so redet der Instinkt der Geistigsten, der jasagende
Instinkt : »die Unvollkommenheit, das Unter-uns jeder Art,
die Distanz, das Pathos der Distanz, der Tschandala selbst gehört noch zu
dieser Vollkommenheit.« Die geistigsten Menschen, als die Stärksten,
finden ihr Glück, worin andre ihren Untergang finden würden: im Labyrinth,
in der Härte gegen sich und andre, im Versuch; ihre Lust ist die Selbstbezwingung:
der Asketismus wird bei ihnen Natur, Bedürfnis, Instinkt. Die schwere Aufgabe
gilt ihnen als Vorrecht; mit Lasten zu spielen, die andre erdrücken, eine
Erholung. Erkenntnis eine Form des Asketismus. Sie sind die
ehrwürdigste Art Mensch: das schließt nicht aus, daß sie die
heiterste, die liebenswürdigste sind. Sie herrschen, nicht weil sie wollen,
sondern weil sie sind; es steht ihnen nicht frei, die zweiten zu sein.
Die zweiten: das sind die Wächter des Rechts, die Pfleger der Ordnung
und der Sicherheit, das sind die vornehmen Krieger, das ist der König
vor allem als die höchste Formel von Krieger, Richter und Aufrechterhalter
des Gesetzes. Die zweiten sind die Exekutive der Geistigsten, das Nächste,
was zu ihnen gehört, das was ihnen alles Grobe in der Arbeit des Herrschens
abnimmt ihr Gefolge, ihre rechte Hand, ihre beste Schüleschaft.
In dem allem, nochmals gesagt, ist nichts von Willkür, nichts »gemacht«;
was anders ist, ist gemacht die Natur ist dann zuschanden gemacht.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 672-673 bzw. 1226-1227 |
Die
Ordnung der Kasten, die Rangordnung, formuliert nur das oberste Gesetz
des Lebens selbst; die Abscheidung der drei Typen ist nötig zur Erhaltung
der Gesellschaft, zur Ermöglichung höherer und höchster Typen
die Ungleichheit der Rechte ist erst die Bedingung dafür, daß
es überhaupt Rechte gibt. Ein Recht ist ein Vorrecht. In seiner Art
Sein hat jeder auch sein Vorrecht. Unterschätzen wir die Vorrechte der Mittelmäßigen
nicht. Das Leben nach der Höhe zu wird immer härter die Kälte
nimmt zu, die Verantwortlichkeit nimmt zu.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 673 bzw. 1227 |
Eine
hohe Kultur ist eine Pyramide: sie kann nur auf einem breiten Boden stehn, sie
hat zu allererst eine stark und gesund konsolidierte Mittelmäßigkeit
zur Voraussetzung. Das Handwerk, der Handel, Ackerbau, die Wissenschaft,
der größte Teil der Kunst, der ganze Inbegriff der Berufstätigkeit
mit einem Wort, verträgt sich durchaus nur mit einem Mittelmaß im Können
und Begehren; dergleichen wäre deplaziert unter Ausnahmen, der dazugehörige
Instinkt widerspräche sowohl dem Aristokratismus als dem Anarchismus.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 673-674 bzw. 1227-1228 |
Daß
man ein öffentlicher Nutzen ist, ein Rad, eine Funktion, dazu gibt es eine
Naturbestimmung: nicht die Gesellschaft, die Art Glück, deren
die allermeisten bloß fähig sind, macht aus ihnen intelligente Maschinen.
Für den Mittelmäßigen ist mittelmäßig sein ein Glück;
die Meisterschaft in einem, die Spezialität ein natürlicher Instinkt.
Es würde eines tieferen Geistes vollkommen unwürdig sein, in der Mittelmäßigkeit
an sich schon einen Einwand zu sehn. Sie ist selbst die erste Notwendigkeit
dafür, daß es Ausnahmen geben darf: eine hohe Kultur ist durch sie
bedingt. Wenn der Ausnahme-Mensch gerade die Mittelmäßigen mit zarteren
Fingern handhabt, als sich und seinesgleichen, so ist dies nicht bloß Höflichkeit
des Herzens es ist einfach seine Pflicht.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 674 bzw. 1228 |
Wen
hasse ich unter dem Gesindel von Heute am besten? Das Sozialisten-Gesindel, die
Tschandala-Apostel, die den Instinkt, die Lust, das Genügsamkeits-Gefühl
des Arbeiters mit seinem kleinen Sein untergraben die ihn neidisch machen,
die ihn Rache lehren .... Das Unrecht liegt niemals in ungleichen Rechten, es
liegt im Anspruch auf »gleiche« Rechte. Was ist schlecht?
Aber ich sagte es schon: alles, was aus Schwäche, aus Neid, aus Rache
stammt. Der Anarchist und der Christ sind einer Herkunft.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 674 bzw. 1228 |
In
der Tat, es macht einen Unterschied, zu welchem Zweck man lügt: ob man damit
erhält oder zerstört. Man darf zwischen Christ und Anarchist
eine vollkommne Gleichung aufstellen: ihr Zweck, ihr Instinkt geht nur auf Zerstörung.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 674 bzw. 1228 |
Der
Christ und der Anarchist: beide décadents, beide unfähig, anders als
auflösend, vergiftend, verkümmernd, blutaussaugend zu wirken,
beide der Instinkt des Todhasses gegen alles, was steht, was groß
dasteht, was Dauer hat, was dem Leben Zukunft verspricht. Das Christentum war
der Vampyr des Imperium Romanum es hat die ungeheure Tat der Römer,
den Boden für eine große Kultur zu gewinnen, die Zeit hat, über
Nacht ungetan gemacht. Versteht man es immer noch nicht? Das Imperium
Romanum, das wir kennen, das uns die Geschichte der römischen Provinz
immer besser kennen lehrt, dies bewunderungswürdigste Kunstwerk des großen
Stils, war ein Anfang, sein Bau war berechnet, sich mit Jahrtausenden zu beweisen
es ist bis heute nie so gebaut, nie auch nur geträumt worden, in gleichem
Maße sub specie aeterni zu bauen! Diese Organisation war fest
genug, schlechte Kaiser auszuhalten: der Zufall von Personen darf nichts in solchen
Dingen zu tun haben erstes Prinzip aller großen Architektur.
Aber sie war nicht fest genug gegen die korrupteste Art Korruption, gegen den
Christen. Dies heimliche Gewürm, das sich in Nacht, Nebel und Zweideutigkeit
an alle Einzelnen heranschlich und jedem einzelnen den Ernst für wahre Dinge,
den Instinkt überhaupt für Realitäten aussog, diese feige,
femininische und zuckersüße Bande hat Schritt für Schritt die
»Seelen« diesem ungeheuren Bau entfremdet jene wertvollen,
jene männlich-vornehmen Naturen, die in der Sache Roms ihre eigne Sache,
ihren eignen Ernst, ihren eignen Stolz empfanden. Diese Mucker-Schleicherei,
die Konventikel-Heimlichkeit, düstere Begriffe wie Hölle, wie Opfer
des Unschuldigen, wie unio mystica im Bluttrinken, vor allem das langsam aufgeschürte
Feuer der Rache, der Tschandala-Rache das wurde Herr über Rom,
dieselbe Art von Religion, der in ihrer Präexistenz-Form schon Epikur den
Krieg gemacht hatte. Man lese Lukrez, um zu begreifen, was Epikur bekämpft
hat, nicht das Heidentum, sondern »das Christentum«, will sagen die
Verderbnis der Seelen durch den Schuld-, durch den Straf- und Unsterblichkeits-Begriff.
Er bekämpfte die unterirdischen Kulte, das ganze latente Christentum
die Unsterblichkeit zu leugnen war damals schon eine wirkliche Erlösung.
Und Epikur hätte gesiegt, jeder achtbare Geist im römischen Reich
war Epikureer: da erschien Paulus. Paulus, der Fleisch-, der Genie-gewordne
Tschandala-Haß gegen Rom, gegen »die Welt«, der Jude, der ewige
Jude par excellence. Was er erriet, das war, wie man mit Hilfe der kleinen sektiererischen
Christen-Bewegung abseits des Judentums einen »Weltbrand« entzünden
könne, wie man mit dem Symbol »Gott am Kreuze« alles Unten-Liegende,
alles Heimlich-Aufrührerische, die ganze Erbschaft anarchistischer Umtriebe
im Reich, zu einer ungeheuren Macht aufsummieren könne. »Das Heil kommt
von den Juden.« Das Christentum als Formel, um die unterirdischen
Kulte aller Art, die des Osiris, der großen Mutter, des Mithras zum Beispiel,
zu überbieten und zu summieren: in dieser Einsicht besteht das Genie
des Paulus. Sein Instinkt war darin so sicher, daß er die Vorstellungen,
mit denen jene Tschandala-Religionen faszinierten, mit schonungsloser Gewalttätigkeit
an der Wahrheit dem »Heilande« seiner Erfindung in den Mund legte,
und nicht nur in den Mund daß er aus ihm etwas machte, das
auch ein Mithras-Priester verstehn konnte. Dies war sein Augenblick von Damaskus:
er begriff, daß er den Unsterblichkeits-Glauben nötig hatte,
um »die Welt« zu entwerten, daß der Begriff »Hölle«
über Rom noch Herr wird daß man mit dem »Jenseits«
das Leben tötet. Nihilist und Christ: das reimt sich, das reimt sich
nicht bloß.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 675-676 bzw. 1229-1230 |
Die
ganze Arbeit der antiken Welt umsonst: ich habe kein Wort dafür, das
mein Gefühl über etwas so Ungeheures ausdrückt. Und in Anbetracht,
daß ihre Arbeit eine Vorarbeit war, daß eben erst der Unterbau zu
einer Arbeit von Jahrtausenden mit granitnem Selbstbewußtsein gelegt war,
der ganze Sinn der antiken Welt umsonst! Wozu Griechen? wozu Römer?
Alle Voraussetzungen zu einer gelehrten Kultur, alle wissenschaftlichen
Methoden waren bereits da, man hatte die große, die unvergleichliche
Kunst, gut zu lesen, bereits festgestellt diese Voraussetzung zur Tradition
der Kultur, zur Einheit der Wissenschaft; die Naturwissenschaft, im Bunde mit
Mathematik und Mechanik, war auf dem allerbesten Wege der Tatsachen-Sinn,
der letzte und wertvollste aller Sinne, hatte seine Schulen, seine bereits Jahrhunderte
alte Tradition! Versteht man das? Alles Wesentliche war gefunden, um an
die Arbeit gehn zu können die Methoden, man muß es zehnmal sagen,
sind das Wesentliche, auch das Schwierigste, auch das, was am längsten
die Gewohnheiten und Faulheiten gegen sich hat. Was wir heute, mit unsäglicher
Selbstbezwingung denn wir haben alle die schlechten Instinkte, die christlichen,
irgendwie noch im Leibe uns zurückerobert haben, den freien Blick
vor der Realität, die vorsichtige Hand, die Geduld und den Ernst im Kleinsten,
die ganze Rechtschaffenheit der Erkenntnis sie war bereits da! vor
mehr als zwei Jahrtausenden bereits! Und, dazu gerechnet, der gute, der
feine Takt und Geschmack! Nicht als Gehirn-Dressur!Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 676-677 bzw. 1230-1231 |
Alles
umsonst! Über Nacht bloß noch eine Erinnerung! Griechen!
Römer! die Vornehmheit des Instinkts, der Geschmack, die methodische Forschung,
das Genie der Organisation und Verwaltung, der Glaube, der Wille zur Menschen-Zukunft,
das große Ja zu allen Dingen als Imperium Romanum sichtbar, für alle
Sinne sichtbar, der große Stil nicht mehr bloß Kunst, sondern Realität,
Wahrheit, Leben geworden. Und nicht durch ein Natur-Ereignis über
Nacht verschüttet! Nicht durch Germanen und andre Schwerfüßler
niedergetreten! Sondern von listigen, heimlichen, unsichtbaren, blutarmen Vampyren
zuschanden gemacht! Nicht besiegt nur ausgesogen! Die versteckte Rachsucht,
der kleine Neid Herr geworden! Alles Erbärmliche, Ansich-Leidende,
Von-schlechten-Gefühlen-Heimgesuchte, die ganze Ghetto-Welt der Seele
mit einem Male obenauf! Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 677 bzw. 1231 |
Man
lese nur irgendeinen christlichen Agitator, den heiligen Augustin zum Beispiel,
um zu begreifen, um zu riechen, was für unsaubere Gesellen damit obenauf
gekommen sind. Man würde sich ganz und gar betrügen, wenn man irgendwelchen
Mangel an Verstand bei den Führern der christlichen Bewegung voraussetzte
oh, sie sind klug, klug, bis zur Heiligkeit, diese Herren Kirchenväter!
Was ihnen abgeht, ist etwas ganz anderes. Die Natur hat sie vernachlässigt
sie vergaß, ihnen eine bescheidne Mitgift von achtbaren, von anständigen,
von reinlichen Instinkten mitzugeben. Unter uns, es sind nicht einmal Männer.
Wenn der Islam das Christentum verachtet, so hat er tausendmal recht dazu: der
Islam hat Männer zur Voraussetzung.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 677-678 bzw. 1231-1232 |
Das
Christentum hat uns um die Ernte der antiken Kultur gebracht, es hat uns später
wieder um die Ernte der Islam-Kultur gebracht. Die wunderbare maurische
Kultur-Welt Spaniens, uns im Grunde verwandter, zu Sinn und Geschmack redender
als Rom und Griechenland, wurde niedergetreten ( ich sage nicht von
was für Füßen ), warum? weil sie vornehmen, weil sie Männer-Instinkten
ihre Entstehung verdankte, weil sie zum Leben ja sagte auch noch mit den seltnen
und raffinierten Kostbarkeiten des maurischen Lebens! Die Kreuzritter bekämpften
später etwas, vor dem sich in den Staub zu legen ihnen besser angestanden
hätte eine Kultur, gegen die sich selbst unser neunzehntes Jahrhundert
sehr arm, sehr »spät« vorkommen dürfte. Freilich,
sie wollten Beute machen: der Orient war reich. Man sei doch unbefangen! Kreuzzüge
die höhere Seeräuberei, weiter nichts!Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 678 bzw. 1232 |
An
sich sollte es ja keine Wahl geben, angesichts von Islam und Christentum, so wenig
als angesichts eines Arabers und eines Juden. Die Entscheidung ist gegeben; es
steht niemandem frei, hier noch zu wählen. Entweder ist man ein Tschandala,
oder man ist es nicht. »Krieg mit Rom aufs Messer! Friede, Freundschaft
mit dem Islam«: so empfand, so tat jener große Freigeist, das
Genie unter den deutschen Kaisern, Friedrich der Zweite? Wie? muß ein Deutscher
erst Genie, erst Freigeist sein, um anständig zu empfinden? Ich begreife
nicht, wie ein Deutscher je christlich empfinden konnte.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 678-679 bzw. 1232-1233 |
Die
Umwertung der christlichen Werte, der Versuch, mit allen Mitteln, mit allen
Instinkten, mit allem Genie unternommen, die Gegen-Werte, die vornehmen
Werte zum Sieg zu bringen.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 679 bzw. 1233 |
Ich
sehe eine Möglichkeit vor mir von einem vollkommen überirdischen
Zauber und Farbenreiz es scheint mir, daß sie in allen Schaudern
raffinierter Schönheit erglänzt, daß eine Kunst in ihr am Werke
ist, so göttlich, so teufelsmäßig-göttlich, daß man
Jahrtausende umsonst nach einer zweiten solchen Möglichkeit durchsucht; ich
sehe ein Schauspiel, so sinnreich, so wunderbar paradox zugleich, daß alle
Gottheiten des Olymps einen Anlaß zu einem unsterblichen Gelächter
gehabt hätten Cesare Borgia als Papst. Versteht man mich? Wohlan,
das wäre der Sieg gewesen, nach dem ich heute allein verlange :
damit war das Christentum abgeschafft! Was geschah? Ein deutscher
Mönch, Luther, kam nach Rom. Dieser Mönch, mit allen rachsüchtigen
Instinkten eines verunglückten Priesters im Leibe, empörte sich in Rom
gegen die Renaissance. Statt mit tiefster Dankbarkeit das Ungeheure zu verstehn,
das geschehen war, die Überwindung des Christentums an seinem Sitz
, verstand sein Haß aus diesem Schauspiel nur seine Nahrung zu ziehn.
Ein religiöser Mensch denkt nur an sich. Luther sah die Verderbnis
des Papsttums, während gerade das Gegenteil mit Händen zu greifen war:
die alte Verderbnis, das peccatum originale, das Christentum saß nicht mehr
auf dem Stuhl des Papstes! Sondern das Leben! Sondern der Triumph des Lebens!
Sondern das große Ja zu allen hohen, schönen, verwegenen Dingen! Und
Luther stellte die Kirche wieder her: er griff sie an .... Die Renaissance
ein Ereignis ohne Sinn, ein großes Umsonst!Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 679-680 bzw. 1233-1234 |
Hiermit
bin ich am Schluß und spreche mein Urteil. Ich verurteile das Christentum,
ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je
ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller
denkbaren Korruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch nur möglichen
Korruption gehabt. Die christliche Kirche ließ nichts mit ihrer Verderbnis
unberührt, sie hat aus jedem Wert einen Unwert, aus jeder Wahrheit eine Lüge,
aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht. Man wage es noch,
mir von ihren »humanitären« Segnungen zu reden! Irgendeinen Notstand
abschaffen ging wider ihre tiefste Nützlichkeit: sie lebte von Notständen,
sie schuf Notstände, um sich zu verewigen. Der Wurm der Sünde
zum Beispiel: mit diesem Notstande hat erst die Kirche die Menschheit bereichert!
Die »Gleichheit der Seelen vor Gott«, diese Falschheit, dieser
Vorwand für die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff
von Begriff, der endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangs-Prinzip der
ganzen Gesellschafts-Ordnung geworden ist ist christlicher Dynamit.
»Humanitäre« Segnungen des Christentums! Aus der humanitas einen
Selbst-Widerspruch, eine Kunst der Selbstschändung, einen Willen zur Lüge
um jeden Preis, einen Widerwillen, eine Verachtung aller guten und rechtschaffnen
Instinkte herauszuzüchten! Das wären mir Segnungen des Christentums!
Der Parasitismus als einzige Praxis der Kirche; mit ihrem Bleichsuchts-,
ihrem »Heiligkeits«-Ideale jedes Blut, jede Liebe, jede Hoffnung zum
Leben austrinkend; das Jenseits als Wille zur Verneinung jeder Realität;
das Kreuz als Erkennungszeichen für die unterirdischste Verschwörung,
die es je gegeben hat gegen Gesundheit, Schönheit, Wohlgeratenheit,
Tapferkeit, Geist, Güte der Seele, gegen das Leben selbst.Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 680-681 bzw. 1234-1235 |
Diese
ewige Anklage des Christentums will ich an alle Wände schreiben, wo es nur
Wände gibt ich habe Buchstaben, um auch Blinde sehend zu machen ....
Ich heiße das Christentum den einen großen Fluch, die eine große
innerlichste Verdorbenheit, den einen großen Instinkt der Rache, dem kein
Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist ich heiße
es den einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit ....Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 681 bzw. 1235 |
Und
man rechnet die Zeit nach dem dies nefastus, mit dem dies Verhängnis anhob
nach dem ersten Tag des Christentums! Warum nicht lieber
nach seinem letzten? Nach heute? Umwertung aller Werte!Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 681 bzw. 1235 |
Gesetz
wider das Christentum. Gegeben am Tage des Heils, am ersten Tage des Jahres Eins
(- am 30. September 1888 der falschen Zeitrechnung). Todkrieg gegen das Laster:
das Laster ist das Christentum. E r s t e r
S a t z . - Lasterhaft ist jede Art Widernatur.
Die lasterhafteste Art Mensch ist der Priester: er lehrt die Widernatur.
Gegen den Priester hat man nicht Gründe, man hat das Zuchthaus. Z w e i t e r
S a t z . - Jede Teilnahme an einem Gottesdienste
ist ein Attentat auf die öffentliche Sittlichkeit. Man soll härter gegen
Protestanten als gegen Katholiken sein, härter gegen liberale Protestanten
als gegen strenggläubige. Das Verbrecherische im Christ-sein nimmt in dem
Maße zu, als man sich der Wissenschaft nähert. Der Verbrecher der Verbrecher
ist folglich der Philosoph. D r i t t e r
S a t z . - Die fluchwürdige Stätte,
auf der das Christentum seine Basilisken-Eier gebrütet hat, soll dem Erdboden
gleich gemacht werden und als verruchte Stelle der Erde der Schrecken aller
Nachwelt sein. Man soll giftige Schlangen auf ihr züchten. V i e r t e r
S a t z . - Die Predigt der Keuschheit
ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen
Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff »unrein« ist
die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens. F ü n f t e r
S a t z . - Mit einem Priester an einem
Tisch essen stößt aus: man exkommuniziert sich damit aus der rechtschaffnen
Gesellschaft. Der Priester ist unser Tschandala, - man soll ihn verfehmen,
aushungern, in jede Art Wüste treiben. S e c h s t e r
S a t z . - Man soll die »heilige«
Geschichte mit dem Namen nennen, den sie verdient, als verfluchte Geschichte;
man soll die Worte »Gott«, »Heiland«, »Erlöser«,
»Heiliger« zu Schimpfworten, zu Verbrecher-Abzeichen benutzen. S i e b e n t e r
S a t z . - Der Rest folgt daraus.
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke, 6. Abteilung, 3. Band, S. 252
(Anhang) |
Das letzte,
was ich versprechen würde, wäre, die Menschheit zu »verbessern«.
Von mir werden keine neuen Götzen aufgerichtet; die alten mögen lernen,
was es mit tönernen Beinen auf sich hat. Götzen (mein Wort für
»Ideale«) umwerfen das gehört schon eher zu meinem
Handwerk. Man hat die Realität in dem Grade um ihren Wert, ihren Sinn, ihre
Wahrhaftigkeit gebracht, als man eine ideale Welt erlog. Die »wahre
Welt« und die »scheinbare Welt« auf deutsch: die erlogne
Welt und die Realität. Die Lüge des Ideals war bisher der Fluch
über die Realität, die Menschheit selbst ist durch sie bis in ihre untersten
Instinkte hinein verlogen und falsch geworden bis zur Anbetung der umgekehrten
Werte, als die sind, mit denen ihr erst das Gedeihen, die Zukunft, das hohe Recht
auf Zukunft verbürgt wäre.Ders., Ecce homo, 1889, S. 4 |
Philosophie,
wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis
und Hochgebirge das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein,
alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann getan war. Aus einer langen Erfahrung,
welche eine solche Wanderung im Verbotenen gab, lernte ich die Ursachen,
aus denen bisher moralisiert und idealisiert wurde, sehr anders ansehn, als es
erwünscht sein mag: die verborgene Geschichte der Philosophen, die
Psychologie ihrer großen Namen kam für mich ans Licht. Wieviel
Wahrheit erträgt, wieviel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für
mich immer mehr der eigentliche Wertmesser. Irrtum ( der Glaube ans Ideal
) ist nicht Blindheit, Irrtum ist Feigheit. Jede Errungenschaft,
jeder Schritt vorwärts in der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der
Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich .... Ich widerlege die Ideale
nicht, ich ziehe bloß Handschuhe vor ihnen an. Nitimur in vetitum:
in diesem Zeichen siegt einmal meine Philosophie, denn man verbot bisher grundsätzlich
immer nur die Wahrheit.Ders., Ecce homo, 1889, S. 4-5 |
Hier
redet kein »Prophet«, keiner jener schauerlichen Zwitter von Krankheit
und Willen zur Macht, die man Religionsstifter nennt. Man muß vor allem
den Ton, der aus diesem Munde kommt, diesen halkyonischen Ton richtig hören,
um dem Sinn seiner Weisheit nicht erbarmungswürdig unrecht zu tun. »Die
stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen, Gedanken, die mit Taubenfüßen
kommen, lenken die Welt «Ders., Ecce homo, 1889, S. 5 |
Die
Feigen fallen von den Bäumen, sie sind gut und süß: und indem
sie fallen, reißt ihnen die rote Haut. Ein Nordwind bin ich reifen Feigen.
Also, gleich Feigen, fallen euch diese Lehren zu, meine Freunde: nun trinkt ihren
Saft und ihr süßes Fleisch! Herbst ist es umher und reiner Himmel und
Nachmittag.Ders., Ecce homo, 1889, S. 6 |
Hier
redet kein Fanatiker, hier wird nicht »gepredigt«, hier wird nicht
Glauben verlangt: aus einer unendlichen Lichtfülle und Glückstiefe
fällt Tropfen für Tropfen, Wort für Wort eine zärtliche
Langsamkeit ist das Tempo dieser Reden. Dergleichen gelangt nur zu den Auserwähltesten;
es ist ein Vorrecht ohnegleichen, hier Hörer zu sein; es steht niemandem
frei, für Zarathustra Ohren zu haben. Ist Zarathustra mit alledem nicht ein
Verführer?. Aber was sagt er doch selbst, als er zum ersten Male wieder
in seine Einsamkeit zurückkehrt? Genau das Gegenteil von dem, was irgendein
»Weiser«, »Heiliger«, »Welt-Erlöser«
und andrer décadent in einem solchen Falle sagen würde .... Er redet
nicht nur anders, er ist auch anders.Ders., Ecce homo, 1889, S. 6 |
Allein
gehe ich nun, meine Jünger! Auch ihr geht nun davon und allein! So will ich
es.Geht fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra! Und besser noch: schämt
euch seiner! Vielleicht betrog er euch. Der Mensch der Erkenntnis muß nicht
nur seine Feinde lieben, er muß auch seine Freunde hassen können.Man
vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt. Und
warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen?Ihr verehrt mich: aber wie, wenn
eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, daß euch
nicht eine Bildsäule erschlage!Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber
was liegt an Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen, aber was liegt an allen
Gläubigen!Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So tun
alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben.Nun heiße ich
euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet
habt, will ich euch wiederkehren.Ders., Ecce homo, 1889, S. 6-7 |
Ein
Arzt, der mich länger als Nervenkranken behandelte, sagte schließlich:
»Nein! an Ihren Nerven liegt's nicht, ich selber bin nur nervös«.Ders., Ecce homo, 1889, S. 11 |
Eine
lange, allzulange Reihe von Jahren bedeutet bei mir Genesung sie bedeutet
leider auch zugleich Rückfall, Verfall, Periodik einer Art décadence.
Brauche ich, nach alledem, zu sagen, daß ich in Fragen der décadence
erfahren bin? Ich habe sie vorwärts und rückwärts buchstabiert.
Selbst jene Filigran-Kunst des Greifens und Begreifens überhaupt, jene Finger
für nuances, jene Psychologie des »Um-die-Ecke-sehns« und was
sonst mir eignet, ward damals erst erlernt, ist das eigentliche Geschenk jener
Zeit, in der alles sich bei mir verfeinerte, die Beobachtung selbst wie alle Organe
der Beobachtung. Von der Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen
und Werten, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewißheit
des reichen Lebens hinuntersehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts
das war meine längste Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn
irgendworin wurde ich darin Meister. Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die
Hand dafür, Perspektiven umzustellen: erster Grund, weshalb für
mich allein vielleicht eine »Umwertung der Werte« überhaupt möglich
ist.Ders., Ecce homo, 1889, S. 11-12 |
Abgerechnet
nämlich, daß ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz.
Mein Beweis dafür ist, unter anderem, daß ich instinktiv gegen die
schlimmen Zustände immer die rechten Mittel wählte: während
der décadent an sich immer die ihm nachteiligen Mittel wählt. Als
summa summarum war ich gesund, als Winkel, als Spezialität war ich décadent.Ders., Ecce homo, 1889, S. 12 |
Ich
nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selber wieder gesund: die Bedingung
dazu jeder Physiologe wird das zugeben ist, daß man im
Grunde gesund ist. Ein typisch morbides Wesen kann nicht gesund werden, noch
weniger sich selbst gesund machen; für einen typisch Gesunden kann umgekehrt
Kranksein sogar ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehrleben sein. So in
der Tat erscheint mir jetzt jene lange Krankheits-Zeit: ich entdeckte das
Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet, ich schmeckte alle guten und selbst
kleinen Dinge, wie sie andre nicht leicht schmecken könnten ich machte
aus meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben, meine Philosophie. Denn man
gebe acht darauf: die Jahre meiner niedrigsten Vitalität waren es, wo ich
aufhörte, Pessimist zu sein: der Instinkt der Selbst-Wiederherstellung
verbot mir eine Philosophie der Armut und Entmutigung.Ders., Ecce homo, 1889, S. 12-13 |
Meine
Erfahrungen geben mir ein Anrecht auf Mißtrauen überhaupt hinsichtlich
der sogenannten »selbstlosen« Triebe, der gesamten zu Rat und Tat
bereiten »Nächstenliebe«. Sie gilt mir an sich als Schwäche,
als Einzelfall der Widerstands-Unfähigkeit gegen Reize das Mitleiden
heißt nur bei décadents eine Tugend. Ich werfe den Mitleidigen vor,
daß ihnen die Scham, die Ehrfurcht, das Zartgefühl vor Distanzen leicht
abhanden kommt, daß Mitleiden im Handumdrehn nach Pöbel riecht und
schlechten Manieren zum Verwechseln ähnlich sieht daß mitleidige
Hände unter Umständen geradezu zerstörerisch in ein großes
Schicksal, in eine Vereinsamung unter Wunden, in ein Vorrecht auf schwere
Schuld hineingreifen können. Die Überwindung des Mitleids rechne ich
unter die vornehmen Tugenden: ich habe als »Versuchung Zarathustras«
einen Fall gedichtet, wo ein großer Notschrei an ihn kommt, wo das Mitleiden
wie eine letzte Sünde ihn überfallen, ihn von sich abspenstig machen
will. Hier Herr bleiben, hier die Höhe seiner Aufgabe rein halten
von den viel niedrigeren und kurzsichtigeren Antrieben, welche in den sogenannten
selbstlosen Handlungen tätig sind, das ist die Probe, die letzte Probe vielleicht,
die ein Zarathustra abzulegen hat -sein eigentlicher Beweis von Kraft.Ders., Ecce homo, 1889, S. 16-17 |
Auch
noch in einem anderen Punkte bin ich bloß mein Vater noch einmal und gleichsam
sein Fortleben nach einem allzufrühen Tode. Gleich jedem, der nie unter seinesgleichen
lebte und dem der Begriff »Vergeltung« so unzugänglich ist wie
etwa der Begriff »gleiche Rechte«, verbiete ich mir in Fällen,
wo eine kleine oder sehr große Torheit an mir begangen wird, jede
Gegenmaßregel, jede Schutzmaßregel wie billig, auch jede Verteidigung,
jede »Rechtfertigung«. Meine Art Vergeltung besteht darin, der Dummheit
so schnell wie möglich eine Klugheit nachzuschicken: so holt man sie vielleicht
noch ein.Ders., Ecce homo, 1889, S. 17 |
Die
Freiheit vom Ressentiment, die Aufklärung über das Ressentiment
wer weiß, wie sehr ich zuletzt auch darin meiner langen Krankheit zu Dank
verpflichtet bin!Ders., Ecce homo, 1889, S. 18 |
Kranksein
ist eine Art Ressentiment selbst.Ders., Ecce homo, 1889, S. 18 |
Das
Ressentiment ist das Verbotene an sich für den Kranken sein
Böses: leider auch sein natürlichster Hang. Das begriff jener
tiefe Physiolog Buddha. Seine »Religion«, die man besser als eine
Hygiene bezeichnen dürfte, um sie nicht mit so erbarmungswürdigen
Dingen wie das Christentum ist, zu vermischen, machte ihre Wirkung abhängig
von dem Sieg über das Ressentiment: die Seele davon frei machen
erster Schritt zur Genesung. »Nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft
zu Ende, durch Freundschaft kommt Feindschaft zu Ende«: das steht am Anfang
der Lehre Buddhas so redet nicht die Moral, so redet die PhysiologieDers., Ecce homo, 1889, S. 18-19 |
Wer
den Ernst kennt, mit dem meine Philosophie den Kampf mit den Rach- und Nachgefühlen
bis in die Lehre vom »freien Willen« hinein aufgenommen hat
der Kampf mit dem Christentum ist nur ein Einzelfall daraus , wird verstehn,
weshalb ich mein persönliches Verhalten, meine Instinkt-Sicherheit
in der Praxis hier gerade ans Licht stelle. In den Zeiten der décadence
verbot ich sie mir als schädlich; sobald das Leben wieder reich und stolz
genug dazu war, verbot ich sie mir als unter mir.Ders., Ecce homo, 1889, S. 19 |
Sich
selbst wie ein Fatum nehmen, nicht sich »anders« wollen das
ist in solchen Zuständen die große Vernunft selbst.Ders., Ecce homo, 1889, S. 19 |
Das
Weib zum Beispiel ist rachsüchtig: das ist in seiner Schwäche bestimmt,
so gut wie seine Reizbarkeit für fremde Not.Ders., Ecce homo, 1889, S. 20 |
Wenn
ich dem Christenthum den Krieg mache, so steht dies mir zu, weil ich von dieser
Seite aus keine Fatalitäten und Hemmungen erlebt habe, - die ernstesten Christen
sind mir immer gewogen gewesen. Ich selber, ein Gegner des Christenthums de rigueur,
bin ferne davon, es dem Einzelnen nachzutragen, was das Verhängniss von Jahrtausenden
ist.Ders., Ecce homo, 1889, S. 21-22 |
Darf
ich noch einen letzten Zug meiner Natur anzudeuten wagen, der mir im Umgang mit
Menschen keine kleine Schwierigkeit macht? Mir eignet eine vollkommen
unheimliche Reizbarkeit des Reinlichkeits-Instinkts, so daß ich die Nähe
oder - was sage ich ? - das Innerlichste, die »Eingeweide« jeder
Seele physiologisch wahrnehme - rieche .... Ich habe an dieser Reizbarkeit
psychologische Fühlhörner .... Das macht mir aus dem Verkehr mit Menschen
keine kleine Gedulds-Probe; meine Humanität besteht nicht darin, mitzufühlen,
wie der Mensch ist, sondern es auszuhalten, daß ich ihn mitfühle
.... Meine Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung. - Aber
ich habe Einsamkeit nöthig, will sagen, Genesung, Rückkehr zu
mir, den Athem einer freien leichten spielenden Luft .... Mein ganzer Zarathustra
ist ein Dithyrambus auf die Einsamkeit, oder, wenn man mich verstanden hat, auf
die Reinheit .... - Der Ekel am Menschen, am »Gesindel«
war immer meine grösste Gefahr .... Will man die Worte hören, in denen
Zarathustra von der Erlösung vom Ekel redet?Ders., Ecce homo, 1889, S. 21-22 |
Es
ist mir gänzlich entgangen, inwiefern ich »sündhaft« sein
sollte. Insgleichen fehlt mir ein zuverlässiges Kriterium dafür, was
ein Gewissensbiß ist: nach dem, was man darüber hört, scheint
mir ein Gewissensbiß nichts Achtbares.Ders., Ecce homo, 1889, S. 24 |
Gott
ist eine faustgrobe Antwort, eine Undelikatesse gegen uns Denker , im Grunde
sogar bloß ein faustgrobes Verbot an uns: ihr sollt nicht denken!Ders., Ecce homo, 1889, S. 25 |
In
der Tat, ich habe bis zu meinen reifsten Jahren immer nur schlecht gegessen
moralisch ausgedrückt »unpersönlich«, »selbstlos«,
»altruistisch«, zum Heil der Köche und andrer Mitchristen. Ich
verneinte zum Beispiel durch Leipziger Küche, gleichzeitig mit meinem ersten
Studium Schopenhauers (1865), sehr ernsthaft meinen »Willen zum Leben«.Ders., Ecce homo, 1889, S. 25 |
Es
steht niemandem frei, überall zu leben ....Ders., Ecce homo, 1889, S. 27-28 |
Die
Krankheit brachte mich erst zur Vernunft.Ders., Ecce homo, 1889, S. 29 |
Die
Skeptiker, der einzige ehrenwerte Typus unter dem so zwei- bis fünfdeutigen
Volk der Philosophen!Ders., Ecce homo, 1889, S. 30 |
Ich
selbst habe irgendwo gesagt: was war der größte Einwand gegen das Dasein
bisher? Gott ....Ders., Ecce homo, 1889, S. 32 |
Den
höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. Ich suche
umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süssen und leidenschaftlichen
Musik. Er besaß jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommene
nicht zu denken vermag ....Ders., Ecce homo, 1889, S. 32 |
Nicht
der Zweifel, die Gewißheit ist das, was wahnsinnig macht.Ders., Ecce homo, 1889, S. 33 |
Und
zum Teufel, meine Herrn Kritiker! Gesetzt, ich hätte meinen Zarathustra auf
einen fremden Namen getauft, zum Beispiel auf den von Richard Wagner, der Scharfsinn
von zwei Jahrtausenden hätte nicht ausgereicht, zu erraten, daß der
Verfasser von »Menschliches, Allzumenschliches« der Visionär
des Zarathustra ist.Ders., Ecce homo, 1889, S. 33 |
Hier,
wo ich von den Erholungen meines Lebens rede, habe ich ein Wort nötig, um
meine Dankbarkeit für das auszudrücken, was mich in ihm bei weitem am
tiefsten und herzlichsten erholt hat. Dies ist ohne allen Zweifel der intimere
Verkehr mit Richard Wagner gewesen. Ich lasse den Rest meiner menschlichen Beziehungen
billig; ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben
weggeben, Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle
der tiefen Augenblicke. Ich weiß nicht, was andre mit Wagner erlebt
haben: über unsern Himmel ist nie eine Wolke hinweggegangen.Ders., Ecce homo, 1889, S. 34 |
Alles
erwogen, hätte ich meine Jugend nicht ausgehalten ohne Wagnersche Musik.
Denn ich war verurteilt zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen
Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig. Wohlan, ich hatte Wagner
nötig. Wagner ist das Gegengift gegen alles Deutsche par excellence
Gift, ich bestreite es nicht .... Von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug
des Tristan gab mein Kompliment, Herr von Bülow! , war ich Wagnerianer.
Die älteren Werke Wagners sah ich unter mir noch zu gemein, zu »deutsch«.
Aber ich suche heute noch nach einem Werke von gleich gefährlicher Faszination,
von einer gleich schauerlichen und süßen Unendlichkeit, wie der Tristan
ist ich suche in allen Künsten vergebens. Alle Fremdheiten Leonardo
da Vincis entzaubern sich beim ersten Tone des Tristan. Dies Werk ist durchaus
das non plus ultra Wagners; er erholte sich von ihm mit den Meistersingern
und dem Ring. Gesünder werden das ist ein Rückschritt
bei einer Natur wie Wagner. Ich nehme es als Glück ersten Rangs, zur rechten
Zeit gelebt und gerade unter Deutschen gelebt zu haben, um reif für
dies Werk zu sein: so weit geht bei mir die Neugierde des Psychologen. Die Welt
ist arm für den, der niemals krank genug für diese »Wollust der
Hölle« gewesen ist: es ist erlaubt, es ist fast geboten, hier eine
Mystiker-Formel anzuwenden. Ich denke, ich kenne besser als irgend jemand
das Ungeheure, das Wagner vermag, die fünfzig Welten fremder Entzückungen,
zu denen niemand außer ihm Flügel hatte; und so wie ich bin, stark
genug, um mir auch das Fragwürdigste und Gefährlichste noch zum Vorteil
zu wenden und damit stärker zu werden, nenne ich Wagner den großen
Wohltäter meines Lebens. Das, worin wir verwandt sind, daß wir tiefer
gelitten haben, auch aneinander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten,
wird unsre Namen ewig wieder zusammenbringen ....Ders., Ecce homo, 1889, S. 35-36 |
Ich
sage noch ein Wort für die ausgesuchtesten Ohren: was ich eigentlich
von der Musik will. Daß sie heiter und tief ist, wie ein Nachmittag im Oktober.
Daß sie eigen, ausgelassen, zärtlich, ein kleines süßes
Weib von Niedertracht und Anmut ist.Ders., Ecce homo, 1889, S. 36 |
Das
Abwehren, das Nicht-heran-kommen-lassen ist eine Ausgabe man täusche
sich hierüber nicht , eine zu negativen Zwecken verschwendete
Kraft. Man kann, bloß in der beständigen Not der Abwehr, schwach genug
werden, um sich nicht mehr wehren zu können.Ders., Ecce homo, 1889, S. 38 |
Der
Gelehrte gibt seine ganze Kraft im Ja- und Neinsagen, in der Kritik von bereits
Gedachtem ab er selber denkt nicht mehr. Der Instinkt der Selbstverteidigung
ist bei ihm mürbe geworden; im anderen Falle würde er sich gegen Bücher
wehren. Der Gelehrte ein décadent. Das habe ich mit Augen
gesehn: begabte, reich und frei angelegte Naturen schon in den dreißiger
Jahren »zuschanden gelesen«, bloß noch Streichhölzer, die
man reiben muß, damit sie Funken »Gedanken« geben.
Frühmorgens beim Anbruch des Tags, in aller Frische, in der Morgenröte
seiner Kraft, ein Buch lesen das nenne ich lasterhaft!Ders., Ecce homo, 1889, S. 39 |
An
dieser Stelle ist nicht mehr zu umgehn, die eigentliche Antwort auf die Frage,
wie man wird, was man ist, zu geben. Und damit berühre ich das Meisterstück
in der Kunst der Selbsterhaltung der Selbstsucht. Angenommen nämlich,
daß die Aufgabe, die Bestimmung, das Schicksal der Aufgabe über
ein durchschnittliches Maß bedeutend hinausliegt, so würde keine Gefahr
größer sein, als sich selbst mit dieser Aufgabe zu Gesicht zu bekommen.
Daß man wird, was man ist, setzt voraus, daß man nicht im entferntesten
ahnt, was man ist. Aus diesem Gesichtspunkte haben selbst die Fehlgriffe
des Lebens ihren eignen Sinn und Wert, die zeitweiligen Nebenwege und Abwege,
die Verzögerungen, die »Bescheidenheiten«, der Ernst, auf Aufgaben
verschwendet, die jenseits der Aufgabe liegen. Darin kommt eine große Klugheit,
sogar die oberste Klugheit zum Ausdruck: wo nosce te ipsum das Rezept zum Untergang
wäre, wird Sich-Vergessen, Sich-Mißverstehn, Sich-Verkleinern,
Verengern, Vermittelmäßigen zur Vernunft selber. Moralisch
ausgedrückt: Nächstenliebe, Leben für andere und anderes kann
die Schutzmaßregel zur Erhaltung der härtesten Selbstigkeit sein. Dies
ist der Ausnahmefall, in welchem ich, gegen meine Regel und Überzeugung,
die Partei der »selbstlosen« Triebe nehme: sie arbeiten hier im Dienste
der Selbstsucht, Selbstzucht. Man muß die ganze Oberfläche
des Bewußtseins Bewußtsein ist eine Oberfläche
rein erhalten von irgendeinem der großen Imperative. Vorsicht selbst
vor jedem großen Worte, jeder großen Attitüde! Lauter Gefahren,
daß der Instinkt zu früh »sich versteht« .
Inzwischen wächst und wächst die organisierende, die zur Herrschaft
berufne »Idee« in der Tiefe sie beginnt zu befehlen, sie leitet
langsam aus Nebenwegen und Abwegen zurück, sie bereitet einzelne Qualitäten
und Tüchtigkeiten vor, die einmal als Mittel zum Ganzen sich unentbehrlich
erweisen werden sie bildet der Reihe nach alle dienenden Vermögen
aus, bevor sie irgend etwas von der dominierenden Aufgabe, von »Ziel«,
»Zweck«, »Sinn« verlauten läßt. Nach
dieser Seite hin betrachtet ist mein Leben einfach wundervoll.Ders., Ecce homo, 1889, S. 39-40 |
Es
fehlt in meiner Erinnerung, daß ich mich je bemüht hätte
es ist kein Zug von Ringen in meinem Leben nachweisbar, ich bin der Gegensatz
einer heroischen Natur. Etwas »wollen«, nach etwas »streben«,
einen »Zweck«, einen »Wunsch« im Auge haben das
kenne ich alles nicht aus Erfahrung. Noch in diesem Augenblick sehe ich auf meine
Zukunft eine weite Zukunft! wie auf ein glattes Meer hinaus:
kein Verlangen kräuselt sich auf ihm. Ich will nicht im geringsten, daß
etwas anders wird als es ist; ich selber will nicht anders werden. Aber so habe
ich immer gelebt. Ich habe keinen Wunsch gehabt. Jemand, der nach seinem vierundvierzigsten
Jahre sagen kann, daß er sich nie um Ehren, um Weiber, um
Geld bemüht hat! Nicht daß sie mir gefehlt hätten.
So war ich zum Beispiel eines Tages Universitätsprofessor ich hatte
nie im entferntesten an dergleichen gedacht, denn ich war kaum 24 Jahre alt. So
war ich zwei Jahr früher eines Tags Philolog: in dem Sinne, daß meine
erste philologische Arbeit, mein Anfang in jedem Sinne, von meinem Lehrer Ritschl
für sein »Rheinisches Museum« zum Druck verlangt wurde (Ritschl
ich sage es mit Verehrung der einzige geniale Gelehrte, den ich
bis heute zu Gesicht bekommen habe. Er besaß jene angenehme Verdorbenheit,
die uns Thüringer auszeichnet und mit der sogar ein Deutscher sympathisch
wird wir ziehn selbst, um zur Wahrheit zu gelangen, noch die Schleichwege
vor. Ich möchte mit diesen Worten meinen näheren Landsmann, den klugen
Leopold von Ranke, durchaus nicht unterschätzt haben.).Ders., Ecce homo, 1889, S. 40-41 |
Alle
Fragen der Politik, der Gesellschafts-Ordnung, der Erziehung sind dadurch bis
in Grund und Boden gefälscht, daß man die schädlichsten Menschen
für große Menschen nahm daß man die »kleinen«
Dinge, will sagen die Grundangelegenheiten des Lebens selber, verachten lehrte.
Unsre jetzige Kultur ist im höchsten Grade zweideutig. Der deutsche Kaiser
mit dem Papst paktierend, als ob nicht der Papst der Repräsentant der Todfeindschaft
gegen das leben wäre!Ders., Ecce homo, 1889, S. 42 |
Wenn
ich mich danach messe, was ich kann, nicht davon zu reden, was hinter mir
drein kommt, ein Umsturz, ein Aufbau ohne gleichen, so habe ich mehr als irgendein
Sterblicher den Anspruch auf das Wort Größe.Ders., Ecce homo, 1889, S.42 |
Vergleiche
ich mich nun mit den Menschen, die man bisher als erste Menschen ehrte,
so ist der Unterschied handgreiflich. Ich rechne diese angeblich »Ersten«
nicht einmal zu den Menschen überhaupt sie sind für mich Ausschuß
der Menschheit, Ausgeburten von Krankheit und rachsüchtigen Instinkten: sie
sind lauter unheilvolle, im Grunde unheilbare Unmenschen, die am Leben Rache nehmen.
Ich will dazu der Gegensatz sein: mein Vorrecht ist, die höchste Feinheit
für alle Zeichen gesunder Instinkte zu haben.Ders., Ecce homo, 1889, S. 42 |
Auch
an der Einsamkeit leiden ist ein Einwand ich habe immer nur an der
»Vielsamkeit« gelitten.Ders., Ecce homo, 1889, S. 43 |
In
einer absurd frühen Zeit, mit sieben Jahren, wußte ich bereits, daß
mich nie ein menschliches Wort erreichen würde: hat man mich je darüber
betrübt gesehn?Ders., Ecce homo, 1889, S. 43 |
Meine
Formel für die Größe am Menschen ist amor fati: daß
man nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht,
in alle Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloß ertragen, noch weniger
verhehlen aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Notwendigen ,
sondern es lieben.Ders., Ecce homo, 1889, S. 43 |
Ich
selber bin noch nicht an der Zeit, einige werden posthum geboren.Ders., Ecce homo, 1889, S. 44 |
Irgendwann
wird man Institutionen nötig haben, in denen man lebt und lehrt, wie ich
leben und lehren verstehe: vielleicht selbst, daß man dann auch eigene Lehrstühle
zur Interpretation des Zarathustra errichtet. Aber es wäre ein vollkommner
Widerspruch zu mir, wenn ich heute bereits Ohren und Hände für
meine Wahrheiten erwartete: daß man heute nicht hört, daß
man heute nicht von mir zu nehmen weiß, ist nicht nur begreiflich, es scheint
mir selbst das Rechte. Ich will nicht verwechselt werden dazu gehört,
daß ich mich selber nicht verwechsle. Nochmals gesagt, es ist wenig
in meinem Leben nachweisbar von »bösem Willen«; auch von literarischem
»bösen Willen« wüßte ich kaum einen Fall zu erzählen.
Dagegen zuviel von reiner Torheit! Es scheint mir eine der seltensten Auszeichnungen,
die jemand sich erweisen kann, wenn er ein Buch von mir in die Hand nimmt
ich nehme selbst an, er zieht dazu die Schuhe aus nicht von Stiefeln zu
reden. Als sich einmal der Doktor Heinrich von Stein ehrlich darüber beklagte,
kein Wort aus meinem Zarathustra zu verstehn, sagte ich ihm, das sei in Ordnung:
sechs Sätze daraus verstanden, das heißt: erlebt haben, hebe
auf eine höhere Stufe der Sterblichen hinauf, als »moderne« Menschen
erreichen könnten. Wie könnte ich, mit diesem Gefühle
der Distanz, auch nur wünschen, von den »Modernen«, die ich kenne
, gelesen zu werden! Mein Triumph ist gerade der umgekehrte, als
der Schopenhauers war ich sage »non legor, non legar«.Ders., Ecce homo, 1889, S. 44-45 |
Nicht,
daß ich das Vergnügen unterschätzen möchte, das mir mehrmals
die Unschuld im Neinsagen zu meinen Schriften gemacht hat. Noch in diesem
Sommer, zu einer Zeit, wo ich vielleicht mit meiner schwerwiegenden, zu schwer
wiegenden Literatur den ganzen Rest von Literatur aus dem Gleichgewicht zu bringen
vermöchte, gab mir ein Professor der Berliner Universität wohlwollend
zu verstehn, ich sollte mich doch einer andren Form bedienen: so etwas lese niemand.
Zuletzt war es nicht Deutschland, sondern die Schweiz, die die zwei extremen
Fälle geliefert hat. Ein Aufsatz des Dr. V. Widmann im »Bund«,
über »Jenseits von Gut und Böse«, unter dem Titel »Nietzsches
gefährliches Buch«, und ein Gesamt-Bericht über meine Bücher
überhaupt seitens des Herrn Karl Spitteler, gleichfalls im »Bund«,
sind ein Maximum in meinem Leben ich hüte mich zu sagen wovon. Letzterer
behandelte zum Beispiel meinen Zarathustra als höhere Stilübung, mit
dem Wunsche, ich möchte später doch auch für Inhalt sorgen; Dr.
Widmann drückte mir seine Achtung vor dem Mut aus, mit dem ich mich um Abschaffung
aller anständigen Gefühle bemühe. Durch eine kleine Tücke
von Zufall war hier jeder Satz, mit einer Folgerichtigkeit, die ich bewundert
habe, eine auf den Kopf gestellte Wahrheit: man hatte im Grunde nichts zu tun,
als alle »Werte umzuwerten«, um, auf eine sogar bemerkenswerte Weise,
über mich den Nagel auf den Kopf zu treffen statt meinen Kopf mit
einem Nagel zu treffen.Ders., Ecce homo, 1889, S. 45 |
Wer
etwas von mir verstanden zu haben glaubte, hatte sich etwas aus mir zurechtgemacht,
nach seinem Bilde nicht selten einen Gegensatz von mir, zum Beispiel einen
»Idealisten«; wer nichts von mir verstanden hatte, leugnete, daß
ich überhaupt in Betracht käme. Das Wort »Übermensch«
zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgeratenheit, im Gegensatz zu »modernen«
Menschen, zu »guten« Menschen, zu Christen und andren Nihilisten
ein Wort, das im Munde eines Zarathustra, des Vernichters der Moral, ein
sehr nachdenkliches Wort wird ist fast überall mit voller Unschuld
im Sinn derjenigen Werte verstanden worden, deren Gegensatz in der Figur Zarathustras
zur Erscheinung gebracht worden ist: will sagen als »idealistischer«
Typus einer höheren Art Mensch, halb »Heiliger«, halb »Genie.
Andres gelehrtes Hornvieh hat mich seinethalben des Darwinismus verdächtigt;
selbst der von mir so boshaft abgelehnte »Heroen-Kultus« jenes großen
Falschmünzers wider Wissen und Willen, Carlyle's, ist darin wiedererkannt
worden. Wem ich ins Ohr flüsterte, er solle sich eher nach einem Cesare Borgia
als nach einem Parsifal umsehn, der traute seinen Ohren nicht.Ders., Ecce homo, 1889, S. 46 |
Daß
ich gegen Besprechungen meiner Bücher, insonderheit durch Zeitungen, ohne
jedwede Neugierde bin, wird man mir verzeihen müssen. Meine Freunde, meine
Verleger wissen das und sprechen mir nicht von dergleichen. In einem besondren
Falle bekam ich einmal alles zu Gesicht, was über ein einzelnes Buch
es war »Jenseits von Gut und Böse« gesündigt worden
ist; ich hätte einen artigen Bericht darüber abzustatten. Sollte man
es glauben, daß die »Nationalzeitung« ... allen Ernstes das
Buch als ein »Zeichen der Zeit« zu verstehn wußte, als die echte
rechte Junker-Philosophie, zu der es der »Kreuzzeitung« nur
an Mut gebreche?Ders., Ecce homo, 1889, S. 46-47 |
Ich
bin der Antiesel par excellence und damit ein welthistorisches Untier
ich bin, auf griechisch und nicht nur auf griechisch, der Antichrist.Ders., Ecce homo, 1889, S. 48 |
Daß
aus meinen Schriften ein Psychologe redet, der nicht seinesgleichen hat,
das ist vielleicht die erste Einsicht, zu der ein guter Leser gelangt ein
Leser, wie ich ihn verdiene, der mich liest, wie gute alte Philologen ihren Horaz
lasen.Ders., Ecce homo, 1889, S. 51 |
Das
Weib ist unsäglich viel böser als der Mann, auch klüger; Güte
am Weibe ist schon eine Form der Entartung. Bei allen sogenannten »schönen
Seelen« gibt es einen physiologischen Übelstand auf dem Grunde
ich sage nicht alles, ich würde sonst medi-zynisch werden.Ders., Ecce homo, 1889, S. 52 |
Der
Kampf um gleiche Rechte ist sogar ein Symptom von Krankheit: jeder Arzt
weiß das. Das Weib, je mehr Weib es ist, wehrt sich ja mit Händen
und Füßen gegen Rechte überhaupt: der Naturzustand, der ewige
Krieg zwischen den Geschlechtern gibt ihm ja bei weitem den ersten Rang.Ders., Ecce homo, 1889, S. 52 |
Hat
man Ohren für meine Definition der Liebe gehabt? es ist die einzige, die
eines Philosophen würdig ist. Liebe in ihren Mitteln der Krieg, in
ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter.Ders., Ecce homo, 1889, S. 52-53 |
Hat
man meine Antwort auf die Frage gehört, wie man ein Weib kuriert
»erlöst«? Man macht ihm ein Kind. Das Weib hat Kinder nötig,
der Mann ist immer nur Mittel: also sprach Zarathustra.Ders., Ecce homo, 1889, S. 53 |
Emanzipation
des Weibes« das ist der Instinkthaß des mißratenen,
das heißt gebäruntüchtigen Weibes gegen das wohlgeratene
der Kampf gegen den »Mann« ist immer nur Mittel, Vorwand, Taktik.
Sie wollen, indem sie sich hinauf heben, als »Weib an sich«,
als »höheres Weib«, als »Idealistin« von Weib, das
allgemeine Rang-Niveau des Weibes herunterbringen; kein sichereres Mittel
dazu als Gymnasial-Bildung, Hosen und politische Stimmvieh-Rechte. Im Grunde sind
die Emanzipierten die Anarchisten in der Welt des »Ewig-Weiblichen«,
die Schlechtweggekommenen, deren unterster Instinkt Rache ist. Eine ganze Gattung
des bösartigsten »Idealismus« der übrigens auch bei
Männern vorkommt, zum Beispiel bei Henrik Ibsen, dieser typischen alten Jungfrau
hat das Ziel, das gute Gewissen, die Natur in der Geschlechtsliebe zu
vergiften.Ders., Ecce homo, 1889, S. 53 |
Und
damit ich über meine in diesem Betracht ebenso honnette als strenge Gesinnung
keinen Zweifel lasse, will ich noch einen Satz aus meinem Moral-Kodex gegen das
Laster mitteilen: mit dem Wort Laster bekämpfe ich jede Art Widernatur
oder, wenn man schöne Worte liebt, Idealismus. Der Satz heißt: »Die
Predigt der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede
Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den
Begriff 'unrein' ist das Verbrechen selbst am Leben ist die eigentliche
Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.«Ders., Ecce homo, 1889, S. 53 |
Heraklit,
in dessen Nähe überhaupt mir wärmer, mir wohler zumute wird als
irgendwo sonst. Die Bejahung des Vergehens und Vernichtens, das Entscheidende
in einer dionysischen Philosophie, das Jasagen zu Gegensatz und Krieg, das Werden,
mit radikaler Ablehnung auch selbst des Begriffs »Sein« darin
muß ich unter allen Umständen das mir Verwandteste anerkennen, was
bisher gedacht worden ist. Die Lehre von der »ewigen Wiederkunft«,
das heißt vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge
diese Lehre Zarathustras könnte zuletzt auch schon von Heraklit
gelehrt worden sein. Zum mindesten hat die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen
Vorstellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon.Ders., Ecce homo, 1889, S. 58-59 |
Bis
heute ist mir nichts fremder und unverwandter als die ganze europäische und
amerikanische Spezies von »libres penseurs«. Mit ihnen als mit unverbesserlichen
Flachköpfen und Hanswursten der »modernen Ideen« befinde ich
mich sogar in einem tieferen Zwiespalt als mit irgendwem von ihren Gegnern. Sie
wollen auch, auf ihre Art, die Menschheit »verbessern«, nach ihrem
Bilde, sie würden gegen das, was ich bin, was ich will, einen unversöhnlichen
Krieg machen, gesetzt daß sie es verstünden sie glauben allesamt
noch ans »Ideal« .... Ich bin der erste Immoralist.Ders., Ecce homo, 1889, S. 65 |
»Menschliches,
Allzumenschliches« ist das Denkmal einer Krisis. Es heißt sich ein
Buch für freie Geister: fast jeder Satz darin drückt einen Sieg
aus ich habe mich mit demselben vom Unzugehörigen in meiner
Natur freigemacht. Unzugehörig ist mir der Idealismus: der Titel sagt »wo
ihr ideale Dinge seht, sehe ich Menschliches, ach nur Allzumenschliches!«.
.... Ich kenne den Menschen besser .... In keinem andren Sinne will das
Wort »freier Geist« hier verstanden werden: ein freigewordner
Geist, der von sich selber wieder Besitz ergriffen hat.Ders., Ecce homo, 1889, S. 68 |
Morgenröte
.... Mit diesem Buche beginnt mein Feldzug gegen die Moral.Ders., Ecce homo, 1889, S. 75 |
Die
Frage nach der Herkunft der moralischen Werte ist deshalb für mich eine Frage
ersten Ranges, weil sie die Zukunft der Menschheit bedingt. Die Forderung,
man solle glauben, daß alles im Grunde in den besten Händen
ist, daß ein Buch, die Bibel, eine endgültige Beruhigung über
die göttliche Lenkung und Weisheit im Geschick der Menschheit gibt, ist,
zurückübersetzt in die Realität, der Wille, die Wahrheit über
das erbarmungswürdige Gegenteil davon nicht aufkommen zu lassen, nämlich,
daß die Menschheit bisher in den schlechtesten Händen war, daß
sie von den Schlechtweggekommenen, den Arglistig-Rachsüchtigen, den sogenannten
»Heiligen«, diesen Weltverleumdern und Menschenschändern regiert
worden ist. Das entscheidende Zeichen, an dem sich ergibt, daß der Priester
( eingerechnet die versteckten Priester, die Philosophen) nicht nur
innerhalb einer bestimmten religiösen Gemeinschaft, sondern überhaupt
Herr geworden ist, daß die décadence-Moral, der Wille zum Ende, als
Moral an sich gilt, ist der unbedingte Wert, der dem Unegoistischen, und die Feindschaft,
die dem Egoistischen überall zuteil wird. Wer über diesen Punkt mit
mir uneins ist, den halte ich für infiziert. Aber alle Welt ist mit
mir uneins. Für einen Physiologen läßt ein solcher Wert-Gegensatz
gar keinen Zweifel. Wenn innerhalb des Organismus das geringste Organ in noch
so kleinem Maße nachläßt, seine Selbsterhaltung, seinen Kraftersatz,
seinen »Egoismus« mit vollkommner Sicherheit durchzusetzen, so entartet
das Ganze. Der Physiologe verlangt Ausschneidung des entarteten Teils,
er verneint jede Solidarität mit dem Entarteten, er ist am fernsten vom Mitleiden
mit ihm. Aber der Priester will gerade die Entartung des Ganzen, der Menschheit:
darum konserviert er das Entartende um diesen Preis beherrscht er
sie. Welchen Sinn haben jene Lügenbegriffe, die Hilfsbegriffe der Moral,
»Seele«, »Geist«, »freier Wille«, »Gott«,
wenn nicht den, die Menschheit physiologisch zu ruinieren? Wenn man den Ernst
von der Selbsterhaltung, Kraftsteigerung des Leibes, das heißt des Lebens
ablenkt, wenn man aus der Bleichsucht ein Ideal, aus der Verachtung des Leibes
»das Heil der Seele« konstruiert, was ist das anderes, als ein Rezept
zur décadence? Der Verlust an Schwergewicht, der Widerstand gegen
die natürlichen Instinkte, die »Selbstlosigkeit« mit einem Worte
das hieß bisher Moral. Mit der »Morgenröte«
nahm ich zuerst den Kampf gegen die Entselbstungs-Moral auf.Ders., Ecce homo, 1889, S. 76-78 |
Ein Vers, welcher die Dankbarkeit für den wunderbarsten Monat Januar
ausdrückt, den ich erlebt habe das ganze Buch ist ein Geschenk ,
verrät zur Genüge, aus welcher Tiefe heraus hier die »Wissenschaft«
fröhlich geworden ist:Der
du mit dem Flammenspeere // Meiner Seele Eis zerteilt, // Daß sie brausend
nun zum Meere // Ihrer höchsten Hoffnung eilt: // Heller stets und stets
gesunder, // Frei im liebevollsten Muß: // Also preist sie deine
Wunder, // Schönster Januarius! | Was hier »höchste
Hoffnung« heißt, wer kann darüber im Zweifel sein, der als Schluß
des vierten Buchs die diamantene Schönheit der ersten Worte des Zarathustra
aufglänzen sieht? oder der die graniten
Sätze am Ende des dritten Buchs liest, mit denen sich ein Schicksal für
alle Zeiten zum ersten Male in Formen faßt?.Ders., Ecce homo, 1889, S. 79 |
Ich
erzähle nunmehr die Geschichte des Zarathustra. Die Grundkonzeption des Werks,
der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, die höchste Formel der Bejahung, die
überhaupt erreicht werden kann , gehört in den August des Jahres
1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: »6000 Fuß
jenseits von Mensch und Zeit«. Ich ging an jenem Tage am See von Silvaplana
durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgetürmten Block
unweit Surlei machte ich halt. Da kam mir dieser Gedanke.Ders., Ecce homo, 1889, S. 81 |
Den
Vormittag stieg ich in südlicher Richtung auf der herrlichen Straße
nach Zoagli hin in die Höhe, an Pinien vorbei und weitaus das Meer überschauend;
des Nachmittags, so oft es nur die Gesundheit erlaubte, umging ich die ganze Bucht
von Santa Margherita bis hinter nach Porto fino. Dieser Ort und diese Landschaft
ist durch die große Liebe, welche Kaiser Friedrich der Dritte für sie
fühlte, meinem Herzen noch näher gerückt; ich war zufällig
im Herbst 1886 wieder an dieser Küste, als er zum letztenmal diese kleine
vergessene Welt von Glück besuchte. Auf diesen beiden Wegen fiel mir
der ganze erste Zarathustra ein, vor allem Zarathustra selber, als Typus: richtiger,
er überfiel mich.Ders., Ecce homo, 1889, S. 83 |
Dies
ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, daß man Jahrtausende
zurückgehn muß, um jemanden zu finden, der mir sagen darf »es
ist auch die meine«.Ders., Ecce homo, 1889, S. 86 |
Ich
wollte nach Aquila, dem Gegenbegriff von Rom, aus Feindschaft gegen Rom
gegründet, wie ich einen Ort dereinst gründen werde, die Erinnerung
an einen Atheisten und Kirchenfeind comme il faut, an einen meiner Nächstverwandten,
den großen Hohenstaufen-Kaiser Friedrich den Zweiten.Ders., Ecce homo, 1889, S. 86 |
Das
psychologische Problem im Typus des Zarathustra ist, wie der, welcher in einem
unerhörten Grade Nein sagt, Nein tut, zu allem, wozu man bisher Ja
sagte, trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes sein kann; wie der das
Schwerste von Schicksal, ein Verhängnis von Aufgabe tragende Geist trotzdem
der leichteste und jenseitigste sein kann Zarathustra ist ein Tänzer
: wie der, welcher die härteste, die furchtbarste Einsicht in die Realität
hat, welcher den »abgründlichsten Gedanken« gedacht hat, trotzdem
darin keinen Einwand gegen das Dasein, selbst nicht gegen dessen ewige Wiederkunft
findet vielmehr einen Grund noch hinzu, das ewige Ja zu allen Dingen selbst
zu sein, »das ungeheure unbegrenzte Ja und Amen-sagen«.
»In alle Abgründe trage ich noch mein segnendes Jasagen«.Aber
das ist der Begriff des Dionysos noch einmal.Ders., Ecce homo, 1889, S. 90-91 |
Für
eine dionysische Aufgabe gehört die Härte des Hammers, die Lust
selbst am Vernichten in entscheidender Weise zu den Vorbedingungen. Der Imperativ:
»werdet hart!«, die unterste Gewißheit darüber, daß
alle Schaffenden hart sind, ist das eigentliche Abzeichen einer dionysischen
Natur.Ders., Ecce homo, 1889, S. 95 |
Theologisch
geredet man höre zu, denn ich rede selten als Theologe war
es Gott selber, der sich als Schlange am Ende seines Tagewerks unter den Baum
der Erkenntnis legte: er erholte sich so davon, Gott zu sein. Er hatte alles zu
schön gemacht. Der Teufel ist bloß der Müßiggang Gottes
an jedem siebenten Tage.Ders., Ecce homo, 1889, S. 97 |
Genealogie
der Moral .... Die Wahrheit der ersten Abhandlung ist die Psychologie
des Christentums: die Geburt des Christentums aus dem Geiste des Ressentiment,
nicht, wie wohl geglaubt wird, aus dem »Geiste« eine
Gegenbewegung ihrem Wesen nach, der große Aufstand gegen die Herrschaft
vornehmer Werte. Die zweite Abhandlung gibt die Psychologie des
Gewissens: dasselbe ist nicht, wie wohl geglaubt wird, »die
Stimme Gottes im Menschen« es ist der Instinkt der Grausamkeit, der
sich rückwärts wendet, nachdem er nicht mehr nach außen hin sich
entladen kann. Die Grausamkeit als einer der ältesten und unwegdenkbarsten
Kultur-Untergründe hier zum ersten Male ans Licht gebracht. Die dritte
Abhandlung gibt die Antwort auf die Frage, woher die ungeheure Macht des
asketischen Ideals, des Priester-Ideals, stammt, obwohl dasselbe das schädliche
Ideal par excellence, ein Wille zum Ende, ein décadence-Ideal ist. Antwort:
nicht, weil Gott hinter den Priestern tätig ist, was wohl geglaubt
wird, sondern faute de mieux weil es das einzige Ideal bisher war, weil
es keinen Konkurrenten hatte. »Denn der Mensch will lieber noch das Nichts
wollen als nicht wollen«. .... Vor allem fehlte ein Gegen-Ideal
bis auf Zarathustra. Man hat mich verstanden. Drei entscheidende
Vorarbeiten eines Psychologen für eine Umwertung aller Werte. Dies
Buch enthält die erste Psychologie des Priesters.Ders., Ecce homo, 1889, S. 98-99 |
Das,
was Götze auf dem Titelblatt heißt, ist ganz einfach das, was
bisher Wahrheit genannt wurde. Götzen-Dämmerung auf deutsch:
es geht zu Ende mit der alten Wahrheit.Ders., Ecce homo, 1889, S. 100 |
Es
gibt keine Realität, keine »Idealität«, die in dieser Schrift
nicht berührt würde ( berührt: was für ein vorsichtiger
Euphemismus!). Nicht bloß die ewigen Götzen, auch die allerjüngsten,
folglich altersschwächsten. Die »modernen Ideen« zum Beispiel.
Ein großer Wind bläst zwischen den Bäumen, und überall fallen
Früchte nieder Wahrheiten. Es ist die Verschwendung eines allzureichen
Herbstes darin: man stolpert über Wahrheiten, man tritt selbst einige tot
es sind ihrer zu viele. Was man aber in die Hände bekommt, das ist
nichts Fragwürdiges mehr, das sind Entscheidungen. Ich erst habe den Maßstab
für »Wahrheiten« in der Hand, ich kann erst entscheiden. Wie
als ob in mir ein zweites Bewußtsein gewachsen wäre, wie als
ob sich in mir »der Wille« ein Licht angezündet hätte über
die schiefe Bahn, auf der er bisher abwärts lief. Die schiefe
Bahn man nannte sie den Weg zur Wahrheit«. Es ist zu Ende mit allem
»dunklen Drang«, der gute Mensch gerade war sich am wenigsten
des rechten Wegs bewußt. Und allen Ernstes, niemand wußte vor mir
den rechten Weg, den Weg aufwärts: erst von mir an gibt es wieder
Hoffnungen, Aufgaben, vorzuschreibende Wege der Kultur ich bin deren
froher Botschafter. Eben damit bin ich auch ein Schicksal.Ders., Ecce homo, 1889, S. 100-101 |
Ich
habe nie einen solchen Herbst erlebt, auch nie etwas der Art auf Erden für
möglich gehalten ein Claude Lorrain ins Unendliche gedacht, jeder
Tag von gleicher unbändiger Vollkommenheit.Ders., Ecce homo, 1889, S. 102 |
Wer
zweifelt eigentlich daran, daß ich, als der alte Artillerist, der ich bin,
es in der Hand habe, gegen Wagner mein schweres Geschütz aufzufahren?
Ich hielt alles Entscheidende in dieser Sache bei mir zurück
ich habe Wagner geliebt.Ders., Ecce homo, 1889, S. 103 |
Dieser
gerechte Sinn des deutschen Gaumens, der allem gleiche Rechte gibt
der alles schmackhaft findet. .... Ohne allen Zweifel, die Deutschen sind Idealisten.
Als ich das letzte Mal Deutschland besuchte, fand ich den deutschen Geschmack
bemüht, Wagner und dem Trompeter von Säckingen gleiche Rechte zuzugestehn;
ich selber war Zeuge, wie man in Leipzig, zu Ehren eines der echtesten und deutschesten
Musiker, im alten Sinne des Wortes deutsch, keines bloßen Reichsdeutschen,
des Meister Heinrich Schütz einen Liszt-Verein gründete, mit
dem Zweck der Pflege und Verbreitung listiger Kirchenmusik. Ohne allen
Zweifel, die Deutschen sind Idealisten.Ders., Ecce homo, 1889, S. 104 |
Jüngst
machte ein Idioten-Urteil in historicis, ein Satz des zum Glück verblichenen
ästhetischen Schwaben Vischer, die Runde durch die deutschen Zeitungen als
eine »Wahrheit«, zu der jeder Deutsche ja sagen müsse:
»Die Renaissance und die Reformation, beide zusammen machen erst ein Ganzes
die ästhetische Wiedergeburt und die sittliche Wiedergeburt.«
Bei solchen Sätzen geht es mit meiner Geduld zu Ende, und ich spüre
Lust, ich fühle es selbst als Pflicht, den Deutschen einmal zu sagen, was
sie alles schon auf dem Gewissen haben. Alle großen Kultur-Verbrechen
von vier Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen! Und immer aus dem gleichen
Grunde, aus ihrer innerlichsten Feigheit vor der Realität, die auch
die Feigheit vor der Wahrheit ist, aus ihrer bei ihnen Instinkt gewordenen Unwahrhaftigkeit,
aus »Idealismus«. Die Deutschen haben Europa um die Ernte, um den
Sinn der letzten großen Zeit, der Renaissance-Zeit, gebracht, in einem Augenblicke,
wo eine höhere Ordnung der Werte, wo die vornehmen, die zum Leben jasagenden,
die Zukunftverbürgenden Werte am Sitz der entgegengesetzten, der Niedergangs-Werte,
zum Sieg gelangt waren und bis in die Instinkte der dort Sitzenden hinein!
Luther, dies Verhängnis von Mönch, hat die Kirche, und, was tausendmal
schlimmer ist, das Christentum wiederhergestellt, im Augenblick, wo es unterlag.
Das Christentum, diese Religion gewordene Verneinung des Willens zum Leben!
Luther, ein unmöglicher Mönch, der, aus Gründen seiner »Unmöglichkeit«,
die Kirche angriff und sie folglich! wieder herstellte. Die Katholiken
hätten Gründe, Lutherfeste zu feiern, Lutherspiele zu dichten. Luther
und die »sittliche Wiedergeburt«! Zum Teufel mit aller Psychologie!
Ohne Zweifel, die Deutschen sind Idealisten.Ders., Ecce homo, 1889, S. 104 |
Die
Deutschen werden auch in meinem Falle wieder alles versuchen, um aus einem ungeheuren
Schicksal eine Maus zu gebären. Sie haben sich bis jetzt an mir kompromittiert,
ich zweifle, daß sie es in der Zukunft besser machen.Ders., Ecce homo, 1889, S. 106 |
Man
kommt beim Deutschen, beinahe wie beim Weibe, niemals auf den Grund, er hat
keinen: das ist alles. Aber damit ist man noch nicht einmal flach.
Das, was in Deutschland »tief« heißt, ist genau diese Instinkt-Unsauberkeit
gegen sich, von der ich eben rede: man will über sich nicht im klaren sein.Ders., Ecce homo, 1889, S. 107 |
Das
erste, woraufhin ich mir einen Menschen »nierenprüfe«, ist, ob
er ein Gefühl für Distanz im Leibe hat, ob er überall Rang, Grad,
Ordnung zwischen Mensch und Mensch sieht, ob er distinguiert: damit ist
man gentilhomme; in jedem andren Fall gehört man rettungslos unter den weitherzigen,
ach! so gutmütigen Begriff der canaille. Aber die Deutschen sind canaille
ach! sie sind so gutmütig. Man erniedrigt sich durch den Verkehr mit
Deutschen: der Deutsche stellt gleich. Rechne ich meinen Verkehr mit einigen
Künstlern, vor allem mit Richard Wagner ab, so habe ich keine gute Stunde
mit Deutschen verlebt.Ders., Ecce homo, 1889, S. 108 |
Niemand
in Deutschland hat sich eine Gewissensschuld daraus gemacht, meinen Namen gegen
das absurde Stillschweigen zu verteidigen, unter dem er vergraben lag: ein Ausländer,
ein Däne war es, der zuerst dazu genug Feinheit des Instinkts und Mut
hatte, der sich über meine angeblichen Freunde empörte. .... An welcher
deutschen Universität wären heute Vorlesungen über meine Philosophie
möglich, wie sie letztes Frühjahr der damit noch einmal mehr bewiesene
Psycholog Dr. Georg Brandes in Kopenhagen gehalten hat?Ders., Ecce homo, 1889, S. 109 |
Ich
kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures
anknüpfen an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste
Gewissens-Kollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles,
was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch,
ich bin Dynamit. Und mit alledem ist nichts in mir von einem Religionsstifter
Religionen sind Pöbel-Affären, ich habe nötig, mir die Hände
nach der Berührung mit religiösen Menschen zu waschen. Ich will
keine »Gläubigen«, ich denke, ich bin zu boshaft dazu, um an
mich selbst zu glauben, ich rede niemals zu Massen. Ich habe eine erschreckliche
Angst davor, daß man mich eines Tags heilig spricht: man wird erraten,
weshalb ich dies Buch vorher herausgebe, es soll verhüten, daß
man Unfug mit mir treibt. Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst.
.... Vielleicht bin ich ein Hanswurst. .... Und trotzdem oder vielmehr nicht trotzdem
denn es gab nichts Verlogneres bisher als Heilige redet aus mir
die Wahrheit. Aber meine Wahrheit ist furchtbar: denn man hieß
bisher die Lüge Wahrheit. Umwertung aller Werte: das
ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit,
der in mir Fleisch und Genie geworden ist.Ders., Ecce homo, 1889, S. 111 |
Mein
Los will, daß ich der erste anständige Mensch sein muß,
daß ich mich gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden im Gegensatz weiß.
Ich erst habe die Wahrheit entdeckt, dadurch daß ich zuerst die Lüge
als Lüge empfand roch. Mein Genie ist in meinen Nüstern.
Ich widerspreche, wie nie widersprochen worden ist, und bin trotzdem der Gegensatz
eines neinsagenden Geistes. Ich bin ein froher Botschafter, wie es keinen
gab, ich kenne Aufgaben von einer Höhe, daß der Begriff dafür
bisher gefehlt hat; erst von mir an gibt es wieder Hoffnungen. Mit alledem bin
ich notwendig auch der Mensch des Verhängnisses. Denn wenn die Wahrheit mit
der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen
haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Tal, wie dergleichen
nie geträumt worden ist. Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen
Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die
Luft gesprengt sie ruhen allesamt auf der Lüge: es wird Kriege geben,
wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an gibt es auf Erden große
Politik.Ders., Ecce homo, 1889, S. 111-112 |
Will
man eine Formel für ein solches Schicksal, das Mensch wird?
Sie steht in meinem Zarathustra. Und wer ein Schöpfer sein will
im Guten und Bösen, der muß ein Vernichter erst sein und Werte zerbrechen.
Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese
aber ist die schöpferische. Ich bin bei weitem der furchtbarste Mensch,
den es bisher gegeben hat; dies schließt nicht aus, daß ich der wohltätigste
sein werde. Ich kenne die Lust am Vernichten in einem Grade, die meiner
Kraft zum Vernichten gemäß ist, in beidem gehorche ich
meiner dionysischen Natur, welche das Neintun nicht vom Jasagen zu trennen weiß.
Ich bin der erste Immoralist: damit bin ich der Vernichter par excellence.Ders., Ecce homo, 1889, S. 112 |
Man
hat mich nicht gefragt, man hätte mich fragen sollen, was gerade in meinem
Munde, im Munde des ersten Immoralisten der Name Zarathustra bedeutet:
denn was die ungeheure Einzigkeit jenes Persers in der Geschichte ausmacht, ist
gerade dazu das Gegenteil. Zarathustra hat zuerst im Kampf des Guten und des Bösen
das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge gesehn die Übersetzung der
Moral ins Metaphysische, als Kraft, Ursache, Zweck an sich, ist sein Werk.
Aber diese Frage wäre im Grunde bereits die Antwort. Zarathustra schuf
diesen verhängnisvollsten Irrtum, die Moral: folglich muß er auch der
erste sein, der ihn erkennt. Nicht nur, daß er hier länger und
mehr Erfahrung hat als sonst ein Denker die ganze Geschichte ist ja die
Experimental-Widerlegung vom Satz der sogenannten »sittlichen Weltordnung«
: das Wichtigere ist, Zarathustra ist wahrhaftiger als sonst ein Denker.
Seine Lehre, und sie allein, hat die Wahrhaftigkeit als oberste Tugend
das heißt den Gegensatz zur Feigheit des »Idealisten«,
der vor der Realität die Flucht ergreift; Zarathustra hat mehr Tapferkeit
im Leibe als alle Denker zusammengenommen. Wahrheit reden und gut mit Pfeilen
schießen, das ist die persische Tugend. Versteht man mich? ....
Die Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung
des Moralisten in seinen Gegensatz in mich das bedeutet in meinem
Munde der Name Zarathustra.Ders., Ecce homo, 1889, S. 113 |
Im
Grunde sind es zwei Verneinungen, die mein Wort Immoralist in sich schließt.
Ich verneine einmal einen Typus Mensch, der bisher als der höchste galt,
die Guten, die Wohlwollenden, Wohltätigen; ich verneine andrerseits
eine Art Moral, welche als Moral an sich in Geltung und Herrschaft gekommen ist
die décadence-Moral, handgreiflicher geredet, die christliche
Moral. Es wäre erlaubt, den zweiten Widerspruch als den entscheidenderen
anzusehn, da die Überschätzung der Güte und des Wohlwollens, ins
große gerechnet, mir bereits als Folge der décadence gilt, als Schwäche-Symptom,
als unverträglich mit einem aufsteigenden und jasagenden Leben: im Jasagen
ist Verneinen und Vernichten Bedingung.Ders., Ecce homo, 1889, S. 113-114 |
Ich
bleibe zunächst bei der Psychologie des guten Menschen stehn. Um abzuschätzen,
was ein Typus Mensch wert ist, muß man den Preis nachrechnen, den seine
Erhaltung kostet muß man seine Existenzbedingungen kennen. Die Existenz-Bedingung
der Guten ist die Lüge : anders ausgedrückt, das Nicht-sehn-Wollen
um jeden Preis, wie im Grunde die Realität beschaffen ist, nämlich nicht
derart, um jederzeit wohlwollende Instinkte herauszufordern, noch weniger
derart, um sich ein Eingreifen von kurzsichtigen gutmütigen Händen jederzeit
gefallen zu lassen. Ders., Ecce homo, 1889, S. 114 |
In
der großen Ökonomie des Ganzen sind die Furchtbarkeiten der Realität
(in den Affekten, in den Begierden, im Willen zur Macht) in einem unausrechenbaren
Maße notwendiger als jene Form des kleinen Glücks, die sogenannte »Güte«;
man muß sogar nachsichtig sein, um der letzteren, da sie in der Instinkt-Verlogenheit
bedingt ist, überhaupt einen Platz zu gönnen.Ders., Ecce homo, 1889, S. 114 |
Ich
werde einen großen Anlaß haben, die über die Maßen unheimlichen
Folgen des Optimismus, dieser Ausgeburt der homines optimi, für die
ganze Geschichte zu beweisen. Zarathustra, der erste, der begriff, daß der
Optimist ebenso décadent ist wie der Pessimist und vielleicht schädlicher,
sagt: gute Menschen reden nie die Wahrheit. Falsche Küsten und Sicherheiten
lehrten euch die Guten; in Lügen der Guten wart ihr geboren und geborgen.
Alles ist in den Grund hinein verlogen und verbogen durch die Guten. Die Welt
ist zum Glück nicht auf Instinkte hin gebaut, daß gerade bloß
gutmütiges Herdengetier darin sein enges Glück fände; zu fordern,
daß alles »guter Mensch«, Herdentier, blauäugig, wohlwollend,
»schöne Seele« oder, wie Herr Herbert Spencer es wünscht,
altruistisch werden solle, hieße dem Dasein seinen großen Charakter
nehmen, hieße die Menschheit kastrieren und auf eine armselige Chineserei
herunterbringen. Und dies hat man versucht! Dies eben hieß man
Moral. In diesem Sinne nennt Zarathustra die Guten bald »die letzten
Menschen«, bald den »Anfang vom Ende«; vor allem empfindet er
sie als die schädlichste Art Mensch, weil sie ebenso auf Kosten der
Wahrheit als auf Kosten der Zukunft ihre Existenz durchsetzen.Die
Guten die können nicht schaffen, die sind immer der Anfang
vom Ende | sie kreuzigen
den, der neue Werte auf neue Tafeln schreibt, sie opfern sich die
Zukunft, sie kreuzigen alle Menschen-Zukunft! | Die
Guten die waren immer der Anfang vom Ende .... | Und
was auch für Schaden die Welt-Verleumder tun mögen, der Schaden der
Guten ist der schädlichste Schaden. | |
Ders., Ecce homo, 1889, S. 114-115 |
Zarathustra,
der erste Psycholog der Guten, ist folglich ein Freund der Bösen.
Wenn eine décadence-Art Mensch zum Rang der höchsten Art aufgestiegen
ist, so konnte dies nur auf Kosten ihrer Gegensatz-Art geschehn, der starken und
lebensgewissen Art Mensch. Wenn das Herdentier im Glanze der reinsten Tugend strahlt,
so muß der Ausnahme-Mensch zum Bösen heruntergewertet sein. Wenn die
Verlogenheit um jeden Preis das Wort »Wahrheit« für ihre Optik
in Anspruch nimmt, so muß der eigentlich Wahrhaftige unter den schlimmsten
Namen wiederzufinden sein. Zarathustra läßt hier keinen Zweifel: er
sagt, die Erkenntnis der Guten, der »Besten« gerade sei es gewesen,
was ihm Grausen vor dem Menschen überhaupt gemacht habe; aus diesem
Widerwillen seien ihm die Flügel gewachsen, »fortzuschweben in ferne
Zukünfte« er verbirgt es nicht, daß sein Typus
Mensch, ein relativ übermenschlicher Typus, gerade im Verhältnis zu
den Guten übermenschlich ist, daß die Guten und Gerechten seinen
Übermenschen Teufel nennen würden.Ihr
höchsten Menschen, denen mein Auge begegnete, das ist mein Zweifel an euch
und mein heimliches Lachen: ich rate, ihr würdet meinen Übermenschen
Teufel heißen! | So fremd
seid ihr dem Großen mit eurer Seele, daß euch der Übermensch
furchtbar sein würde in seiner Güte. | An
dieser Stelle und nirgendswo anders muß man den Ansatz machen, um zu begreifen,
was Zarathustra will: diese Art Mensch, die er konzipiert, konzipiert die
Realität, wie sie ist: sie ist stark genug dazu , sie ist ihr
nicht entfremdet, entrückt, sie ist sie selbst, sie hat all deren
Furchtbares und Fragwürdiges auch noch in sich, damit erst kann der Mensch
Größe haben.Ders., Ecce homo, 1889, S. 115-116 |
Aber
ich habe auch noch in einem andren Sinne das Wort Immoralist zum Abzeichen,
zum Ehrenzeichen für mich gewählt; ich bin stolz darauf, dies Wort zu
haben, das mich gegen die ganze Menschheit abhebt. Niemand noch hat die christliche
Moral als unter sich gefühlt: dazu gehörte eine Höhe, ein
Fernblick, eine bisher ganz unerhörte psychologische Tiefe und Abgründlichkeit.
Die christliche Moral war bisher die Circe aller Denker sie standen in
ihrem Dienst. Wer ist vor mir eingestiegen in die Höhlen, aus denen
der Gifthauch dieser Art von Ideal der Weltverleumdung! emporquillt?
Wer hat auch nur zu ahnen gewagt, daß es Höhlen sind? Wer war überhaupt
vor mir unter den Philosophen Psycholog und nicht vielmehr dessen Gegensatz
»höherer Schwindler«, »Idealist«? Es gab vor mir
noch gar keine Psychologie. Hier der Erste zu sein kann ein Fluch sein,
es ist jedenfalls ein Schicksal: denn man verachtet auch als der Erste.
Der Ekel am Menschen ist meine Gefahr.Ders., Ecce homo, 1889, S. 116-117 |
Hat
man mich verstanden? Was mich abgrenzt, was mich beiseite stellt gegen
den ganzen Rest der Menschheit, das ist, die christliche Moral entdeckt
zu haben. Deshalb war ich eines Worts bedürftig, das den Sinn einer Herausforderung
an jedermann enthält. Hier nicht eher die Augen aufgemacht zu haben, gilt
mir als die größte Unsauberkeit, die die Menschheit auf dem Gewissen
hat, als Instinkt gewordner Selbstbetrug, als grundsätzlicher Wille, jedes
Geschehen, jede Ursächlichkeit, jede Wirklichkeit nicht zu sehen, als Falschmünzerei
in psychologicis bis zum Verbrechen. Die Blindheit vor dem Christentum ist das
Verbrechen par excellence das Verbrechen am Leben. Die Jahrtausende,
die Völker, die Ersten und die Letzten, die Philosophen und die alten Weiber
fünf, sechs Augenblicke der Geschichte abgerechnet, mich als siebenten
in diesem Punkte sind sie alle einander würdig. Der Christ war bisher
das »moralische Wesen«, ein Kuriosum ohnegleichen und,
als »moralisches Wesen«, absurder, verlogner, eitler, leichtfertiger,
sich selber nachteiliger als auch der größte Verächter
der Menschheit es sich träumen lassen könnte. Die christliche Moral
die bösartigste Form des Willens zur Lüge ....Ders., Ecce homo, 1889, S. 117-118 |
Es
ist nicht der Irrtum als Irrtum, was mich bei diesem Anblick entsetzt, nicht der
jahrtausendelange Mangel an »gutem Willen«, an Zucht, an Anstand,
an Tapferkeit im Geistigen, der sich in seinem Sieg verrät es ist
der Mangel an Natur, es ist der vollkommen schauerliche Tatbestand, daß
die Widernatur selbst als Moral die höchsten Ehren empfing und als
Gesetz, als kategorischer Imperativ, über der Menschheit hängen blieb!
In diesem Maße sich vergreifen, nicht als Einzelner, nicht
als Volk, sondern als Menschheit! .... Daß man die allerersten Instinkte
des Lebens verachten lehrte; daß man eine »Seele«, einen »Geist«
erlog, um den Leib zuschanden zu machen; daß man in der Voraussetzung
des Lebens, in der Geschlechtlichkeit, etwas Unreines empfinden lehrt; daß
man in der tiefsten Notwendigkeit zum Gedeihen, in der strengen Selbstsucht
( das Wort schon ist verleumderisch! ) das böse Prinzip sucht;
daß man umgekehrt in den typischen Abzeichen des Niedergangs und der Instinkt-Widersprüchlichkeit,
im »Selbstlosen«, im Verlust an Schwergewicht, in der »Entpersönlichung«
und »Nächstenliebe« ( Nächstensucht!) den höheren
Wert, was sage ich! den Wert an sich sieht! Wie! wäre die Menschheit
selber in décadence? war sie es immer? Was feststeht, ist, daß
ihr nur Décadence-Werte als oberste Werte gelehrt worden sind. Die
Entselbstungs-Moral ist die Niedergangs-Moral par excellence, die Tatsache, »ich
gehe zugrunde« in den Imperativ übersetzt: »ihr sollt
alle zugrunde gehn« und nicht nur in den Imperativ! Diese
einzige Moral, die bisher gelehrt worden ist, die Entselbstungs-Moral, verrät
einen Willen zum Ende, sie verneint im untersten Grunde das Leben.
Hier bliebe die Möglichkeit offen, daß nicht die Menschheit in Entartung
sei, sondern nur jene parasitische Art Mensch, die des Priesters, die mit
der Moral sich zu ihren Wert-Bestimmern emporgelogen hat die in der christlichen
Moral ihr Mittel zur Macht erriet. Und in der Tat, das ist meine Einsicht:
die Lehrer, die Führer der Menschheit, Theologen insgesamt, waren insgesamt
auch décadents: daher die Umwertung aller Werte ins Lebensfeindliche,
daher die Moral. Definition der Moral: Moral die Idiosynkrasie von
décadents, mit der Hinterabsicht, sich am Leben zu rächen
und mit Erfolg. Ich lege Wert auf diese Definition.Ders., Ecce homo, 1889, S. 118-119 |
Die
Entdeckung der christlichen Moral ist ein Ereignis, das nicht seinesgleichen
hat, eine wirkliche Katastrophe. Wer über sie aufklärt, ist eine force
majeure, ein Schicksal er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei
Stücke. Man lebt vor ihm, man lebt nach ihm. Der Blitz der
Wahrheit traf gerade das, was bisher am höchsten stand: wer begreift, was
da vernichtet wurde, mag zusehn, ob er überhaupt noch etwas in den Händen
hat. Alles, was bisher »Wahrheit« hieß, ist als die schädlichste,
tückischste, unterirdischste Form der Lüge erkannt; der heilige Vorwand,
die Menschheit zu »verbessern«, als die List, das Leben selbst auszusaugen,
blutarm zu machen. Moral als Vampyrismus.Ders., Ecce homo, 1889, S. 119 |
Wer
die Moral entdeckt, hat den Unwert aller Werte mit entdeckt, an die man glaubt
oder geglaubt hat; er sieht in den verehrtesten, in den selbst heilig gesprochnen
Typen des Menschen nichts Ehrwürdiges mehr, er sieht die verhängnisvollste
Art von Mißgeburten darin, verhängnisvoll, weil sie faszinierten.Ders., Ecce homo, 1889, S. 119 |
Der
Begriff »Gott« erfunden als Gegensatz-Begriff zum Leben in
ihm alles Schädliche, Vergiftende, Verleumderische, die ganze Todfeindschaft
gegen das Leben in eine entsetzliche Einheit gebracht! Der Begriff »Jenseits«,
»wahre Welt« erfunden, um die einzige Welt zu entwerten, die
es gibt um kein Ziel, keine Vernunft, keine Aufgabe für unsre Erden-Realität
übrigzubehalten? Der Begriff »Seele«, »Geist«, zuletzt
gar noch »unsterbliche Seele«, erfunden, um den Leib zu verachten,
um ihn krank »heilig« zu machen, um allen Dingen, die
Ernst im Leben verdienen, den Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diät,
Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Wetter, einen schauerlichen Leichtsinn entgegenzubringen!
Statt der Gesundheit das »Heil der Seele« will sagen eine folie
circulaire zwischen Bußkrampf und Erlösungs-Hysterie! Der Begriff »Sünde«
erfunden samt dem zugehörigen Folter-Instrument, dem Begriff »freier
Wille«, um die Instinkte zu verwirren, um das Mißtrauen gegen die
Instinkte zur zweiten Natur zu machen! Im Begriff des »Selbstlosen«,
des »Sich-selbst-Verleugnenden« das eigentliche décadence-Abzeichen,
das Gelocktwerden vom Schädlichen, das Seinen-Nutzen-nicht-mehr-finden-Können«,
die Selbst-Zerstörung zum Wertzeichen überhaupt gemacht, zur »Pflicht«,
zur »Heiligkeit«, zum »Göttlichen« im Menschen! Endlich
es ist das Furchtbarste im Begriff des guten Menschen die
Partei alles Schwachen, Kranken, Mißratnen, An-sich-selber-Leidenden genommen,
alles dessen, was zugrunde gehn soll -, das Gesetz der Selektion gekreuzt,
ein Ideal aus dem Widerspruch gegen den stolzen und wohlgeratenen, gegen den jasagenden,
gegen den zukunftsgewissen, zukunftverbürgenden Menschen gemacht dieser
heißt nunmehr der Böse .... Und das alles wurde geglaubt als Moral!Ders., Ecce homo, 1889, S. 119-120 |
Hat
man mich verstanden? D i o n y s o s
g e g e n d e n G e k r e u z i g t e n .Ders., Ecce homo, 1889, S. 120 |
So
sterben, wie ich ihn einst sterben sah , den Freund, der Blitze und Blicke
göttlich in meine dunkle Jugend warf: mutwillig und tief, in der Schlacht
ein Tänzer , unter Kriegern der Heiterste, unter Siegern der Schwerste,
auf seinem Schicksal ein Schicksal stehend, hart, nachdenklich, vordenklich :
erzitternd darob, daß er siegte, jauchzend darüber, daß
er sterbend siegte : befehlend, indem er starb, und er befahl,
daß man vernichte .... So sterben, wie ich ihn einst sterben sah:
siegend, vernichtend ....Ders., Dionysos-Dithyramben, 1889, in: Werke III, S. 694 bzw. 1248 |
Hier,
wo zwischen Meeren die Insel wuchs, ein Opferstein jäh hinaufgetürmt,
hier zündet sich unter schwarzem Himmel Zarathustra seine Höhenfeuer
an, Feuerzeichen für verschlagne Schiffer, Fragezeichen für solche,
die Antwort haben. Diese Flamme mit weißgrauem Bauche in kalte Fernen
züngelt ihre Gier, nach immer reineren Höhen biegt sie den Hals
eine Schlange gerad aufgerichtet vor Ungeduld: dieses Zeichen stellte ich vor
mich hin. Meine Seele selber ist diese Flamme: unersättlich nach neuen Fernen
lodert aufwärts, aufwärts ihre stille Glut. Was floh Zarathustra vor
Tier und Menschen? Was entlief er jäh allem festen Lande? Sechs Einsamkeiten
kennt er schon , aber das Meer selbst war nicht genug ihm einsam, die Insel
ließ ihn steigen, auf dem Berg wurde er zur Flamme, nach einer siebenten
Einsamkeit wirft er suchend jetzt die Angel über sein Haupt. Verschlagne
Schiffer! Trümmer alter Sterne! Ihr Meere der Zukunft! Unausgeforschte Himmel!
nach allem Einsamen werfe ich jetzt die Angel: gebt Antwort auf die Ungeduld der
Flamme, fangt mir, dem Fischer auf hohen Bergen, meine siebente, letzte Einsamkeit!Ders., Dionysos-Dithyramben, 1889, in: Werke III, S. 699 bzw. 1253 |
Schon
im Sommer 1876, mitten in der Zeit der ersten Festspiele, nahm ich bei mir Abschied
von Wagner.Ders., Nietzsche contra Wagner, 1889, S.20 |
Was
ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. ....
Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden, denn die Notwendigkeit
selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses
Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft
sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsre ganze europäische Kultur bewegt sich
seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt:
einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der
Furcht davor hat, sich zu besinnen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 3 |
Der
hier das Wort nimmt, hat umgekehrt nichts bisher getan als sich zu besinnen:
als ein Philosoph und Einsiedler aus Instinkt, der seinen Vorteil im Abseits,
im Außerhalb, in der Geduld, in der Verzögerung, in der Zurückgebliebenheit
fand; als ein Wage- und Versucher-Geist, der sich schon in jedes Labyrinth der
Zukunft einmal verirrt hat; als ein Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt,
wenn er erzählt, was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist Europas,
der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, der ihn
hinter sich, unter sich, außer sich hat.Ders., Der Wille zur Macht, S. 3-4 |
Denn
man vergreife sich nicht über den Sinn des Titels, mit dem dies Zukunfts-Evangelium
benannt sein will. »Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung
aller Werte« mit dieser Formel ist eine Gegenbewegung zum
Ausdruck gebracht, in Absicht auf Prinzip und Aufgabe; eine Bewegung, welche in
irgendeiner Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird; welche ihn
aber voraussetzt, logisch und psychologisch; welche schlechterdings nur
auf ihn und aus ihm kommen kann. Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus
nunmehr notwendig? Weil unsre bisherigen Werte selbst es sind, die in ihm
ihre letzte Folgerung ziehn; weil der Nihilismus die zu Ende gedachte Logik unsrer
großen Werte und Ideale ist, weil wir den Nihilismus erst erleben
müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Wert dieser »Werte«
war .... Wir haben, irgendwann, neue Werte nötig.Ders., Der Wille zur Macht, S. 4 |
Es
ist ein Irrtum, auf »soziale Notstände« oder »physiologische
Entartungen« oder gar auf Korruption hinzuweisen als Ursache des
Nihilismus. Es ist die honnetteste, mitfühlendste Zeit. Not, seelische, leibliche,
intellektuelle Not ist an sich durchaus nicht vermögend, Nihilismus (d.h.
die radikale Ablehnung von Wert, Sinn, Wünschbarkeit) hervorzubringen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 7 |
Skepsis
an der Moral ist das Entscheidende. Der Untergang der moralischen Weltauslegung,
die kein Sanktion mehr hat, nachdem sie versucht hat, sich in eine Jenseitigkeit
zu flüchten, endet in Nihilismus. »Alles hat keinen Sinn« ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 7 |
Die
Undurchführbarkeit einer Welauslegung, der ungeheure Kraft gewidmet worden
ist, erweckt das Mißtrauen, ob nicht alle Werteauslegungen falsch sind.
Buddhistischer Zug, Sehensucht in's Nichts. (Der indische Buddhismus hat nicht
eine grundmoralische Entwickelung hinter sich, deshalb ist bei ihm im Nihilismus
nur unüberwundene Moral: Dasein als Strafe, Dasein als Irrtum kombiniert,
der Irrtum also die Strafe- eine moralische Wertschätzung). Die philosophischen
Versuche, den »moralischen Gott« zu überwinden (Hegel, Pantheismus).
Überwindung der volkstümlichen Ideale: der Weise; der Heilige; der Dichter.
Antagonismus von »wahr« und »schön« und »gut«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 8 |
Die
nihilistischen Konsequenzen der jetzigen Naturwissenschaft (neben ihren Versuchen
ins Jenseitige zu entschlüpfen). Aus ihrem Betrieb folgt endlich eine
Selbstzersetzung, eine Wendung gegen sich, eine Anti-Wissenschaftlichkeit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 8 |
Seit
Kopernikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins x.Ders., Der Wille zur Macht, S. 8 |
Die
nihilistischen Konsequenzen der politischen und volkswirtschaftlichen Denkweise,
wo alle »Prinzipien« nachgerade zur Schauspielerei gehören: der
Hauch von Mittelmäßigkeit, Erbärmlichkeit und Unaufrichtigkeit
u.s.w.. Der Nationalismus. Der Anarchismus u.s.w.. Strafe. Es fehltv der erlösende
Stand und Mensch, die Rechtfertiger.Ders., Der Wille zur Macht, S. 8 |
Die
nihilistischen Konsequenzen der Historie und der »praktischen Historiker«,
d.h. der Romantiker. Die Stellung der Kunst: absulute Unorginalität ihrer
Stellung in der modernen Welt. Ihre Verdüsterung. Goethes angebliches Olympiertum.Ders., Der Wille zur Macht, S. 9 |
Die
Kunst und die Vorbereitung des Nihilismus: Romantik (Wagners Nibelungen-Schluß).Ders., Der Wille zur Macht, S. 9 |
Was
bedeutet Nihilismus? Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt
das Ziel, es fehl die Antwort auf das »Warum«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 10 |
Der
radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit
des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werte, die man anerkennt, handelt,
hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das geringste Recht haben,
ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge anzusetzen. Diese Einsicht ist
ein Folge der großgezogenen »Wahrhaftigkeit«, somit selbst eine
Folge des Glaubens an die Moral.Ders., Der Wille zur Macht, S. 10 |
Unter
den Kräften, die die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit : diese
wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Teleologie, ihre interessierte
Betrachtung - und jetzt wirkt die Einsicht in diese lange eingefleischte
Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzutun, gerade als Stimulans.Ders., Der Wille zur Macht, S. 11 |
Die
obersten Werte, in deren Dienst der Mensch leben sollte, namentlich wenn
sie sehr schwer und kostspielig über ihn verfügten, diese sozialen
Werte hat man zum Zweck ihrer Ton-Verstärkung, wie als ob sie Kommandos
Gottes wären, als »Realität«, als »wahre« Welt,
als Hoffnung und zukünftige Welt über dem Menschen aufgebaut.
Jetzt, wo die mesquine Herkunft dieser Werte klar wird, scheint uns das All damit
entwertet, »sinnlos« geworden, aber das ist nur ein Zwischenzustand.Ders., Der Wille zur Macht, S. 11-12 |
Die
nihilistische Konsequenz (der Glaube an die Wertlosigkeit) als Folge der
moralischen Wertschätzung: das Egoistische ist uns verleitet (selbst
nach Einsicht in die Unmöglichkeit des Unegoistischen). Das Notwendige
ist uns verleitet (selbst nach Einsicht in die Unmöglichkeit eines
liberum arbitrium einer »intelligiblen Freiheit«). Wir sehen,
daß wir die Sphäre, wohin wir unsere Werte gelegt haben nicht erreichen
- damit hat die andre Sphäre, in der wir leben noch keineswegs an
Wert gewonnen: im Gegenteil, wir sind müde, weil wir den Hauptantrieb verloren
haben. »Umsonst bisher« .Ders., Der Wille zur Macht, S. 12 |
Hinfall
der kosmologischen WerteA.Der
Nihilismus als psychologischer Zustand wird eintreten müssen, erstens,
wenn wir einen »Sinn« in allem Geschehen gesucht haben, der nicht
darin ist: so daß der Sucher endlich den Mut verliert. Nihilismus ist dann
das Bewußtwerden der langen Vergeudung von Kraft, die Qual des »Umsonst«,
die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu erholen, irgendworüber
noch zu beruhigen die Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange
betrogen .... Jener Sinn könnte gewesen sein: die »Erfüllung«
eines sittlichen höchsten Kanons in allem Geschehen, die sittliche Weltordnung;
oder die Zunahme der Liebe und Harmonie im Verkehr der Wesen; oder die Annäherung
an einen allgemeinen Glücks-Zustand; oder selbst das Losgehen auf einen allgemeinen
Nichts-Zustand ein Ziel ist immer noch ein Sinn. Das Gemeinsame aller dieser
Vorstellungsarten ist, daß ein Etwas durch den Prozeß selbst erreicht
werden soll: und nun begreift man, daß mit dem Werden nichts erzielt,
nichts erreicht wird. .... Also die Enttäuschung über einen angeblichen
Zweck des Werdens als Ursache des Nihilismus: sei es in Hinsicht auf einen
ganz bestimmten Zweck, sei es, verallgemeinert, die Einsicht in das Unzureichende
aller bisherigen Zweck-Hypothesen, die die ganze »Entwicklung« betreffen
( der Mensch nicht mehr Mitarbeiter, geschweige der Mittelpunkt des Werdens).Der
Nihilismus als psychologischer Zustand tritt zweitens ein, wenn man eine
Ganzheit, eine Systematisierung, selbst eine Organisierung
in allem Geschehen und unter allem Geschehen angesetzt hat: so daß in der
Gesamtvorstellung einer höchsten Herrschafts-und Verwaltungsform die nach
Bewunderung und Verehrung durstige Seele schwelgt ( ist es die Seele eines
Logikers, so genügt schon die absolute Folgerichtigkeit und Realdialektik,
um mit allem zu versöhnen ...). Eine Art Einheit, irgendeine Form des »Monismus«:
und infolge dieses Glaubens der Mensch in tiefem Zusammenhangs- und Abhängigkeitsgefühl
von einem ihm unendlich überlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit. . .... »Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des einzelnen« ...,
aber siehe da, es gibt kein solches Allgemeines! Im Grunde hat der Mensch den
Glauben an seinen Wert verloren, wenn durch ihn nicht ein unendlich wertvolles
Ganzes wirkt: d. h. er hat ein solches Ganzes konzipiert, um an seinen Wert
glauben zu können.Der Nihilismus als
psychologischer Zustand hat noch eine dritte und letzte Form. Diese
zwei Einsichten gegeben, daß mit dem Werden nichts erzielt werden soll und
daß unter allem Werden keine große Einheit waltet, in der der einzelne
völlig untertauchen darf wie in einem Element höchsten Wertes: so bleibt
als Ausflucht übrig, diese ganze Welt des Werdens als Täuschung
zu verurteilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als
wahre Welt. Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen
Bedürfnissen diese Welt gezimmert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht
hat, so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine
metaphysische Welt in sich schließt, welche sich den Glauben
an eine wahre Welt verbietet. Auf diesem Standpunkt gibt man die Realität
des Werdens als einzige Realität zu, verbietet sich jede Art Schleichweg
zu Hinterwelten und falschen Göttlichkeiten aber erträgt diese
Welt nicht, die man schon nicht leugnen will ....
Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Wertlosigkeit wurde erzielt,
als man begriff, daß weder mit dem Begriff »Zweck«, noch
mit dem Begriff »Einheit«, noch mit dem Begriff »Wahrheit«
der Gesamtcharakter des Daseins interpretiert werden darf. Es wird nichts damit
erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit
des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht »wahr«, ist falsch
..., man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden
.... Kurz: die Kategorien »Zweck«, »Einheit«, »Sein«,
mit denen wir der Welt einen Wert eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen
und nun sieht die Welt wertlos aus ....B.Gesetzt,
wir haben erkannt, inwiefern mit diesen drei Kategorien die Welt nicht mehr ausgelegt
werden darf und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns wertlos zu
werden anfängt: so müssen wir fragen, woher unser Glaube an diese drei
Kategorien stammt, versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ihnen
den Glauben zu kündigen! Haben wir diese drei Kategorien entwertet,
so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All kein Grund mehr, das All
zu entwerten. Resultat: Der Glaube
an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus, wir haben
den Wert der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingierte
Welt beziehen. Schluß-Resultat:
Alle Werte, mit denen wir bis jetzt die Welt zuerst uns schätzbar zu machen
gesucht haben und endlich ebendamit entwertet haben, als sie sich als unanlegbar
erwiesen alle diese Werte sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate
bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung
menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur fälschlich projiziert in
das Wesen der Dinge. Es ist immer noch die hyperbolische Naivität
des Menschen: sich selbst als Sinn und Wertmaß der Dinge anzusetzen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 12-16 |
Was
ist ein Glaube? Wie entsteht er? Jeder Glaube ist ein Für-wahr-halten. Die extremste Form des Nihilismus wäre die Einsicht: daß jeder Glaube, jedes Für-wahr-halten
notwenig falsch ist: weil es eine wahre Welt gar nicht gibt. Also: ein perspektivischer
Schein, dessen Herkunft in uns liegt (insofern wir eine engere, verkürzte,
vereinfachte Welt nötig haben). Daß es das Maß
der Kraft ist, wie sehr wir uns die Scheinbarkeit, die Notwendigkeit der Lüge
eingestehen können, ohne zugrunde zu gehen. Insofern könnte Nihilismus,
als Leugnung einer wahrhaften Welt, eines Seins, eine göttliche
Denkweise sein. Ders., Der Wille zur Macht, S. 17 |
Wenn
wir »Enttäuschte« sind, so sind wir es nicht in Hinsicht auf
das Leben: sondern, daß uns über die »Wünschbarkeiten«
aller Art die Augen aufgegangen sind. Wir sehen mit einem spöttischen Ingrimm
dem zu, was »Ideal« heißt: wir verachten uns nur darum, nicht
zu jeder Stunde jene absurde Regung niederhalten zu können, welche »Idealismus«
heißt. Die Verwöhnung ist stärker als der Ingrimm des Enttäuschten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 17 |
Inwiefern
der Schopenhauersche Nihilismus immer noch die Folge des gleichen Ideals ist,
welches den christlichen Theismus geschaffen hat. Der Grad von Sicherheit
in betreff der höchsten Wünschbarkeit, der höchsten Werte, der
höchsten Vollkommenheit war so groß, daß die Philosophen davon
wie von einer absoluten Gewißheit a priori ausgingen: »Gott«
an der Spitze als gegebene Wahrheit. »Gott gleich zu werden«,
»in Gott aufzugehn« das waren jahrtausendelang die naivsten
und überzeugendsten Wünschbarkeiten ( aber eine Sache, die überzeugt,
ist deshalb noch nicht wahr: sie ist bloß überzeugend. Anmerkung für
Esel). Man hat verlernt, jener Ansetzung von Idealen auch die Personen-Realität
zuzugestehen; man ward atheistisch. Aber hat man eigentlich auf das Ideal verzichtet?
Die letzten Metaphysiker suchen im Grunde immer noch in ihm die wirkliche
»Realität«, das »Ding an sich«, im Verhältnis
zu dem alles andere nur scheinbar ist. Ihr Dogma ist, daß, weil unsre Erscheinungswelt
so ersichtlich nicht der Ausdruck jenes Ideals ist, sie eben nicht »wahr«
ist und im Grunde nicht einmal auf jene metaphysische Welt als Ursache
zurückführt. Das Unbedingte, sofern es jene höchste Vollkommenheit
ist, kann unmöglich den Grund für alles Bedingte abgeben. Schopenhauer,
der es anders wollte, hatte nötig, jenen metaphysischen Grund sich als Gegensatz
zum Ideale zu denken, als »bösen, blinden Willen«: dergestalt
konnte er dann »das Erscheinende« sein, das in der Welt der Erscheinung
sich offenbart. Aber selbst damit gab er nicht jenes Absolutum von Ideal auf
er schlich sich durch .... (Kant schien die Hypothese der »intelligiblen
Freiheit« nötig, um das ens perfectum von der Verantwortlichkeit
für das So-und-So-sein dieser Welt zu entlasten, kurz um das Böse
und das Übel zu erklären: eine skandalöse Logik bei einem Philosophen
...).Ders., Der Wille zur Macht, S. 17-18 |
Jede
rein moralische Wertsetzung (wie z.B. die buddhistische) endet mit Nihilismus:
dies für Europa zu erwarten! Man glaubt mit einem Moralismus ohne religiösen
Hintergrund auszukommen: aber damit ist der Weg zum Nihilismus notwendig.
In der Religion fehlt der Zwang, uns als wertsetzend zu betrachten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 19 |
Die
Frage des Nihlismus »wozu?« geht von der bisherigen Gewöhnung
aus, vermöge deren das Ziel von außen her gestellt, gegeben,
gefordert schien nämlich durch irgend eine übermenschliche
Autorität. Nachdem man verlernt hat, an diese zu glauben, sucht man doch
nach alter Gewöhnung nach einer andern Autorität, welche unbedingt
zu reden wüßte und Ziele und Aufgaben befehlen könnte. Die
Autorität des Gewissens tritt jetzt in erste Linie (je mehr emanzipiert von
der Theologie, um so imperativischer wird die Moral) als Schadenersatz für
persönliche Autorität. Oder die Autorität der Vernunft.
Oder der soziale Instinkt (die Herde). Oder die Historie mit einem
immanenten Geist, welche ihr Ziel in sich hat und der man sich überlassen
kann. Man möchte herumkommen um den Willen, um das Wollen eines Ziels, um
das Risiko, sich selbst ein Ziel zu geben, man möchte die Verantwortung abwälzen
( man würde den Fatalismus akzeptieren). Endlich: Glück,
und, mit einiger Tartüfferie, das Glück der meisten.Man
sagt sich:1. ein bestimmtes Ziel ist gar nicht
nötig, 2. ist gar nicht möglich vorherzusehen.Gerade
jetzt, wo der Wille in der höchsten Kraft nötig wäre, ist
er am schwächsten und kleinmütigsten. Absolutes Mißtrauen
gegen die organisatorische Kraft des Willens fürs Ganze.Ders., Der Wille zur Macht, S. 19-20 |
Der
vollkommene Nihilist. Das Auge des Nihilisten idealisiert ins Häßliche,
übt Untreue gegen seine Erinnerungen : es läßt sie fallen,
sich entblättern; es schützt sie nicht gegen leichenblasse Verfärbungen,
wie sie die Schwäche über Fernes und Vergangenes gießt. Und was
er gegen sich nicht übt, das übt er auch gegen die ganze Vergangenheit
der Menschheit nicht. er läßt sie fallen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 20 |
Der
Nihilismus ist zweideutig:A. Nihilismus
als Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes: der aktive Nihilismus.B.
Nihilismus als Niedergang, als Rückgang der Macht des Geistes: der
passive Nihilismus.Ders., Der Wille zur Macht, S. 20 |
Der
Nihilismus ist nicht nur eine Betrachtsamkeit über das »Umsonst!«,
und nicht nur der Glaube, daß alles wert ist zugrunde zu gehen: man legt
Hand an, man richtet zugrunde .... Das ist, wenn man will, unlogisch:
aber der Nihilist glaubt nicht an die Nötigung, logisch zu sein ....
Es ist der Zustand starker Geister und Willen: und solchen ist es nicht möglich,
bei dem Nein »des Urteils« stehen zu bleiben: das Nein der
Tat kommt aus ihrer Natur. Der Ver-Nichtsung durch das Urteil sekundiert die
Ver-Nichtsung durch die Hand.Ders., Der Wille zur Macht, S. 21-22 |
Ursachen
des Nihilismus: 1. Es fehlt die höhere
Spezies, d. h. die, deren unerschöpfliche Fruchtbarkeit und Macht den
Glauben an den Menschen aufrechterhält. (Man denke, was man Napoleon verdankt:
fast alle höheren Hoffnungen dieses Jahrhunderts.)2.
die niedere Spezies (»Herde«, »Masse«, »Gesellschaft«)
verlernt die Bescheidenheit und bauscht ihre Bedürfnisse zu kosmischen und
metaphysischen Werten auf. Dadurch wird das ganze Dasein vulgarisiert: insofern
nämlich die Masse herrscht, tyrannisiert sie die Ausnahmen, so daß
diese den Glauben an sich verlieren und Nihilisten werden.Alle
Versuche, höhere Typen auszudenken, manquiert (»Romantik«; der
Künstler, der Philosoph; gegen Carlyles Versuch, ihnen die höchsten
Moralwerte zuzulegen). Widerstand gegen höhere Typen als Resultat. Niedergang
und Unsicherheit aller höheren Typen. Der Kampf gegen das Genie (»Volkspoesie«
usw.). Mitleid mit den Niederen und Leidenden als Maßstab für die Höhe
der Seele.Es fehlt der Philosoph, der
Ausdeuter der Tat, nicht nur der Umdichter.Ders., Der Wille zur Macht, S. 22-23 |
Der
unvollständige Nihilismus, seine Formen: wir leben mitten drin. Die
Versuche, dem Nihilismus zu entgehn, ohne die bisherigen Werte umzuwerten: bringen
das Gegenteil hervor, verschärfen das Problem.Ders., Der Wille zur Macht, S. 23 |
Die
Zeit kommt, wo wir dafür bezahlen müssen, zwei Jahrtausende lang
Christen gewesen zu sein: wir verlieren das Schwergewicht, das uns
leben ließ wir wissen eine Zeitlang nicht, wo aus, noch ein. Wir
stürzen jählings in die entgegengesetzten Wertungen, mit dem
Maße von Energie, das eben eine solche extreme Überwertung des
Menschen im Menschen erzeugt hat.Jetzt ist alles
durch und durch falsch, »Wort«, durcheinander, schwach oder überspannt:a)
man versucht eine Art von irdischer Lösung, aber im gleichen Sinne, in dem
des schließlichen Triumphs von Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit (der Sozialismus:
»Gleichheit der Person«);b) man versucht
ebenfalls das Moral-Ideal festzuhalten (mit dem Vorrang des Unegoistischen, der
Selbst-Verleugnung, der Willens- Verneinung);c)
man versucht selbst das »Jenseits« festzuhalten: sei es auch nur als
antilogisches x: aber man deutet es sofort so aus, daß eine Art metaphysischer
Trost alten Stils aus ihm gezogen werden kann;d)
man versucht die göttliche Leitung alten Stils, die belohnende, bestrafende,
erziehende, zum Besseren führende Ordnung der Dinge aus dem Geschehen herauszulesen;e)
man glaubt nach wie vor an Gut und Böse: so daß man den Sieg des Guten
und die Vernichtung des Bösen als Aufgabe empfindet ( das ist englisch:
typischer Fall der Flachkopf John Stuart Mill);f)
die Verachtung der »Natürlichkeit«, der Begierde, des ego:
Versuch, selbst die höchste Geistigkeit und Kunst als Folge einer Entpersönlichung
und als désintéressement zu verstehn;g)
man erlaubt der Kirche, sich immer noch in alle wesentlichen Erlebnisse und Hauptpunkte
des Einzellebens einzudrängen, um ihnen Weihe, höheren Sinn zu geben:
wir haben noch immer den »christlichen Staat«, die »christliche
Ehe« Ders., Der Wille zur Macht, S. 24-25 |
Der
moderne Pessimismus ist ein Ausdruck von der Nutzlosigkeit der modernen Welt,
nicht der Welt und des Daseins.Ders., Der Wille zur Macht, S. 27 |
Das
»Übergewicht von Leid über Lust« oder das Umgekehrte
(der Hedonismus): diese beiden Lehren sind selbst schon Wegweiser zum Nihilismus
.... Denn hier wird in beiden Fällen kein anderer letzter Sinn gesetzt als
die Lust- oder Unlust-Erscheinung. Aber so redet eine Art Mensch, die es nicht
mehr wagt, einen Willen, eine Absicht, einen Sinn zu setzen: für jede
gesunde Art Mensch mißt sich der Wert des Lebens schlechterdings nicht am
Maße dieser Nebensachen. Und ein Übergewicht von Leid wäre möglich
und trotzdem ein mächtiger Wille, ein Ja-sagen zum Leben; ein Nöthig-haben
dieses Übergewichts. »Das Leben lohnt sich nicht«; »Resignation«,
»warum sind die Tränen? ...« eine schwächliche und
sentimentale Denkweise.Ders., Der Wille zur Macht, S. 27-28 |
Der
philosophische Nihilist ist der Überzeugung, daß alles Geschehen sinnlos
und umsonstig ist; und es sollte kein sinnloses und umsonstiges Sein geben. Aber
woher dieses: Es sollte nicht? Aber woher nimmt man diesen »Sinn«,
dieses Maß? Der Nihilist meint im Grunde, der Hinblick auf
ein solches ödes, nutzloses Sein wirke auf einen Philosophen unbefriedigend,
öde, verzweifelt. Eine solche Einsicht widerspricht unserer feineren Sensibilität
als Philosophen. Es läuft auf die absurde Wertung hinaus: der Charakter des
Daseins müßte dem Philosophen Vergnügen machen, wenn anders
es zurecht bestehen soll .... Nun ist leicht zu begreifen, daß Vergnügen
und Unlust innerhalb des Geschehens nur den Sinn von Mitteln haben können:
es bliebe übrig zu fragen, ob wir den »Sinn«, »Zweck«
überhaupt sehen könnten, ob nicht die Frage der Sinnlosigkeit oder ihres
Gegenteils für uns unlösbar ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 28 |
Entwicklung
des Pessimismus zum Nihilismus. Entnatürlichung der Werte. Scholastik
der Werte. Die Werte, losgelöst, idealistisch, statt das Tun zu beherrschen
und zu führen, wenden sich verurteilend gegen das Tun. Gegensätze eingelegt
an Stelle der natürlichen Grade und Ränge. Haß auf die Rangordnung.
Die Gegensätze sind einem pöbelhaften Zeitalter gemäß, weil
leichter faßlich. Die verworfene Welt, angesichts einer künstlich erbauten
»wahren, wertvollen«. Endlich: man entdeckt, aus welchem Material
man die »wahre Welt« gebaut hat: und nun hat man nur die verworfene
übrig und rechnet jene höchste Enttäuschung mit ein auf das Konto
ihrer Verwerflichkeit. Damit ist der Nihilismus da: man hat die richtenden Werte
übrigbehalten und nichts weiter! Hier entsteht das Problem der Stärke
und der Schwäche:1. die Schwachen zerbrechen
daran; 2. die Stärkeren zerstören,
was nicht zerbricht; 3. die Stärksten überwinden
die richtenden Werte.Das zusammen macht das tragische
Zeitalter aus.Ders., Der Wille zur Macht, S. 28-29 |
Grundansicht
über das Wesen der décadence: was man bisher als deren Ursachen
angesehen hat, sind deren Folgen. Damit verändert sich die ganze Persprektive
der moralischen Probleme. Der ganze Moral-Kampf gegen Laster, Luxus, Verbrechen,
selbst Krankheit erscheint als Naivität, als überflüssig:
es gibt keine »Besserung« (gegen die Reue). Die décadence
selbst ist nichts, was zu bekämpfen wäre: sie ist absolut notwendig
und jeder Zeit und jedem Volk eigen. Was mit aller Kraft zu bekämpfen ist,
das ist die Einschleppung des Kontagiums in die gesunden Teile des Organismus.
Tut man das? Man tut das Gegenteil. Genau darum bemüht man
sich seitens der Humanität. Wir verhalten sich zu dieser biologischen
Grundfrage die bisherigen obersten Werte? Die Philosophie, die Religion, die Moral,
die Kunst u.s.w.. (Die Kur: z.B. Militarismus, von Napoleon an, der in
der Zivilisation seine natürliche Feindin sah.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 31 |
Was
sich vererbt, das ist nicht die Krankheit, sondern die Krankhaftigkeit:
die Unkraft im Widerstande gegen die Gefahr schädlicher Einwanderungen u.s.w.,
die gebrochene Widerstandskraft, moralisch ausgedrückt: die Resignation und
Demut vor dem Feinde.Ders., Der Wille zur Macht, S. 35 |
Gesundheit
und Krankheit sind nicht wesentlich Verschiedenes, wie es die ... Mediziner
und ... einige Praktiker glauben. Man muß nicht distinkte Prinzipien oder
Entitäten daraus machen, die sich um den lebenden Organismus streiten und
aus ihm ihren Kampfplatz machen. Das ist albernes Zeug und Geschwätz, das
zu nichts ... taugt. Tatsächlich gibt es zwischen diesen beiden Arten des
Daseins nur Gradunterschiede: die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Harmonbie
der normalen Phänomene konstituieren den krankhaften Zustand. So gut »das
Böse« betrachtet werden kann als Übertreibung, Disharmonie,
Disproportion, so gut kann »das Gute« eine Schutzdiät
gegen die Gefahr der Übertreibung, Disharmonie und Disproportion sein.Ders., Der Wille zur Macht, S. 35 |
Man
will Schwäche: warum? ..., meistens, weil man notwendig schwach ist.
Die Schwächung als Aufgabe. ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 36 |
Theorie
der Erschöpfung. Das Laster, die Geisteskranken (resp. die Artisten...),
die Verbrecher, die Anarchisten das sind nicht die unterdrückten Klassen,
sondern der Auswurf der bisherigen Gesellschaft aller Klassen .... Mit der Einsicht,
daß alle unsre Stände durchdrungen sind von diesen Elementen, haben
wir begriffen, daß die moderne Gesellschaft keine »Gesellschaft«,
kein »Körper« ist, sondern ein krankes Konglomerat von Tschandalas
eine Gesellschaft, die die Kraft nicht mehr hat, zu exkretieren. Inwiefern
durch das Zusammenleben seit Jahrhunderten die Krankhaftigkeit viel tiefer
geht:die moderne Tugend | | } | als
Krankheits-Formen, | die moderne Geistigkeit | unsre
Wissenschaft. |
Ders., Der Wille zur Macht, S. 39 |
Der
Zustand der Korruption. Die Zusammengehörigkeit aller Korruptions-Formen
zu begreifen; und dabei nicht die christliche Korruption zu vergessen (Pascal
als Typus); ebenso die sozialistisch-kommunistische Korruption (eine Folge der
christlichen; -naturwissenschaftlich ist die höchste Sozietäts-Konzeption
der Sozialisten die niedrigste in der Rangordnung der Sozietäten); die »Jenseits«-Korruption:
wie als ob es außer der wirklichen Welt, der des Werdens, eine Welt des
Seienden gäbe. Hier darf es keinen Vertrag geben: hier muß man ausmerzen,
vernichten, Krieg führen, -man muß das christlich-nihilistische Wertmaß
überall noch herausziehn und es unter jeder Maske bekämpfen .., z.B.
aus der jetzigen Soziologie, aus der jetzigen Musik, aus dem jetzigen Pessimismus
(- alles Formen des christlichen Wertideals -). Entweder eins oder das andere
ist wahr: wahr, das heißt hier den Typus Mensch emporhebend. .... Der Priester,
der Seelsorger, als verwerfliche Daseinsformen. Die gesamte Erziehung bisher hilflos,
haltlos, ohne Schwergewicht, mit dem Widerspruch der Werte behaftet.Ders., Der Wille zur Macht, S. 39-40 |
Nicht
die Natur ist unmoralisch, wenn sie ohne Mitleid für die Degenerierten ist:
das Wachstum der physiologischen und moralischen Übel im menschlichen Geschlecht
ist umgekehrt die Folge einer krankhaften und unnatürlichen Moral.
Die Sensibilität der Mehrzahl der Menschen ist krankhaft und unnatürlich.
Woran hängt es, daß die Menschheit korrupt ist in moralischer und physiologischer
Beziehung? Der Leib geht zugrunde, wenn ein Organ alteriert ist. Man kann
nicht das Recht des Altruismus auf die Physiologie zurückführen,
ebensowenig das Recht auf Hilfe, auf Gleichheit der Lose: das sind alles Prämien
für die Degenerierten und Schlechtweggekommenen. Es gibt keine Solidarität
in einer Gesellschaft, wo es unfruchtbare, unproduktive und zerstörerische
Elemente gibt: die übrigens noch entartetere Nachkommen haben werden, als
sie selbst sind.Ders., Der Wille zur Macht, S. 40 |
Es
gibt eine tiefe und vollkommen unbewußte wirkung der décadence
selbst auf die Ideale der Wissenschaft: unsre ganze Soziologie ist der Beweis
für diesen Satz. Ihr bleibt vorzuwerfen, daß sie nur das Verfalls-Gebilde
der Sozietät aus Erfahrung kennt und unvermeidlich die eigenen Verfalls-Instinkte
als Norm des soziologischen Urteils nimmt. Das niedersinkende Leben im jetzigen
Europa formuliert in ihnen seine Gesellschafts-Ideale : sie sehen alle zum Verwechseln
dem Ideal alter überlebter Rassen ähnlich. .... Der Herdeninstinkt
sodann - eine jetzt souverän gewordene Macht - ist etwas Grundverschiedenes
vom Instinkt einer aristokratischen Sozietät: und es kommt auf den
Wert der Einheiten an, was die Summe zu bedeuten hat .... Unsre ganze Soziologie
kennt gar keinen andern Instinkt als den der Herde, d.h. der summierten Nullen,
- wo jede Null »gleiche Rechte« hat, wo es tugendhaft ist, Null zu
sein .... Die Wertung, mit der heute die verschiedenen Formen der Sozietät
beurteilt werden, ist ganz und gar eins mit jener, welche dem Frieden einen
höheren Wert zuerteilt als dem Krieg: aber dies Urteil ist antibiologisch,
ist selbst eine Ausgeburt der décadence des Lebens. .... Das Leben
ist eine Folge des Kriegs, die Gesellschaft selbst ein Mittel zum Krieg. ....
Herr Herbert Spencer ist als Biologe ein décadent, - er ist es auch
als Moralist (er sieht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswertes!!!).Ders., Der Wille zur Macht, S. 41 |
Ich
habe das Glück, nach ganzen Jahrtausenden der Verirrung und Verwirrung den
Weg wiedergefunden zu haben, der zu einem Ja und einem Nein führt. Ich lehre
das Nein zu allem, was schwach macht, was erschöpft. Ich lehre das Ja zu
allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert, was das Gefühl der Kraft
rechtfertigt. Man hat weder das eine noch das andre bisher gelehrt: man hat Tugend,
Entselbstung, Mitleiden, man hat selbst Verneinung des Lebens gelehrt .... Dies
sind alles Werthe der Erschöpften. Ein langes Nachdenken über die Physiologie
der Erschöpfung zwang mich zu der Frage, wie weit die Urteile Erschöpfter
in die Welt der Werte eingedrungen seien. Mein Ergebnis war so überraschend
wie möglich, selbst für mich, der in mancher fremden Welt schon zu Hause
war: ich fand alle obersten Werturteile, alle, die Herr geworden sind über
die Menschheit, mindestens zahm gewordene Menschheit, zurückführbar
auf die Urteile Erschöpfter. Unter den heiligsten Namen zog ich die zerstörerischen
Tendenzen heraus; man hat Gott genannt, was schwächt, Schwäche lehrt,
Schwäche infiziert ..., ich fand, daß der »gute Mensch«
eine Selbstbejahungsform der décadence ist. Jene Tugend, von der
noch Schopenhauer gelehrt hat, daß sie die oberste, die einzige und das
Fundament aller Tugenden sei: eben jenes Mitleiden erkannte ich als gefährlicher
als irgendein Laster. Die Auswahl in der Gattung, ihre Reinigung vom Abfall grundsätzlich
kreuzen das hieß bisher Tugend par excellence .... Man soll
das Verhängnis in Ehren halten, das Verhöängnis, das zum
Schwachen sagt »geh zugrunde!« Man hat es Gott genannt, daß
man dem Verhängnis widerstrebte, daß man die Menschheit verdarb
und verfaulen machte .... Man soll den Namen Gottes nicht unnützlich führen
.... Die Rasse ist verdorben nicht durch ihre Laster, sondern ihre Ignoranz:
sie ist verdorben, weil sie die Erschöpfung nicht als Erschöpfung verstand:
die physiologischen Verwechslungen sind die Ursache alles Übels .... Die
Tugend ist unser großes Mißverständnis. Problem: wie kamen die
Erschöpften dazu, die Gesetze der Werte zu machen? Anders gefragt: wie kamen
die zur Macht, die die Letzten sind? ... Erkenne die Geschichte! Wie kommt der
Instinkt des Tieres Mensch auf den Kopf zu stehn? ...Ders., Der Wille zur Macht, S. 41-43 |
Extreme
Positionen werden nicht durch ermäßigte abgelöst, sondern wiederum
durch extreme, aber umgekehrte. Und so ist der Glaube an die absolute Immoralität
der Natur, an die Zweck- und Sinnlosigkeit der psychologisch-notwendige Affekt,
wenn der Glaube an Gott und eine essentiell moralische Ordnung nicht mehr zu halten
ist. Der Nihilismus erscheint jetzt, nicht weil die Unlust am Dasein größer
wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen »Sinn«
im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. Eine Interpretation
ging zugrunde: weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob
es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei.Ders., Der Wille zur Macht, S. 43 |
Daß
dies »Umsonst!« der Charakter unseres gegenwärtigen Nihilismus
ist, bleibt nachzuweisen. Das Mißtrauen gegen unsere früheren Wertschätzungen
steigert sich bis zur Frage: »sind nicht alle Werte Lockmittel,
mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer
Lösung näherkommt?« Die Dauer, mit einem »Umsonst«,
ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch,
wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht ist, sich nicht
foppen zu lassen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 43-44 |
Denken
wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne
Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts:
»die ewige Wiederkehr«. Das ist die extremste Form des Nihilismus:
das Nichts (das »Sinnlose«) ewig! Europäische Form des Buddhismus:
Energie des Wissens und der Kraft zwingt zu einem solchen Glauben. Es ist die
wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen. Wir leugnen Schluß-Ziele:
hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein.Ders., Der Wille zur Macht, S. 44 |
Da
begreift man, daß hier ein Gegensatz zum Pantheismus angestrebt wird: denn
»alles vollkommen, göttlich, ewig« zwingt ebenfalls zu
einem Glauben an die »ewige Wiederkunft«. Frage: ist mit der Moral
auch diese pantheistische Ja-Stellung zu allen Dingen unmöglich gemacht?
Im Grunde ist ja nur der moralische Gott überwunden. Hat es einen Sinn, sich
einen Gott »jenseits von Gut und Böse« zu denken? Wäre ein
Pantheismus in diesem Sinne möglich? Bringen wir die Zweckvorstellung aus
dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß? Das wäre
der Fall, wenn etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente desselben erreicht
würde und immer das Gleiche. Spinoza gewann eine solche bejahende
Stellung, insofern jeder Moment eine logische Notwendigkeit hat: und er triumphierte
mit seinem logischen Grundinstinkte über eine solche Weltbeschaffenheit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 44-45 |
Aber
sein Fall ist nur ein Einzel-Fall. Jeder Grundcharakterzug, der jedem Geschehen
zugrunde liegt, der sich in jedem Geschehen ausdrückt, müßte,
wenn er von einem Individuum als sein Grundcharakterzug empfunden würde,
dieses Individuum dazu treiben, triumphierend jeden Augenblick des allgemeinen
Daseins gutzuheißen. Es käme eben darauf an, daß man diesen Grundcharakterzug
bei sich als gut, wertvoll, mit Lust empfindet.Ders., Der Wille zur Macht, S. 45 |
Nun
hat die Moral das Leben vor der Verzweiflung und dem Sprung ins Nichts bei solchen
Menschen und Ständen geschützt, welche von Menschen vergewalttätigt
und niedergedrückt wurden: denn die Ohnmacht gegen Menschen, nicht die Ohnmacht
gegen die Natur, erzeugt die desperateste Verbitterung gegen das Dasein. Die Moral
hat die Gewalthaber, die Gewalttätigen, die »Herren« überhaupt
als die Feinde behandelt, gegen welche der gemeine Mann geschützt, das heißt
zunächst ermutigt, gestärkt werden muß. Die Moral hat folglich
am tiefsten hassen und verachten gelehrt, was der Grundcharakterzug der Herrschenden
ist: ihren Willen zur Macht. Diese Moral abschaffen, leugnen, zersetzen: das wäre
den bestgehaßten Trieb mit einer umgekehrten Empfindung und Wertung ansehen.
Wenn der Leidende, Unterdrückte den Glauben verlöre, ein Recht zu seiner
Verachtung des Willens zur Macht zu haben, so träte er in das Stadium der
hoffnungslosen Desperation. Dies wäre der Fall, wenn dieser Zug dem Leben
essentiell wäre, wenn sich ergäbe, daß selbst in jenem Willen
zur Moral nur dieser »Wille zur Macht« verkappt sei, daß auch
jenes Hassen und Verachten noch ein Machtwille ist. Der Unterdrückte sähe
ein, daß er mit dem Unterdrücker auf gleichem Boden steht und daß
er kein Vorrecht, keinen höheren Rang vor jenem habe.Ders., Der Wille zur Macht, S. 45-46 |
Vielmehr
umkehrt! Es gibt nichts am Leben, was Wert hat, außer dem Grade der Macht
gesetzt eben, daß Leben selbst der Wille zur Macht ist. Die Moral
behütete die Schlechtweggekommenen vor Nihilismus, indem sie jedem einen
unendlichen Wert, einen metaphysischen Wert beimaß und in eine Ordnung einreihte,
die mit der der weltlichen Macht und Rangordnung nicht stimmt: sie lehrte Ergebung,
Demut usw.. Gesetzt, daß der Glaube an diese Moral zugrunde geht,
so würden die Schlechtweggekommenen ihren Trost nicht mehr haben und
zugrunde gehn.Ders., Der Wille zur Macht, S. 46 |
Das
Zugrunde-gehen präsentiert sich als ein Sich-zugrunde-richten, als
ein instinktives Auslesen dessen, was zerstören muß. Symptome
dieser Selbstzerstörung der Schlechtweggekommenen: die Selbstvivisektion,
die Vergiftung, Berauschung, Romantik, vor allem die instinktive Nötigung
zu Handlungen, mit denen man die Mächtigen zu Todfeinden macht (
gleichsam sich seine Henker selbst züchtend), der Wille zur Zerstörung
als Wille eines noch tieferen Instinkts, des Instinkts der Selbstzerstörung,
des Willens ins Nichts.Ders., Der Wille zur Macht, S. 46 |
Nihilismus,
als Symptom davon, daß die Schlechtweggekommenen keinen Trost mehr haben:
daß sie zerstören, um zerstört zu werden, daß sie, von der
Moral abgelöst, keinen Grund mehr haben, »sich zu ergeben«
daß sie sich auf den Boden des entgegengesetzten Prinzips stellen und auch
ihrerseits Macht wollen, indem sie die Mächtigen zwingen, ihre Henker
zu sein. Dies ist die europäische Form des Buddhismus, das Nein-tun, nachdem
alles Dasein seinen »Sinn« verloren hat.Ders., Der Wille zur Macht, S. 47 |
Die
»Not« ist nicht etwa größer geworden: im Gegenteil! »Gott,
Moral, Ergebung« waren Heilmittel, auf furchtbar tiefen Stufen des Elends:
der aktive Nihilismus tritt bei relativ viel günstiger gestalteten
Verhältnissen auf. Schon daß die Moral als überwunden empfunden
wird, setzt einen ziemlichen Grad geistiger Kultur voraus; diese wieder ein relatives
Wohlleben. Eine gewisse geistige Ermüdung, durch den langen Kampf philosophischer
Meinungen bis zur hoffnungslosesten Skepsis gegen Philosophie gebracht, kennzeichnet
ebenfalls den keineswegs niederen Stand jener Nihilisten. Man denke an
die Lage, in der Buddha auftrat. Die Lehre der ewigen Wiederkunft würde gelehrte
Voraussetzungen haben (wie die Lehre Buddhas solche hatte, zum Beispiel Begriff
der Kausalität usw.).Ders., Der Wille zur Macht, S. 47 |
Was
heißt jetzt »schlechtweggekommen«? Vor allem physiologisch:
nicht mehr politisch. Die ungesundeste Art Mensch in Europa (in allen Ständen)
ist der Boden dieses Nihilismus: sie wird den Glauben an die ewige Wiederkunft
als einen Fluch empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut:
nicht passiv auslöschen, sondern alles auslöschen machen, was in diesem
Grade sinn- und ziellos ist: obwohl es nur ein Krampf, ein blindes Wüten
ist bei der Einsicht, daß alles seit Ewigkeiten da war auch dieser
Moment von Nihilismus und Zerstörungslust. Der Wert einer solchen
Krisis ist, daß sie reinigt, daß sie die verwandten
Elemente zusammendrängt und sich aneinander verderben macht, daß sie
den Menschen entgegengesetzter Denkweisen gemeinsame Aufgaben zuweist auch
unter ihnen die schwächeren, unsichreren ans Licht bringend und so zu einer
Rangordnung der Kräfte, vom Gesichtspunkt der Gesundheit, den Anstoß
gibt: Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende. Natürlich
abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 47-48 |
Welche
werden sich als die Stärksten dabei erweisen? Die Mäßigsten, die,
welche keine extremen Glaubenssätze nötig haben, die, welche einen guten
Teil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehn, sondern lieben, die, welche vom Menschen
mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Wertes denken können,
ohne dadurch klein und schwach zu werden: die Reichsten an Gesundheit, die den
meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so fürchten
Menschen, die ihrer Macht sicher sind und die die erreichte Kraft des Menschen
mit bewußtem Stolze repräsentieren. Wie dächte ein solcher
Mensch an die ewige Wiederkunft?Ders., Der Wille zur Macht, S. 48 |
Perioden
des europäischen Nihilismus.Die Periode
der Unklarheit, der Tentativen aller Art, das Alte zu konservieren und das
Neue nicht fahren zu lassen.Die Periode der
Klarheit: man begreift, daß Altes und Neues Grundgegensätze sind:
die alten Werte aus dem niedergehenden, die neuen aus dem aufsteigenden Leben
geboren , daß alle alten Ideale lebensfeindliche Ideale sind
(aus der décadence geboren und die décadence bestimmend, wie sehr
auch im prachtvollen Sonntags-Aufputz der Moral). Wir verstehen das Alte und sind
lange nicht stark genug zu einem Neuen.Die Periode
der drei großen Affekte: der Verachtung, des Mitleids, der Zerstörung.Die
Periode der Katastrophe: die Heraufkunft einer Lehre, welche die Menschen
aussiebt ... welche die Schwachen zu Entschlüssen treibt und ebenso die Starken.
Ders., Der Wille zur Macht, S. 49 |
Zur
Geschichte der modernen Verdüsterung.Die
Staats-Nomaden (Beamte usw.): ohne »Heimat« .Der
Niedergang der Familie.Der »gute Mensch«
als Symptom der Erschöpfung.Gerechtigkeit
als Wille zur Macht (Züchtung).Geilheit
und Neurose.Schwarze Musik: die erquickliche
Musik wohin?Der Anarchist.Menschenverachtung,
Ekel.Tiefste Unterscheidung: ob der Hunger oder
der Überfluß schöpferisch wird? Ersterer erzeugt die Ideale der
Romantik. Nordische Unnatürlichkeit.Das
Bedürfnis nach Alcoholica: die Arbeiter »Not«.Der
philosophische Nihilismus.Ders., Der Wille zur Macht, S. 51 |
Das
langsame Hervortreten und Emporkommen der mittleren und niederen Stände (eingerechnet
der niederen Art Geist und Leib), welches schon vor der Französischen Revolution
reichlich präludiert und ohne Revolution ebenfalls seinen Weg vorwärts
gemacht hätte, im ganzen also das Übergewicht der Herde über
alle Hirten und Leithämmel bringt mit sich:1.
Verdüsterung des Geistes ( das Beieinander eines stoischen und frivolen
Anscheins von Glück, wie es vornehmen Kulturen eigen ist, nimmt ab; man läßt
viele Leiden sehn und hören, welche man früher ertrug und verbarg);2.
die moralische Hypokrisie (eine Art, sich durch Moral auszeichnen zu wollen, aber
durch die Herden-Tugenden: Mitleid, Fürsorge, Mäßigung und nicht
durch solche, die außer dem Herden-Vermögen erkannt und gewürdigt
werden);3. eine wirkliche große Menge von
Mitleiden und Mitfreude (das Wohlgefallen im großen Beieinander, wie es
alle Herdentiere haben »Gemeinsinn«, »Vaterland«,
alles, wo das Individuum nicht in Betracht kommt).Ders., Der Wille zur Macht, S. 51-52 |
Im
großen gerechnet, ist in unsrer jetzigen Menschheit ein ungeheures Quantum
von Humanität erreicht. Daß ies im allgemeinen nicvht empfunden
wird, ist selber ein Beweis dafür: wir sind für die kleinen Notstände
so empfindlich geworden, daß wir das, was erreicht ist, unbillig übersehen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 53 |
Der
zweite Buddhismus. Die nihilistische Katastrophe, die mit der indischen Kultur
ein Ende machte - Vorzeichen dafür: Das Überhandnehmen des Mitleids.
Die geistige Übermüdung. Die Reduktion der Probleme auf Lust- und Unlust-Fragen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 54 |
Was
heute am tiefsten angegriffen ist, das ist der Instinkt und der Wille der Tradition:
alle Institutionen, die diesem Instinkt ihre Herkunft verdanken, gehen dem modernen
Geiste wider den Geschmack... Im Grunde denkt und tut man nichts, was nicht den
Zweck verfolgte, diesen Sinn für Überlieferung mit den Wurzeln herauszureißen.
Man nimmt die Tradition als Fatalität: man studiert sie, man erkennt sie
an (als »Erblichkeit« ), aber man will sie nicht. Die Anspannung
eines Willens über lange Zeitfernen hin, die Auswahl der Zustände und
Wertungen, welche es machen, daß man über Jahrhunderte der Zukunft
verfügen kann das gerade ist im höchsten Maße antimodern.
Woraus sich ergibt, daß die desorganisierenden Prinzipien unserem
Zeitalter den Charakter geben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 54 |
Nihilistischer
Zug.a) In den Naturwissenschaften (»Sinnlosigkeit«
); Kausalismus, Mechanismus. Die »Gesetzmäßigkeit«
ein Zwischenakt, ein Überbleibsel.b) Insgleichen
in der Politik: es fehlt einem der Glaube an sein Recht, die Unschuld; es herrscht
die Lügnerei, die Augenblicks-Dienerei.c)
Insgleichen in der Volkswirtschaft: die Aufhebung der Sklaverei: Mangel eines
erlösenden Standes, eines Rechtfertigers, Heraufkommen des Anarchismus.
»Erziehung«? d) Insgleichen in der
Geschichte: der Fatalismus, der Darwinismus; die letzten Versuche, Vernunft und
Göttlichkeit hineinzudeuten, mißraten. Sentimentalität vor der
Vergangenheit; man ertrüge keine Biographie! (Der Phänomenalismus
auch hier: Charakter als Maske; es gibt keine Tatsachen.)e)
Insgleichen in der Kunst: Romantik und ihr Gegenschlag (Widerwille gegen die romantischen
Ideale und Lügen).Letzterer, moralisch, als Sinn größerer Wahrhaftigkeit,
aber pessimistisch. Die reinen »Artisten« (gleichgültig gegen
den Inhalt). (Beichtvater-Psychologie und Puritaner-Psychologie, zwei Formen der
psychologischen Romantik: aber auch noch ihr Gegenschlag, der Versuch, sich rein
artistisch zum »Menschen« zu stellen, auch da wird noch nicht
die umgekehrte Wertschätzung gewagt!)Ders., Der Wille zur Macht, S. 56-57 |
Henrik
Ibsen ist mir sehr deutlich geworden. Mit all seinem »Willen zur Wahrheit«
hat er sich nicht von dem Moral-Illusionismus frei zu machen gewagt, welcher »Freiheit
sagt und nicht sich eingestehen will, was Freiheit ist: die zweite Stufe in der
Metamorphose des »Willens zur Macht« seitens derer, denen sie fehlt.
In der ersten verlangt man Gerechtigkeit. Auch von Seiten derer, welche die Macht
haben. Auf der zweiten sagt man »Freiheit«, d.h. man will loskommen
von denen, welche die Macht haben. Auf der dritten sagt man »gleiche Rechte«,
d.h. man will, so lange man noch nicht das Übergewicht hat, auch die Mitbewerber
hindern, in der Macht zu wachsen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 63-64 |
Fortschritt.
Daß wir uns nicht täuschen! Die Zeit läuft vorwärts
wir möchten glauben, daß auch alles, was in ihr ist, vorwärts
läuft, daß die Entwicklung eine Vorwärts-Entwicklung ist
.... Das ist der Augenschein, von dem die Besonnensten verführt werden. Aber
das neunzehnte Jahrhundert ist kein Fortschritt gegen das sechzehnte: und der
deutsche Geist von 1888 ist ein Rückschritt gegen den deutschen Geist von
1788 .... Die »Menschheit« avanciert nicht, sie existiert nicht einmal.
Der Gesamt-Aspekt ist der einer ungeheuren Experimentier-Werkstätte, wo einiges
gelingt, zerstreut durch alle Zeiten, und Unsägliches mißrät,
wo alle Ordnung, Logik, Verbindung und Verbindlichkeit fehlt. Wie dürften
wir verkennen, daß die Heraufkunft des Christentums eine décadence-Bewegung
ist? .... Daß die deutsche Reformation eine Rekrudeszenz der christlichen
Barbarei ist?... Daß die Revolution den Instinkt zur großen Organisation
der Gesellschaft zerstört hat? .... Der Mensch ist kein Fortschritt gegen
das Tier: der Kultur-Zärtling ist eine Mißgeburt im Vergleich zum Araber
und Korsen; der Chinese ist ein wohlgeratener Typus, nämlich dauerfähiger,
als der Europäer ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 65 |
Die
Denkweise Hegels ist von der Goetheschen nicht sehr entfernt: man höre Goethe
über Spinoza. Wille zur Vergöttlichung des Alls und des Lebens, um in
seinem Anschauen und Ergründen Ruhe und Glück zu finden;
Hegel sucht Vernunft überall,-vor der Vernunft darf man sich ergeben
und bescheiden. Bei Goethe eine Art von fast freudigem und vertrauendem
Fatalismus, der nicht revoltiert, der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität
zu bilden sucht, im Glauben, daß erst in der Totalität Alles sich erlöst,
als gut und gerechtfertigt erscheint.Ders., Der Wille zur Macht, S. 72 |
Gegen
Rousseau. Der Mensch ist leider nicht mehr böse genug; die Gegner
Rousseaus, welche sagen, »der Mensch ist ein Raubtier«, haben leider
nicht recht. Nicht die Verderbnis des Menschen, sondern seine Verzärtlichung
und Vermoralisierung ist der Fluch. In der Sphäre, welche von Rousseau am
heftigsten bekämpft wurde, war gerade die relativ noch starke und
wohlgeratene Art Mensch ( die, welche noch die großen Affekte ungebrochen
hatte: Wille zur Macht, Wille zum Genuß, Wille und Vermögen zu kommandieren).
Man muß den Menschen des 18. Jahrhunderts mit dem Menschen der Renaissance
vergleichen (auch dem des 17. Jahrhunderts in Frankreich), um zu spüren,
worum es sich handelt: Rousseau ist ein Symptom der Selbstverachtung und der erhitzten
Eitelkeit beides Anzeichen, daß es am dominierenden Willen fehlt:
er moralisiert und sucht die Ursache seiner Miserabilität als Rankune-Mensch
in den herrschenden Ständen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 73 |
Rousseau:
die Regel gründend auf das Gefühl; die Natur als Quelle der Gerechtigkeit;
der Mensch vervollkommnet sich in dem Maße, in dem er sich der Natur
nähert ( nach Voltaire in dem Maße, in dem er sich von der
Natur entfernt). Dieselben Epochen für den einen die des Fortschritts
der Humanität, für den andern Zeiten der Verschlimmerung von
Ungerechtigkeit und Ungleichheit. .... Bei Rousseau unzweifelhaft die Geistesstörung,
bei Voltaire eine ungewöhnliche Gesundheit und Leichtigkeit. .... Romantik
á la Rousseau: die Leidenschaft (» das souveräne Recht der
Passion«), die »Natürlichkeit«; die Faszination der Verrücktheit
(die Narrheit zur Größe gerechnet); die unsinnige Eitelkeit des Schwachen;
die Pöbel-Rankune als Richterin (»in der Politik hat man seit
hundert Jahren einen Kranken als Führer genommen«).Ders., Der Wille zur Macht, S. 74-76 |
Die
beiden großen Tentativen, die gemacht worden sin, das 18. Jahrhundert
zu überwinden:Napoleon, indem er
den Mann, den Soldaten und den großen Kampf umd Macht wieder aufweckte
Europa als politische Einheit konzipierend;Goethe,
indem er eine europäische Kultur imaginierte, die die volle Erbschaft der
schon erreichten Humanität macht.Die
deutsche Kultur dieses Jahrhunderts erweckt Mißtrauen in der Musik
fehlt jenes volle, erlösende und bindende Element Goethe Ders., Der Wille zur Macht, S. 78 |
Wagner
resümiert die Romantik, die deutsche und die französische Ders., Der Wille zur Macht, S. 79 |
Grundsatz:
es gibt etwas von Verfall in allem, was den modernen Menschen anzeigt: aber dicht
neben der Krankheit stehen Anzeichen einer unerprobten Kraft und Mächtigkeit
der Seele. Dieselben Gründe, welche die Verkleinerung der Menschen hervorbringen,
treiben die Stärkeren und Seltneren bis hinauf zur Größe.Ders., Der Wille zur Macht, S. 81 |
Gesamt-Einsicht:
der zweideutige Charakter unserer modernen Welt - eben dieselben Symptome
können auf Niedergang und auf Stärke deuten. Und die Abzeichen
der Stärke, der errungenen Mündigkeit könnten auf Grund überlieferter (zurückgebliebener)
Gefühls-Abwerthung als Schwäche mißverstanden
werden. Kurz, das Gefühl, als Wert-Gefühl,
ist nicht auf der Höhe der Zeit. Verallgemeinert:
Das Wertgefühl ist immer rückständig, es drückt
Erhaltungs-, Wachstums-Beziehungen einer viel frühren Zeit aus: es kämpft
gegen neue Daseins-Bedingungen an, aus denen es nicht gewachsen ist und die es
nothwendig mißversteht, mißtrauisch ansehen lehrt usw.: es hemmt, es weckt Argwohn
gegen das Neue ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 81 |
Das
Problem des neunzehnten Jahrhunderts. Ob seine starke und schwache Seite zueinander
gehören? Ob es aus einem Holze geschnitzt ist? Ob die Verschiedenheit seiner
Ideale und deren Widerspruch in einem höheren Zwecke bedingt ist: als etwas
Höheres Denn es könnte die Vorbestimmung zur Größe
sein, in diesem Maße in heftiger Spannung zu wachsen. Die Unzufriedenheit,
der Nihilismus könnte ein gutes Zeichen sein.Ders., Der Wille zur Macht, S. 82 |
Gesamt-Einsicht.
Tatsächlich bringt jedes große Wachstum auchein ungeheures
Abbröckeln und Vergehen mit sich: das Leiden, die Symptome des Niedergangs
gehören in die Zeiten ungeheuren Vorwärtsgehens; jede fruchtbare und
mächtige Bewegung der Menschheit hat zugleich eine nihilistische Bewegung
mitgeschaffen. Es wäre unter Umständen das Anzeichen für
ein einschneidendes und allerwesentliches Wachstum, für den Übergang
in neue Daseinsbedingungen, daß die extremste Form des Pessimismus.
der eigentliche Nihilismus, zur Welt käme. Dies habe ich begriffen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 82 |
A. Von
einer vollen herzhaften Würdigung unsrer jetzigen Menschheit auszugehen:
sich nicht durch den Augenschein täuschen lassen: diese Menschheit
ist weniger »effektvoll«, aber sie gibt ganz andere Garantien der
Dauer, ihr Tempo ist langsamer, aber der Takt selbst ist viel reicher.
Die Gesundheit nimmt zu, die wirklichen Bedingungen des starken Leibes
werden erkannt und allmählich geschaffen, der »Asketismus« ironice
. Die Scheu vor Extremen, ein gewisses Zutrauen zum »rechten Weg«,
keine Schwärmerei; ein zeitweiliges Sich-Einleben in engere Werte (wie »Vaterland«,
wie »Wissenschaft« usw.). Dies ganze Bild wäre aber immer noch
zweideutig: es könnte eine aufsteigende oder aber eine absteigende
Bewegung des Lebens sein.B. Der Glaube an
den »Fortschritt« in der niederen Sphäre der Intelligenz
erscheint er als aufsteigendes Leben: aber das ist Selbsttäuschung; in der
höheren Sphäre der Intelligenz als absteigendes. Schilderung der Symptome.
Einheit des Gesichtspunktes: Unsicherheit in betreff der Wertmaße. Furcht
vor einem allgemeinen »Umsonst«. Nihilismus.Ders., Der Wille zur Macht, S. 82-83 |
Tatsächlich
haben wir ein Gegenmittel gegen den ersten Nihilismus nicht mehr so nötig:
das Leben ist nicht mehr dermaßen ungewiß, zufällig, unsinnig
in unserem Europa. Eine solch ungeheure Potenzierung vom Wert des Menschen,
vom Wert des Übels usw. ist jetzt nicht so nötig, wir ertragen eine
bedeutende Ermäßigung dieses Wertes, wir dürfen viel Unsinn und
Zufall einräumen: die erreichte Macht des Menschen erlaubt jetzt eine Herabsetzung
der Zuchtmittel, von denen die moralische Interpretation das stärkste war.
»Gott« ist eine viel zu extreme Hypothese.Ders., Der Wille zur Macht, S. 83 |
Wenn
irgend etwas unsere Vermenschlichung, einen wahren tatsächlichen Fortschritt
bedeutet, so ist es,daß wir keine exzessiven Gegensätze, überhaupt
keine Gegensätze mehr brauchen .... Wir dürfen die Sinne lieben, wir
haben sie in jedem Grade vergeistigt und artistisch gemacht; wir haben ein Recht
auf alle die Dinge, die am schlimmsten bisher verrufen waren.Ders., Der Wille zur Macht, S. 83-84 |
Die
Umkehrung der Rangordnung. Die frommen Falschmünzer, die Priester,
werden unter uns zu Tschandalas: sie nehmen die Stellung der Scharlatane,
der Quacksalber, der Falschmünzer, der Zauberer ein: wir halten sie für
Willens-Verderber, für die großen Verleumder und Rachsüchtigen
des Lebens, für die Empörer unter den Schlechtweggekommenen. Wir haben
aus der Dienstboten-Kaste, den Sudras, unsern Mittelstand gemacht, unser »Volk«,
das, was die politische Entscheidung in den Händen hat. Dagegen ist der Tschandala
von ehemals obenauf: voran die Gotteslästerer, die Immoralisten, die
Freizügigen jeder Art, die Artisten, die Juden, die Spielleute im
Grunde alle verrufenen Menschenklassen . Wir haben uns zu ehrenhaften
Gedanken emporgehoben, mehr noch, wir bestimmen die Ehre auf Erden, die »Vornehmheit«...
Wir alle sind heute die Fürsprecher des Lebens . Wir Immoralisten
sind heute die stärkste Macht: die großen andern Mächte brauchen
uns... wir konstruieren die Welt nach unserm Bilde . Wir haben den Begriff
»Tschandala« auf die Priester, Jenseits-Lehrer und die mit
ihnen verwachsene christliche Gesellschaft übertragen, hinzugenommen
was gleichen Ursprungs ist, die Pessimisten, Nihilisten, Mitleids-Romantiker,
Verbrecher, Lasterhaften die gesamte Sphäre, wo der Begriff »Gott«
als Heiland imaginiert wird .... Wir sind stolz darauf, keine Lügner mehr
sein zu müssen, keine Verleumder, keine Verdächtiger des Lebens ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 84-85 |
Fortschritt
des neunzehnten Jahrhunderts gegen das achtzehnte ( im Grunde führen
wir guten Europäer einen Krieg gegen das achtzehnte Jahrhundert ):1.
»Rückkehr zur Natur« immer entschiedener im umgekehrten Sinne
verstanden, als es Rousseau verstand; weg vom Idyll und der Oper!2.
immer entschiedener antiidealistisch, gegenständlicher, furchtloser, arbeitsamer,
maßvoller, mißtrauischer gegen plötzliche Veränderungen,
antirevolutionär;3. immer entschiedener
die Frage der Gesundheit des Leibes der »der Seele« voranstellend:
letztere als einen Zustand infolge der ersteren begreifend, diese mindestens als
die Vorbedingung der Gesundheit der Seele.Ders., Der Wille zur Macht, S. 85 |
Wenn
irgend etwas erreicht ist, so ist es ein harmloseres Verhalten zu den Sinnen,
eine freudigere, wohlwollendere, Goetheschere Stellung zur Sinnlichkeit; insgleichen
eine stolzere Empfindung in betreff des Erkennens: so daß der »reine
Tor« wenig glauben findet.Ders., Der Wille zur Macht, S. 85 |
Die
Vernatürlichung des Menschen im 19. Jahrhundert (das 18. Jahrhundert
ist das der Eleganz, der Feinheit und der généreux sentiments).
>Nicht Rückkehr zur Natur: denn es gab noch niemals eine natürliche
Menschheit. Die Scholastik un- und widernatürlicher Werte ist die Regel,
ist der Anfang; zur Natur kommt der Mensch nach langem Kampfe er kehrt
nie »zurück« .... Die Natur: d.h. es wagen, unmoralisch zu sein
wie die Natur. Wir sind gröber, direkter, voller Ironie gegen genereuse Gefühle,
selbst wenn wir ihnen unterliegen.Natürlicher
ist unsere erste Gesellschaft, die der Reichen, der Müßgen:
man macht Jagd auseinander, die Geschlechtsliebe ist eine Art Sport, bei dem die
Ehe ein Hindernis und einen Reiz abgiebt; man unterhält sich und lebt um
des Vergnügens willen; man schätzt die körperlichen Vorzüge
in erster Linie, man ist neugierig und gewagt.Natürlicher
ist unsere Stellung zur Erkenntnis: wir haben die Libertinage des Geistes
in aller Unschuld, wir hassen die pathetischen und hieratischen Manieren, wir
ergötzen uns am Verbotensten, wir wüßten kaum noch ein Interesse
der Erkenntnis, wenn wir uns auf dem Wege zu ihr zu langweilen hätten.Natürlicher
ist unsere Stellung zur Moral. Prinzipien sind lächerlich geworden;
niemand erlaubt sich ohne Ironie mehr von seiner Pflicht zu reden.
Aber man schätzt eine hilfreiche wohlwollende Gesinnung ( man sieht
im Instinkt die Moral und dedaignirt den Rest. Außerdem ein paar Ehrenpunkts-Begriffe
).Natürlicher ist unsere Stellung
in politicis: wir sehen Probleme der Macht, des Quantums Macht gegen ein
anderes Quantum. Wir glauben nicht an ein Recht, das nicht auf der Macht ruht,
sich durchzusetzen: wir empfinden alle Rechte als Eroberungen.Natürlicher
ist unsere Schätzung großer Menschen und Dinge: wir rechnen
die Leidenschaft als ein Vorrecht, wir finden nichts groß, wo nicht ein
großes Verbrechen einbegriffen ist; wir konzipieren alles Groß-sein
als ein Sich-außerhalb-stellen in Bezug auf Moral.Natürlicher
ist unsere Stellung zur Natur: wir lieben sie nicht mehr um ihrer »Unschuld«
»Vernunft« »Schönheit« willen, wir haben sie hübsch
»verteufelt« und »verdummt«. Aber statt sie darum zu verachten,
fühlen wir uns seitdem verwandter und heimischer in ihr. Sie aspirirt nicht
zur Tugend: wir achten sie deshalb.Natürlicher
ist unsere Stellung zur Kunst: wir verlangen nicht von ihr die schönen
Scheinlügen usw.; es herrscht der brutale Positivismus, welcher konstatiert,
ohne sich zu erregen.In summa: es gibt
Anzeichen dafür, daß der Europäer des 19. Jahrhunderts sich weniger
seiner Instinkte schämt; er hat einen guten Schritt dazu gemacht, sich einmal
seine unbedingte Natürlichkeit d.h. seine Unmoralität einzugestehn,
ohne Erbitterung: im Gegenteil, stark genug dazu, diesen Anblick allein
noch auszuhalten. Dies klingt in gewissen Ohren, wie als ob die Korruption
fortgeschritten wäre: und gewiß ist, daß der Mensch sich nicht
der »Natur« angenähert hat, von der Rousseau redet,
sondern einen Schritt weiter in der Zivilisation, welche er perhorreszierte.
Wir haben uns verstärkt: wir sind dem 17. Jahrhundert wieder näher gekommen,
dem Geschmack seines Endes namentlich ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 87-88 |
Kultur
contra Zivilisation. Die Höhepunkte der Kultur und der Zivilisation
liegen auseinander: man soll sich über den abgründlichen Antagonismus
von Kultur und Zivilisation nicht irreführen lassen. Die großen Momente
der Kultur waren immer, moralisch geredet, Zeiten der Korruption; und wiederum
waren die Epochen der gewollten und erzwungenen Tierzähmung des Menschen
(»Zivilisation« ) Zeiten der Unduldsamkeit für die geistigsten
und kühnsten Naturen. Zivilisation will etwas anderes, als Kultur will: vielleicht
etwas Umgekehrtes ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 88-89 |
Wovor
ich warne: die décadence-Instinkte nicht mit Humanität
zu verwechseln: die auflösenden und notwendig zu décadence treibenden
Mittel der Zivilisation nicht mit der Kultur zu verwechseln; die Libertinage,
das Prinzip der »laisser aller«, nicht mit dem Willen zur
Macht zu verwechseln ( er ist dessen Gegenprinzip).Ders., Der Wille zur Macht, S. 89 |
Die
unerledigten Probleme, die ich neu stelle: das Problem der Zivilisation,
der Kampf zwischen Rousseau und Voltaire um 1760. Der Mensch wird tiefer, mißtrauischer,
»unmoralischer«, stärker, sich-selbst-vertrauender und
insofern »natürlicher«: das ist »Fortschritt«.
Dabei legen sich, durch eine Art von Arbeitsteilung, die verböserten Schichten
und die gemilderten, gezähmten auseinander: so daß die Gesamttatsache
nicht ohne weiteres in die Augen springt .... Es gehört zur Stärke,
zur Selbstbeherrschung und Faszination der Stärke, daß diese stärkeren
Schichten die Kunst besitzen, ihre Verböserung als etwas Höheres empfinden
zu machen. Zu jedem »Fortschritt« gehört eine Umdeutung der verstärkten
Elemente ins »Gute«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 89 |
Daß
man den Menschen den Mut zu ihren Naturtrieben wiedergibt .Ders., Der Wille zur Macht, S. 90 |
Fortschritt
zur »Natürlichkeit«: in allen politischen, auch im Verhältnis
von Parteien, selbst von merkantilen oder Arbeiter- oder Unternehmer-Parteien.
handelt es sich um Machtfragen , »was man kann«, und
erst daraufhin, was man soll.Ders., Der Wille zur Macht, S. 90 |
Der
Sozialismus als die zu Ende gedachte Tyrannei der Geringsten und Dümmsten,
der Oberflächlichen, der Neidischen und der Dreiviertels-Schauspieler
ist in der Tat die Schlußfolgerung der »modernen Ideen« und
ihres latenten Anarchismus: aber in der lauen Luft eines demokratischen Wohlbefindens
erschlafft das Vermögen, zu Schlüssen oder gar zum Schluß
zu kommen. Man folgt, aber man folgert nicht mehr. Deshalb ist der Sozialismus
im Ganzen eine hoffnungslose, säuerliche Sache; und nichts ist lustiger anzusehen
als der Widerspruch zwischen den giftigen und verzweifelten Gesichtern, welche
heute die Sozialisten machen und von was für erbärmlichen gequetschten
Gefühlen legt gar ihr Stil Zeugnis ab! und dem harmlosen Lämmer-Glück
ihrer Hoffnungen und Wünschbarkeiten. Dabei kann es doch an vielen Orten
Europas ihrerseits zu gelegentlichen Handstreichen und Überfällen kommen:
dem nächsten Jahrhundert wird es hie und da gründlich im Leibe »rumoren,«
und die Pariser Kommune, welche auch in Deutschland ihre Schutzredner und Fürsprecher
hat (z.B. in dem philosophischen Grimassen-Schneider und Sumpfmolch E[ugen] D[ühring]
in Berlin), war vielleicht nur eine leichtere Unverdaulichkeit gemessen an dem,
was kommt. Trotzdem wird es immer zuviel Besitzende geben, als daß der Sozialismus
mehr bedeuten könnte als einen Krankheits-Anfall: und diese Besitzenden sind
wie Ein Mann Eines Glaubens »man muß etwas besitzen, um etwas zu sein.«
Dies aber ist der älteste und gesündeste aller Instinkte: ich würde
hinzufügen »man muß mehr haben wollen als man hat, um mehr zu
werden.« So nämlich klingt die Lehre, welche allem, was lebt,
durch das Leben selber gepredigt wird: die Moral der Entwicklung. Haben und mehr
haben wollen, Wachstum mit einem Wort das ist das Leben selber.
In der Lehre des Sozialismus versteckt sich schlecht ein »Wille zur Verneinung
des Lebens«; es müssen mißratene Menschen oder Rassen sein, welche
eine solche Lehre ausdenken. In der Tat, ich wünschte, es würde durch
einige große Versuche bewiesen, daß in einer sozialistischen Gesellschaft
das Leben sich selber verneint, sich selber die Wurzeln abschneidet. Die Erde
ist groß genug, und der Mensch immer noch unausgeschöpft genug, als
daß mir eine derart praktische Belehrung und demonstratio ad absurdum,
selbst wenn sie mit einem ungeheuren Aufwand von Menschenleben gewonnen und bezahlt
würde, nicht wünschenswert erscheinen müßte. Immerhin, schon
als unruhiger Maulwurf unter dem Boden einer in die Dummheit rollenden Gesellschaft
wird der Sozialismus etwas Nützliches und Heilsames sein können: er
verzögert den »Frieden auf Erden« und die gänzliche Vergutmütigung
des demokratischen Herdentieres, er zwingt die Europäer, Geist, nämlich
List und Vorsicht übrig zu behalten, den männlichen und kriegerischen
Tugenden nicht gänzlich abzuschwören und einen Rest von Geist, von Klarheit,
Trockenheit und Kälte des Geistes übrig zu behalten, er schützt
Europa einstweilen vor dem ihm drohenden marasmus femininus.Ders., Der Wille zur Macht, S. 90-92 |
Die
günstigstren Hemmungen und Remeduren der Modernität:1.
die allgemeine Wehrpflicht mit wirklichen Kriegen, bei denen der Spaß
aufhört;2. die nationale Borniertheit(vereinfachend,
konzentrierend);3. die verbesserte Ernährung
(Fleisch); 4. die zunehmende Reinlichkeit
und Gesundheit der Wohnstätten;5. die Vorherrschaft
der Physiologie über Theologie, Moralistik, Ökonomie und Politik;6.
die militärische Strende in der Forderung und Handhabung seiner »Schuldigkeit«
(man lobt nicht mehr ...).Ders., Der Wille zur Macht, S. 92 |
Die
Verkleinerung und Regierbarkeit der Menschen wird als »Fortschritt«
erstrebt!Ders., Der Wille zur Macht, S. 93 |
All
die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen
geliehen haben, will ich zurückfordern als Eigenthum und Erzeugnis des Menschen:
als seine schönste Apologie. Der Mensch als Dichter, als Denker, als Gott,
als Liebe, als Macht: o über seine königliche Freigebigkeit, womit er
die Dinge beschenkt hat, um sich zu verarmen und sich elend zu fühlen!
Das ist seine größte Selbstlosigkeit, daß er bewunderte und anbetete
und sich zu verbergen wußte, daß er es war, der das geschaffen hat,
was er bewunderte. Ders., Der Wille zur Macht, S. 99 |
Der unfreie Wille bedarf eines fremden Willens.Ders., Der Wille zur Macht, S. 101 |
Der
Mensch hat alle seine starken und erstaunlichen Momente nicht gewagt, sich zuzurechnen,
er hat sie als »passiv«, als »erlitten«, als Überwältigungen
konzipiert: die Religion ist eine Ausgeburt eines Zweifels an der Einheit
der Person, eine altération der Persönlichkeit: insofern alles Große
und Starke vom Menschen als übermenschlich, als fremd konzipiert wurde, verkleinerte
sich der Mensch, er legte die zwei Seiten, eine sehr erbärmliche und
schwache und eine sehr starke und erstaunliche in zwei Sphären auseinander,
hieß die erste »Mensch«, die zweite »Gott«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 101 |
Er
hat das immer fortgesetzt. Er hat, in der Periode der moralischen Idiosynkrasie
seine hohen und sublimen Moral-Zustände nicht als »gewollt«,
als »Werk« der Person ausgelegt. Auch der Christ legt seine Person
in eine mesquine und schwache Fiktion, die er Mensch nennt, und eine andere, die
er Gott (Erlöser, Heiland) nennt, auseinander.Ders., Der Wille zur Macht, S. 101-102 |
Die
Religion hat den Begriff »Mensch« erniedrigt; ihre extreme Konsequenz
ist, daß alles Gute, Große, Wahre übermenschlich ist und nur
durch eine Gnade geschenkt ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 102 |
Ein
Weg, den Menschen aus seiner Erniedrigung zu ziehen, welche der Abgang der hohen
und starken Zustände, wie als fremder Zustände, mit sich brachte, war
die Verwandtschafts-Theorie. Diese hohen und starken Zustände konnten wenigstens
als Einwirkungen unserer Vorfahren ausgelegt werden, wir gehörten
zueinander, solidarisch, wir wachsen in unseren eigenen Augen, indem wir nach
uns bekannter Norm handeln.Ders., Der Wille zur Macht, S. 102 |
Versuch,
vornehmer Familien, die Religion mit ihrem Selbstgefühl auszugleichen.
Dasselbe tun die Dichter und Seher, sie fühlen sich stolz, gewürdigt
und auserwählt zu sein zu solchem Verkehre, sie legen Wert darauf,
als Individuen gar nicht in Betracht zu kommen, bloße Mundstücke zu
sein (Homer).Ders., Der Wille zur Macht, S. 102 |
Schrittweises
Besitz-ergreifen von seinen hohen und stolzen Zuständen, Besitz-ergreifen
von seinen Handlungen und Werken. Ehedem glaubte man sich zu ehren, wenn man für
die höchsten Dinge, die man tat, sich nicht verantwortlich wußte, sondern
Gott die Unfreiheit des Willens galt als das, was einer Handlung
einen höheren Wert verlieh: damals war ein Gott zu ihrem Urheber gemacht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 102 |
Die Priester sind die Schauspieler
von irgend etwas Übermenschlichem, dem sie Sinnfälligkeit zu geben haben,
sei es von Idealen, sei es von Göttern oder von Heilanden; darin finden sie
ihren Beruf, dafür haben sie ihre Instinkte; um es so glaubwürdig wie
möglich zu machen, müssen sie in der Anähnlichung so weit wie möglich
gehen; ihre Schauspieler-Klugheit muß vor allem das gute Gewissen
bei ihnen erzielen, mit Hilfe dessen erst wahrhaft überredet werden kann.Ders., Der Wille zur Macht, S. 103 |
Der
Priester will durchsetzen, daß er als höchster Typus des Menschen
gilt, daß er herrscht, auch noch über die, welche die Macht
in den Händen haben, daß er unverletztlich ist, unangreifbar ,
daß er die stärkste Macht in der Gemeinde ist, absolut nicht
zu ersetzen und zu unterschätzen. Mittel: er allein ist der Wissende;
er allein ist der Tugendhafte; er allein hat die höchste Herrschaft
über sich; er allein ist in einem gewissen Sinne Gott und geht zurück
in die Gottheit; er allein ist die Zwischenperson zwischen Gott und den andern;
die Gottheit straft jeden Nachteil, jeden Gedanken wider einen Priester gerichtet.
Mittel: die Wahrheit existiert. Es gibt nur eine Form, sie zu erlangen:
Priester werden. Alles, was gut ist, in der Ordnung, in der Natur, in dem Herkommen,
geht auf die Weisheit der Priester zurück. Das Heilige Buch ist ihr Werk.
Die ganze Natur ist nur eine Ausführung der Satzungen darin. Es gibt keine
andere Quelle des Guten als den Priester. Alle andere Art von Vortrefflichkeit
ist rangverschieden von der des Priesters, z.B. die des Kriegers. Konsequenz:
wenn der Priester der höchste Typus sein soll, so muß die Gradation
zu seinen Tugenden die Wertgradation der Menschen ausmachen. Das Studium,
die Entsinnlichung, das Nicht-Aktive, das Impassible, Affektlose,
das Feierliche; Gegensatz: die tiefste Gattung Mensch. Der Priester
hat eine Art Moral gelehrt: um selbst als höchster Typus empfunden
zu werden. Er konzipiert einen Gegensatz-Typus: den Tschandala. Diesen
mit allen Mitteln verächtlich zu machen, gibt die Folie ab für die Kasten-Ordnung.
Die extreme Angst des Priesters vor der Sinnlichkeit ist zugleich bedingt
durch die Einsicht, daß hier die Kasten-Ordnung (das heißt die Ordnung
überhaupt) am schlimmsten bedroht ist .... Jede »freiere Tendenz«
in puncto puncti (d.h.: hisnischtlich der Keuschheit;
HB) wirft die Ehegesetzgebung über den Haufen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 103-104 |
Der
Philosoph als Weiter-Entwicklung des priesterlichen Typus:
hat dessen Erbschaft im Leibe; ist, selbst noch als Rivale, genötigt,
um dasselbe mit denselben Mitteln zu ringen wie der Priester seiner Zeit;
er aspiriert zur höchsten Autorität. Was gibt Autorität,
wenn man nicht die physische Macht in den Händen hat (keine Heere, keine
Waffen überhaupt ...)? Wie gewinnt man namentlich die Autorität über
die, welche die physische Gewalt und die Autorität besitzen? (Sie konkurrieren
mit der Ehrfurcht vor dem Fürsten, vor dem siegreichen Eroberer, dem weisen
Staatsmann.) Nur indem sie den Glauben erwecken, eine höhere stärkere
Gewalt in den Händen zu haben Gott . Es ist nichts stark
genug: man hat die Vermittlung und die Dienste der Priester nötig. Sie stellen
sich als unentbehrlich dazwischen: sie haben als Existenzbedingung nötig:
1. daß an die absolute Überlegenheit
ihres Gottes, daß an ihren Gott geglaubt wird,2.
daß es keine andern, keine direkten Zugänge zu Gott gibt.Die
zweite Forderung allein schafft den Begriff der »Heterodoxie«;
die erste den des »Ungläubigen« (d.h. der an einen andern
Gott [oder gar keinen; HB] glaubt ).Ders., Der Wille zur Macht, S. 104-105 |
Kritik
der heiligen Lüge. Daß zu frommen Zwecken die Lüge
erlaubt ist, das gehört zur Theorie aller Priesterschaften wie weit
es zu ihrer Praxis gehört, soll der Gegenstand dieser Untersuchung sein.Aber
auch die Philosophen, sobald sie mit priesterlichen Hinterabsichten die Leitung
der Menschen in die Hand zu nehmen beabsichtigen, haben sofort auch sich ein Recht
zur Lüge zurechtgemacht: Plato voran. Am großartigsten ist die doppelte
durch die typischarischen Philosophen des Vedânta entwickelte: zwei Systeme,
in allen Hauptpunkten widersprüchlich, aber aus Erziehungszwecken sich ablösend,
ausfüllend, ergänzend. Die Lüge des einen soll einen Zustand schaffen,
in dem die Wahrheit des andern erst hörbar wird ....Wie
weit geht die fromme Lüge der Priester und der Philosophen? Man muß
hier fragen, welche Voraussetzungen zur Erziehung sie haben, welche Dogmen sie
erfinden müssen, um diesen Voraussetzungen genugzutun?Erstens:
sie müssen die Macht, die Autorität, die unbedingte Glaubwürdigkeit
auf ihrer Seite haben.Zweitens: sie müssen
den ganzen Naturverlauf in Händen haben, so daß alles, was den einzelnen
trifft, als bedingt durch ihr Gesetz erscheint.Drittens:
sie müssen auch einen weiter reichenden Machtbereich haben, dessen Kontrolle
sich den Blicken ihrer Unterworfenen entzieht: das Strafmaß für das
Jenseits, das »Nach-dem-Tode« wie billig auch die Mittel, zur
Seligkeit den Weg zu wissen. Sie haben
den Begriff des natürlichen Verlaufs zu entfernen: da sie aber kluge und
nachdenkliche Leute sind, so können sie eine Menge Wirkungen versprechen,
natürlich als bedingt durch Gebete oder durch strikte Befolgung ihres Gesetzes.
Sie können insgleichen eine Menge Dinge verordnen, die absolut
vernünftig sind, nur daß sie nicht die Erfahrung, die Empirie
als Quelle dieser Weisheit nennen dürfen, sondern eine Offenbarung oder die
Folge »härtester Bußübungen«.Die
heilige Lüge bezieht sich also prinzipiell: (a)
auf den Zweck der Handlung ( der Naturzweck, die Vernunft wird unsichtbar
gemacht: ein Moral-Zweck, eine Gesetzeserfüllung, eine Gottesdienstlichkeit
erscheint als Zweck ): (b) auf die Folge
der Handlung ( die natürliche Folge wird als übernatürliche
ausgelegt, und, um sichrer zu wirken, es werden unkontrollierbare andre, übernatürliche
Folgen in Aussicht gestellt).Auf diese Weise
wird ein Begriff von Gut und Böse geschaffen, der ganz und gar losgelöst
von dem Naturbegriff »nützlich«, »schädlich«,
»lebenfördernd«, »lebenvermindernd« erscheint
er kann, insofern ein anderes Leben erdacht ist, sogar direkt feindselig
dem Naturbegriff von Gut und Böse werden.Auf
diese Weise wird endlich das berühmte »Gewissen« geschaffen:
eine innere Stimme, welche bei jeder Handlung nicht den Wert der Handlung an ihren
Folgen mißt, sondern in Hinsicht auf die Absicht und Konformität dieser
Absicht mit dem »Gesetz«.Die heilige
Lüge hat also 1. einen strafenden und belohnenden Gott erfunden,
der exakt das Gesetzbuch der Priester anerkennt und exakt sie als seine Mundstücke
und Bevollmächtigten in die Welt schickt; 2. ein Jenseits des Lebens,
in dem die große Straf-Maschine erst wirksam gedacht wird zu diesem
Zwecke die Unsterblichkeit der Seele; 3. das Gewissen im
Menschen, als das Bewußtsein davon, daß Gut und Böse feststeht
daß Gott selbst hier redet, wenn es die Konformität mit der
priesterlichen Vorschrift anrät; 4. die Moral als Leugnung
alles natürlichen Verlaufs, als Reduktion alles Geschehens auf ein moralisch-bedingtes
Geschehen, die Moralwirkung (d. h. die Straf- und Lohn-Idee) als die Welt durchdringend,
als einzige Gewalt, als creator von allem Wechsel; 5. die Wahrheit
als gegeben, als geoffenbart, als zusammenfallend mit der Lehre der Priester:
als Bedingung alles Heils und Glücks in diesem und jenem Leben.In
summa: womit ist die moralische Besserung bezahlt? Aushängung
der Vernunft, Reduktion aller Motive auf Furcht und Hoffnung (Strafe und
Lohn); Abhängigkeit von einer priesterlichen Vormundschaft, von einer
Formalien-Genauigkeit, welche den Anspruch macht, einen göttlichen Willen
auszudrücken; die Einpflanzung eines »Gewissens«, welches ein
falsches Wissen an Stelle der Prüfung und des Versuchs setzt: wie als ob
es bereits feststünde, was zu tun und was zu lassen wäre eine
Art Kastration des suchenden und vorwärtsstrebenden Geistes; in
summa: die ärgste Verstümmelung des Menschen, die man sich
vorstellen kann, angeblich als der »gute Mensch«.In
praxi ist die ganze Vernunft, die ganze Erbschaft von Klugheit, Feinheit,
Vorsicht, welche die Voraussetzung des priesterlichen Kanons ist, willkürlich
hinterdrein auf eine bloße Mechanik reduziert: die Konformität
mit dem Gesetz gilt bereits als Ziel, als oberstes Ziel, das Leben hat keine
Probleme mehr; die ganze Welt-Konzeption ist beschmutzt mit der Strafidee;
das Leben selbst ist, mit Hinsicht darauf, das priesterliche Leben
als das non plus ultra der Vollkommenheit darzustellen, in eine Verleumdung
und Beschmutzung des Lebens umgedacht; der Begriff »Gott« stellt
eine Abkehr vom Leben, eine Kritik, eine Verachtung selbst des Lebens dar;
die Wahrheit ist umgedacht als die priesterliche Lüge, das Streben
nach Wahrheit als Studium der Schrift, als Mittel, Theolog zu werden
....Ders., Der Wille zur Macht, S. 105-108 |
Zur
Kritik des Manu-Gesetzbuches. Das ganze Buch ruht auf der heiligen
Lüge. Ist es das Wohl der Menschheit, welches dieses ganze System inspiriert
hat? Diese Art Mensch, welche an die Interessiertheit jeder Handlung glaubt, war
sie interessiert oder nicht, dieses System durchzusetzen? Die Menschheit zu verbessern
woher ist diese Absicht inspiriert? Woher ist der Begriff des Bessern genommen?
Wir finden eine Art Mensch, die priesterliche, die sich als Norm, als Spitze,
als höchsten Ausdruck des Typus Mensch fühlt: von sich aus nimmt sie
den Begriff des »Bessern«. Sie glaubt an ihre Überlegenheit,
sie will sie auch in der Tat: die Ursache der heiligen Lüge ist der Wille
zur Macht .... Aufrichtung der Herrschaft: zu diesem Zwecke die Herrschaft
von Begriffen, welche in der Priesterschaft ein non plus ultra von Macht ansetzen.
Die Macht durch die Lüge in Einsicht darüber, daß man sie
nicht physisch, militärisch besitzt .... Die Lüge als Supplement der
Macht ein neuer Begriff der »Wahrheit«. Man irrt sich, wenn
man hier unbewußte und naive Entwicklung voraussetzt, eine Art Selbstbetrug...
Die Fanatiker sind nicht die Erfinder solcher durchdachten Systeme der Unterdrückung
.... Hier hat die kaltblütigste Besonnenheit gearbeitet; dieselbe Art Besonnenheit,
wie sie ein Plato hatte, als er sich seinen »Staat« ausdachte.
»Man muß die Mittel wollen, wenn man das Ziel will« über
diese Politiker-Einsicht waren alle Gesetzgeber bei sich klar. Wir haben das klassische
Muster als spezifisch arisch: wir dürfen also die bestausgestattete und besonnenste
Art Mensch verantwortlich machen für die grundsätzlichste Lüge,
die je gemacht worden ist .... Man hat das nachgemacht, überall beinahe:
der arische Einfluß hat alle Welt verdorben ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 108-109 |
Im
arischen Gesetzbuch reinster Rasse, im Manu, ist ... Priester-Geist
schlimmer als irgendwo.Ders., Der Wille zur Macht, S. 109 |
Die
Entwicklung des jüdischen Priesterstaates ist nicht original: sie haben das
Schema in Babylon kennengelernt: das Schema ist arisch. Wenn dasselbe später
wieder, unter dem Übergewicht des germanischen Blutes, in Europa dominierte,
so war dies dem Geiste der herrschenden Rasse gemäß: ein großer
Atavismus. Das germanische Mittelalter war auf Wiederherstellung der arischen
Kasten-Ordnung aus.Ders., Der Wille zur Macht, S. 109 |
Der
Mohammedanismus hat wiederum vom Christentum gelernt: die Benutzung des »Jenseits«
als Straf-Organ.Ders., Der Wille zur Macht, S. 109 |
Das
Schema eines unveränderlichen Gemeinwesens, mit Priestern an der Spitze
dieses älteste große Kultur-Produkt Asiens im Gebiete der Organisation
muß natürlich in jeder Beziehung zum Nachdenken und Nachmachen
aufgefordert haben. Noch Plato: aber vor allen die Ägypter.Ders., Der Wille zur Macht, S. 109-110 |
Die
Moralen und Religionen sind die Hauptmittel, mit denen man aus den
Menschen gestalten kann, was einem beliebt: vorausgesetzt, daß man einen
Überschuß von schaffenden Kräften hat und seinen Willen über
lange Zeiträume durchsetzen kann.Ders., Der Wille zur Macht, S. 110 |
Wie
eine ja-sagende arische Religion, die Ausgeburt der herrschenden
Klasse, aussieht: das Gesetzbuch Manus. (Die Vergöttlichung des Machtgefühls
im Brahmanen: interessant, daß es in der Krieger-Kaste entstanden und erst
übergegangen ist auf die Priester.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 110 |
Wie
eine ja-sagende semitische Religion, die Ausgeburt der herrschenden
Klasse, aussieht: das Gesetzbuch Mohammeds, das alte Testament in den älteren
Teilen. (Der Mohammedanismus, als eine Religion für Männer,
hat eine tiefe Verachtung für die Sentimentalität und Verlogenheit des
Christentums ..., einer Weibs-Religion, als welche er sie fühlt .)Ders., Der Wille zur Macht, S. 110 |
Wie
eine nein-sagende semitische Religion, die Ausgeburt der unterdrückten
Klasse, aussieht: das neue Testament ( nach indisch-arischen Begriffen:
eine Tschandala-Religion).Ders., Der Wille zur Macht, S. 110 |
Wie
eine nein-sagende arische Religion, gewachsen unter den herrschenden
Ständen: der Buddhismus.Ders., Der Wille zur Macht, S. 110 |
Es
ist vollkommen in Ordnung, daß wir keine Religion unterdrückter
arischer Rassen haben: denn das ist ein Widerspruch: eine Herrenrasse ist obenauf
oder geht zugrunde.Ders., Der Wille zur Macht, S. 110-111 |
An
sich hat eine Religion nichts mit der Moral zu tun: aber die beiden Abkömmlinge
der jüdischen Religion sind beide wesentlich moralische Religionen
solche, die Vorschriften darüber geben, wie gelebt werden soll und
mit Lohn und Strafe ihren Forderungen Gehör schaffen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 111 |
Heidnisch
christlich. Heidnisch ist das Jasagen zum Natürlichen,
das Unschuldsgefühl im Natürlichen, »die Natürlichkeit«.
Christlich ist das Neinsagen zum Natürlichen, das Unwürdigkeits-Gefühl
im Natürlichen, die Widernatürlichkeit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 111 |
»Unschuldig«
ist z.B. Petronius: ein Christ hat im Vergleich mit diesem Glücklichen ein
für allemal die Unschuld verloren. Da aber zuletzt auch der christliche
Status bloß ein Naturzustand sein muß, sich aber nicht als solchen
begreifen darf, so bedeutet »christlich« eine zum Prinzip erhobene
Falschmünzerei der psychologischen Interpretation ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 111 |
Der christliche Priester ist von Anfang an der Todfeind der Sinnlichkeit:
man kann sich keinen größeren Gegensatz denken, als die unschuldig
ahnungsvolle und feierliche Haltung, mit der z.B. in den ehrwürdigsten Frauenkulten
Athens die Gegenwart der geschlechtlichen Symbole empfunden wurde. Der Akt der
Zeugung ist das Geheimniß an sich in allen nicht-asketischen Religionen:
eine Art Symbol der Vollendung und der geheimnißvollen Absicht, der Zukunft:
der Wiedergeburt, Unsterblichkeit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 111-112 |
Die
große Lüge in der Historie: als ob es die Verderbnis
des Heidentums gewesen wäre, die dem Christentum die Bahn gemacht habe! Aber
es war die Schwächung und Vermoralisierung des antiken Menschen! Die
Umdeutung der Naturtriebe in Laster war schon vorhergegangen!Ders., Der Wille zur Macht, S. 112 |
Buddha
gegen den Gekreuzigten. Innerhalb der nihilistischen Bewegung
darf man immer noch die christliche und die buddhistische scharf
auseinander halten: die buddhistische drückt einen schönen Abend
aus, eine vollendete Süßigkeit und Milde, es ist Dankbarkeit
gegen alles, was hinten liegt, mit eingerechnet, es fehlt die Bitterkeit, die
Enttäuschung, die Rancune: zuletzt, die hohe geistige Liebe, das Raffinement
des physiologischen Widerspruchs ist hinter ihm, auch davon ruht es aus: aber
von diesem hat es noch seine geistige Glorie und Sonnenuntergangs-Gluth. (
Herkunft aus den obersten Kasten .) Die christliche Bewegung
ist eine Degenerescenz-Bewegung aus Abfalls- und Ausschuß-Elementen aller
Art: sie drückt nicht den Niedergang einer Rasse aus, sie ist von Anfang
an eine Aggregat-Bildung aus sich zusammendrängenden und sich suchenden Krankheits-Gebilden
.… Sie ist deshalb nicht national, nicht rassebedingt: sie wendet sich an die
Enterbten von überall; sie hat die Ranküne auf dem Grunde gegen alle
Wohlgeratene und Herrschende, sie braucht ein Symbol, welches den Fluch
auf die Wohlgeratenen und Herrschenden darstellt .... Sie steht im Gegensatz
auch zu aller geistigen Bewegung, zu aller Philosophie: sie nimmt die Partei
der Idioten und spricht einen Fluch gegen den Geist aus. Ranküne gegen die
Begabten, Gelehrten, Geistig-Unabhängigen: sie erräth in ihnen das Wohlgeratene,
das Herrschaftliche.Ders., Der Wille zur Macht, S. 113-114 |
Im
Buddhismus überwiegt dieser Gedanke: »Alle Begierden, alles, was Affekt,
was Blut macht, zieht zu Handlungen fort« nur insofern wird gewarnt
vor dem Bösen. Denn Handeln das hat keinen Sinn, Handeln hält
im Dasein fest: alles Dasein aber hat keinen Sinn. Sie sehen im Bösen den
Antrieb zu etwas Unlogischem: zur Bejahung von Mitteln, deren Zweck man verneint.
Sie suchen nach einem Wege zum Nichtsein, und deshalb perhorreszieren sie
alle Antriebe seitens der Affekte. Z.B. ja nicht sich rächen! ja nicht feind
sein! Der Hedonismus der Müden gibt hier die höchsten Wertmaße
ab. Nichts ist dem Buddhisten ferner als der jüdische Fanatismus eines Paulus:
nichts würde mehr seinem Instinkt widerstreben als diese Spannung, Flamme,
Unruhe des religiösen Menschen, vor allem jene Form der Sinnlichkeit, welche
das Christentum mit dem Namen der »Liebe« geheiligt hat. Zu alledem
sind es die gebildeten und sogar übergeistigten Stände, die im Buddhismus
ihre Rechnung finden: eine Rasse, durch einen jahrhundertelangen Philosophen-Kampf
abgesotten und müde ge macht, nicht aber unterhalb aller Kultur wie
die Schichten, aus denen das Christentum entsteht... Im Ideal des Buddhismus erscheint
das Loskommen auch von Gut und Böse wesentlich: es wird da eine raffinierte
Jenseitigkeit der Moral ausgedacht, die mit dem Wesen der Vollkommenheit zusammenfällt,
unter der Voraussetzung, daß man auch die guten Handlungen bloß zeitweilig
nötig hat, bloß als Mittel, -nämlich um von allem
Handeln loszukommen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 114-115 |
Das
Christentum ist ein naiver Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung,
mitten aus dem eigentlichen Herde des Ressentiments heraus... aber durch Paulus
zu einer heidnischen Mysterienlehre umgedreht, welche endlich sich mit der ganzen
staatlichen Organisation vertragen lernt... und Kriege führt, verurteilt,
foltert, schwört, haßt. Paulus geht von dem Mysterien-Bedürfnis
der großen, religiös-erregten Menge aus: er sucht ein Opfer, eine blutige
Phantasmagorie, die den Kampf aushält mit den Bildern der Geheimkulte: Gott
am Kreuze, das Bluttrinken, die unio mystica mit dem »Opfer«.
Er sucht die Fortexistenz (die selige, entsühnte Fortexistenz der
Einzelseele) als Auferstehung in Kausalverbindung mit jenem Opfer zu bringen
(nach dem Typus des Dionysos, Mithras, Osiris). Er hat nötig, den Begriff
Schuld und Sünde in den Vordergrund zu bringen, nicht eine
neue Praxis (wie sie Jesus selbst zeigte und lehrte), sondern einen neuen Kultus,
einen neuen Glauben, einen Glauben an eine wundergleiche Verwandlung (»Erlösung«
durch den Glauben). Er hat das große Bedürfnis der heidnischen Welt
verstanden und aus den Tatsachen vom Leben und Tode Christi eine vollkommen willkürliche
Auswahl gemacht, alles neu akzentuiert, überall das Schwergewicht verlegt...
er hat prinzipiell das ursprüngliche Christentum annulliert .... Das
Attentat auf Priester und Theologen mündete, dank dem Paulus, in eine neue
Priesterschaft und Theologie einen herrschenden Stand, auch
eine Kirche. Das Attentat auf die übermäßige Wichtigtuerei
der »Person« mündete in den Glauben an die »ewige
Person« (in die Sorge ums »ewige Heil« ...), in die paradoxeste
Übertreibung des Personal-Egoismus. Das ist der Humor der Sache, ein
tragischer Humor: Paulus hat gerade das im großen Stile wieder aufgerichtet,
was Christus durch sein Leben annulliert hatte. Endlich, als die Kirche fertig
ist, nimmt sie sogar das Staats-Dasein unter ihre Sanktion.Ders., Der Wille zur Macht, S. 119-120 |
Die
Kirche ist exakt das, wogegen Jesus gepredigt hat und wogegen er
seine Jünger kämpfen lehrte.Ders., Der Wille zur Macht, S. 120 |
Ein
Gott für unsere Sünden gestorben; eine Erlösung durch den Glauben;
eine Wiederauferstehung nach dem Tode das sind alles Falschmünzereien
des eigentlichen Christentums, für die man jenen unheilvollen Querkopf (Paulus)
verantwortlich machen muß. Das vorbildliche Leben besteht in der
Liebe und Demut; in der Herzens-Fülle, welche auch den Niedrigsten nicht
ausschließt; in der förmlichen Verzichtleistung auf das Recht-behalten-wollen,
auf Verteidigung, auf Sieg im Sinne des persönlichen Triumphes; im Glauben
an die Seligkeit hier, auf Erden, trotz Not, Widerstand und Tod; in der Versöhnlichkeit,
in der Abwesenheit des Zornes, der Verachtung; nicht belohnt werden wollen; niemandem
sich verbunden haben; die geistlich-geistigste Herrenlosigkeit; ein sehr stolzes
Leben unter dem Willen zum armen und dienenden Leben. Nachdem die Kirche die ganze
christliche Praxis sich hatte nehmen lassen und ganz eigentlich das Leben
im Staate, jene Art Leben, welche Jesus bekämpft und verurteilt hatte, sanktioniert
hatte, mußte sie den Sinn des Christentums irgendwo anders hin legen: in
den Glauben an unglaubwürdige Dinge, in das Zeremoniell von Gebeten,
Anbetung, Festen usw. Der Begriff »Sünde«, »Vergebung«,
»Strafe«, »Belohnung« alles ganz unbeträchtlich
und fast ausgeschlossen vom ersten Christentum kommt jetzt in den Vordergrund.
Ein schauderhafter Mischmasch von griechischer Philosophie und Judentum; der Asketismus;
das beständige Richten und Verurteilen; die Rangordnung usw..Ders., Der Wille zur Macht, S. 120-121 |
Das
Christentum hat von vornherein das Symbolische in Kruditäten umgesetzt:1.
der Gegensatz »wahres Leben« und »falsches« Leben: mißverstanden
als »Leben diesseits« und »Leben jenseits«;2.
der Begriff »ewiges Leben« im Gegensatz zum Personal-Leben der Vergänglichkeit
als »Personal-Unsterblichkeit«;3.
die Verbrüderung durch gemeinsamen Genuß von Speise und Trank nach
hebräisch-arabischer Gewohnheit als »Wunder der Transsubstantiation«;4.
die »Auferstehung « als Eintritt in das »wahre Leben«,
als »wiedergeboren«; daraus: eine historische Eventualität, die
irgendwann nach dem Tode eintritt;5. die Lehre
vom Menschensohn als dem »Sohn Gottes«, das Lebensverhältnis
zwischen Mensch und Gott; daraus: die »zweite Person der Gottheit«
gerade das weggeschafft: das Sohnverhältnis jedes Menschen
zu Gott, auch des niedrigsten;6. die Erlösung
durch den Glauben (nämlich daß es keinen anderen Weg zur Sohnschaft
Gottes gibt als die von Christus gelehrte Praxis des Lebens) umgekehrt
in den Glauben, daß man an irgendeine wunderbare Abzahlung der Sünde
zu glauben habe, welche nicht durch den Menschen, sondern durch die Tat Christi
bewerkstelligt ist: Damit mußte »Christus am Kreuze« neu gedeutet
werden. Dieser Tod war an sich durchaus nicht die Hauptsache ..., er war nur ein
Zeichen mehr, wie man sich gegen die Obrigkeit und Gesetze der Welt zu verhalten
habe nicht sich wehren .... Darin lag das Vorbild.Ders., Der Wille zur Macht, S. 121-122 |
Man
muß das Kreuz empfinden wie Goethe.Ders., Der Wille zur Macht, S. 128 |
Zum
psychologischen Problem des Christentums. Die treibende Kraft bleibt:
das Ressentiment, der Volksaufstand, der Aufstand der Schlechtweggekommenen. (Mit
dem Buddhismus steht es anders: er ist nicht geboren aus einer Ressentiment-Bewegung.
Er bekämpft dasselbe, weil es zum Handeln antreibt). Diese Friedenspartei
begreift, daß Verzichtleisten auf Feindseligkeit in Gedanken und Tat
eine Unterscheidungs- und Erhaltungsbedingung ist. Hierin liegt die psychologische
Schwierigkeit, welche verhindert hat, daß man das Christentum verstand:
der Trieb, der es schuf, erzwingt eine grundsätzliche Bekämpfung
seiner selber. Nur als Friedens- und Unschuldspartei hat diese Aufstandsbewegung
eine Möglichkeit auf Erfolg: sie muß siegen durch die extreme Milde,
Süßigkeit, Sanftmut, ihr Instinkt begreift das . Kunststück:
den Trieb, dessen Ausdruck man ist, leugnen, verurteilen, das Gegenstück
dieses Triebes durch die Tat und das Wort beständig zur Schau tragen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 130 |
Genauso
so, wie die Priesterschaft die ganze Geschichte Israels verfälscht hatte,
so wurde nochmals der Versuch gemacht, überhaupt die Geschichte der Menschheit
hier umzufälschen, damit das Christentum als sein kardinalstes Ereignis
erscheinen könne. Diese Bewegung konnte nur auf dem Boden des Judentums entstehen:
dessen Haupttat war, Schuld und Unglück zu verflechten und alle Schuld
auf Schuld an Gott zu reduzieren: davon ist das Christentum die zweite
Potenz.Ders., Der Wille zur Macht, S. 133 |
Das
Christentum zog die letzte Konsequenz dieser Bewegung: auch im jüdischen
Priestertum empfand es noch die Kaste, den Privilegierten, den Vornehmen
es strich den Priester aus. Der Christ ist der Tschandala, der den
Priester ablehnt .... der Tschandala, der sich selbst erlöst .... Deshalb
ist die französische Revolution die Tochter und Fortsetzerin des Christentums
..., sie hat den Instinkt gegen die Kaste, gegen die Vornehmen, gegen die letzten
Privilegien.Ders., Der Wille zur Macht, S. 134 |
Die
tiefe Verachtung, mit der der Christ in der vornehm gebliebenen antiken
Welt behandelt wurde, gehört ebendahin, wohin heute noch die Instinkt-Abneigung
gegen den Juden gehört: es ist der Haß der freien und selbstbewußten
Stände gegen die, welche sich durchdrücken und schüchterne,
linkische Gebärden mit einem unsinnigen Selbstgefühl verbinden. Das
Neue Testament ist das Evangelium einer gänzlich unvornehmen Art Mensch;
ihr Anspruch, mehr Wert zu haben, ja allen Wert zu haben, hat in der Tat
etwas Empörendes auch heute noch.Ders., Der Wille zur Macht, S. 134-135 |
Der
Buddhist handelt anders als der Nichtbuddhist; der Christ handelt wie alle
Welt und hat ein Christentum der Zeremonien und Stimungen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 137 |
Das
Christentum nimmt den Kampf nur auf, der schon gegen das klassische Ideal, gegen
die vornehme Religion bestand. Tatsächlich ist diese ganze Umbildung
eine Übersetzung in die Bedürfnisse und das Verständnis-Niveau
der damaligen religiösen Masse: jener Masse, welche an Isis, Mithras, Dionysos,
die »große Mutter« glaubte und welche von einer Religion verlangte:
1. die Jenseits-Hoffnung, 2. die blutige Phantasmagorie des Opfertiers (das Mysterium),
3. die erlösende Tat, die heilige Legende, 4. den Asketismus, die Weltverneinung,
die abergläubische »Reinigung«, 5. die Hierarchie, eine Form
der Gemeindebildung. Kurz: das Christentum paßt sich an das schon bestehende,
überall eingewachsene Anti-Heidentum an, an die Kulte, welche von Epikur
bekämpft worden sind ..., genauer, an die Religionen der niederen Masse,
der Frauen, der Sklaven, der nicht-vornehmen Stände.Wir
haben also als Mißverständnis:1.
die Unsterblichkeit der Person;2. die angebliche
andere Welt;3. die Absurdität des Strafbegriffs
und Sühnebegriffs im Zentrum der Daseins-Interpretation;4.
die Entgöttlichung des Menschen statt seiner Vergöttlichung, die Aufreißung
der tiefsten Kluft, über die nur das Wunder, nur die Prostration der tiefsten
Selbstverachtung hinweghilft;5. die ganze Welt
der verdorbenen Imagination und des krankhaften Affekts, statt der liebevollen,
einfältigen Praxis, statt eines auf Erden erreichbaren buddhistischen Glückes;6.
eine kirchliche Ordnung mit Priesterschaft, Theologie, Kultus, Sakrament; kurz,
alles das, was Jesus von Nazareth bekämpft hatte;7.
das Wunder in allem und jedem, der Aberglaube: während gerade das Auszeichnende
des Judentums und des ältesten Christentums sein Widerwille gegen das Wunder
ist, seine relative Rationalität.Ders., Der Wille zur Macht, S. 139-140 |
Dies war die verhängnisvollste Art Größenwahn,
die bisher auf Erden dagewesen ist: wenn diese verlogenen kleinen Mißgeburten
von Muckern anfangen, die Worte »Gott«, »Jüngstes Gericht«,
»Wahrheit«, »Liebe«, »Weisheit«, »Heiliger
Geist« für sich in Anspruch zu nehmen und sich damit gegen »die
Welt« abzugrenzen, wenn diese Art Mensch anfängt, die Werte nach
sich umzudrehen, wie als ob sie der Sinn, das Salz, das Maß und Gewicht
vom ganzen Rest wären: so sollte man ihnen Irrenhäuser bauen und nichts
weiter tun. Daß man sie verfolgte, das war eine antike Dummheit großen
Stils: damit nahm man sie zu ernst, damit machte man aus ihnen einen Ernst. Das
ganze Verhängnis war dadurch ermöglicht, daß schon eine verwandte
Art von Größenwahn in der Welt war, der jüdische
( nachdem einmal die Kluft zwischen den Juden und den Christen-Juden auf
gerissen, mußten die Christen-Juden die Prozedur der Selbsterhaltung,
welche der jüdische Instinkt erfunden hatte, nochmals und in einer letzten
Steigerung zu ihrer Selbsterhaltung anwenden ); andererseits dadurch, daß
die griechische Philosophie der Moral alles getan hatte, um einen Moral-Fanatismus
selbst unter Griechen und Römern vorzubereiten und schmackhaft zu machen...
Plato, die große Zwischenbrücke der Verderbnis, der zuerst die Natur
in der Moral nicht verstehen wollte, der bereits die griechischen Götter
mit seinem Begriff »gut« entwertet hatte, der bereits jüdisch
angemuckert war ( in Ägypten?).Ders., Der Wille zur Macht, S. 143 |
Diese
kleinen Herdentier-Tugenden führen ganz und gar nicht zum »ewigen Leben«:
sie dergestalt in Szene setzen, und sich mit ihnen, mag sehr klug sein, aber für
den, der hier noch seine Augen auf hat, bleibt es trotz alledem das lächerlichste
aller Schauspiele. Man verdient ganz und gar nicht ein Vorrecht auf Erden und
im Himmel, wenn man es zur Vollkommenheit einer kleinen, lieben Schafsmäßigkeit
gebracht hat; man bleibt damit, günstigenfalls, immer bloß ein kleines,
liebes, absurdes Schaf mit Hörnern vorausgesetzt, daß man nicht
vor Eitelkeit platzt und durch richterliche Attitüden skandalisiert. Die
ungeheure Farben-Verklärung, mit der hier die kleinen Tugenden illuminiert
werden wie als Widerglanz göttlicher Qualitäten! Die natürliche
Absicht und Nützlichkeit jeder Tugend grundsätzlich verschwiegen;
sie ist nur in Hinsicht auf ein göttliches Gebot, ein göttliches Vorbild
wertvoll, nur in Hinsicht auf jenseitige und geistliche Güter. (Prachtvoll:
als ob sichs ums »Heil der Seele« handelte: aber es war ein
Mittel, um es hier mit möglichst viel schönen Gefühlen »auszuhalten«.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 144 |
Der
Krieg gegen die Vornehmen und Mächtigen, wie er im Neuen Testament geführt
wird, ist ein Krieg wie der des Reineke und mit gleichen Mitteln: nur immer
in priesterlicher Salbung und in entschiedener Ablehnung, um seine eigne Schlauheit
zu wissen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 150 |
Das
Evangelium: die Nachricht, daß den Niedrigen und Armen ein Zugang zum Glück
offensteht, daß man nichts zu tun hat als sich von der Institution,
der Tradition, der Bevormundung der oberen Stände loszumachen: insofern ist
die Heraufkunft des Christentums nichts weiter als die typische Sozialisten-Lehre.
Eigentum, Erwerb, Vaterland, Stand und Rang, Tribunale, Polizei, Staat, Kirche,
Unterricht, Kunst, Militärwesen: alles ebenso viele Verhinderungen des Glücks,
Irrtümer, Verstrickungen, Teufelswerke, denen das Evangelium das Gericht
ankündigt alles typisch für die Sozialisten-Lehre. Im Hintergründe
der Aufruhr, die Explosion eines aufgestauten Widerwillens gegen die »Herren«,
der Instinkt dafür, wie viel Glück nach so langem Drucke schon im Frei-sich-fühlen
liegen könnte... (Meistens ein Symptom davon, daß die unteren Schichten
zu menschenfreundlich behandelt worden sind, daß sie ein ihnen verbotenes
Glück bereits auf der Zunge schmecken .... Nicht der Hunger erzeugt Revolutionen,
sondern daß das Volk en mangeant Appetit bekommen hat ....)Ders., Der Wille zur Macht, S. 150-151 |
Das
Christentum ist jeden Augenblick noch möglich. Es ist an keines der unverschämten
Dogmen gebunden, welche sich mit seinem Namen geschmückt haben: es braucht
weder die Lehre vom persönlichen Gott, noch von der Sünde,
noch von der Unsterblichkeit, noch von der Erlösung, noch vom
Glauben; es hat schlechterdings keine Metaphysik nötig, noch weniger
den Asketismus, noch weniger eine christliche »Naturwissenschaft«.
Das Christentum ist eine Praxis, keine Glaubenslehre. Es sagt uns wie wir
handeln, nicht was wir glauben sollen. Wer jetzt sagte »ich will nicht Soldat
sein«, »ich kümmere mich nicht um die Gerichte«, »die
Dienste der Polizei werden von mir nicht in Anspruch genommen«, »ich
will nichts tun, was den Frieden in mir selbst stört: und wenn ich daran
leiden muß, nichts wird mehr mir den Frieden erhalten als Leiden«
der wäre Christ.Ders., Der Wille zur Macht, S. 152 |
Zur
Geschichte des Christentums. Fortwährende Veränderung des
Milieus: die christliche Lehre verändert damit fortwährend ihr Schwergewicht
.... Die Begünstigung der Niederen und kleinen Leute .... Die
Entwicklung der Caritas .... Der Typus »Christ« nimmt schrittweise
alles wieder an, was er ursprünglich negierte (in dessen Negation er bestand
). Der Christ wird Bürger, Soldat, Gerichtsperson, Arbeiter, Handelsmann,
Gelehrter, Theolog, Priester, Philosoph, Landwirt, Künstler, Patriot, Politiker,
»Fürst« ..., er nimmt alle Tätigkeiten wieder auf, die er
abgeschworen hat ( die Selbstverteidigung, das Gerichthalten, das Strafen,
das Schwören, das Unterscheiden zwischen Volk und Volk, das Geringschätzen,
das Zürnen ...). Das ganze Leben des Christen ist endlich genau das Leben,
von dem Christus die Loslösung predigte .... Die Kirche gehört
so gut zum Triumph des Antichristlichen, wie der moderne Staat, der moderne Nationalismus
.... Die Kirche ist die Barbarisierung des Christentums.Ders., Der Wille zur Macht, S. 153 |
Über
das Christentum Herr geworden: der Judaismus (Paulus); der Platonismus (Augustin);
die Mysterienkulte (Erlösungslehre, Sinnbild des »Kreuzes«);
der Asketismus ( Feindschaft gegen die »Natur«, »Vernunft«,
»Sinne«, Orient...).Ders., Der Wille zur Macht, S. 153 |
Das
Christentum als eine Entnatürlichung der Herdentier-Moral: unter absolutem
Mißverständnis und Selbstverblendung. Die Demokratisierung ist eine
natürlichere Gestalt derselben, eine weniger verlogene. Tatsache:
die Unterdrückten, die Niedrigen, die ganze große Menge von Sklaven
und Halbsklaven wollen zur Macht.Erste
Stufe: sie machen sich frei sie lösen sich aus, imaginär zunächst,
sie erkennen sich untereinander an, sie setzen sich durch.Zweite
Stufe: sie treten in Kampf, sie wollen Anerkennung, gleiche Rechte, »Gerechtigkeit«.Dritte
Stufe: sie wollen die Vorrechte ( sie ziehen die Vertreter der Macht zu
sich hinüber).Vierte Stufe: sie wollen die
Macht allein, und sie haben sie ....Im Christentum
sind drei Elemente zu unterscheiden:a)
die Unterdrückten aller Art,b) die Mittelmäßigen
aller Art,c) die Unbefriedigten und Kranken aller
Art.Mit dem ersten Element kämpft es gegen
die politisch Vornehmen und deren Ideal; mit dem zweiten Element gegen die Ausnahmen
und Privilegierten (geistig, sinnlich ) jeder Art; mit dem dritten Element
gegen den Natur-Instinkt der Gesunden und Glücklichen. Wenn es zum
Siege kommt, so tritt das zweite Element in den Vordergrund; denn dann hat das
Christentum die Gesunden und Glücklichen zu sich überredet (als Krieger
für seine Sache), insgleichen die Mächtigen (als interessiert wegen
der Überwältigung der Menge), und jetzt ist es der Herden-Instinkt,
die in jedem Betracht wertvolle Mittelmaß-Natur, die ihre höchste Sanktion
durch das Christentum bekommt. Diese Mittelmaß-Natur kommt endlich so weit
sich zum Bewußtsein ( gewinnt den Mut zu sich ), daß sie
auch politisch sich die Macht zugesteht .... Die Demokratie ist das vernatürlichte
Christentum: eine Art »Rückkehr zur Natur«, nachdem es durch
eine extreme Antinatürlichkeit von der entgegengesetzten Wertung überwunden
werden konnte. Folge: das aristokratische Ideal entnatürlicht sich
nunmehr (»der höhere Mensch«, »vornehm«, »Künstler«,
»Leidenschaft«, »Erkenntnis«; Romantik als Kultus der
Ausnahme, Genie usw.).Ders., Der Wille zur Macht, S. 154-155 |
Krieg
gegen das christliche Ideal, gegen die Lehre von der »Seligkeit«
und dem »Heil« als Ziel des Lebens, gegen die Suprematie der Einfältigen,
der reinen Herzen, der Leidenden und Mißglückten. Wann und wo hat je
ein Mensch, der in Betracht kommt, jenem christlichen Ideal ähnlich
gesehen? Wenigstens für solche Augen, wie sie ein Psycholog und Nierenprüfer
haben muß! man blättere alle Helde Plutarchs durch.Ders., Der Wille zur Macht, S. 156 |
Wir
haben das christliche Ideal wieder hergestellt: es bleibt übrig, seinen
Wert zu bestimmen:1. Welche Werte werden
durch dasselbe negiert? Was enthält das Gegensatz-Ideal?
Stolz, Pathos der Distanz, die große Verantwortung, den Übermut, die
prachtvolle Animalität, die kriegerischen und eroberungslustigen Instinkte,
die Vergöttlichung der Leidenschaft, der Rache, der List, des Zorns, der
Wollust, des Abenteuers, der Erkenntnis ; das vornehme Ideal wird negiert:
Schönheit, Weisheit, Macht, Pracht und Gefährlichkeit des Typus Mensch:
der Ziele setzende, der »zukünftige« Mensch ( hier ergibt
sich die Christlichkeit als Schlußolgerung des Judentums ).2.
Ist es realisierbar? Ja, doch klimatisch bedingt, ähnlich wie
das indische. Beiden fehlt die Arbeit. Es löst heraus aus Volk, Staat,
Kultur-Gemeinschaft, Gerichtsbarkeit, es lehnt den Unterricht, das Wissen, die
Erziehung zu guten Manieren, den Erwerb, den Handel ab... es löst alles ab,
was den Nutzen und Wert des Menschen ausmacht es schließt ihn durch
eine Gefühls-Idiosynkrasie ab. Unpolitisch, antinational, weder aggressiv
noch defensiv, nur möglich innerhalb des festgeordnetsten Staats-
und Gesellschaftslebens, welches diese heiligen Parasiten auf allgemeine
Unkosten wuchern läßt ....3. Es bleibt
eine Konsequenz des Willens zur Lust und zu nichts weiter! Die »Seligkeit«
gilt als etwas, das sich selbst beweist, das keine Rechtfertigung mehr braucht,
alles übrige (die Art leben und leben lassen) ist nur Mittel zum Zweck
....Aber das ist niedrig gedacht: die
Furcht vor dem Schmerz, vor der Verunreinigung, vor der Verderbnis selbst als
ausreichendes Motiv, alles fahren zu lassen .... Dies ist eine arme Denkweise,
Zeichen einer erschöpften Rasse; man soll sich nicht täuschen
lassen. (»Werdet wie die Kinder« . Die verwandte Natur:
Franz von Assisi, neurotisch, epileptisch, Visionär, wie Jesus.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 157-158 |
Der
höhere Mensch unterscheidet sich von dem niederen in Hinsicht
auf die Furchtlosigkeit und die Herausforderung des Unglücks: es ist ein
Zeichen von Rückgang, wenn eudämonistische Wertmaße als oberste
zu gelten anfangen ( physiologische Ermüdung, Willens- Verarmung).
Das Christentum mit seiner Perspektive auf »Seligkeit« ist eine typische
Denkweise für eine leidende und verarmte Gattung Mensch. Eine volle Kraft
will schaffen, leiden, untergehn: ihr ist das christliche Mucker-Heil eine schlechte
Musik und hieratische Gebärden ein Verdruß.Ders., Der Wille zur Macht, S. 158 |
Gott
schuf den Menschen glücklich, müßig, unschuldig und unsterblich:
unser wirkliches Leben ist ein falsches, abgefallenes, sündhaftes Dasein,
eine Straf-Existenz .... Das Leiden, der Kampf, die Arbeit, der Tod werden als Einwände
und Fragezeichen gegen das Leben abgeschätzt, als etwas Unnatürliches,
etwas, das nicht dauern soll; gegen das man Heilmittel braucht und hat!
.... Die Menschheit hat von Adam an bis jetzt sich in einem unnormalen Zustande
befunden: Gott selbst hat seinen Sohn für die Schuld Adams hergegeben, um
diesem unnormalen Zustande ein Ende zu machen: der natürliche Charakter des
Lebens ist ein Fluch; Christus gibt dem, der an ihn glaubt, den Normal-Zustand
zurück: er macht ihn glücklich, müßig und unschuldig.
Aber die Erde hat nicht angefangen, fruchtbar zu sein ohne Arbeit; die Weiber
gebären nicht ohne Schmerzen Kinder; die Krankheit hat nicht aufgehört;
die Gläubigsten befinden sich hier so schlecht wie die Ungläubigsten.
Nur daß der Mensch vom Tode und von der Sünde befreit ist Behauptungen,
die keine Kontrolle zulassen , das hat die Kirche um so bestimmter behauptet.
»Er ist frei von Sünde« nicht durch sein Tun, nicht durch
einen rigorosen Kampf seinerseits, sondern durch die Tat der Erlösung
freigekauft folglich vollkommen, unschuldig, paradiesisch .... Das
wahre Leben nur ein Glaube (d. h. ein Selbstbetrug, ein Irrsinn). Das ganze ringende,
kämpfende, wirkliche Dasein voll Glanz und Finsternis nur ein schlechtes,
falsches Dasein: von ihm erlöst werden ist die Aufgabe. »Der Mensch
unschuldig, müßig, unsterblich, glücklich« diese
Konzeption der »höchsten Wünschbarkeit« ist vor allem zu
kritisieren. Warum ist die Schuld, die Arbeit, der Tod, das Leiden (und,
christlich geredet, die Erkenntnis ...) wider die höchste Wünschbarkeit?
Die faulen christlichen Begriffe »Seligkeit«, »Unschuld«,
»Unsterblichkeit« .Ders., Der Wille zur Macht, S. 159-160 |
Es
fehlt der exzentrische Begriff der »Heiligkeit«, »Gott«
und »Mensch« sind nicht auseinandergerissen. Das »Wunder«
fehlt es gibt gar nicht jene Sphäre: die einzige, die in Betracht
kommt, ist die »geistliche« (d.h. symbolisch-psychologische). Als
décadence: Seitenstück zum »Epikureismus«... Das Paradies,
nach griechischem Begriff, auch nur der »Garten Epikurs«. Es fehlt
die Aufgabe in einem solchen Leben: es will nichts; eine
Form der »epikurischen Götter«; es fehlt aller Grund,
noch Ziele zu setzen, Kinder zu haben: Alles ist erreicht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 160 |
Der Kampf gegen die brutalen Instinkte ist ein anderer,
als der Kampf gegen die krankhaften Instinkte; es lann selbst ein MIttel
sein, um über die Brutalität Herr zu werden, krank zu machen.
Die psychologische Behandlung im Christentum läuft oft darauf hinaus, aus
einem Vieh ein krankes und folglich zahmes Tier zu machen. Der Kampf gegen rohe
und wüste Naturen muß ein Kampf mit Mitteln sein, die auf sie wirken:
die abergläubischen Mittel sind unersetzlich und unerläßlich
....Ders., Der Wille zur Macht, S. 180 |
Unser
Zeitalter ist in einem gewissen Sinne reif (nämlich dekadent), wie
es die Zeit Buddhas war .... Deshalb ist eine Christlichkeit ohne die absurden
Dogmen möglich (die widerlichen Ausgeburten des antiken Hybridismus).Ders., Der Wille zur Macht, S. 180 |
Gesetzt
selbst, daß ein Gegenbeweis des christlichen Glaubens nicht geführt
werden könnte, hielt Pascal doch in Hinsicht auf eine furchtbare Möglichkeit,
daß er dennoch wahr sei, es für klug im höchsten Sinne, Christ
zu sein. Heute findet man, zum Zeichen, wie sehr das Christentum an Furchtbarkeit
eingebüßt hat, jenen andern Versuch seiner Rechtfertigung, daß
selbst, wenn er ein Irrtum wäre, man zeitlebens doch den großen Vorteil
und Genuß dieses Irrtums habe: es scheint also, daß gerade
um seiner beruhigenden Wirkungen willen dieser Glaube aufrechterhalten werden
solle also nicht aus Furcht vor einer drohenden Möglichkeit, vielmehr
aus Furcht vor einem Leben, dem ein Reiz abgeht. Diese hedonische Wendung, der
Beweis aus der Lust, ist ein Symptom des Niedergangs: er ersetzt den Beweis aus
der Kraft, aus dem, was an der christlichen Idee Erschütterung ist, aus der
Furcht. Tatsächlich nähert sich in dieser Umdeutung das Christentum
der Erschöpfung: man begnügt sich mit einem opiatischen Christentum,
weil man weder zum Suchen, Kämpfen, Wagen, Alleinstehen-wollen die Kraft
hat noch zum Pascalismus, zu dieser grüblerischen Selbstverachtung, zum Glauben
an die menschliche Unwürdigkeit, zur Angst des »Vielleicht-Verurteilten«.
Aber ein Christentum, das vor allem kranke Nerven beruhigen soll, hat jene furchtbare
Lösung eines »Gottes am Kreuze« überhaupt nicht nötig:
weshalb im stillen überall der Buddhismus in Europa Fortschritte macht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 180-171 |
Damit,
daß das Christentum die Lehre von der Uneigennützigkeit und Liebe in
den Vordergrund gerückt hat, hat es durchaus noch nicht das Gattungs-Interesse
für höherwertig angesetzt als das Individual-Interesse. Seine eigentlich
historische Wirkung, das Verhängnis von Wirkung bleibt umgekehrt gerade die
Steigerung des Egoismus, des Individual-Egoismus bis ins Extrem (
bis zum Extrem der Individual-Unsterblichkeit). Der einzelne wurde durch das Christentum
so wichtig genommen, so absolut gesetzt, daß man ihn nicht mehr opfern
konnte: aber die Gattung besteht nur durch Menschenopfer .... Vor Gott wurden
alle »Seelen« gleich: aber das ist gerade die gefährlichste aller
möglichen Wertschätzungen! Setzt man die einzelnen gleich, so stellt
man die Gattung in Frage, so begünstigt man eine Praxis, welche auf den Ruin
der Gattung hinausläuft: das Christentum ist das Gegenprinzip gegen die
Selektion. Wenn der Entartende und Kranke (»der Christ«) so viel
Wert haben soll wie der Gesunde (»der Heide«), oder gar noch mehr,
nach Pascals Urteil über Krankheit und Gesundheit, so ist der natürliche
Gang der Entwicklung gekreuzt und die Unnatur zum Gesetz gemacht .... Diese
allgemeine Menschenliebe ist in praxi die Bevorzugung alles Leidenden,
Schlechtweggekommenen, Degenerierten: sie hat tatsächlich die Kraft, die
Verantwortlichkeit, die hohe Pflicht, Menschen zu opfern, heruntergebracht und
abgeschwächt. Es blieb nach dem Schema des christlichen Wertmaßes nur
noch übrig, sich selbst zu opfern: aber dieser Rest von Menschenopfer, den
das Christentum konzedierte und selbst anriet, hat, vom Standpunkte der Gesamt-Züchtung
aus, gar keinen Sinn. Es ist für das Gedeihen der Gattung gleichgültig,
ob irgendwelche einzelne sich selbst opfern ( sei es in mönchischer
und asketischer Manier oder, mit Hilfe von Kreuzen, Scheiterhaufen und Schafotten,
als »Märtyrer« des Irrtums). Die Gattung braucht den Untergang
der Mißratenen, Schwachen, Degenerierten: aber gerade an sie wendete sich
das Christentum, als konservierende Gewalt; sie steigerte noch jenen an
sich schon so mächtigen Instinkt der Schwachen, sich zu schonen, sich zu
erhalten, sich gegenseitig zu halten. Was ist die »Tugend« und »Menschenliebe«
im Christentum, wenn nicht eben diese Gegenseitigkeit der Erhaltung, diese Solidarität
der Schwachen, diese Verhinderung der Selektion? Was ist der christliche Altruismus,
wenn nicht der Massen-Egoismus der Schwachen, welcher errät, daß, wenn
alle füreinander sorgen, jeder einzelne am längsten erhalten bleibt?
.... Wenn man eine solche Gesinnung nicht als eine extreme Unmoralität,
als ein Verbrechen am Leben empfindet, so gehört man zur kranken Bande und
hat selber deren Instinkte... Die echte Menschenliebe verlangt das Opfer zum Besten
der Gattung sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie
das Menschenopfer braucht. Und diese Pseudo-Humanität, die Christentum heißt,
will gerade durchsetzen, daß niemand geopfert wird ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 174-176 |
Nichts
wäre nützlicher und mehr zu fördern als ein konsequenter Nihilismus
der Tat. So wie ich alle Phänomene des Christenthums, des Pessimismus
verstehe, so drücken sie aus: »wir sind reif, nicht zu sein; für
uns ist es vernünftig, nicht zu sein«. Diese Sprache der »Vernunft«
wäre in diesem Falle auch die Sprache der selektiven Natur. Was über
alle Begriffe dagegen zu verurteilen ist, das ist die zweideutige und feige Halbheit
einer Religion, wie die des Christenthums: deutlicher, der Kirche: welche, statt
zum Tode und zur Selbstvernichtung zu ermutigen, alles Mißrathene und Kranke
schützt und sich selbst fortpflanzen macht. Problem: mit was für
Mitteln würde eine strenge Form des großen kontagiösen Nihilism
erzielt werden: eine solche, welche, mit wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit,
den freiwilligen Tod lehrt und übt ... (und nicht das schwächliche Fortvegetieren
mit Hinsicht auf eine falsche Postexistenz ). Man kann das Christentum nicht
genug verurteilen, weil es den Wert einer solchen reinigenden großen
Nihilismus-Bewegung, wie sie vielleicht im Gange war, durch den Gedanken der unsterblichen
Privat-Person entwertet hat: insgleichen durch die Hoffnung auf Auferstehung:
kurz, immer durch ein Abhalten von der Tat des Nihilismus, dem Selbstmord
.... Es substituirte den langsamen Selbstmord; allmählich ein kleines armes
aber dauerhaftes Leben; allmählich ein ganz gewöhnliches bürgerliches
mittelmäßiges Leben usw..Ders., Der Wille zur Macht, S. 176-177 |
Die
christlichen Moral-Quacksalber. Mitleid und Verachtung folgen sich
in schnellem Wechsel, und mitunter bin ich empört, wie beim Anblick eines
schnöden Verbrechens. Hier ist der Irrtum zur Pflicht gemacht zur
Tugend , der Fehlgriff ist Handgriff geworden, der Zerstörer-Instinkt
systematisiert als »Erlösung«; hier wird aus jeder Operation
eine Verletzung, eine Ausschneidung selbst von Organen, deren Energie die Voraussetzung
jeder Wiederkehr der Gesundheit ist. Und bestenfalls wird nicht geheilt, sondern
nur eine Symptomen-Reihe des Übels in eine andere eingetauscht... Und dieser
gefährliche Unsinn, das System der Schändung und Verschneidung des Lebens
gilt als heilig, als unantastbar; in seinem Dienste leben, Werkzeug dieser Heilkunst
sein, Priester sein hebt heraus, macht ehrwürdig, macht heilig und
unantastbar selbst. Nur die Gottheit kann die Urheberin dieser höchsten Heilkunst
sein: nur als Offenbarung ist die Erlösung begreiflich, als Akt der Gnade,
als unverdientestes Geschenk, das der Kreatur gemacht ist.Erster
Satz: die Gesundheit der Seele wird als Krankheit angesehen, mißtrauisch
....Zweiter Satz: die Voraussetzungen für
ein starkes und blühendes Leben, die starken Begehrungen und Leidenschaften,
gelten als Einwände gegen ein starkes und blühendes Leben.Dritter
Satz: Alles, woher dem Menschen Gefahr droht, alles, was über ihn Herr werden
und ihn zugrunde richten kann, ist böse, ist verwerflich ist mit der
Wurzel aus seiner Seele auszureißen.Vierter
Satz: der Mensch, ungefährlich gemacht, gegen sich und andre, schwach, niedergeworfen
in Demut und Bescheidenheit, seiner Schwäche bewußt, der »Sünder«,
das ist der wünschbarste Typus, der, welchen man mit einiger Chirurgie
der Seele auch herstellen kann ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 177-178 |
Wogegen
ich protestiere? Daß man nicht diese kleine Mittelmäßigkeit,
dieses Gleichgewicht einer Seele, welche nicht die großen Antriebe der großen
Krafthäufungen kennt, als etwas Hohes nimmt, womöglich gar als Maß
des Menschen. Bacon von Verulam sagt: Infimarum virtutum apud vulgus laus
est, mediarum admiratio, suprematum sensus nullus. Das Christentum aber gehört,
als Religion, zum vulgus: es hat für die höchste Gattung virtus
keinen Sinn.Ders., Der Wille zur Macht, S. 178 |
Sehen
wir, was »der echte Christ« mit alledem anfängt, was seinem Instinkte
sich widerrät: die Beschmutzung und Verdächtigung des
Schönen, des Glänzenden, des Reichen, des Stolzen, des Selbstgewissen,
des Erkennenden, des Mächtigen in summa der ganzen Kultur: seine Absicht
geht dahin, ihr das gute Gewissen zu nehmen ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 178 |
Man
hat bisher das Christentum immer auf eine falsche, und nicht bloß schüchterne
Weise angegriffen. Solange man nicht die Moral des Christentums als Kapitalverbrechen
am Leben empfindet, haben dessen Verteidiger gutes Spiel. Die Frage der bloßen
»Wahrheit« des Christentums sei es in Hinsicht auf die Existenz
seines Gottes oder die Geschichtlichkeit seiner Entstehungslegende, gar nicht
zu reden von der christlichen Astronomie und Naturwissenschaft ist eine
ganz nebensächliche Angelegenheit, solange die Wertfrage der christlichen
Moral nicht berührt ist. Taugt die Moral des Christentums etwas
oder ist sie eine Schändung und Schmach trotz aller Heiligkeit der Verführungskünste?
Es gibt Schlupfwinkel jeder Art für das Problem von der Wahrheit; und die
Gläubigsten können zuletzt sich der Logik der Ungläubigsten bedienen,
um sich ein Recht zu schaffen, gewisse Dinge als unwiderlegbar zu affirmieren
nämlich als jenseits der Mittel aller Widerlegung ( dieser
Kunstgriff heißt sich heute »Kantischer Kritizismus«).Ders., Der Wille zur Macht, S. 179 |
Man
soll es dem Christentum nie vergeben, daß es solche Menschen wie Pascal
zugrunde gerichtet hat. Man soll nie aufhören, eben dies am Christentum zu
bekämpfen, daß es den Willen dazu hat, gerade die stärksten und
vornehmsten Seelen zu zerbrechen. Man soll sich nie Frieden geben, solange dies
eine noch nicht in Grund und Boden zerstört ist: das Ideal vom Menschen,
welches vom Christentum erfunden worden ist, seine Forderungen an den Menschen,
sein Nein und sein Ja in Hinsicht auf den Menschen. Der ganze absurde Rest von
christlicher Fabel, Begriffs-Spinneweberei und Theologie geht uns nichts an; er
könnte noch tausendmal absurder sein, und wir würden nicht einen Finger
gegen ihn aufheben. Aber jenes Ideal bekämpfen wir, das mit seiner krankhaften
Schönheit und Weibs- Verführung, mit seiner heimlichen Verleumder-Beredsamkeit
allen Feigheiten und Eitelkeiten müdgewordner Seelen zuredet und die
Stärksten haben müde Stunden , wie als ob alles das, was in solchen
Zuständen am nützlichsten und wünschbarsten scheinen mag, Vertrauen,
Arglosigkeit, Anspruchslosigkeit, Geduld, Liebe zu seinesgleichen, Ergebung, Hingebung
an Gott, eine Art Abschirrung und Abdankung seines ganzen Ichs, auch an sich das
Nützlichste und Wünschbarste sei; wie als ob die kleine bescheidene
Mißgeburt von Seele, das tugendhafte Durchschnittstier und Herdenschaf Mensch
nicht nur den Vorrang vor der stärkeren, böseren, begehrlicheren, trotzigeren,
verschwenderischeren und darum hundertfachgefährdeteren Art Mensch habe,
sondern geradezu für den Menschen überhaupt das Ideal, das Ziel, das
Maß, die höchste Wünschbarkeit abgebe. Diese Aufrichtung
eines Ideals war bis her die unheimlichste Versuchung, welcher der Mensch ausgesetzt
war: denn mit ihm drohte den stärker geratenen Ausnahmen und Glücksfällen
von Mensch, in denen der Wille zur Macht und zum Wachstum des ganzen Typus Mensch
einen Schritt vorwärts tut, der Untergang; mit seinen Werten sollte das Wachstum
jener Mehr-Menschen an der Wurzel angegraben werden, welche um ihrer höheren
Ansprüche und Aufgaben willen freiwillig auch ein gefährlicheres Leben
(ökonomisch ausgedrückt: Steigerung der Unternehmer-Kosten ebenso sehr
wie der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens) in den Kauf nehmen. Was wir am Christentum
bekämpfen? Daß es die Starken zerbrechen will, daß es ihren Mut
entmutigen, ihre schlechten Stunden und Müdigkeiten ausnützen, ihre
stolze Sicherheit in Unruhe und Gewissensnot verkehren will, daß es die
vornehmen Instinkte giftig und krankzumachen versteht, bis sich ihre Kraft, ihr
Wille zur Macht rückwärts kehrt, gegen sich selber kehrt bis
die Starken an den Ausschweifungen der Selbstverachtung und der Selbstmißhandlung
zugrunde gehen: jene schauerliche Art des Zugrundegehens, deren berühmtestes
Beispiel Pascal abgibt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 179-181 |
Versuch,
über Moral zu denken, ohne unter ihrem Zauber zu stehen, mißtrauisch
gegen die Überlistung ihrer schönen Gebärden und Blicke. Eine Welt,
die wir verehren können, die unserem anbetenden Triebe gemäß ist
die sich fortwährend beweist durch Leitung des einzelnen
und allgemeinen : dies ist die christliche Anschauung, aus der wir alle
stammen. Durch ein Wachstum an Schärfe, Mißtrauen, Wissenschaftlichkeit
(auch durch einen höher gerichteten Instinkt der Wahrhaftigkeit, also unter
wieder christlichen Einwirkungen) ist diese Interpretation uns immer mehr unerlaubt
geworden. Feinster Ausweg: der Kantische Kritizismus. Der Intellekt stritt sich
selbst das Recht ab sowohl zur Interpretation in jenem Sinne als auch zur Ablehnung
der Interpretation in jenem Sinne. Man begnügt sich mit einem Mehr von
Vertrauen und Glauben, mit einem Verzichtleisten auf alle Beweisbarkeit seines
Glaubens, mit einem unbegreiflichen und überlegenen »Ideal« (Gott)
die Lücke auszufüllen. Der Hegelsche Ausweg, im Anschluß an Plato,
ein Stück Romantik und Reaktion, zugleich das Symptom des historischen Sinns,
einer neuen Kraft: der »Geist« selbst ist das »sich enthüllende
und verwirklichende Ideal«: im »Prozeß«, im »Werden«
offenbart sich ein immer Mehr von diesem Ideal, an das wir glauben , also
das Ideal verwirklicht sich, der Glaube richtet sich auf die Zukunft, in
der er seinem edlen Bedürfnisse nach anbeten kann. Kurz,1.
Gott ist uns unerkennbar und unnachweisbar (Hintersinn der erkenntnis-theoretischen
Bewegung);2. Gott ist nachweisbar, aber als etwas
Werdendes, und wir gehören dazu, eben mit unsrem Drang zum Idealen (Hintersinn
der historisierenden Bewegung).Man sieht: es
ist niemals die Kritik an das Ideal selbst gerückt, sondern nur an
das Problem, woher der Widerspruch gegen dasselbe kommt, warum es noch nicht erreicht
oder warum es nicht nachweisbar im kleinen und großen ist. Es macht den
größten Unterschied: ob man aus der Leidenschaft heraus, aus einem
Verlangen heraus, diesen Notstand als Notstand fühlt oder ob man ihn mit
der Spitze des Gedankens und einer gewissen Kraft der historischen Imagination
gerade noch als Problem erreicht. Abseits von der religiös-philosophischen
Betrachtung finden wir dasselbe Phänomen: der Utilitarismus (der Sozialismus,
der Demokratismus) kritisiert die Herkunft der moralischen Wertschätzungen,
aber er glaubt an sie, ebenso wie der Christ. (Naivität, als ob Moral
übrigbliebe, wenn der sanktionierende Gott fehlt! Das Jenseits« absolut
notwendig, wenn der Glaube an Moral aufrechterhalten werden soll.) Grundproblem:
woher diese Allgewalt des Glaubens? des Glaubens an die Moral? (
der sich auch darin verrät, daß selbst die Grundbedingungen des Lebens
zugunsten der Moral falsch interpretiert werden: trotz Kenntnis der Tierwelt und
Pflanzenwelt. Die »Selbsterhaltung«; darwinistische Perspektive auf
Versöhnung altruistischer und egoistischer Prinzipien.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 182-184 |
Die
Frage nach der Herkunft unsrer Wertschätzungen und Gütertafeln
fällt ganz und gar nicht mit deren Kritik zusammen, wie so oft geglaubt
wird: so gewiß auch die Einsicht in irgendeine pudenda origo für das
Gefühl eine Wertverminderung der so entstandnen Sache mit sich bringt und
gegen dieselbe eine kritische Stimmung und Haltung vorbereitet.Ders., Der Wille zur Macht, S. 184 |
Was
sind unsre Wertschätzungen und moralischen Gütertafeln selber wert?
Was kommt bei ihrer Herrschaft heraus? Für wen? in bezug worauf?
Antwort: für das Leben. Aber was ist Leben? Hier tut also eine neue,
bestimmtere Fassung des Begriffs »Leben« not. Meine Formel dafür
lautet: Leben ist Wille zur Macht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 184 |
Was
bedeutet das Wertschätzen selbst? weist es auf eine andere, metaphysische
Welt zurück oder hinab? (wie noch Kant glaubte, der vor der großen
historischen Bewegung steht.) Kurz: wo ist es entstanden? Oder ist es nicht
»entstanden«? Antwort: das moralische Wertschätzen ist
eine Auslegung, eine Art zu interpretieren. Die Auslegung selbst ist ein Symptom
bestimmter physiologischer Zustände, ebenso eines bestimmten geistigen Niveaus
von herrschenden Urteilen: Wer legt aus? Unsre Affekte.Ders., Der Wille zur Macht, S. 184 |
Alle
Tugenden physiologische Zustände: .... Alle Tugenden sind eigentlich verfeinerte
Leidenschaften und erhöhte Zustände.Ders., Der Wille zur Macht, S. 184-185 |
Ich
verstehe unter »Moral« ein System von Wertschätzungen, welches
mit den Lebensbedingungen eines Wesens sich berührt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 185 |
Ehemals
sagte man von jeder Moral: »an ihren Früchten solt ihr sie erkennen«.
Ich sage von jeder Moral: »Sie ist eine Frucht, an der ich den Boden
erkenne, aus dem sie wuchs.« Ders., Der Wille zur Macht, S. 185 |
Mein
Versuch, die moralischen Urteile als Symptome und Zeichensprachen zu verstehen,
in denen sich Vorgänge des physiologischen Gedeihens oder Mißratens,
ebenso das Bewußtsein von Erhaltungs- und Wachstumsbedingungen verraten,
eine Interpretations-Weise vom Werte der Astrologie, Vorurteile, denen
Instinkte soufflieren (von Rassen, Gemeinden, von verschiedenen Stufen, wie Jugend
oder Verwelken usw.).Ders., Der Wille zur Macht, S. 185 |
Angewendet auf die speziell christlich-europäische Moral: unsere moralischen
Urteile sind Zeichen von Verfall, von Unglauben an das Leben, eine Vorbereitung
des Pessimismus.Ders., Der Wille zur Macht, S. 185 |
Mein Hauptsatz: es gibt keine moralischen Phänomene, sondern nur eine
moralische Interpretation dieser Phänomene. Diese Interpretation selbst ist
außermoralischen Ursprungs.Ders., Der Wille zur Macht, S. 185-186 |
Was
bedeutet es, daß wir einen Widerspruch in das Dasein hineininterpretiert
haben? Entscheidende Wichtigkeit: hinter allen andern Wertschätzungen
stehen kommandierend jene moralischen Wertschätzungen. Gesetzt, sie fallen
fort, wonach messen wir dann? Und welchen Wert haben dann Erkenntnis usw., usw.???Ders., Der Wille zur Macht, S. 186 |
Einsicht:
bei aller Wertschätzung handelt es sich um eine bestimmte Perspektive: Erhaltung
des Individuums, einer Gemeinde, einer Rasse, eines Staates, einer Kirche, eines
Glaubens, einer Kultur. Vermöge des Vergessens, daß es
nur ein perspektivisches Schätzen gibt, wimmelt alles von widersprechenden
Schätzungen und folglich von widersprechenden Antrieben in einem Menschen.
Das ist der Ausdruck der Erkrankung am Menschen im Gegensatz zum Tiere,
wo alle vorhandenen Instinkte ganz bestimmten Aufgaben genügen. Dies widerspruchsvolle
Geschöpf hat aber an seinem Wesen eine große Methode der Erkenntnis:
er fühlt viele Für und Wider, er erhebt sich zur Gerechtigkeit
zum Begreifen jenseits des Gut- und Böse-Schätzens. Der
weiseste Mensch wäre der reichste an Widersprüchen, der gleichsam Tastorgane
für alle Arten Mensch hat: und zwischeninnen seine großen Augenblicke
grandiosen Zusammenklangs der hohe Zufall auch in uns! Eine Art
planetarischer Bewegung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 186 |
»Wollen« ist gleich Zweck-Wollen. »Zweck«
enthält eine Wertschätzung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 187 |
Umfang
der moralischen Wertschätzungen: sie sind fast in jedem Sinneseindruck mitspielend.
Die Welt ist uns gefärbt dadurch.Ders., Der Wille zur Macht, S. 187 |
Wir
haben die Zwecke und die Werte hineingelegt: wir haben eine ungeheure latente
Kraftmasse dadurch in uns: aber in der Vergleichung der Werte ergibt sich,
daß Entgegengesetztes als wertvoll galt, daß viele Gütertafeln
existierten (also nichts »an sich« wertvoll).Ders., Der Wille zur Macht, S. 187 |
Bei
der Analyse der einzelnen Gütertafeln ergab sich ihre Aufstellung als die
Aufstellung von Existenzbedingungen beschränkter Gruppen (und oft
irrtümlicher): zur Erhaltung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 187 |
Bei
der Betrachtung der jetzigen Menschen ergab sich, daß wir sehr verschiedene
Werturteile handhaben, und daß keine schöpferische Kraft mehr darin
ist die Grundlage: »die Bedingung der Existenz« fehlt dem moralischen
Urteile jetzt. Es ist viel überflüssiger, es ist lange nicht so schmerzhaft.
Es wird willkürlich. Chaos.Ders., Der Wille zur Macht, S. 187 |
Wer
schafft das Ziel, das über der Menschheit stehen bleibt und auch über
dem einzelnen? Ehemals wollte man mit der Moral erhalten: aber niemand will jetzt
mehr erhalten, es ist nichts daran zu erhalten. Also eine versuchende Moral:
sich ein Ziel geben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 187 |
Was
ist das Kriterium der moralischen Handlung? 1. ihre Uneigennützigkeit,
2. ihre Allgemeingültigkeit usw. Aber das ist Stuben-Moralistik. Man muß
die Völker studieren und zusehn, was jedesmal das Kriterium ist, und was
sich darin ausdrückt: ein Glaube »ein solches Verhalten gehört
zu unseren ersten Existenz-Bedingungen«. Unmoralisch heißt »untergang-bringend«.
Nun sind alle diese Gemeinschaften, in denen diese Sätze gefunden wurden,
zugrunde gegangen: einzelne dieser Sätze sind immer von neuem unterstrichen
worden, weil jede neu sich bildende Gemeinschaft sie wieder nötig
hatte, z.B. »Du sollst nicht stehlen«. Zu Zeiten, wo das Gemeingefühl
für die Gesellschaft (z.B. im imperium Romanum) nicht verlangt werden konnte,
warf sich der Trieb aufs »Heil der Seele«, religiös gesprochen:
oder »das größte Glück«, philosophisch geredet. Denn
auch die griechischen Moral-Philosophen empfanden nicht mehr mit ihrer poliV.Ders., Der Wille zur Macht, S. 188 |
Das
Problem der Moral sehen und zeigen das scheint mir die neue
Aufgabe und Hauptsache. Ich bestreite. daß das in der bisherigen Morlaphilosophie
geschehen ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 188 |
Wie
falsch, wie verlogen war die Menschheit immer über die Grundtatsachen ihrer
inneren Welt! Hier kein Auge zu haben, hier den Mund halten und den Mund auftun
....Ders., Der Wille zur Macht, S. 188 |
Es
fehlt das Wissen und Bewußtsein davon, welche Umdrehungen bereits
das moralische Urteil durchgemacht hat und wie wirklich mehrere Male schon im
gründlichsten Sinne »Böse« auf »Gut« umgetauft
worden ist. Auf eine dieser Verschiebungen habe ich mit dem Worte »Sittlichkeit
der Sitte« hingewiesen. Auch das Gewissen hat seine Sphäre vertauscht:
es gab einen Herden-Gewissensbiß.Ders., Der Wille zur Macht, S. 189 |
A. Moral als Werk der Unmoralität.1.
Damit moralische Werte zur Herrschaft kommen, müssen lauter unmoralische
Kräfte und Affekte helfen. 2. Die Entstehung
moralischer Werte ist das Werk unmoralischer Affekte und Rücksichten.
B. Moral als Werk des Irrtums.
C. Moral mit sich selbst allgemach im Widerspruch.Vergeltung.
Wahrhaftigkeit, Zweifel, epoch, Richten. »Unmoralität«
des Glaubens an die Moral.Die Schritte:1.
absolute Herrschaft der Moral; alle biologischen Erscheinungen nach ihr gemessen
und gerichtet. 2. Versuch einer Identifikation
von Leben und Moral (Symptom einer erwachten Skepsis: Moral soll nicht mehr als
Gegensatz gefühlt werden); mehrere Mittel, selbst ein transzendenter Weg.
3. Entgegensetzung von Leben und Moral:
Moral vom Leben aus gerichtet und verurteilt.
D. Inwiefern die Moral dem Leben schädlich war:a)
dem Genuß des Lebens, der Dankbarkeit gegen das Leben usw., b)
der Verschönerung, Veredelung des Lebens, c)
der Erkenntnis des Lebens, d) der Entfaltung
des Lebens, insofern es die höchsten Erscheinungen desselben mit sich
selbst zu entzweien suchte. E. Gegenrechnung:
ihre Nützlichkeit für das Leben.1.
die Moral als Erhaltungsprinzip von größeren Ganzen, als Einschränkung
der Glieder: nützlich für das »Werkzeug«. 2.
die Moral als Erhaltungsprinzip im Verhältnis zur inneren Gefährdung
des Menschen durch Leidenschaften; nützlich für den »Mittelmäßigen«.
3. die Moral als Erhaltungsprinzip gegen die
lebenvernichtenden Einwirkungen tiefer Not und Verkümmerung: nützlich
für den »Leidenden«. 4.
die Moral als Gegenprinzip gegen die furchtbare Explosion der Mächtigen:
nützlich für den »Niedrigen«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 189-190 |
Denken
wir nicht gering von dem, was ein paar Jahrtausende Moral unserm Geiste angezüchtet
haben!Ders., Der Wille zur Macht, S. 190 |
Zwei
Typen der Moral sind nicht zu verwechseln: eine Moral, mit der sich der gesund
gebliebene Instinkt gegen die beginnende décadence wehrt
und eine andere Moral, mit der eben diese décadence sich formuliert,
rechtfertigt und selber abwärts führt. Die erstere pflegt stoisch, hart,
tyrannisch zu sein ( der Stoizismus selbst war eine solche Hemmschuh-Moral);
die andere ist schwärmerisch, sentimental, voller Geheimnisse, sie hat die
Weiber und »schönen Gefühle« für sich ( das erste
Christentum war eine solche Moral).Ders., Der Wille zur Macht, S. 190-191 |
Meine
Absicht, die absolute Homogenität in allem Geschehen zu zeigen und die
Anwendung der moralischen Unterscheidung nur als perspektivisch bedingt;
zu zeigen, wie alles das, was moralisch gelobt wird, wesensgleich mit allem Unmoralischen
ist und nur, wie jede Entwicklung der Moral, mit unmoralischen Mitteln und zu
unmoralischen Zwecken ermöglicht worden ist ; wie umgekehrt alles,
was als unmoralisch in Verruf ist, ökonomisch betrachtet, das Höhere
und Prinzipiellere ist, und wie eine Entwicklung nach größerer Fülle
des Lebens notwendig auch den Fortschritt der Unmoralität bedingt.
»Wahrheit« der Grad, in dem wir uns die Einsicht in diese Tatsache
gestatten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 193-194 |
Zuletzt
sei man ohne Sorge: man braucht nämlich sehr viel Moralität, um in dieser
feinen Weise unmoralisch zu sein; ich will ein Gleichnis gebrauchen: Ein Physiologe,
der sich für eine Krankheit interessiert, und ein Kranker, der von
ihr geheilt werden soll, haben nicht das gleiche Interesse. Nehmen wir einmal
an, daß jene Krankheit die Moral ist denn sie ist eine Krankheit
und daß wir Europäer deren Kranke sind: was für eine feine Qual
und Schwierigkeit wird entstehen, wenn wir Europäer nun zugleich auch deren
neugierige Beobachter und Physiologen sind! Werden wir auch nur ernsthaft wünschen,
von der Moral loszukommen? Werden wir es wollen? Abgesehen von der Frage, ob wir
es können? Ob wir »geheilt« werden können?Ders., Der Wille zur Macht, S. 194 |
Wessen
Wille zur Macht ist die Moral? Das Gemeinsame in der Geschichte Europas
seit Sokrates ist der Versuch, die moralischen Werte zur Herrschaft über
alle anderen Werte zu bringen; so daß sie nicht nur Führer und Richter
des Lebens sein sollen, sondern auch1. der Erkenntnis,2. der Künste,3.
der staatlichen und gesellschaftlichen Bestrebungen.»Besserwerden«
als einzige Aufgabe, alles übrige dazu Mittel (oder Störung, Hemmung,
Gefahr; folglich bis zur Vernichtung zu bekämpfen ...). Eine ähnliche
Bewegung in China. Eine ähnliche Bewegung in Indien.Ders., Der Wille zur Macht, S. 194 |
Was
bedeutet dieser Wille zur Macht seitens der moralischen Werte, der in den ungeheuren
Entwicklungen sich bisher auf der Erde abgespielt hat? Antwort: drei
Mächte sind hinter ihm versteckt:1. der Instinkt der Herde gegen
die Starken und Unabhängigen;2. der Instinkt der Leidenden und Schlechtweggekommenen
gegen die Glücklichen;3. der Instinkt der Mittelmäßigen
gegen die Ausnahmen. Ungeheurer Vorteil dieser Bewegung, wieviel
Grausamkeit, Falschheit und Borniertheit auch in ihr mitgeholfen hat ( : denn
die Geschichte vom Kampf der Moral mit den Grundinstinkten des Lebens ist
selbst die größte Immoralität, die bisher auf Erden dagewesen
ist ...).Ders., Der Wille zur Macht, S. 195 |
Die
großen Dekadenz-Religionen rechnen immer auf die Unterstützung durch
die Herde.Ders., Der Wille zur Macht, S. 200 |
Meine
Philosophie ist auf Rangordnung gerichtet, nicht auf eine individualistische
Moral. Der Sinn der Herde soll in der Herde herrschen, aber nicht über
sie hinausgreifen: die Führer der Herde bedürfen einer grundverschiedenen
Wertung ihrer eignen Handlungen, insgleichen die Unabhängigen, oder die »Raubtiere«
usw..Ders., Der Wille zur Macht, S. 203 |
Es
ist eine Entnatürlichung der Moral, daß man die Handlung abtrennt
vom Menschen; daß man den Haß oder die Verachtung gegen die »Sünde«
wendet; daß man glaubt, es gäbe Handlungen, welche an sich gut oder schlecht sind.
Wiederherstellung der »Natur«: eine Handlung an sich ist vollkommen
leer an Wert: es kommt alles darauf an, wer sie tut. Ein und dasselbe »Verbrechen«
kann in einem Fall das höchste Vorrecht, im andern das Brandmal sein. Tatsächlich
ist es die Selbstsucht der Urteilenden, welche eine Handlung, resp. ihren Täter,
auslegt im Verhältnis zum eigenen Nutzen oder Schaden ( oder im Verhältniß
zur Ähnlichkeit oder Nicht-verwandtschaft mit sich.) Ders., Der Wille zur Macht, S. 206-207 |
Wir
sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbstkreuzigung von zwei Jahrtausenden:
darin ist unsre längste Übung, unsre Meisterschaft vielleicht, unser
Raffinement in jedem Fall; wir haben die natürlichen Hänge mit dem bösen
Gewissen verschwistert. Ein umgekehrter Versuch wäre möglich: die unnatürlichen
Hänge, ich meine die Neigungen zum Jenseitigen, Sinnwidrigen, Denkwidrigen,
Naturwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesamt Welt-Verleumdungs-Ideale
waren, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern.Ders., Der Wille zur Macht, S. 208 |
Moralistischer
Naturalismus: Rückführung des scheinbar emanzipierten, übernatürlichen
Moralwertes auf seine »Natur«: d.h. auf die natürliche Immoralität,
auf die natürliche »Nützlichkeit« usw.. Ich darf die Tendenz
dieser Betrachtungen als moralistischen Naturalismus bezeichnen: meine
Aufgabe ist, die scheinbar emanzipierten und naturlos gewordnen Moralwerte in
ihre Natur zurückzuübersetzen d.h. in ihre natürliche »Immoralität«.
NB. Vergleich mit der jüdischen »Heiligkeit«
und ihrer Naturbasis: ebenso steht es mit dem souverän gemachten Sittengesetz,
losgelöst von seiner Natur ( bis zum Gegensatz zur Natur ). Schritte
der Entnatürlichung der Moral (sogenannten »Idealisierung«:als
Weg zum Individual-Glück,als Folge der Erkenntnis,als
kategorischer Imperativ,als Weg zur Heiligung,als
Verneinung des Willens zum Leben.(Die schrittweise
Lebensfeindlichkeit der Moral.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 210-211 |
Nun
wird kein Philosoph darüber in Zweifel sein, was der Typus der Vollkommenheit
in der Politik ist; nämlich der Macchiavellismus. Aber der Macchiavellismus
pur ... ist übermenschlich, göttlich, transzendent, er wird von Menschen
nie erreicht, höchstens gestreift. Auch in dieser engeren Art von Politik,
in der Politik der Tugend, scheint das Ideal nie erreicht worden zu sein. Auch
Plato hat es nur gestreift. Man entdeckt, gesetzt daß man Augen für
versteckte Dinge hat, selbst noch an den unbefangensten und bewußtesten
Moralisten ( und das ist ja der Name für solche Politiker der
Moral, für jede Art Begründer neuer Moral-Gewalten), Spuren davon, daß
auch sie der menschlichen Schwäche ihren Tribut gezollt haben. Sie alle aspirierten,
zum mindesten in ihrer Ermüdung, auch für sich selbst zur Tugend: erster
und kapitaler Fehler eines Moralisten,als welcher Immoralist der Tat
zu sein hat. Daß er gerade das nicht scheinen darf, ist eine
andere Sache. Oder vielmehr ist es nicht eine andere Sache: es gehört eine
solche grundsätzliche Selbstverleugnung (moralisch ausgedrückt, Verstellung)
mit hinein in den Kanon des Moralisten und seiner eigensten Pflichtenlehre: ohne
sie wird er niemals zu seiner Art Vollkommenheit gelangen. Freiheit von
der Moral, auch von der Wahrheit, um jenes Zieles willen, das jedes Opfer
aufwiegt: Herrschaft der Moral so lautet jener Kanon. Die Moralisten
haben die Attitüde der Tugend nötig, auch die Attitüde der
Wahrheit; ihr Fehler beginnt erst, wo sie der Tugend nachgeben, wo sie die Herrschaft
über die Tugend verlieren, wo sie selbst moralisch werden, wahr
werden. Ein großer Moralist ist, unter anderem, notwendig auch ein großer
Schauspieler; seine Gefahr ist, daß seine Verstellung unversehens Natur
wird, wie es sein Ideal ist, sein esse und sein operari auf eine
göttliche Weise auseinander zu halten; Alles, was er tut, muß er sub
specie boni tun,sein hohes, fernes, anspruchsvolles Ideal! Ein göttliches
Ideal! Und in der Tat geht die Rede, daß der Moralist damit kein geringeres
Vorbild nachahmt als Gott selbst: Gott, diesen größten Immoralisten
der That den es giebt, der aber nichtsdestoweniger zu bleiben versteht, was er
ist, der gute Gott.Ders., Der Wille zur Macht, S. 213-215 |
Mit
der Tugend selbst gründet man nicht die Herrschaft der Tugend; mit der Tugend
selbst verzichtet man auf Macht, verliert den Willen zur Macht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 215 |
Der
Sieg eines moralischen Ideals wird durch dieselben »unmoralischen«
Mittel errungen wie jeder Sieg: gewalt, Lüge, verleumdung, Ungerechtigkeit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 215 |
Die
Moral ist gerade so »unmoralisch« wie jedwedes andre Ding auf Erden;
die Moralität selbst ist eine Form der Unmoralität.Ders., Der Wille zur Macht, S. 215 |
Die
Moral in der Wertung von Rassen und Ständen. In Anbetracht, daß
Affekte und Grundtriebe bei jeder Rasse und bei jedem Stande etwas von ihren
Existenzbedingungen ausdrücken ( zum mindesten von den Bedingungen,
unter denen sie die längste Zeit sich durchgesetzt haben), heißt verlangen,
daß sie »tugendhaft« sind:daß
sie ihren Charakter wechseln, aus der Haut fahren und ihre Vergangenheit auswischen:heißt,
daß sie aufhören sollen, sich zu unterscheiden:heißt,
daß sie in Bedürfnissen und Ansprüchen sich anähnlichen sollen
deutlicher: daß sie zugrunde gehn.Der
Wille zu einer Moral erweist sich somit als die Tyrannei jener Art,
der diese eine Moral auf den Leib geschnitten ist, über andere Arten:
es ist die Vernichtung oder die Uniformierung zugunsten der herrschenden (sei
es, um ihr nicht mehr furchtbar zu sein, sei es, um von ihr ausgenutzt zu werden).
»Aufhebung der Sklaverei« angeblich ein Tribut an die »Menschenwürde«,
in Wahrheit eine Vernichtung einer grundverschiedenen Spezies ( Untergrabung
ihrer Werte und ihres Glücks ). Worin eine gegnerische Rasse
oder ein gegnerischer Stand seine Stärke hat, das wird ihm als sein Bösestes,
Schlimmstes ausgelegt: denn damit schadet er uns ( seine »Tugenden«
werden verleumdet und umgetauft). Es gilt als Einwand gegen Mensch und
Volk, wenn er uns schadet: aber von seinem Gesichtspunkt aus sind wir ihm
erwünscht, weil wir solche sind, von denen man Nutzen haben kann. Die Forderung
der »Vermenschlichung« (welche ganz naiv sich im Besitz der Formel
»was ist menschlich?« glaubt) ist eine Tartüfferie, unter der
sich eine ganz bestimmte Art Mensch zur Herrschaft zu bringen sucht: genauer,
ein ganz bestimmter Instinkt, der Herden-Instinkt. »Gleichheit der
Menschen«: was sich verbirgt unter der Tendenz, immer mehr Menschen als
Menschen gleichzusetzen. Die »Interessiertheit« in Hinsicht
auf die gemeine Moral. (Kunstgriff: die großen Begierden Herrschsucht
und Habsucht zu Protektoren der Tugend zu machen.) Inwiefern alle Art Geschäftsmänner
und Habsüchtige, alles, was Kredit geben und in Anspruch nehmen muß,
es nötig hat, auf gleichen Charakter und gleichen Wertbegriff zu dringen:
der Welt-Handel und -Austausch jeder Art erzwingt und kauft sich
gleichsam die Tugend. Insgleichen der Staat und jede An Herrschaft in Hinsicht
auf Beamte und Soldaten; insgleichen die Wissenschaft, um mit Vertrauen und Sparsamkeit
der Kräfte zu arbeiten. Insgleichen die Priesterschaft.
Hier wird also die gemeine Moral erzwungen, weil mit ihr ein Vorteil errungen
wird; und um sie zum Sieg zu bringen, wird Krieg und Gewalt geübt gegen die
Unmoralität nach welchem »Rechte«? Nach gar keinem Rechte:
sondern gemäß dem Selbsterhaltungsinstinkt. Dieselben Klassen bedienen
sich der Immoralität, wo sie ihnen nützt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 217-219 |
Moralinfreie Tugend ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 221 |
Die
Begierde vergrößert das, was man haben will; sie wächst
selbst durch Nichterfüllung, die größten Ideen sind
die, welche die heftigste und längste Begierde geschaffen hat. Wir legen
den Dingen immer mehr Wert bei, je mehr unsre Begierde nach ihnen wächst:
wenn die »moralischen Werte« die höchsten Werte geworden sind,
so verrät dies, daß das moralische Ideal das unerfüllteste
gewesen ist ( insofern es galt als Jenseits alles Leids, als Mittel
der Seligkeit). Die Menschheit hat mit immer wachsender Brunst nur Wolken umarmt:
sie hat endlich ihre Verzweiflung, ihr Unvermögen »Gott« genannt
....Ders., Der Wille zur Macht, S. 231 |
Die
Naivität in Hinsicht auf die letzten »Wünschbarkeiten«,
während amn das »Warum« des Menschen nicht kennt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 231 |
Was
ist die Falschmünzerei an der Moral? Sie gibt vor, etwas zu wissen,
nämlich was »gut und böse« sei. Das heißt wissen wollen,
wozu der Mensch da ist, sein Ziel, seine Bestimmung zu kennen. Das heißt
wissen wollen, daß der Mensch ein Ziel, eine Bestimmung habe.Ders., Der Wille zur Macht, S. 231 |
Daß
die Menschheit eine Gesamtaufgabe zu lösen habe, daß sie als Ganzes
irgendeinem Ziel entgegenlaufe, diese sehr unklare und willkürliche Vorstellung
ist noch sehr jung. Vielleicht wird man sie wieder los, bevor sie eine »fixe
Idee« wird... Sie ist kein Ganzes, diese Menschheit: sie ist eine unlösbare
Vielheit von aufsteigenden und niedersteigenden Lebensprozessen, sie hat
nicht eine Jugend und darauf eine Reife und endlich ein Alter.
Sondern die Schichten liegen durcheinander und übereinander und in
einigen Jahrtausenden kann es immer noch jüngere Typen Mensch geben, als
wir sie heute nachweisen können. Die décadence andererseits gehört
zu allen Epochen der Menschheit: überall gibt es Auswurf- und Verfalls-Stoffe,
es ist ein Lebensprozeß selbst, das Ausscheiden der Niedergangs- und Abfalls-
Gebilde.Ders., Der Wille zur Macht, S. 232 |
Unter
der Gewalt des christlichen Vorurteils gab es diese Frage gar nicht: der
Sinn lag in der Errettung der einzelnen Seele; das Mehr oder Weniger in der Dauer
der Menschheit kam nicht in Betracht. Die besten Christen wünschten, daß
es möglichst bald ein Ende habe; über das, was dem einzelnen
not tue, gab es keinen Zweifel .... Die Aufgabe stellte sich jetzt für
jeden einzelnen, wie in irgendwelcher Zukunft für einen Zukünftigen:
der Wert, Sinn, Umkreis der Werte war fest, unbedingt, ewig, eins mit Gott ....
Das, was von diesem ewigen Typus abwich, war sündlich, teuflisch, verurteilt
.... Das Schwergewicht des Wertes lag für jede Seele in sich selber: Heil
oder Verdammnis! Das Heil der ewigen Seele! Extremste Form der Verselbstung
.... Für jede Seele gab es nur eine Vervollkommnung; nur ein Ideal; nur einen
Weg zur Erlösung... Extremste Form der Gleichberechtigung, angeknüpft
an eine optische Vergrößerung der eigenen Wichtigkeit bis ins Unsinnige
.... Lauter unsinnig wichtige Seelen, mit entsetzlicher Angst um sich selbst gedreht
....Ders., Der Wille zur Macht, S. 232-233 |
Nun
glaubt kein Mensch mehr an diese absurde Wichtigtuerei: und wir haben unsere Weisheit
durch ein Sieb der Verachtung geseiht. Trotzdem bleibt unerschüttert die
optische Gewöhnung, einen Wert des Menschen in der Annäherung
an einen idealen Menschen zu suchen: man hält im Grunde sowohl die
Verselbstungs-Perspektive als die Gleichberechtigung vor dem Ideal aufrecht.
In summa: man glaubt zu wissen, was, in Hinsicht auf den idealen Menschen, die
letzte Wünschbarkeit sei .... Dieser Glaube ist aber nur die Folge
einer ungeheuren Verwöhnung durch das christliche Ideal: als welches
man, bei jeder vorsichtigen Prüfung des »idealen Typus«, sofort
wieder herauszieht. Man glaubt,erstens,
zu wissen, daß die Annäherung an einen Typus wünschbar ist;zweitens,
zu wissen, welcher Art dieser Typus ist;drittens,
daß jede Abweichung von diesem Typus ein Rückgang, eine Hemmung, ein
Kraft- und Machtverlust des Menschen ist ...Zustände
träumen, wo dieser vollkommene Mensch die ungeheure Zahlen-Majorität
für sich hat: höher haben es auch unsre Sozialisten, selbst die Herren
Utilitarier nicht gebracht. Damit scheint ein Ziel in die Entwicklung
der Menschheit zu kommen: jedenfalls ist der Glaube an einen Fortschritt zum
Ideal die einzige Form, in der eine Art Ziel in der Menschheits-Geschichte
heute gedacht wird. In summa: man hat die Ankunft des »Reiches Gottes«
in die Zukunft verlegt, auf die Erde, ins Menschliche, aber man hat im
Grunde den Glauben an das alte Ideal festgehalten ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 233-234 |
Verstecktere
Formen des Kultus des christlichen Moral-Ideals. Der weichliche
und feige Begriff »Natur«, der von den Naturschwärmern
auf-gebracht ist ( abseits von allen Instinkten für das Furchtbare,
Unerbittliche und Zynische auch der »schönsten« Aspekte), eine
Art Versuch, jene moralisch-christliche »Menschlichkeit« aus der Natur
herauszulesen, der Rousseausche Naturbegriff, wie als ob »Natur«
Freiheit, Güte, Unschuld, Billigkeit, Gerechtigkeit, Idyll sei,
immer Kultus der christlichen Moral im Grunde. Stellen zu sammeln,
was eigentlich die Dichter verehrt haben, z.B. am Hochgebirge usw.. Was
Goethe an ihr haben wollte, warum er Spinoza verehrte . Vollkommene
Unwissenheit der Voraussetzung dieses Kultus .... Der weichliche
und feige Begriff »Mensch« á la Comte und Stuart Mill,
womöglich gar Kultus-Gegenstand .... Es ist immer wieder der Kultus der christlichen
Moral unter einem neuen Namen .... Die Freidenker, z.B. Guyau. Der weichliche
und feige Begriff »Kunst«, als Mitgefühl für
alles Leidende, Schlechweggekommene (selbst die Historie, z.B. Thierrys):
es ist immer wieder der Kultus des christlichen Moral-Ideals. Und nun gar das
ganze sozialistische Ideal: nichts als ein tölpelhaftes Mißverständnis
jenes christlichen Moral-Ideals.Ders., Der Wille zur Macht, S. 234 |
Die
Herkunft des Ideals. Untersuchung des Bodens, auf dem es wächst.A.
Von den »ästhetischen« Zuständen ausgehen, wo die Welt
voller, runder, vollkommener gesehen wird : das heidnische Ideal: darin
die Selbstbejahung vorherrschend (man gibt ab ). Der höchste Typus:
das klassische Ideal als Ausdruck eines Wohlgeratenseins aller Hauptinstinkte.
Darin wieder der höchste Stil: der große Stil. Ausdruck des »Willens
zur Macht« selbst. Der am meisten gefürchtete Instinkt wagt sich
zu bekennen.B. Von Zuständen
ausgehen, wo die Welt leerer, blässer, verdünnter gesehen wird, wo die
»Vergeistigung« und Unsinnlichkeit den Rang des Vollkommnen einnimmt,
wo am meisten das Brutale, Tierisch-Direkte, Nächste vermieden wird (
man rechnet ab, man wählt ): der »Weise«, »der
Engel«, priesterlich = jungfräulich = unwissend, physiologische Charakteristik
solcher Idealisten : das anämische Ideal. Unter Umständen kann
es das Ideal solcher Naturen sein, welche das erste, das heidnische darstellen
(: so sieht Goethe in Spinoza seinen »Heiligen«).C.
Von Zuständen ausgehen, wo wir die Welt absurder, schlechter, ärmer,
täuschender empfinden, als daß wir in ihr noch das Ideal vermuten oder
wünschen ( man negiert, man vernichtet ): die Projektion
des Ideals in das Wider-Natürliche, Wider-Tatsächliche, Wider-Logische;
der Zustand dessen, der so urteilt ( die »Verarmung« der
Welt als Folge des Leidens: man nimmt, man gibt nicht mehr ): das widernatürliche
Ideal.(Das christliche Ideal ist ein Zwischengebilde
zwischen dem zweiten und dritten, bald mit dieser, bald mit jener Gestalt überwiegend.)Die
drei Ideale:A. Entweder eine Verstärkung
des Lebens ( heidnisch), oderB.
eine Verdünnung des Lebens ( anämisch), oderC.
eine Verleugnung des Lebens ( widernatürlich). Die »Vergöttlichung«
gefühlt: in der höchsten Fülle in der zartesten Auswahl
in der Verachtung und Zerstörung des Lebens.Ders., Der Wille zur Macht, S. 234-236 |
A.
Der konsequente Typus. Hier wird begriffen, daß man auch das Böse
nicht hassen dürfe, daß man ihm nicht widerstehen dürfe, daß
man auch nicht gegen sich selbst Krieg führen dürfe; daß man das
Leiden, welches eine solche Praxis mit sich bringt, nicht nur hinnimmt; daß
man ganz und gar in den positiven Gefühlen lebt; daß man die Partei
der Gegner nimmt in Wort und Tat; daß man durch eine Superfötation
der friedlichen, gütigen, versöhnlichen, hilf- und liebreichen Zustände
den Boden der anderen Zustände verarmt ..., daß man eine fortwährende
Praxis nötig hat. Was ist hier erreicht? Der buddhistische
Typus oder die vollkommene Kuh. Dieser Standpunkt ist nur möglich,
wenn kein moralischer Fanatismus herrscht, d. h. wenn das Böse nicht um seiner
selbst willen gehaßt wird, sondern nur, weil es den Weg abgibt zu Zuständen,
welche uns wehtun (Unruhe, Arbeit, Sorge, Verwicklung, Abhängigkeit).Dies
der buddhistische Standpunkt: hier wird nicht die Sünde gehaßt, hier
fehlt der Begriff »Sünde«.B.
Der inkonsequente Typus. Man führt Krieg gegen das Böse,
man glaubt, daß der Krieg um des Guten willen nicht die moralische
und Charakter-Konsequenz habe, die sonst der Krieg mit sich bringt (und derentwegen
man ihn als böse verabscheut). Tatsächlich verdirbt ein solcher Krieg
gegen das Böse viel gründlicher als irgendeine Feindseligkeit von Person
zu Person; und gewöhnlich schiebt sich sogar »die Person« als
Gegner, wenigstens imaginär, wieder ein (der Teufel, die bösen Geister
usw.). Das feindselige Verhalten, Beobachten, Spionieren gegen alles, was in uns
schlimm ist und schlimmen Ursprungs sein könnte, endet mit der gequältesten
und unruhigsten Verfassung: so daß jetzt »Wunder«, Lohn, Ekstase,
Jenseitigkeits-Lösung wünschbar werden .... Der christliche Typus:
oder der vollkommene Mucker.C.
Der stoische Typus. Die Festigkeit, die Selbstbeherrschung, das Unerschütterliche,
der Friede als Unbeugsamkeit eines langen Willens die tiefe Ruhe, der Verteidigungszustand,
die Burg, das kriegerische Mißtrauen die Festigkeit der Grundsätze;
die Einheit von Wille und Wissen; die Hochachtung vor sich. Einsiedler-Typus.
Der vollkommene »Hornochs«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 236-237 |
Ein
Ideal, das sich durchsetzen oder noch behaupten will, sucht sich zu stützen
a) durch eine untergeschobene Herkunft,b)
durch eine angebliche Verwandtschaft mit schon bestehenden mächtigen Idealen,c)
durch die Schauder des Geheimnisses, wie als ob hier eine undiskutierbare Macht
rede,d) durch Verleumdung seiner gegnerischen
Ideale,e) durch eine lügnerische Lehre
des Vorteils, den es mit sich bringt, z.B. Glück, Seelenruhe, Frieden
oder auch die Beihilfe eines mächtigen Gottes usw. Zur Psychologie
des Idealisten: Carlyle, Schiller, Michelet.Hat
man alle Defensiv- und Schutz-Maßregeln aufgedeckt, mit denen ein Ideal
sich erhält: ist es damit widerlegt? Es hat die Mittel angewendet,
durch die alles Lebendige lebt und wächst sie sind allesamt »unmoralisch«.
Meine Einsicht: alle die Kräfte und Triebe, vermöge deren es Leben und
Wachstum gibt, sind mit dem Banne der Moral belegt: Moral als Instinkt
der Verneinung des Lebens. Man muß die Moral vernichten, um das Leben zu
befreien.Ders., Der Wille zur Macht, S. 237-238 |
Tendenz
der Moral-Entwicklung. Jeder wünscht, daß keine andere Lehre
und Schätzung der Dinge zur Geltung komme außer einer solchen, bei
der er selbst gut wegkommt. Grundtendenz folglich der Schwachen und
Mittelmäßigen aller Zeiten, die Stärkeren schwächer
zu machen, herunterzuziehen: Hauptmittel das moralische Urteil. Das
Verhalten des Stärkeren gegen den Schwächeren wird gebrandmarkt; die
höheren Zustände des Stärkeren bekommen schlechte Beinamen. Der
Kampf der vielen gegen die wenigen, der Gewöhnlichen gegen die Seltenen,
der Schwachen gegen die Starken : eine seiner feinsten Unterbrechungen ist
die, daß die Ausgesuchten, Feinen, Anspruchsvolleren sich als die Schwachen
präsentieren und die gröberen Mittel der Macht von sich weisen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 238-239 |
1.
Der angeblich reine Erkenntnistrieb aller Philosophen ist kommandiert durch ihre
Moral »Wahrheiten«, ist nur scheinbar unabhängig
....2. Die »Moralwahrheiten« »so
soll gehandelt werden« sind bloße Bewußtseins-Formen eines müdewerdenden
Instinkts »so und so wird bei uns gehandelt«. Das »Ideal«
soll einen Instinkt wiederherstellen, stärken; es schmeichelt dem Menschen,
gehorsam zu sein, wo er nur Automat ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 239 |
Moral
als Verführungsmittel. »Die Natur ist gut, denn ein weiser
und guter Gott ist ihre Ursache. Wem fällt also die Verantwortung für
die »Verderbnis der Menschen« zu? Ihren Tyrannen und Verführern,
den herrschenden Ständen man muß sie vernichten« ;
die Logik Rousseaus (vgl. die Logik Pascals, welcher den Schluß
auf die Erbsünde macht). Man vergleiche die verwandte Logik Luthers.
In beiden Fällen wird ein Vorwand gesucht, ein unersättliches Rachebedürfnis
als moralisch religiöse Pflicht einzuführen. Der Haß gegen
den regierenden Stand sucht sich zu heiligen ... (die »Sündhaftigkeit
Israels«: Grundlage für die Machtstellung der Priester). Man vergleiche
die verwandte Logik des Paulus. Immer ist es die Sache Gottes, unter der
diese Reaktionen auftreten, die Sache des Rechts, der Menschlichkeit usw..Ders., Der Wille zur Macht, S. 239 |
Der
»gute Mensch«. Oder: die Hemiplegie der Tugend. Für jede
starke und Natur gebliebene Art Mensch gehört Liebe und Haß, Dankbarkeit
und Rache, Güte und Zorn, Ja-tun und Nein-tun zueinander. Man ist gut, um
den Preis, daß man auch böse zu sein weiß; man ist böse,
weil man sonst nicht gut zu sein verstünde. Woher nun jene Erkrankung und
ideologische Unnatur, welche diese Doppelheit ablehnt welche als das Höhere
lehrt, nur halbseitig tüchtig zu sein? Woher die Hemiplegie der Tugend, die
Erfindung des guten Menschen? ... Die Forderung geht dahin, daß der Mensch
sich an jenen Instinkten verschneide, mit denen er feind sein kann, schaden kann,
zürnen kann, Rache heischen kann... Diese Unnatur entspricht dann jener dualistischen
Konzeption eines bloß guten und eines bloß bösen Wesens (Gott,
Geist, Mensch), in ersterem alle positiven, in letzterem alle negativen Kräfte,
Absichten, Zustände summierend. Eine solche Wertungsweise glaubt sich
damit »idealistisch«; sie zweifelt nicht daran, eine höchste
Wünschbarkeit in der Konzeption »des Guten« angesetzt zu haben.
Geht sie auf ihren Gipfel, so denkt sie sich einen Zustand aus, wo alles Böse
annulliert ist und wo in Wahrheit nur die guten Wesen übriggeblieben sind.
Sie hält es also nicht einmal für ausgemacht, daß jener Gegensatz
von Gut und Böse sich gegenseitig bedinge; umgekehrt, letzteres soll verschwinden
und ersteres soll übrigbleiben, das eine hat ein Recht zu sein, das andere
sollte gar nicht da sein .... Was wünscht da eigentlich?Man
hat sich zu allen Zeiten und sonderlich zu den christlichen Zeiten viel Mühe
gegeben, den Menschen auf diese halbseitige Tüchtigkeit, auf den »Guten«
zu reduzieren: noch heute fehlt es nicht an kirchlich Verbildeten und Geschwächten,
denen diese Absicht mit der »Vermenschlichung« überhaupt oder
mit dem »Willen Gottes« oder mit dem »Heil der Seele«
zusammenfällt. Hier wird als wesentliche Forderung gestellt, daß der
Mensch nichts Böses tue, daß er unter keinen Umständen schade,
schaden wolle. Als Weg dazu gilt: die Verschneidung aller Möglichkeit zur
Feindschaft, die Aushängung aller Instinkte des Ressentiments, der »Frieden
der Seele« als chronisches Übel.Diese
Denkweise, mit der ein bestimmter Typus Mensch gezüchtet wird, geht von einer
absurden Voraussetzung aus: sie nimmt das Gute und das Böse als Realitäten,
die mit sich im Widerspruch sind (nicht als komplementäre Wertbegriffe,
was die Wahrheit wäre), sie rät die Partei des Guten zu nehmen, sie
verlangt, daß der Gute dem Bösen bis in die letzte Wurzel entsagt und
widerstrebt sie verneint tatsächlich damit das Leben, welches
in allen seinen Instinkten sowohl das Ja wie das Nein hat. Nicht daß sie
dies begriffe: sie träumt umgekehrt davon, zur Ganzheit, zur Einheit, zur
Stärke des Lebens zurückzukehren: sie denkt es sich als Zustand der
Erlösung, wenn endlich der eignen innern Anarchie, der Unruhe zwischen jenen
entgegengesetzten Wert-Antrieben ein Ende gemacht wird. Vielleicht gab
es bisher keine gefährlichere Ideologie, keinen größeren Unfug
in psychologicis als diesen Willen zum Guten: man zog den widerlichsten
Typus, den unfreien Menschen groß, den Mucker; man lehrte, eben nur
als Mucker sei man auf dem rechten Wege zur Gottheit, nur ein Mucker-Wandel sei
ein göttlicher Wandel.Und selbst hier noch
behält das Leben recht das Leben, welches das Ja nicht vom Nein zu
trennen weiß : was hilft es, mit allen Kräften den Krieg für
böse zu halten, nicht schaden, nicht Neintun zu wollen! man führt doch
Krieg! man kann gar nicht anders! Der gute Mensch, der dem Bösen entsagt
hat, behaftet, wie es ihm wünschbar scheint mit jener Hemiplegie der Tugend,
hört durchaus nicht auf, Krieg zu führen, Feinde zu haben, nein zu sagen,
nein zu tun. Der Christ zum Beispiel haßt die »Sünde«!
und was ist ihm nicht alles »Sünde«! Gerade durch jenen
Glauben an einen Moral-Gegensatz von Gut und Böse ist ihm die Welt vom Hassenswerten,
vom Ewigzu-Bekämpfenden übervoll geworden. »Der Gute« sieht
sich wie umringt vom Bösen und unter dem beständigen Ansturm des Bösen,
er verfeinert sein Auge, er entdeckt unter all seinem Dichten und Trachten noch
das Böse: und so endet er, wie es folgerichtig ist, damit, die Natur für
böse, den Menschen für verderbt, das Gutsein als Gnade (das heißt
als menschenunmöglich) zu verstehen. In summa: er verneint das Leben,
er begreift, wie das Gute als oberster Wert das Leben verurteilt .... Damit
sollte seine Ideologie von Gut und Böse ihm als widerlegt gelten. Aber eine
Krankheit widerlegt man nicht. Und so konzipiert er ein anderes Leben!Ders., Der Wille zur Macht, S. 241-244 |
Zur
Kritik des guten Menschen. Rechtschaffenheit, Würde, Pflichtgefühl,
Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Geradheit, gutes Gewissen,
sind wirklich mit diesen wohlklingenden Worten Eigenschaften um ihrer selbst willen
bejaht und gutgeheißen? oder sind hier an sich wertindifferente Eigenschaften
und Zustände nur unter irgendwelchen Gesichtspunkt gerückt, wo sie Wert
bekommen? Liegt der Wert dieser Eigenschaften in ihnen oder in dem Nutzen, Vorteil,
der aus ihnen folgt (zu folgen scheint, zu folgen erwartet wird)? Ich meine hier
natürlich nicht einen Gegensatz von ego und alter in der Beurteilung:
die Frage ist, ob die Folgen es sind, sei es für den Träger dieser
Eigenschaften, sei es für die Umgebung, Gesellschaft, »Menschheit«,
derentwegen diese Eigenschaften Wert haben sollen: oder ob sie an sich selbst
Wert haben .... Anders gefragt: ist es die Nützlichkeit, welche die
entgegengesetzten Eigenschaften verurteilen, bekämpfen, verneinen heißt
( Unzuverlässigkeit, Falschheit, Verschrobenheit, Selbst-Ungewißheit,
Unmenschlichkeit )? Ist das Wesen solcher Eigenschaften oder nur die Konsequenz
solcher Eigenschaften verurteilt? Anders gefragt: wäre es wünschbar,
daß Menschen die ser zweiten Eigenschaften nicht existieren? Das
wird jedenfalls geglaubt .... Aber hier steckt der Irrtum, die Kurzsichtigkeit,
die Borniertheit des Winkel-Egoismus. Anders ausgedrückt: wäre es wünschbar,
Zustände zu schaffen, in denen der ganze Vorteil auf Seiten der Rechtschaffenen
ist so daß die entgegengesetzten Naturen und Instinkte entmutigt
würden und langsam ausstürben? Dies ist im Grunde eine Frage des Geschmacks
und der Ästhetik: wäre es wünschbar, daß die »achtbarste«,
d.h. langweiligste Spezies Mensch übrigbliebe? die Rechtwinkligen, die Tugendhaften,
die Biedermänner, die Braven, die Geraden, die »Hornochsen«?
Denkt man sich die ungeheure Überfülle der »Anderen« weg:
so hat sogar der Rechtschaffene nicht einmal mehr ein Recht auf Existenz: er ist
nicht mehr nötig, und hier begreift man, daß nur die grobe Nützlichkeit
eine solche unausstehliche Tugend zu Ehren gebracht hat. Die Wünschbarkeit
liegt vielleicht gerade auf der umgekehrten Seite: Zustände schaffen, bei
denen der »rechtschaffene Mensch« in die bescheidne Stellung eines
»nützlichen Werkzeugs« herabgedrückt wird als das
»ideale Herdentier«, bestenfalls Herden-Hirt: kurz, bei denen er nicht
mehr in die obere Ordnung zu stehen kommt: welche andere Eigenschaften
verlangt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 244-246 |
Der
»gute Mensch« als Tyrann. Die Menschheit hat immer denselben
Fehler wiederholt: daß sie aus einem Mittel zum Leben einen Maßstab
des Lebens gemacht hat; daß sie statt in der höchsten Steigerung
des Lebens selbst, im Problem des Wachstums und der Erschöpfung, das Maß
zu finden die Mittel zu einem ganz bestimmten Leben zum Ausschluß
aller anderen Formen des Lebens, kurz zur Kritik und Selektion des Lebens benutzt
hat. D.h. der Mensch liebt endlich die Mittel um ihrer selbst willen und vergißt
sie als Mittel: so daß sie jetzt als Ziele ihm ins Bewußtsein treten,
als Maßstäbe von Zielen... d.h. eine bestimmte Spezies Mensch
behandelt ihre Existenzbedingungen als gesetzlich aufzuerlegende Bedingungen,
als »Wahrheit«, »Gut«, »Vollkommen«: sie
tyrannisiert .... Es ist eine Form des Glaubens, des Instinkts, daß
eine Art Mensch nicht die Bedingtheit ihrer eignen Art, ihre Relativität
im Vergleich zu anderen einsieht Wenigstens scheint es zu Ende zu sein mit einer
Art Mensch (Volk, Rasse), wenn sie tolerant wird, gleiche Rechte zugesteht und
nicht mehr daran denkt, Herr sein zu wollen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 246 |
Bescheiden,
fleißig, wohlwollend, mäßig: so wollt ihr den Menschen? den guten
Menschen? Aber mich dünkt das nur der ideale Sklave, der Sklave der Zukunft.Ders., Der Wille zur Macht, S. 247 |
Die
Metamorphosen der Sklaverei; ihre Verkleidung unter religiöse Mäntel;
ihre Verklärung durch die Moral.Ders., Der Wille zur Macht, S. 247 |
Der
ideale Sklave (der »gute« Mensch). Wer sich nicht als »Zweck«
ansetzen kann, noch überhaupt von sich aus Zwecke ansetzen kann, der gibt
der Moral der Entselbstung die Ehre instinktiv. Zu ihr überredet
ihn alles: seine Klugheit, seine Erfahrung, seine Eitelkeit. Und auch der Glaube
ist eine Entselbstung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 247 |
Ich
habe dem bleichsüchtigen Christen-Ideale den Krieg erklärt (samt dem,
was ihm nahe verwandt ist), nicht in der Absicht, es zu vernichten, sondern nur
um seiner Tyrannei ein Ende zu setzen und Platz frei zu bekommen für
neue Ideale, für robustere Ideale .... Die Fortdauer des christlichen
Ideals gehört zu den wünschenswertesten Dingen, die es gibt: und schon
um der Ideale willen, die neben ihm und vielleicht über ihm sich geltend
machen wollen, sie müssen Gegner, starke Gegner haben, um stark
zu werden. So brauchen wir Immoralisten die Macht der Moral: unser Selbsterhaltungstrieb
will, daß unsre Gegner bei Kräften bleiben, er will nur Herr
über sie werden.Ders., Der Wille zur Macht, S. 248-249 |
Egoismus
und sein Problem! Die christliche Verdüsterung in Larochefoucauld, welcher
ihn überall herauszog und damit den Wert der Dinge und Tugenden vermindert
glaubte! Dem entgegen suchte ich zunächst zu beweisen, daß es gar nichts
anderes geben könne als Egoismus, daß den Menschen, bei denen
das ego schwach und dünn wird, auch die Kraft der großen Liebe schwach
wird, daß die Liebendsten vor allem es aus Stärke ihres ego
sind, daß Liebe ein Ausdruck von Egoismus ist usw. Die falsche Wertschätzung
zielt in Wahrheit auf das Interesse1. derer,
denen genützt, geholfen wird, der Herde;2.
enthält sie einen pessimistischen Argwohn gegen den Grund des Lebens;3.
möchte sie die prachtvollsten und wohlgeratensten Menschen verneinen; Furcht;4.
will sie den Unterliegenden zum Rechte verhelfen gegen die Sieger;5.
bringt sie eine universale Unehrlichkeit mit sich, und gerade bei den wertvollsten
Menschen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 249 |
Ursprung
der Moralwerte. Der Egoismus ist so viel wert, als der physiologisch
wert ist, der ihn hat. Jeder Einzelne ist die ganze Linie der Entwicklung noch
(und nicht nur, wie ihn die Moral auffaßt, etwas das mit der Geburt beginnt):Stellt
er das Aufsteigen der Linie Mensch dar, so ist sein Wert in der Tat außerordentlich;
und die Sorge um Erhaltung und Begünstigung seines Wachstums darf extrem
sein. (Es ist die Sorge um die in ihm verheißene Zukunft, welche dem wohlgeratenen
Einzelnen ein so außerordentliches Recht auf Egoismus gibt).Stellt
er die absteigende Linie dar, den Verfall, die chronische Erkrankung: so kommt
ihm wenig Wert zu: und die erste Billigkeit ist, daß er so wenig als möglich
Platz, Kraft und Sonnenschein den Wohlgeratenen wegnimmt. In diesem Falle hat
die Gesellschaft die Niederhaltung des Egoismus ( der mitunter absurd,
krankhaft, aufrührerisch sich äußert ) zur Aufgabe: handle
es sich nun um Einzelne oder um ganze verkommende verkümmerte Volks-Schichten.
Eine Lehre und Religion der »Liebe«, der Niederhaltung der
Selbstbejahung, des Duldens, Tragens, Helfens, der Gegenseitigkeit in Tat und
Wort kann innerhalb solcher Schichten vom höchsten Werte sein, selbst mit
den Augen der Herrschenden gesehn: denn sie hält die Gefühle der Rivalität,
des Ressentiment, des Neides nieder, die allzu natürlichen Gefühle der
Schlechtweggekommenen, sie vergöttlicht ihnen selbst unter dem Ideal
der Demut und des Gehorsams das Sklave-sein, das Beherrschtwerden, das Armsein,
das Kranksein, das Unten-stehn. Hieraus ergibt sich, warum die herrschenden Klassen
oder Rassen und Einzelnen jeder Zeit den Kultus der Selbstlosigkeit, das Evangelium
der Niedrigen, den »Gott am Kreuze« aufrecht erhalten haben.Das
Übergewicht einer altruistischen Wertungsweise ist die Folge eines Instinktes
für Mißraten-sein. Das Werturteil auf unterstem Grunde sagt hier: »ich
bin nicht viel wert«: ein bloß physiologisches Werturteil, noch deutlicher:
das Gefühl der Ohnmacht, der Mangel der großen bejahenden Gefühle
der Macht (in Muskeln, Nerven, Bewegungszentren). Dies Werturteil übersetzt
sich, je nach der Kultur dieser Schichten, in ein moralisches oder religiöses
Urteil ( die Vorherrschaft religiöser und moralischer Urteile ist
immer ein Zeichen niedriger Kultur ): es sucht sich zu begründen,
aus Sphären, woher ihnen der Begriff »Wert« überhaupt bekannt
ist. Die Auslegung, mit der der christliche Sünder sich zu verstehen glaubt,
ist ein Versuch, den Mangel an Macht und Selbstgewißheit berechtigt zu finden:
er will lieber sich schuldig finden, als umsonst sich schlecht fühlen: an
sich ist es ein Symptom von Verfall, Interpretationen dieser Art überhaupt
zu brauchen. In andern Fällen sucht der Schlechtweggekommene den Grund dafür
nicht in seiner »Schuld« (wie der Christ), sondern in der Gesellschaft:
der Sozialist, der Anarchist, der Nihilist, indem sie ihr Dasein als etwas empfinden,
an dem jemand schuld sein soll, ist damit immer noch der Nächstverwandte
des Christen, der auch das Sich-schlecht-Befinden und Mißraten besser zu
ertragen glaubt, wenn er jemanden gefunden hat, den er dafür verantwortlich
machen kann. Der Instinkt der Rache und des Ressentiment erscheint hier
in beiden Fällen als Mittel, es auszuhalten, als Instinkt der Selbsterhaltung:
ebenso wie die Bevorzugung der altruistischen Theorie und Praxis. Der Haß
gegen den Egoismus, sei es gegen den eigenen, wie beim Christen, sei es gegen
den fremden, wie beim Sozialisten, ergibt sich dergestalt als ein Werturteil unter
der Vorherrschaft der Rache; andrerseits als eine Klugheit der Selbsterhaltung
Leidender durch Steigerung ihrer Gegenseitigkeits- und Solidaritätsgefühle
.... Zuletzt ist, wie schon angedeutet, auch jene Entladung des Ressentiment im
Richten, Verwerfen, Bestrafen des Egoismus (des eigenen oder eines fremden) noch
ein Instinkt der Selbsterhaltung bei Schlechtweggekommenen. In summa: der
Kultus des Altruismus ist eine spezifische Form des Egoismus, die unter bestimmten
physiologischen Voraussetzungen regelmäßig auftritt.Wenn
der Sozialist mit einer schönen Entrüstung »Gerechtigkeit«,
»Recht«, »gleiche Rechte« verlangt, so steht er nur unter
dem Druck seiner ungenügenden Kultur, welche nicht zu begreifen weiß,
warum er leidet: andrerseits macht er sich ein Vergnügen damit; befände
er sich besser, so würde er sich hüten, so zu schreien: er fände
dann anderswo sein Vergnügen. Dasselbe gilt vom Christen: »die Welt«
wird von ihm verurteilt, verleumdet, verflucht er nimmt sich selbst nicht
aus. Aber das ist kein Grund, sein Geschrei ernst zu nehmen. In beiden Fällen
sind wir immer noch unter Kranken, denen es wohltut, zu schreien, denen die Verleumdung
eine Erleichterung ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 252-255 |
Die
Verinnerlichung des Menschen. Die Verinnerlichung entsteht, indem mächtige
Triebe, denen mit Einrichtung des Friedens und der Gesellschaft die Entladung
nach außen versagt wird, sich nach innen zu schadlos zu halten suchen, im
Bunde mit der Imagination. Das Bedürfnis nach Feindschaft, Grausamkeit, Rache,
Gewaltsamkeit wendet sich zurück, »tritt zurück«; im Erkennenwollen
ist Habsucht und Erobern: im Künstler tritt die zurückgetretene Verstellungs-
und Lügenkraft auf; die Triebe werden zu Dämonen umgeschaffen, mit denen
es Kampf gibt usw.,Ders., Der Wille zur Macht, S. 255-256 |
Der
Mächtige lügt immer.Ders., Der Wille zur Macht, S. 257 |
Schopenhauer
hat die hohe Intellektualität als Loslösung vom Willen ausgelegt; er
hat das Frei-werden von den Moral-Vorurteilen, welches in der Entfesselung des
großen Geistes liegt, die typische Unmoralität des Genies, nicht
sehen wollen, er hat künstlich das, was er allein ehrte, den moralischen
Wert der »Entselbstung«, auch als Bedingung der geistigsten
Tätigkeit, des »Objektiv«-Blickens, angesetzt. »Wahrheit«,
auch in der Kunst, tritt hervor nach Abzug des Willens .... Quer durch
alle moralische Idiosynkrasie hindurch sehe ich eine grundverschiedene Wertung:
solche absurde Auseinandertrennung von »Genie« und Willens-Welt der
Moral und Immoral kenne ich nicht. Der moralische Mensch ist eine niedrigere
Spezies als der unmoralische, eine schwächere; ja er ist der Moral
nach ein Typus, nur nicht sein eigener Typus; eine Kopie, eine gute Kopie
bestenfalls, das Maß seines Wertes liegt außer ihm. Ich schätze
den Menschen nach dem Quantum Macht und Fülle seines Willens: nicht
nach dessen Schwächung und Auslöschung; ich betrachte eine Philosophie,
welche die Verneinung des Willens lehrt, als eine Lehre der Herunterbringung und
der Verleumdung .... Ich schätze die Macht eines Willens danach, wie
viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält und sich zum Vorteil umzuwandeln
weiß; ich rechne dem Dasein nicht seinen bösen und schmerzhaften Charakter
zum Vorwurf an, sondern bin der Hoffnung, daß es einst böser und schmerzhafter
sein wird als bisher .... Die Spitze des Geistes, die Schopenhauer imaginierte,
war, zur Erkenntnis zu kommen, daß alles keinen Sinn hat, kurz, zu erkennen,
was instinktiv der gute Mensch schon tut .... Er leugnet, daß es höhere
Arten Intellekt geben könne, er nahm seine Einsicht als ein non plus
ultra. Hier ist die Geistigkeit tief unter die Güte geordnet; ihr höchster
Wert (als Kunst z.B.) wäre es, die moralische Umkehr anzuraten, vorzubereiten:
absolute Herrschaft der Moralwerte. Neben Schopenhauer will ich
Kant charakterisieren: nichts Griechisches, absolut widerhistorisch (Stelle
über die französische Revolution) und Moral-Fanatiker (Goethes Stelle
über das Radikal-Böse). Auch bei ihm im Hintergrund die Heiligkeit
.... Ich brauche eine Kritik des Heiligen .... Hegels Wert. »Leidenschaft«.
Krämer-Philosophie des Herrn Spencer: vollkommene Abwesenheit eines Ideals,
außer dem des mittleren Menschen. Instinkt-Grundsatz aller Philosophen
und Historiker und Psychologen: es muß alles, was wertvoll ist in Mensch,
Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Religion, Technik, bewiesen werden als moralisch-wertvoll,
moralisch-bedingt, in Ziel, Mittel und Resultat. Alles verstehen in Hinsicht
auf den obersten Wert: z.B. Rousseaus Frage in betreff der Zivilisation »wird
durch sie der Mensch besser?« eine komische Frage, da das
Gegenteil auf der Hand liegt und eben das ist, was zugunsten der Zivilisation
redet.Ders., Der Wille zur Macht, S. 259-260 |
Mein
Schlußsatz ist: daß der wirkliche Mensch einen viel höheren Wert
darstellt als der wünschbare Mensch irgendeines bisherigen Ideals: daß
alle »Wünschbarkeiten« in Hinsicht auf den Menschen gefährliche
Ausschweifungen waren, mit denen eine einzelne Art von Mensch ihre Erhaltungs-
und Wachstumsbedingungen über der Menschheit als Gesetz aufhängen möchte;
daß jede zur Herrschaft gebrachte »Wünschbarkeit solchen
Ursprungs bis jetzt den Wert des Menschen, seine Kraft, seine Zukunftsgwißheit
herabgedrückt hat; daß die Armseligkeit und Winkel-Intellektualität
des Menschen sich am meisten bloßstellt, auch heute noch, wenn er wünscht;daß
die Fähigkeit des Menschen, Werte anzusetzen, bisher zu niedrig entwickelt
war, um dem tatsächlichen, nicht bloß »wünschbaren«
Werte des Menschen gerecht zu werden; daß das Ideal bis jetzt die
eigentlich welt- und mensch-verleumdende Kraft, der Gifthauch über der Realität,
die große Verführung zum Nichts war ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 265 |
Maßstab,
wonach der Wert der moralischen Wertschätzungen zu bestimmen ist. Die übersehene
Grundtatsache: Widerspruch zwischen dem »Moralischer-werden« und der
Erhöhung und Verstärkung des Typus Mensch. Homo natura. Der »Wille
zur Macht«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 265 |
Die
Moralwerte als Scheinwerte, verglichen mit den physiologischen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 265 |
»Die
Krankheit macht den Menschen besser«: diese berühmte Behauptung, der
man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als
im Mund und Maule des Volks, gibt zu denken. Man möchte sich, auf ihre Gültigkeit
hin, einmal erlauben zu fragen: gibt es vielleicht ein ursächliches Band
zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die »Verbesserung des Menschen«,
im großen betrachtet, z.B. die unleugbare Milderung, Vermenschlichung,
Vergutmütigung des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausends
ist sie vielleicht die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißratens,
Entbehrens, Verkümmerns? Hat »die Krankheit« den Europäer
»besser gemacht«? Oder anders gefragt: ist unsre Moralität
unsre moderne zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität
des Chinesen vergleichen möge, der Ausdruck eines physiologischen
Rückgangs? .... Man möchte nämlich nicht ableugnen können,
daß jede Stelle der Geschichte, wo »der Mensch« sich in besonderer
Pracht und Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen,
gefährlichen, eruptiven Charakter annimmt, bei dem die Menschlichkeit schlimm
fährt; und vielleicht hat es in jenen Fällen, wo es anders scheinen
will, eben nur an Mut oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe
zu treiben und den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: »je gesünder,
je stärker, je reicher, fruchtbarer, unternehmender ein Mensch sich fühlt,
um so unmoralischer wird er auch«. Ein peinlicher Gedanke! dem
man durchaus nicht nachhängen soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm
ein kleines, kurzes Augenblickchen vorwärts, wie verwundert blickt man da
in die Zukunft! Was würde sich dann auf Erden teurer bezahlt machen als gerade
das, was wir mit allen Kräften fordern die Vermenschlichung, die »Verbesserung«,
die wachsende »Zivilisierung« des Menschen? Nichts wäre kostspieliger
als Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und »jeder
jedermanns Krankenpfleger« wäre der Weisheit letzter Schluß.
Freilich: man hätte dann auch jenen vielbegehrten »Frieden auf Erden«!
Aber auch so wenig »Wohlgefallen aneinander«! So wenig Schönheit,
Übermut, Wagnis, Gefahr! So wenig »Werke«, um derentwillen es
sich lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine »Taten«
mehr! Alle großen Werke und Taten, welche stehngeblieben sind und von den
Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden, waren sie nicht alle im
tiefsten Verstande große Unmoralitäten?Ders., Der Wille zur Macht, S. 268-269 |
Man
muß sehr unmoralisch sein, um durch die Tat Moral zu machen ....
Die Mittel der Moralisten sind die furchtbarsten Mittel, die je gehandhabt worden
sind; wer den Mut nicht zur Unmoralität der Tat hat, taugt zu allem übrigen,
er taugt nicht zum MoralistenDers., Der Wille zur Macht, S. 270 |
Man
muß sehr unmoralisch sein, um durch die Tat Moral zu machen... Die Mittel
der Moralisten sind die furchtbarsten Mittel, die je gehandhabt worden sind; wer
den Mut nicht zur Unmoralität der Tat hat, taugt zu allem übrigen, er
taugt nicht zum MoralistenDers., Der Wille zur Macht, S. 270 |
Der
Mensch, eingesperrt in einen eisernen Käfig von Irrtümern, eine Karikatur
des Menschen geworden, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig,
voller Haß auf die Antriebe zum Leben, voller Mißtrauen gegen alles,
was schön und glücklich ist am Leben, ein wandelndes Elend: diese künstliche,
willkürliche, nachträgliche Mißgeburt, welche die Priester
aus ihrem Boden gezogen haben, den »Sünder«: wie werden wir es
erlangen, dieses Phänomen trotz alledem zu rechtfertigen?Ders., Der Wille zur Macht, S. 271 |
Um
billig von der Moral zu denken, müssen wir zwei zoologische Begriffe an ihre
Stelle setzen: Zähmung der Bestie und Züchtung einer bestimmten
Art. Die Priester gaben zu allen Zeiten vor, daß sie »bessern»
wollen .... Aber wir andern lachen, wenn ein Tierbändiger von seinen »gebesserten«
Tieren reden wollte. Die Zähmung der Bestie wird in den meisten Fällen
durch eine Schädigung der Bestie erreicht: auch der moralische Mensch ist
kein besserer Mensch, sondern nur ein geschwächter. Aber er ist weniger schädlich.Ders., Der Wille zur Macht, S. 271 |
Was
ich mit aller Kraft deutlich zu machen wünsche:a)
daß es keine schlimmere Verwechslung gibt, als wenn man Züchtung
mit Zähmung verwechselt: was man getan hat .... Die Züchtung
ist, wie ich sie verstehe, ein Mittel der ungeheuren Kraft-Aufspeicherung der
Menschheit, so daß die Geschlechter auf der Arbeit ihrer Vorfahren fortbauen
können nicht nur äußerlich, sondern innerlich, organisch
aus ihnen herauswachsend, ins Stärkere ....b)
daß es eine außerordentliche Gefahr gibt, wenn man glaubt, daß
die Menschheit als Ganzes fortwüchse und stärker würde,
wenn die Individuen schlaff, gleich, durchschnittlich werden .... Menschheit ist
ein Abstraktum: das Ziel der Züchtung kann auch im einzelnsten Falle
immer nur der stärkere Mensch sein ( der ungezüchtete ist
schwach, vergeuderisch, unbeständig ).Ders., Der Wille zur Macht, S. 271-272 |
Das
sind meine Forderungen an euch sie mögen euch schlecht genug zu Ohren
gehen : daß ihr die moralischen Wertschätzungen selbst einer
Kritik unterziehen sollt. Daß ihr dem moralischen Gefühls-Impuls, welcher
hier Unterwerfung und nicht Kritik verlangt, mit der Frage: »warum Unterwerfung?«
Halt gebieten sollt. Daß ihr dies Verlangen nach einem »Warum?«,
nach einer Kritik der Moral, eben als eure jetzige Form der Moralität
selbst ansehen sollt, als die sublimste Art von Moralität, die euch und eurer
Zeit Ehre macht. Daß eure Redlichkeit, euer Wille, euch nicht zu betrügen,
sich selbst ausweisen muß: »warum nicht? Vor welchem Forum?«Ders., Der Wille zur Macht, S. 272 |
Die
drei Behauptungen:Das Unvornehme ist das
Höhere (Protest des »gemeinen Mannes«);das
Widernatürliche ist das Höhere (Protest der Schlechtweggekommenen);das
Durchschnittliche ist das Höhere (Protest der Herde, der »Mittleren«).In
der Geschichte der Moral drückt sich also ein Wille zur Macht aus,
durch den bald die Sklaven und Unterdrückten, bald die Mißratenen und
An-sich-Leidenden, bald die Mittelmäßigen den Versuch machen, die ihnen
günstigsten Werturteile durchzusetzen. Insofern ist das Phänomen der
Moral vom Standpunkt der Biologie aus höchst bedenklich. Die Moral hat sich
bisher entwickelt auf Unkosten: der Herrschenden und ihrer spezifischen
Instinkte, der Wohlgeratenen und schönen Naturen, der Unabhängigen
und Privilegierten in irgendeinem Sinne. Die Moral ist also eine Gegenbewegung
gegen die Bemühungen der Natur, es zu einem höheren Typus zu
bringen. Ihre Wirkung ist; Mißtrauen gegen das Leben überhaupt (insofern
dessen Tendenzen als »unmoralisch« empfunden werden) Sinnlosigkeit,
Widersinn (insofern die obersten Werte als im Gegensatz zu den obersten Instinkten
empfunden werden) Entartung und Selbstzerstörung der »höheren
Naturen«, weil gerade in ihnen der Konflikt bewußt wird.Ders., Der Wille zur Macht, S. 272-273 |
Welche
Werte bisher obenauf waren.Moral als oberster
Wert, in allen Phasen der Philosophie (selbst bei den Skeptikern). Resultat: diese
Welt taugt nichts, es muß eine »wahre Welt« geben. Was bestimmt
hier eigentlich den obersten Wert? Was ist eigentlich Moral? Der Instinkt der
décadence, es sind die Erschöpften und Enterbten, die auf diese Weise
Rache nehmen und die Herren machen .... Historischer Nachweis: die
Philosophen immer décadents, immer im Dienst der nihilistischen Religionen.
Der Instinkt der décadence, der als Wille zur Macht auftritt. Vorführung
seines Systems der Mittel: absolute Unmoralität der Mittel. Gesamteinsicht:
die bisherigen obersten Werte sind ein Spezialfall des Willens zur Macht; die
Moral selbst ist ein Spezialfall der Unmoralität.Ders., Der Wille zur Macht, S. 273-274 |
Warum
die gegnerischen Werte immer unterlagen1. Wie
war das eigentlich möglich? Frage: warum unterlag das Leben, die physiologische
Wohlgeratenheit überall? Warum gab es keine Philosophie des Ja, keine Religion
des Ja? .... Die historischen Anzeichen solcher Bewegungen: Die heidnische Religion.
Dionysos gegen den »Gekreuzigten«. Die Renaissance. Die Kunst.
2. Die Starken und die Schwachen: die Gesunden
und die Kranken; die Ausnahme und die Regel. Es ist kein Zweifel, wer der Stärkere
ist .... Gesamtaspekt der Geschichte: Ist der Mensch damit eine Ausnahme
in der Geschichte des Lebens? Einsprache gegen den Darwinismus. Die Mittel
der Schwachen, um sich oben zu erhalten, sind Instinkte, sind »Menschlichkeit«
geworden, sind »Institutionen« ....3.
Nachweis dieser Herrschaft in unsern politischen Instinkten, in unsern sozialen
Werturteilen, in unsern Künsten, in unsrer Wissenschaft.Ders., Der Wille zur Macht, S. 274 |
Die
Niedergangs-Instinkte sind Herr über die Aufgangs-Instinkte
geworden .... Der Wille zum Nichts ist Herr geworden über den Willen zum
Leben! Ist das wahr? ist nicht vielleicht eine größere
Garantie des Lebens, der Gattung in diesem Sieg der Schwachen und Mittleren?
ist es vielleicht nur ein Mittel in der Gesamtbewegung des Lebens, eine Tempo-Verzögerung?
eine Notwehr gegen etwas noch Schlimmeres? Gesetzt, die Starken wären
Herr, in allem, und auch in den Wertschätzungen geworden: ziehen wir die
Konsequenz, wie sie über Krankheit, Leiden, Opfer denken würden! Eine
Selbstverachtung der Schwachen wäre die Folge: sie würden suchen,
zu verschwinden und sich auszulöschen. Und wäre dies vielleicht wünschenswert?
und möchten wir eigentlich eine Welt, in der die Nachwirkung der Schwachen,
ihre Feinheit, Rücksicht, Geistigkeit, Biegsamkeit fehlte?Ders., Der Wille zur Macht, S. 274-275 |
Wir
haben zwei »Willen zur Macht« im Kampfe gesehn (im Spezialfall:
wir hatten ein Prinzip, dem einen recht zu geben, der bisher unterlag, und dem,
der bisher siegte, unrecht zu geben): wir haben die »wahre Welt« als
eine »erlogene Welt« und die Moral als eine Form der Unmoralität
erkannt. Wir sagen nicht: »der Stärkere hat unrecht«.
Wir haben begriffen, was bisher den obersten Wert bestimmt hat und warum
es Herr geworden ist über die gegnerische Wertung : es war numerisch
stärker. Reinigen wir jetzt die gegnerische Wertung von der
Infektion und Halbheit, von der Entartung, in der sie uns allen bekannt
ist. Wiederherstellung der Natur: moralinfrei.Ders., Der Wille zur Macht, S. 275 |
Moral
ein nützlicher Irrtum, deutlicher, in Hinsicht auf die größten
und vorurteilsfreiesten ihrer Förderer, eine notwendig erachtete Lüge.Ders., Der Wille zur Macht, S. 275 |
Man
darf sich die Wahrheit bis so weit zugestehn, als man bereits erhöht genug
ist, um nicht mehr die Zwangsschule des moralischen Irrtums nötig
zu haben. Falls man das Dasein moralisch beurteilt, degoutiert es. Man
soll nicht falsche Personen erfinden, z.B. nicht sagen »die Natur ist grausam«.
Gerade einzusehen, daß es kein solches Zentralwesen der Verantwortlichkeit
gibt, erleichtert!Entwicklung der Menschheit.A.
Macht über die Natur zu gewinnen und dazu eine gewisse Macht über
sich. (Die Moral war nötig, um den Menschen durchzusetzen im Kampf mit Natur
und »wildem Tier«.) B. Ist
die Macht über die Natur errungen, so kann man diese Macht benutzen, um sich
selbst frei weiterzubilden: Wille zur Macht als Selbsterhöhung und
Verstärkung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 276 |
Moral
als Illusion der Gattung, um den einzelnen anzutreiben, sich der Zukunft
zu opfern: scheinbar ihm selbst einen unendlichen Wert zugestehend, so daß
er mit diesem Selbstbewußtsein andere Seiten seiner Natur tyrannisiert
und niederhält und schwer mit sich zufrieden ist. Tiefste Dankbarkeit für
das, was die Moral bisher geleistet hat: aber jetzt nur noch ein Druck,
der zum Verhängnis werden würde! Sie selbst zwingt als Redlichkeit
zur Moralverneinung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 276 |
Inwiefern
die Selbstvernichtung der Moral noch ein Stück ihrer eigenen Kraft
ist. Wir Europäer haben das Blut solcher in uns, die für ihren Glauben
gestorben sind; wir haben die Moral furchtbar und ernst genommen, und es ist nichts,
was wir ihr nicht irgendwie geopfert haben. Andrerseits: unsre geistige Feinheit
ist wesentlich durch Gewissens-Vivisektion erreicht worden. Wir wissen das »Wohin?«
noch nicht, zu dem wir getrieben werden, nachdem wir uns dergestalt von unsrem
alten Boden abgelöst haben. Aber dieser Boden selbst hat uns die Kraft angezüchtet,
die uns jetzt hinaustreibt in die Ferne, ins Abenteuer, durch die wir ins Uferlose,
Unerprobte, Unentdeckte hinausgestoßen werden es bleibt uns keine
Wahl, wir müssen Eroberer sein, nachdem wir kein Land mehr haben, wo wir
heimisch sind, wo wir »erhalten« möchten. Ein verborgenes Ja
treibt uns dazu, das stärker ist als alle unsre Neins. Unsre Stärke
selbst duldet uns nicht mehr im alten morschen Boden: wir wagen uns in die Weite,
wir wagen uns daran: die Welt ist noch reich und unentdeckt, und selbst Zugrundegehn
ist besser als halb und giftig werden. Unsre Stärke selbst zwingt uns aufs
Meer, dorthin, wo alle Sonnen bisher untergegangen sind: wir wissen um
eine neue Welt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 276-277 |
Zunächst
tut die absolute Skepsis gegen alle überlieferten Begriffe not (wie sie
vielleicht schon einmal ein Philosoph besessen hat Plato natürlich
, denn er hat das Gegenteil gelehrt).Ders., Der Wille zur Macht, S. 279 |
Gegen
die erkenntnistheoretischen Dogmen tief mißtrauisch, liebte ich es, bald
aus diesem, bald aus jenem Fenster zu blicken, hütete mich, mich darin festzusetzen,
hielt sie für schädlich, und zuletzt: ist es wahrscheinlich,
daß ein Werkzeug seine eigene Tauglichkeit kritisieren kann??
Worauf ich achtgab, war vielmehr, daß niemals eine erkenntnistheoretische
Skepsis oder Dogmatik ohne Hintergedanken entstanden ist, daß sie
einen Wert zweiten Ranges hat, sobald man erwägt, was im Grunde zu dieser
Stellung zwang. Grundeinsicht: sowohl Kant als Hegel, als Schopenhauer
sowohl die skeptisch-epochistische Haltung als die historisierende, als
die pessimistische sind moralischen Ursprungs. Ich sah niemanden,
der eine Kritik der moralischen Wertgefühle gewagt hätte: und
den spärlichen Versuchen, zu einer Entstehungsgeschichte dieser Gefühle
zu kommen (wie bei den englischen und deutschen Darwinisten) wandte ich bald den
Rücken. Wie erklärt sich Spinozas Stellung, seine Verneinung und Ablehnung
der moralischen Werturteile? (Es war eine Konsequenz seiner Theodizee!)Ders., Der Wille zur Macht, S. 280-281 |
Durch
moralische Hinterabsichten ist der Gang der Philosophie bisher am meisten aufgehalten
worden. Ders., Der Wille zur Macht, S. 281 |
Man
hat zu allen Zeiten die »schönen Gefühle« für Argumente
genommen, den »gehobenen Busen« für den Blasebalg der Gottheit,
die Überzeugung als »Kriterium der Wahrheit«, das Bedürfnis
des Gegners als Fragezeichen zur Weisheit: diese Falschheit, Falschmünzerei
geht durch die ganze Geschichte der Philosophie. Die achtbaren, aber nur spärlichen
Skeptiker abgerechnet, zeigt sich nirgends ein Instinkt von intellektueller Rechtschaffenheit.
Zuletzt hat noch Kant in aller Unschuld diese Denker-Korruption mit dem
Begriff »praktische Vernunft« zu verwissenschaftlichen gesucht:
er erfand eigens eine Vernunft dafür, in welchen Fällen man sich nicht
um die Vernunft zu kümmern brauche: nämlich wenn das Bedürfnis
des Herzens, wenn die Moral, wenn die »Pflicht« redet.Ders., Der Wille zur Macht, S. 281-282 |
Hegel:
seine populäre Seite die Lehre vom Krieg und den großen Männern.
Das Recht ist bei dem Siegreichen: er stellt den Fortschritt der Menschheit dar.
Versuch, die Herrschaft der Moral aus der Geschichte zu beweisen.Kant:
ein Reich der moralischen Werte, uns entzogen, unsichtbar, wirklich.Hegel:
eine nachweisbare Entwicklung, Sichtbarwerdung des moralischen Reiches.Wir
wollen uns weder auf die Kantische noch Hegelsche Manier betrügen lassen
wir glauben nicht mehr, wie sie, an die Moral und haben folglich
auch keine Philosophien zu gründen, damit die Moral recht behalte. Sowohl
der Kritizismus als der Historizismus hat für uns nicht darin seinen
Reiz nun, welchen hat er denn?Ders., Der Wille zur Macht, S. 282 |
Die
Bedeutung der deutschen Philosophie (Hegel): einen Pantheismus auszudenken,
bei dem das Böse, der Irrtum und das Leid nicht als Argumente gegen
Göttlichkeit empfunden werden. Diese grandiose Initiative ist mißbraucht
worden von den vorhandenen Mächten (Staat usw.), als sei damit die Vernünftigkeit
des gerade Herrschenden sanktioniert.Schopenhauer
erscheint dagegen als hartnäckiger Moral-Mensch, welcher endlich, um mit
seiner moralischen Schätzung recht zu behalten, zum Welt-Verneiner
wird. Endlich zum »Mystiker«.Ich
selbst habe eine ästhetische Rechtfertigung versucht: wie ist die Häßlichkeit
der Welt möglich? Ich nahm den Willen zur Schönheit, zum Verharren
in gleichen Formen, als ein zeitweiliges Erhaltungs- und Heilmittel: fundamental
aber schien mir das ewig-Schaffende als das ewig-Zerstören-Müssende
gebunden an den Schmerz. Das Häßliche ist die Betrachtungsform der
Dinge unter dem Willen, einen Sinn, einen neuen Sinn in das Sinnlos-gewordene
zu legen: die angehäufte Kraft, welche den Schaffenden zwingt, das Bisherige
als unhaltbar, mißraten, verneinungswürdig, als häßlich
zu fühlen!Ders., Der Wille zur Macht, S. 282-283 |
Meine
erste Lösung: die dionysische Weisheit. Lust an der Vernichtung des Edelsten
und am Anblick, wie er schrittweise ins Verderben gerät: als Lust am Kommenden,
Zukünftigen, welches triumphiert über das vorhandene noch so Gute.
Dionysisch: zeitweilige Identifikation mit dem Prinzip des Lebens (Wollust des
Märtyrers einbegriffen).Meine Neuerungen.
Weiter-Entwicklung des Pessimismus: der Pessimismus des Intellekts; die
moralische Kritik, Auflösung des letzten Trostes. Erkenntnis der Zeichen
des Verfalls: umschleiert durch Wahn jedes starke Handeln; die Kultur isoliert,
ist ungerecht und dadurch stark.1. Mein Anstreben
gegen den Verfall und die zunehmende Schwäche der Persönlichkeit. Ich
suchte ein neues Zentrum.2. Unmöglichkeit
dieses Strebens erkannt.3. Darauf ging ich
weiter in der Bahn der Auflösung darin fand ich für einzelne
neue Kraftquellen. Wir müssen Zerstörer sein! Ich
erkannte, daß der Zustand der Auflösung, in der einzelne Wesen
sich vollenden können wie nie ein Abbild und Einzelfall des allgemeinen
Daseins ist. Gegen die lähmende Empfindung der allgemeinen Auflösung
und Unvollendung hielt ich die ewige Wiederkunft.Ders., Der Wille zur Macht, S. 283-284 |
Die
deutsche Philosophie als Ganzes Leibniz, Kant, Hegel, Schopenhauer, um
die Großen zu nennen ist die gründlichste Art Romantik und Heimweh,
die es bisher gab: das Verlangen nach dem Besten, was jemals war. Man ist nirgends
mehr heimisch, man verlangt zuletzt nach dem zurück, wo man irgendwie heimisch
sein kann, weil man dort allein heimisch sein möchte: und das ist die griechische
Welt! Aber gerade dorthin sind alle Brücken abgebrochen ausgenommen
die Regenbogen der Begriffe! Und die führen überallhin, in alle Heimaten
und »Vaterländer«, die es für Griechen-Seelen gegeben hat!
Freilich: man muß sehr leicht, sehr dünn sein, um über diese Brücken
zu schreiten! Aber welches Glück liegt schon in diesem Willen zur Geistigkeit,
fast zur Geisterhaftigkeit! Wie ferne ist man damit von »Druck und Stoß«,
von der mechanischen Tölpelei der Naturwissenschaften, von dem Jahrmarkts-Lärme
der »modernen Ideen«! Man will zurück, durch die Kirchenväter
zu den Griechen, aus dem Norden nach dem Süden, aus den Formeln zu den Formen;
man genießt noch den Ausgang des Altertums, das Christentum, wie einen Zugang
zu ihm, wie ein gutes Stück alter Welt selber, wie ein glitzerndes Mosaik
antiker Begriffe und antiker Werturteile. Arabesken, Schnörkel, Rokoko scholastischer
Abstraktionen immer noch besser, nämlich feiner und dünner, als
die Bauern- und Pöbel-Wirklichkeit des europäischen Nordens, immer noch
ein Protest höherer Geistigkeit gegen den Bauernkrieg und Pöbel-Aufstand,
der über den geistigen Geschmack im Norden Europas Herr geworden ist und
welcher an dem großen »ungeistigen Menschen«, an Luther, seinen
Anführer hatte: in diesem Betracht ist deutsche Philosophie ein Stück
Gegenreformation, sogar noch Renaissance, mindestens Wille zur Renaissance, Wille
fortzufahren in der Entdeckung des Altertums, in der Aufgrabung der antiken
Philosophie, vor allem der Vorsokratiker der bestverschüt teten aller
griechischen Tempel! Vielleicht, daß man einige Jahrhunderte später
urteilen wird, daß alles deutsche Philosophieren darin seine eigentliche
Würde habe, ein schrittweises Wiedergewinnen des antiken Bodens zu sein,
und daß jeder Anspruch auf »Originalität« kleinlich und
lächerlich klinge im Verhältnis zu jenem höheren Anspruche der
Deutschen, das Band, das zerrissen schien, neu gebunden zu haben, das Band mit
den Griechen, dem bisher höchst gearteten Typus »Mensch«. Wir
nähern uns heute allen jenen grundsätzlichen Formen der Weltauslegung
wieder, welche der griechische Geist in Anaximander, Heraklit, Parmenides, Empedokles,
Demokrit und Anaxagoras erfunden hat, wir werden von Tag zu Tag griechischer,
zuerst, wie billig, in Begriffen und Wertschätzungen, gleichsam als gräzisierende
Gespenster: aber dereinst hoffentlich auch mit unserem Leibe! Hierin liegt
(und lag von jeher) meine Hoffnung für das deutsche Wesen!Ders., Der Wille zur Macht, S. 284-286 |
Theorie
und Praxis. Verhängnisvolle Unterscheidung, wie als ob es einen
eignen Erkenntnistrieb gebe, der, ohne Rücksicht auf Fragen des Nutzens und
Schadens, blindlings auf die Wahrheit losgehe: und dann, davon abgetrennt, die
ganze Welt der praktischen Interessen .... Dagegen suche ich zu zeigen,
welche Instinkte hinter all diesen reinen Theoretikern tätig gewesen
sind wie sie allesamt fatalistisch im Bann ihrer Instinkte auf etwas losgingen,
das für sie »Wahrheit« war, für sie und nur
für sie. Der Kampf der Systeme, samt dem der erkenntnistheoretischen Skrupel,
ist ein Kampf ganz bestimmter Instinkte (Formen der Vitalität, des Niedergangs,
der Stände, der Rassen usw.). Der sogenannte Erkenntnistrieb ist zurückzuführen
auf einen Aneignungs und Überwältigungstrieb: diesem
Triebe folgend haben sich die Sinne, das Gedächtnis, die Instinkte usw. entwickelt.
Die möglichst schnelle Reduktion der Phänomene, die Ökonomie, die
Akkumulation des erworbenen Schatzes an Erkenntnis (d.h. angeeigneter und handlich
gemachter Welt) .... Die Moral ist deshalb eine so kuriose Wissenschaft, weil
sie im höchsten Grade praktisch ist: so daß die reine Erkenntnisposition,
die wissenschaftliche Rechtschaffenheit sofort preisgegeben wird, sobald die Moral
ihre Antworten fordert. Die Moral sagt: ich brauche manche Antworten
Gründe, Argumente; Skrupel mögen hinterdrein kommen, oder auch nicht
. »Wie soll gehandelt werden?« Denkt man nun nach, daß
man mit einem souverän entwickelten Typus zu tun hat, von dem seit unzähligen
Jahrtausenden »gehandelt« worden ist, und alles Instinkt, Zweckmäßigkeit,
Automatismus, Fatalität geworden ist, so kommt einem die Dringlichkeit
dieser Moral Frage sogar ganz komisch vor. »Wie soll gehandelt werden?«
Moral war immer ein Mißverständnis: tatsächlich wollte
eine Art, die ein Fatum so und so zu handeln im Leibe hatte, sich rechtfertigen,
indem sie ihre Norm als Universalnorm aufdekretieren wollte . .... »Wie
soll gehandelt werden?« ist keine Ursache, sondern eine Wirkung. Die Moral
folgt, das Ideal kommt am Ende. Andrerseits verrät das Auftreten der
moralischen Skrupel (anders ausgedrückt: das Bewußtwerden der Werte,
nach denen man handelt) eine gewisse Krankhaftigkeit; starke Zeiten und
Völker reflektieren nicht über ihr Recht, über Prinzipien zu handeln,
über Instinkt und Vernunft. Das Bewußtwerden ist ein Zeichen
davon, daß die eigentliche Moralität, d. h. Instinkt Gewißheit
des Handelns, zum Teufel geht .... Die Moralisten sind, wie jedesmal, daß
eine neue Bewußtseins Welt geschaffen wird, Zeichen
einer Schädigung, Verarmung, Desorganisation. Die Tief Instinktiven
haben eine Scheu vor dem Logisieren der Pflichten: unter ihnen findet man
pyrrhonistische Gegner der Dialektik und der Erkennbarkeit überhaupt ....
Eine Tugend wird mit »um« widerlegt ....Thesis:
das Auftreten der Moralisten gehört in die Zeiten, wo es zu Ende geht
mit der Moralität.Thesis: der Moralist
ist ein Auflöser der moralischen Instinkte, so sehr er deren Wiederhersteller
zu sein glaubt.Thesis: das, was den Moralisten
tatsächlich treibt, sind nicht moralische Instinkte, sondern die Instinkte
der décadence, übersetzt in die Formeln der Moral ( er empfindet
das Unsicherwerden der Instinkte als Korruption).Thesis:
die Instinkte der décadence, die durch die Moralisten über die Instinkt
Moral starker Rassen und Zeiten Herr werden wollen, sind1.
die Instinkte der Schwachen und Schlechtweggekommenen;2.
die Instinkte der Ausnahmen, der Solitären, der Ausgelösten, des abortus
im Hohen und Geringen;3. die Instinkte der Habituell
Leidenden, welche eine noble Auslegung ihres Zustandes brauchen und deshalb
so wenig als möglich Physiologen sein dürfen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 287-290 |
Das
Erscheinen der griechischen Philosophen von Sokrates an ist ein Symptom der decadence;
die antihellenischen Instinkte kommen oben auf. .. Noch ganz hellenisch ist der
»Sophist« eingerechnet Anaxagoras, Demokrit, die großen
Ionier ; aber als Übergangsform. Die Polis verliert ihren Glauben
an die Einzigkeit ihrer Kultur, an ihr Herren Recht über jede andere
Polis. .... Man tauscht die Kultur, d.h. »die Götter« aus,
man verliert dabei den Glauben an das Allein Vorrecht des deus autochthonus.
Das Gut und Böse verschiedener Abkunft mischt sich: die Grenze zwischen Gut
und Böse verwischt sich. .... Das ist der »Sophist« ...
Der »Philosoph« dagegen ist die Reaktion: er will die alte Tugend.
Er sieht die Gründe des Verfalls im Verfall der Institutionen, er will alte
Institutionen; er sieht den Verfall im Verfall der Autorität: er sucht nach
neuen Autoritäten (Reise ins Ausland, in fremde Literaturen, in exotische
Religionen. ...); er will die ideale Polis, nachdem der Begriff
»Polis« sich überlebt hatte ( ungefähr wie die Juden sich
als »Volk« festhielten, nachdem sie in Knechtschaft gefallen waren).
Sie interessieren sich für alle Tyrannen: sie wollen die Tugend mit force
majeure wiederherstellen. Allmählich wird alles Echthellenische
verantwortlich gemacht für den Verfall (und Plato ist genau so undankbar
gegen Perikles, Homer, Tragödie, Rhetorik, wie die Propheten gegen David
und Saul). Der Niedergang von Griechenland wird als Einwand gegen die Grundlagen
der hellenischen Kultur verstanden: Grundirrtum der Philosophen . Schluß:
die griechische Welt geht zugrunde. Ursache: Homer, der Mythos, die antike
Sittlichkeit usw.. Die antihellenische Entwicklung des philosophen-Werturteils:
das Ägyptische (»Leben nach dem Tode« als Gericht ...);
das Semitische (die »Würde des Weisen«, der »Scheich«)
; die Pythagoreer, die unterirdischen Kulte, das Schweigen, die Jenseits-Furchtmittel,
die Mathematik: religiöse Schätzung, eine Art Verkehr mit dem
kosmischen All; das Priesterliche, Asketische, Transzendente; die
Dialektik, ich denke, es ist eine abscheuliche und pedantische Begriffsklauberei
schon in Plato ? Niedergang des guten geistigen Geschmacks: man empfindet
das Häßliche und Klappemde aller direkten Dialektik bereits nicht mehr.
Nebeneinander gehen die beiden décadence-Bewegungen und Extreme: a) die
üppige, liebenswürdig boshafte, prunk und kunstliebende
décadence und b) die Verdüsterung des religiös moralischen
Pathos, die stoische Selbst-Verhärtung, die platonische Sinnen-Verleumdung,
die Vorbereitung des Bodens für das Christentum.Ders., Der Wille zur Macht, S. 293-294 |
Wie
weit die Verderbnis der Psychologen durch die Moral Idiosynkrasie geht:
niemand der alten Philosophen hat den Mut zur Theorie des »unfreien
Willens« gehabt (d.h. zu einer die Moral negierenden Theorie); niemand
hat den Mut gehabt, das Typische der Lust, jeder Art Lust (»Glück«)
zu definieren als Gefühl der Macht: denn die Lust an der Macht galt als unmoralisch;
niemand hat den Mut gehabt, die Tugend als eine Folge der Unmoralität
(eines Machtwillens) im Dienste der Gattung (oder der Rasse oder der Polis) zu
begreifen (denn der Machtwille galt als Unmoralität). Es kommt in der ganzen
Entwicklung der Moral keine Wahrheit vor: alle Begriffs Elemente, mit denen
gearbeitet wird, sind Fiktionen; alle Psychologica, an die man sich hält,
sind Fälschungen; alle Formen der Logik, welche man in dies Reich der Lüge
einschleppt, sind Sophismen. Was die Moral Philosophen selbst auszeichnet,
das ist die vollkommene Absenz jeder Sauberkeit, jeder Selbstzucht des Intellekts:
sie halten »schöne Gefühle« für Argumente: ihr »geschwellter
Busen« dünkt ihnen der Blasebalg der Gottheit .... Die Moral
Philosophie ist die skabröse Periode in der Geschichte des Geistes. Das erste
große Beispiel: unter dem Namen der Moral, als Patronat der Moral ein unerhörter
Unfug ausgeübt, tatsächlich eine décadence in jeder Hinsicht.
Man kann nicht streng genug darauf insistieren, daß die großen griechischen
Philosophen die décadence jedweder griechischen Tüchtigkeit
repräsentieren und kontagiös machen .... Diese gänzlich
abstrakt gemachte »Tugend« war die größte Verführung,
sich selbst abstrakt zu machen: d.h. sich herauszulösen. Der Augenblick
ist sehr merkwürdig: die Sophisten streifen an die erste Kritik der Moral,
die erste Einsicht über die Moral: sie stellen die Mehrheit (die lokale
Bedingtheit) der moralischen Werturteile nebeneinander; sie geben zu verstehen,
daß jede Moral sich dialektisch rechtfertigen lasse: d. h. sie erraten,
wie alle Begründung einer Moral notwendig sophistisch sein muß
ein Satz, der hinterdrein im allergrößten Stil durch die antiken Philosophen
von Plato an (bis Kant) bewiesen worden ist; sie stellen die erste Wahrheit
hin, daß eine »Moral an sich«, ein »Gutes an sich«
nicht existiert, daß es Schwindel ist, von »Wahrheit« auf diesem
Gebiete zu reden.Wo war nur die intellektuelle
Rechtschaffenheit damals?Die griechische
Kultur der Sophisten war aus allen griechischen Instinkten herausgewachsen; sie
gehört zur Kultur der Perikleischen Zeit, so notwendig wie Plato nicht zu
ihr gehört: sie hat ihre Vorgänger in Heraklit, in Demokrit, in den
wissenschaftlichen Typen der alten Philosophie; sie hat in der hohen Kultur des
Thukydides z.B. ihren Ausdruck. Und sie hat schließlich recht bekommen:
jeder Fortschritt der erkenntnistheoretischen und moralistischen Erkenntnis hat
die Sophisten restituiert .... Unsre heutige Denkweise ist in einem hohen
Grade heraklitisch, demokritisch und protagoreisch ..., es genügte zu sagen,
daß sie protagoreisch sei: weil Protagoras die beiden Stücke Heraklit
und Demokrit in sich zusammennahm. (Plato: ein großer Cagliostro
man denke, wie ihn Epikur beurteilte; wie ihn Timon, der Freund Pyrrhos,
beurteilte. Steht vielleicht die Rechtschaffenheit Platos außer
Zweifel? ... Aber wir wissen zum mindesten, daß er als absolute Wahrheit
gelehrt wissen wollte, was nicht einmal bedingt ihm als Wahrheit galt:
nämlich die Sonder Existenz und Sonder Unsterblichkeit der
»Seelen«.).Ders., Der Wille zur Macht, S. 294-296 |
Die
Sophisten sind nichts weiter als Realisten: sie formulieren die allen gang
und gäben Werte und Praktiken zum Rang der Werte, sie haben den Mut,
den alle starken Geister haben, um ihre Unmoralität zu wissen ....
Glaubt man vielleicht, daß diese kleinen griechischen Freistädte, welche
sich vor Wut und Eifersucht gern aufgefressen hätten, von menschenfreundlichen
und rechtschaffenen Prinzipien geleitet wurden? Macht man vielleicht dem Thukydides
einen Vorwurf aus seiner Rede, die er den athenischen Gesandten in den Mund legt,
als sie mit den Meliern über Untergang oder Unterwerfung verhandeln? Inmitten
dieser entsetzlichen Spannung von Tugend zu reden war nur vollendeten Tartüffs
möglich oder Abseits Gestellten, Einsiedlern, Flüchtlingen
und Auswanderern aus der Realität .... Alles Leute, die negierten, um selber
leben zu können. Die Sophisten waren Griechen: als Sokrates und Plato
die Partei der Tugend und Gerechtigkeit nahmen, waren sie Juden oder ich
weiß nicht was . Die Taktik Grotes zur Verteidigung der Sophisten
ist falsch: er will sie zu Ehrenmännern und Moral Standarten erheben
aber ihre Ehre war, keinen Schwindel mit großen Worten und Tugenden
zu treiben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 296-297 |
Die
große Vernunft in aller Erziehung zur Moral war immer, daß man hier
die Sicherheit eines Instinkts zu erreichen suchte: so daß weder
die gute Absicht, noch die guten Mittel als solche erst ins Bewußtsein traten.
So wie der Soldat exerziert, so sollte der Mensch handeln lernen. In der Tat gehört
dieses Unbewußtsein zu jeder Art Vollkommenheit: selbst noch der Mathematiker
handhabt seine Kombinationen unbewußt .... Was bedeutet nun die Reaktion
des Sokrates, welcher die Dialektik als Weg zur Tugend anempfahl und sich darüber
lustig machte, wenn die Moral sich nicht logisch zu rechtfertigen wußte?
.... Aber eben das Letztere gehört zu ihrer Güte, ohne
Unbewußtheit taugt sie nichts! .... Scham erregen war ein notwendiges
Attribut des Vollkommenen! .... Es bedeutet exakt die Auflösung der griechischen
Instinkte, als man die Beweisbarkeit als Voraussetzung der persönlichen
Tüchtigkeit in der Tugend voranstellte. Es sind selbst Typen der Auflösung,
alle diese großen Tugendhaften und Wortemacher .... In praxi
bedeutet es, daß die moralischen Urteile aus ihrer Bedingtheit, aus der
sie gewachsen sind und in der allein sie Sinn haben, aus ihrem griechischen und
griechisch politischen Grund und Boden ausgerissen werden und, unter dem
Anschein von Sublimierung, entnatürlicht werden. Die großen
Begriffe »gut«, »gerecht« werden losgemacht von den Voraussetzungen,
zu denen sie gehören: und als freigewordne »Ideen« Gegenstände
der Dialektik. Man sucht hinter ihnen eine Wahrheit, man nimmt sie als Entitäten
oder als Zeichen von Entitäten: man erdichtet eine Welt, wo sie zu
Hause sind, wo sie herkommen .... In summa: der Unfug ist auf seiner Spitze bereits
bei Plato .... Und nun hatte man nötig, auch den abstrakt vollkommenen
Menschen hinzu zu erfinden: gut, gerecht, weise, Dialektikerkurz
die Vogelscheuche des antiken Philosophen, eine Pflanze, aus jedem Boden
losgelöst; eine Menschlichkeit ohne alle bestimmten regulierenden Instinkte;
eine Tugend, die sich mit Gründen »beweist«. Das vollkommen absurde
»Individuum« an sich! die Unnatur höchsten Rangs ....
Kurz, die Entnatürlichung der Moralwerte hatte zur Konsequenz, einen entartenden
Typus des Menschen zu schaffen »den Guten«, »den
Glücklichen«, »den Weisen«. Sokrates ist ein Moment der
tiefsten Perversität in der Geschichte der Werte.Ders., Der Wille zur Macht, S. 297-298 |
Sokrates.
Dieser Ummschlag des Geschmacks zugunsten der Dialektik ist ein großes
Fragezeichen. Was geschah eigentlich? Sokrates ... kam mit ihm über einen
vornehmeren Geschmack, den Geschmack der Vornehmen, zum Sieg: der
Pöbel kam mit der Dialektik zum Sieg. Vor Sokrates lehnte man seitens aller
guten Gesellschaft die dialektische Manier ab; man glaubte, daß sie bloßstellte;
man warnte die Jugend vor ihr. Wozu diese Etalage von Gründen? Wozu eigentlich
beweisen? Gegen andere hatte man die Autorität. Man befahl: das genügte.
Unter sich, inter pares, hat man das Herkommen, auch eine Autorität:
und, zu guter Letzt, man »verstand sich«! Man fand gar keinen Platz
für Dialektik. Auch mißtraute man solchem offnen Präsentieren
seiner Argumente. Alle honnetten Dinge halten ihre Gründe nicht so in der
Hand. Es ist etwas Unanständiges darin, alle fünf Finger zu zeigen.
Was sich »beweisen« läßt, ist wenig wert. Daß
Dialektik Mißtrauen erregt, daß sie wenig überredet, das weiß
übrigens der Instinkt der Redner aller Parteien. Nichts ist leichter wegzuwischen
als ein Dialektiker-Effekt. Dialektik kann nur eine Notwehr sein. Man muß
in der Not sein, man muß sein Recht zu erzwingen haben: eher macht
man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren deshalb Dialektiker, Reineke Fuchs
war es, Sokrates war es. Man hat ein schonungsloses Werkzeug in der Hand. Man
kann mit ihr tyrannisieren. Man stellt bloß, indem man siegt. Man überläßt
seinem Opfer den Nachweis, kein Idiot zu sein. Man macht wütend und hilflos,
während man selber kalte, triumphierende Vernünftigkeit bleibt, man
depotenziert die Intelligenz seines Gegners. Die Ironie des Dialektikers
ist eine Form der Pöbel-Rache: die Unterdrückten haben ihre Ferozität
in den kalten Messerstichen des Syllogismus. .... Bei Plato, als bei einem Menschen
der überreizbaren Sinnlichkeit und Schwärmerei, ist der Zauber des Bgriffs
so groß geworden,d aß er unwillkürlich den Begriff als eine Idealform
verehrte und vergötterte. Dialektik-Trunkenheit: als das Bewußtsein,
mit ihr eine Herrschaft über sich auszuüben als Werkzeug
des Machtwillens.Ders., Der Wille zur Macht, S. 298-300 |
Ich
suche zu begreifen, aus welchen partiellen und idiosynkratischen Zuständen
das sokratische Prtoblem ableitbar ist: seine Gleichsetzung von Vernunft = Tugend
= Glück. Mit diesem Absurdum von Identitätslehre hat er bezaubert:
die antike Philosophie kam nicht wieder davon los .... Absoluter Mangel an objektivem
Interesse: Haß gegen die Wissenschaft: Idiosynkrasie, sich selbst als Problem
zu fühlen. Akustische Halluzinationen bei Sokrates: morbides Element. Mit
Moral sich abgeben widersteht am meisten, wo der Geist reich und unabhängig
ist. Wie kommt es, daß Sokrates Moral-Monoman ist? Alle »praktische«
Philosophie tritt in Notlagen sofort in den Vordergrund. Moral und Religion als
Hauptinteressen sind Notstands-Zeichen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 300-301 |
Die
décadence verrät sich in dieser Präokkupation des »Glücks«
(d.h. des »Heils der Seele«, d.h. seinen Zustand als Gefahr
empfinden). Ihr Fanatismus des Interesses für »Glück« zeigt
die Pathologie des Untergrundes: es war ein Lebensinteresse. Vernünftig sein
oder zugrunde gehn war die Alternative, vor der sie alle standen. Der Moralismus
der griechischen Philosophen zeigt, daß sie sich in Gefahr fühlten
....Ders., Der Wille zur Macht, S. 302 |
Die
antiken Philosophen bekämpfen alles, was berauscht, was die absolute
Kälte und Neutralität des Bewußtseins beeinträchtigt ....
Sie waren konsequent, auf Grund ihrer falschen Voraussetzung: daß Bewußtsein
der hohe, der oberste Zustand sei, die Voraussetzung der Vollkommenheit,
wäheend das Gegenteil wahr ist. Ders., Der Wille zur Macht, S. 303 |
Die
antiken Philosophen waren die größten Stümper der Praxis,
weil sie sich theoretisch verurteilten, zur Stümperei .... In praxi
lief alles auf Schauspielrei hinaus: und wer dahinter kam, Pyrrho z.B.,
urteilte wie jedermann, nämlich: daß in der Güte und Rechtschaffenheit
die »kleinen Leute« den Philosohen weit über sind. Alle tieferen
Naturen des Altertums haben Ekel an den Philosophen der Tugend gehabt;
man sah Streithämmel und Schauspieler in ihnen. (Urteil über Plato:
seitens Epikurs, seitens Pyrrhos).Ders., Der Wille zur Macht, S. 303 |
Die
eigentlichen Philosophen der Griechen sind die vor Sokrates ( mit
Sokrates verändert sich etwas).Ders., Der Wille zur Macht, S. 305 |
Ich
sehe nur noch Eine originale Figur in dem Kommenden: eine Spätling, aber
notwendig den letzten, den NIhilisten Pyrrho: er hat den
Instinkt gegen alles Das, was inzwischen obenauf gekommen war, die Sokratiker,
Platon den Artisten-Optimismus Heraklits. (Pyyrho greift über Protagoras
zu Demokrit zurück ...).Ders., Der Wille zur Macht, S. 305 |
Die
weise Müdigkeit: Pyrrho. Unter den Niedrigen leben, niedrig. Kein Stolz.
Auf die gemeine Art leben; ehren und glauben, was alle glauben. Auf der Hut gegen
Wissenschaft und Geist, auch alles, was bläht .... Einfach: unbeschreiblich
geduldig, unbekümmert, mild; apaqeia, mehr
noch prauths. Ein Buddhist für Griechenland,
zwischen dem Tumult der Schulen aufgewachsen; spät gekommen; ermüdet;
der Protest des Müden gegen den Eifer der Dialektiker; der Unglaube des Müden
an die Wichtigkeit aller Dinge. Er hat Alexander gesehn, er hat die indischen
Büßer gesehn. Auf solche Späte und Raffinierte wirkt alles
Niedrige, alles Arme, alles Idiotische selbst verführerisch. Das narkotisiert:
das macht ausstrecken (Pascal). Sie empfinden andrerseits, mitten im Gewimmel
und verwechselt mit jedermann, ein wenig Wärme: sie haben Wärme
nötig, diese Müden .... Den Widerspruch überwinden; kein Wettkampf;
kein Wille zur Auszeichnung: die griechischen Instinkte verneinen. (Pyrrho
lebte mit seiner Schwester zusammen, die Hebamme war.) Die Weisheit verkleiden,
daß sie nicht mehr auszeichnet; ihr einen Mantel von Armut und Lumpen geben;
die niedrigsten Verrichtungen tun: auf den Markt gehn und Milchschweine verkaufen
.... Süßigkeit; Helle; Gleichgültigkeit; keine Tugenden, die Gebärden
brauchen: sich auch in der Tugend gleichsetzen: letzte Selbstüberwindung,
letzte Gleichgültigkeit. Pyrrho, gleich Epikur, zwei Formen der griechischen
décadence: verwandt im Haß gegen die Dialektik und gegen alle schauspielerischen
Tugenden beides zusammen hieß damals Philosophie ; absichtlich
das, was sie lieben, niedrig achtend; die gewöhnlichen, selbst verachteten
Namen dafür wählend; einen Zustand darstellend, wo man weder krank,
noch gesund, noch lebendig, noch tot ist .... Epikur naiver, idyllischer, dankbarer;
Pyrrho gereister, verlebter, nihilistischer .... Sein Leben war ein Protest gegen
die große Identitätslehre (Glück = Tugend = Erkenntnis).
Das rechte Leben fördert man nicht durch Wissenschaft: Weisheit macht nicht
»weise« .... Das rechte Leben will nicht Glück, sieht ab von
Glück.Ders., Der Wille zur Macht, S. 305-307 |
Der
Kampf gegen Sokrates, Plato, die sämtlichen sokratischen Schulen geht von
dem tiefen Instinkt aus, daß man den Menschen nicht besser macht, wenn man
ihm die Tugend als beweisbar, als gründefordernd darstellt... Zuletzt ist
es die mesquine Tatsache, daß der agonale Instinkt alle diese gebornen Dialektiker
dazu zwang, ihre Personal-Fähigkeit als oberste Eigenschaft zu
verherrlichen und alles übrige Gute als bedingt durch sie darzustellen.
Der antiwissenschaftliche Geist dieser ganzen »Philosophie«:
sie will recht behalten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 309 |
Das
ist außerordentlich. Wir finden von Anfang der griechischen Philosophie
an einen Kampf gegen die Wissenschaft, mit den Mitteln einer Erkenntnistheorie,
resp. Skepsis: und wozu? Immer zugunsten der Moral. (Der Haß gegen
die Physiker und Ärzte). Sokrates, Aristipp, die Megariker, die Cyniker,
Epikur, Pyrrho General-Ansturm gegen die Erkenntnis zugunsten der Moral
.... (Haß auch gegen die Dialektik). Es bleibt ein Problem: sie nähern
sich der Sophistik, um die Wissenschaft loszuwerden Andererseits sind die Physiker
alle so weit unterjocht, um das Schema der Wahrheit, des wahren Seins in ihre
Fundamente aufzunehmen: z.B. das Atom, die 4 Elemente (Juxtaposition eines
Seienden, um die Vielheit und Veränderung zu erklären ). Verachtung
gelehrt gegen die Objektivität des Interesses: Rückkehr zu dem praktischen
Interesse, zur Personal-Nützlichkeit aller Erkenntnis .... Der Kampf gegen
die Wissenschaft richtet sich gegen 1) deren
Pathos (Objektivität), 2) deren Mittel (d.h.
gegen deren Nützlichkeit),3) deren Resultate
(als kindisch).Es ist derselbe Kampf, der später
wieder von Seiten der Kirche, im Namen der Frömmigkeit geführt
wird: : sie erbt das ganze antike Rüstzeug zum Kampfe. Die Erkenntnistheorie
spielt dabei dieselbe Rolle, wie bei Kant, wie bei den Indern .... Man will sich
nicht drum zu bekümmern haben: man will die Hand behalten für seinen
»Weg«. Wogegen wehren sie sich eigentlich? Gegen die Verbindlichkeit,
gegen die Gesetzlichkeit, gegen die Nötigung, Hand in Hand zu gehen :
ich glaube, man nennt das Freiheit .... Darin drückt sich décadence
aus: der Instinkt der Solidarität ist so entartet, daß die Solidarität
als Tyrannei empfunden wird: sie wollen keine Autorität, keine Solidarität,
keine Einordnung in Reih und Glied zu unedler Langsamkeit der Bewegung. Sie
hassen das Schrittweise, das Tempo der Wissenschaft, sie hassen das Nicht-anlangen-Wollen,
den langen Atem, die Personal-Indifferenz des wissenschaftlichen Menschen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 309-310 |
Im
Grunde ist die Moral gegen die Wissenschaft feindlich gesinnt: schon Sokrates
war dies und zwar deshalb, weil die Wissenschaft Dinge als wichtig nimmt,
welche mit »gut« und »böse« nichts zu schaffen haben,
folglich dem Gefühl für »gut« und »böse«
Gewicht nehmen. Die Moral nämlich will, daß ihr der ganze Mensch
und seine gesamte Kraft zu Diensten sei: sie hält es für die Verschwendung
eines solchen, der zum Verschwenden nicht reich genug ist, wenn der Mensch
sich ernstlich um Pflanzen und Sterne kümmert. Deshalb ging in Griechenland,
als Sokrates die Krankheit des Moralisierens in die Wissenschaft eingeschleppt
hatte, es geschwinde mit der Wissenschaftlichkeit abwärts; eine Höhe,
wie die in der Gesinnung eines Demokrit, Hippokrates und Thukydides, ist nicht
zum zweiten Male erreicht worden.Ders., Der Wille zur Macht, S. 310-311 |
Der
Wahn, der glücklich macht, ist verderblicher als der, welcher direkt schlimme
Folgen hat: letzterer schärft, macht mißtrauisch, reinigt die Vernunft,
ersterer schläfert sie ein ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 315 |
Die
psychologischen Verwechslungen: das Verlangen nach Glauben
verwechselt mit dem »Willen zur Wahrheit« (z.B. bei Carlyle). Aber
ebenso ist das Verlangen nach Unglauben verwechselt worden mit dem »Willen
zur Wahrheit« ( ein Bedürfnis, loszukommen von einem Glauben,
aus hundert Gründen: Recht zu bekommen gegen irgendwelche »Gläubigen«).
Was inspiriert die Skeptiker? Der Haß gegen die Dogmatiker
oder ein Ruhe-Bedürfnis, eine Müdigkeit, wie bei Pyrrho. Die Vorteile,
welche man von der Wahrheit erwartete, waren die Vorteile des Glaubens an sie:
an sich nämlich könnte ja die Wahrheit durchaus peinlich, schädlich,
verhängnisvoll sein . Man hat die »Wahrheit« auch nur wieder
bekämpft, als man Vorteile sich vom Siege versprach z.B. Freiheit
von den herrschenden Gewalten. Die Methodik der Wahrheit ist nicht aus Motiven
der Wahrheit gefunden worden, sondern aus Motiven der Macht, des Überlegen-sein-wollens.
Womit beweist sich die Wahrheit? Mit dem Gefühl der erhöhten Macht
mit der Nützlichkeit mit der Unentbehrlichkeit kurz mit
Vorteilen (nämlich Voraussetzungen, welcher Art die Wahrheit beschaffen
sein sollte, um von uns anerkannt zu werden). Aber das ist ein Vorurteil:
ein Zeichen, daß es sich gar nicht um Wahrheit handelt .... Was bedeutet
z.B. der »Wille zur Wahrheit« bei den Goncourts? bei den Naturalisten?
Kritik der »Objektivität«. Warum erkennen: warum nicht
lieber sich täuschen? .... Was man wollte, war immer der Glaube und
nicht die Wahrheit .... Der Glaube wird durch entgegengesetzte Mittel geschaffen
als die Methodik der Forschung : er schließt letztere selbst aus .Ders., Der Wille zur Macht, S. 316-317 |
Nicht
Theorie und Praxis trennen!Ders., Der Wille zur Macht, S. 319 |
Daß
nichts von dem wahr ist, was ehemals als wahr galt . Was als unheilig, verboten,
verächtlich, verhängnisvoll ehemals verachtet wurde : alle diese
Blumen wachsen heute am lieblichen Pfade der Wahrheit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 320 |
Diese
ganze Moral geht uns nichts mehr an: es ist kein Begriff darin, der noch Achtung
verdiente. Wir haben sie überlebt .... Unser Kriterium der Wahrheit
ist durchaus nicht die Moralität: wir widerlegen eine Behauptung damit,
daß wir sie als abhängig von der Moral, als inspiriert durch edle Gefühle
beweisen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 320 |
Der
Mensch sucht nach einem Prinzip, von wo aus er den Menschen verachten kann,
er erfindet eine Welt, um diese Welt verleumden und beschmutzen zu können:
tatsächlich greift er jedesmal nach dem Nichts und konstruiert das Nichts
zum »Gott«, zur »Wahrheit« und jedenfalls zum Richter
und Verurteiler dieses Seins ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 321 |
Was
blieb ihnen übrig, als, je mehr sie das Dasein begriffen, um so mehr zu ihm
nein zu sagen? ..... Dieses Dasein ist unmoralisch .... Und dieses Leben
ruht auf unmoralischen Voraussetzungen: und alle Moral verneint das Leben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 322 |
Schaffen
wir die wahrte Welt ab: und um dies zu könne, haben wir die bisherigen obersten
Werte anzuschaffen, die Moral .... Es genügt nachzuweisen, daß auch
die Moral unmoralisch ist, in dem Sinne, in welchem das Unmoralische bis
jetzt verurteilt worden sit. Ist auf diese Weise die Tyrannei der bisherigen Werte
gebrochen, haben wir die »wahre Welt« abgeschafft, so wird eine neue
Ordnung der Werte von selbst folgen müssen..Ders., Der Wille zur Macht, S. 322 |
Die
scheinbare Welt und die erlogene Welt ist der Gegensatz. Letztere hieß
bisher die »wahre Welt«, die »Wahrheit«, »Gott«.
Diese haben wir abzuschaffen.Logik meiner
Konzeption:1. Moral als oberster Wert
(Herrin über alle Phasen der Philosophie, selbst der Skeptiker). Resultat:
diese Welt taugt nichts, sie ist nicht die »wahre Welt«. 2.
Was bestimmt hier den obersten Wert? Was ist eigentlich Moral? Der
Instinkt der décadence; es sind die Erschöpften und Enterbten, die
auf diese Weise Rache nehmen. Historischer Nachweis: die Philosophen
sind immer décadents ... im Dienste der nihilistischen Religionen.3.
Der Instinkt der décadence, der als Wille zur Macht auftritt. Beweis:
die absolute Unmoralität der Mittel in der ganzen Geschichte der Moral.Gesamteinsicht:
die bisherigen höchsten Werte sind ein Spezialfall des Willens zur Macht;
die Moral selbst ist ein Spezialfall der Unmoralität.Ders., Der Wille zur Macht, S. 322-323 |
Prinzipielle
Neuerungen:An Stelle der »moralischen Werte«
lauter naturalistische Werte. Vernatürlichung der Moral.An
Stelle der »Soziologie« eine Lehre von den Herrschaftsgebilden.An
Stelle der »Gesellschaft« den Kultur-Komplex, als mein Vorzugs-Interesse
(gleichsam als Ganzes, bezüglich in seinen Teilen).An
Stelle der »Erkenntnistheorie« eine Perspektiven-Lehre der Affekte
(wozu eine Hierarchie der Affekte gehört: die transfigurierten Affekte,
deren höhere Ordnung, deren »Geistigkeit«).An
Stelle von »Metaphysik« und Religion die Ewige Wiederkunftslehre
(diese als Mittel der Züchtung und Auswahl).Ders., Der Wille zur Macht, S. 323-324 |
Meine
Vorbereiter:Schopenhauer: Inwiefern ich den Pessimismus
vertiefte und durch Erfindung seines höchsten Gegensatzes erst ganz mir zum
Gefühl brachte.Sodann: die höheren
Europäer, Vorläufer der großen Politik.Sodann:
die Griechen und ihre Entstehung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 324 |
Ich
nannte meine unbewußten Arbeiter und Vorbereiter. Wo aber dürfte ich
mit einiger Hoffnung nach meiner Art von Philosophen selber, zum mindesten nach
meinem Bedürfnis neuer Philosophen suchen? Dort allein, wo eine vornehme
Denkweise herrscht, eine solche, welche an Sklaverei und an viele Grade der
Hörigkeit als an die Voraussetzung jeder höheren Kultur glaubt; wo eine
schöpferische Denkweise herrscht, welche nicht der Welt das Glück
der Ruhe, den »Sabbat aller Sabbate« als Ziel setzt und selber im
Frieden das Mittel zu neuen Kriegen ehrt; eine der Zukunft Gesetze vorschreibende
Denkweise, welche um der Zukunft willen sich selber und alles Gegenwärtige
hart und tyrannisch behandelt; eine unbedenkliche, »unmoralische«
Denkweise, welche die guten und die schlimmen Eigenschaften des Menschen gleichermaßen
ins Große züchten will, weil sie sich die Kraft zutraut, beide an die
rechte Stelle zu setzen, an die Stelle, wo sie beide einander not tun.
Aber wer also heute nach Philosophen sucht, welche Aussicht hat er, zu finden,
was er sucht? Ist es nicht wahrscheinlich, daß er, mit der besten Diogenes-Laterne
suchend, umsonst tags- und nachtsüber herumläuft? Das Zeitalter hat
die umgekehrten Instinkte: es will vor allem und zuerst Bequemlichkeit;
es will zu zweit Öffentlichkeit und jenen großen Schauspieler-Lärm,
jenes große Bumbum, welches seinem Jahrmarkts-Geschmacke entspricht; es
will zu dritt, daß jeder mit tiefster Untertänigkeit vor der größten
aller Lügen diese Lüge heißt »Gleichheit der Menschen«
auf dem Bauche liegt, und ehrt ausschließlich die gleichmachenden,
gleichstellenden Tugenden. Damit aber ist es der Entstehung des Philosophen,
wie ich ihn verstehe, von Grund aus entgegengerichtet, ob es schon in aller Unschuld
sich ihm förderlich glaubt. In der Tat, alle Welt jammert heute darüber,
wie schlimm es früher die Philosophen gehabt hätten, eingeklemmt zwischen
Scheiterhaufen, schlechtes Gewissen und anmaßliche Kirchenväter-Weisheit:
die Wahrheit ist aber, daß eben darin immer noch günstigere
Bedingungen zur Erziehung einer mächtigen, umfänglichen, verschlagenen
und verwegen-wagenden Geistigkeit gegeben waren als in den Bedingungen des heutigen
Lebens. Heute hat eine andere Art von Geist, nämlich der Demagogen-Geist,
der Schauspieler-Geist, vielleicht auch der Biber- und Ameisen-Geist des Gelehrten
für seine Entstehung günstige Bedingungen. Aber um so schlimmer sieht
es schon mit den höheren Künstlern: gehen sie denn nicht fast alle an
innerer Zuchtlosigkeit zugrunde? Sie werden nicht mehr von außen her, durch
die absoluten Werttafeln einer Kirche oder eines Hofes, tyrannisiert: so lernen
sie auch nicht mehr ihren »inneren Tyrannen« großziehen, ihren
Willen. Und was von den Künstlern gilt, gilt in einem höheren
und verhängnisvolleren Sinne von den Philosophen. Wo sind denn heute freie
Geister? Man zeige mir doch heute einen freien Geist!Ders., Der Wille zur Macht, S. 324-326 |
Ich
verstehe unter »Freiheit des Geistes« etwas sehr Bestimmtes: hundertmal
den Philosophen und andern Jüngern der »Wahrheit« durch Strenge
gegen sich überlegen sein, durch Lauterkeit und Mut, durch den unbedingten
Willen, nein zu sagen, wo das Nein gefährlich ist ich behandle die
bisherigen Philosophen als verächtliche libertins unter der Kapuze des Weibes
»Wahrheit«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 326 |
Nicht
der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19. Jahrhundert auszeichnet,
sonder der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft.Ders., Der Wille zur Macht, S. 329 |
Ich
halte die Phänomenalität auch der inneren Welt fest: Alles, was
uns bewußt wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisiert,
ausgelegt, der wirkliche Vorgang der inneren »Wahrnehmung«,
die Kausalvereinigung zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, zwischen
Subjekt und Objekt ist uns absolut verborgen ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 332 |
Es
gibt weder »Geist«, noch Vernunft, noch Denken, noch Bewußtsein,
noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit: Alles Fiktionen, die unbrauchbar sind.
Es handelt sich nicht um »Subjekt und Objekt«, sondern um eine bestimmte
Tierart, welche nur unter einer gewissen relativen Richtigkeit,
vor allem Regelmäßigkeit ihrer Wahrnehmungen (so daß sie
Erfahrung kapitalisieren kann) gedeiht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 336 |
Durch
das Denken wird das Ich gesetzt; aber bisher glaubte man wie das Volk, im »Ich
denke« liege etwas von Unmittelbar-Gewissem, und dieses »Ich«
sei die gegebene Ursache des Denkens, nach deren Analogie wir alle sonstigen
ursächlichen Verhältnisse verstünden. Wie sehr gewohnt und unentbehrlich
jetzt jene Fiktion auch sein mag das allein beweist noch nichts gegen ihre
Erdichtetheit: es kann ein Glaube Lebensbedingung und trotzdem falsch sein.Ders., Der Wille zur Macht, S. 337-338 |
Daß
aber ein Glaube, so notwendig er ist zur Erhaltung von Wesen, nichts mit der Wahrheit
zu tun hat, erkennt man z.B. selbst daran, daß wir an Zeit, Raum und Bewegung
glauben müssen, ohne uns gezwungen zu fühlen, hier absolute Realität
zuzugestehen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 340 |
Alles,
was als »Einheit« ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer
kompliziert: wir haben immer nur einen Anschein von Einheit. Das Phänomen
des Leibes ist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen:
methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 341 |
Die
Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist
es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel
und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zugrunde
liegt. Eine Art Aristokratie von »Zellen«, in denen die Herrschaft
ruht? Gewiß von pares, welche miteinander ans Regieren gewöhnt sind
und zu befehlen verstehen?Meine Hypothesen:Das
Subjekt als Vielheit.Der Schmerz intellektuell
und abhängig vom Urteil »schädlich«: projiziert.Die
Wirkung immer »unbewußt«: die erschlossene und vorgestellte
Ursache wird projiziert, folgt der Zeit nach.Die
Lust ist eine Art des Schmerzes.Die einzige Kraft,
die es gibt, ist gleicher Art wie die des Willens: ein Kommandieren an andere
Subjekte, welche sich daraufhin verändern.Die
beständige Vergänglichkeit und Flüchtigkeit des Subjekts. »Sterbliche
Seele«.Die Zahl als perspektivische
Form.Ders., Der Wille zur Macht, S. 341-342 |
Der
Glaube an den Leib ist fundamentaler als der Glaube an die Seele: letzterer
ist entstanden aus der unwissenschaftlichen Betrachtung der Agonien des Leibes
(etwas, das ihn verläßt. Glaube an die Wahrheit des Traumes
).Ders., Der Wille zur Macht, S. 342 |
Wahrheit
ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen
nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 343 |
Es
ist unwahrscheinlich, daß unser »Erkennen« weiter reichen sollte,
als es knapp zur Erhaltung des Lebens ausreicht. Die Morphologie zeigt uns, wie
die Sinne und die Nerven sowie das Gehirn sich entwickeln im Verhältnis zur
Schwierigkeit der Ernährung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 343 |
»Der
Sinn für Wahrheit« muß, wenn die Moralität des »Du
sollst nicht lügen« abgewiesen ist, sich vor einem andern Forum legitimieren
als Mittel der Erhaltung von Mensch, als Macht-Wille. Ebenso unsre
Liebe zum Schönen: ist ebenfalls der gestaltende Wille. Beide Sinne
stehen beieinander; der Sinn für das Wirkliche ist das Mittel, die Macht
in die Hand zu bekommen, um die Dinge nach unserem Belieben zu gestalten. Die
Lust am Gestalten und Umgestalten eine Urlust! Wir können nur eine
Welt begreifen, die wir selber gemacht haben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 344 |
Die
bestgeglaubten apriorischen »Wahrheiten« sind für mich
Annahmen bis auf weiteres, z.B. das Gesetz der Kausalität, sehr gut
eingeübte Gewöhnungen des Glaubens, so einverleibt, daß nicht
daran glauben das Geschlecht zugrunde richten würde. Aber sind es deswegen
Wahrheiten? Welcher Schluß! Als ob die Wahrheit damit bewiesen würde,
daß der Mensch bestehen bleibt!Ders., Der Wille zur Macht, S. 344 |
Die
Sinneswahrnehmungen nach »außen« projiziert: »innen«
und »außen« da kommandiert der Leib ? Dieselbe
gleichmachende und ordnende Kraft, welche im Idioplasma waltet, waltet auch beim
Einverleiben der Außenwelt: unsere Sinneswahrnehmungen sind bereits das
Resultat dieser Anähnlichung und Gleichsetzung in bezug auf alle Vergangenheit
in uns; sie folgen nicht sofort auf den »Eindruck«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 345 |
Unsere
Wahrnehmungen, wie wir sie verstehen: d. i. die Summe aller der Wahrnehmungen,
deren Bewußtwerden uns und dem ganzen organischen Prozesse vor uns
nützlich und wesentlich war: also nicht alle Wahrnehmungen überhaupt
(z. B. nicht die elektrischen); das heißt: wir haben Sinne nur für
eine Auswahl von Wahrnehmungen solcher, an denen uns gelegen sein muß,
um uns zu erhalten. Bewußtsein ist so weit da, als Bewußtsein nützlich
ist. Es ist kein Zweifel, daß alle Sinneswahrnehmungen gänzlich
durchsetzt sind mit Werturteilen (nützlich und schädlich
folglich angenehm oder unangenehm). Die einzelne Farbe drückt zugleich einen
Wert für uns aus (obwohl wir es uns selten oder erst nach langem, ausschließlichem
Einwirken derselben Farbe eingestehen, z.B. Gefangene im Gefängnis oder Irre).
So auch reagieren Insekten auf verschiedene Farben anders: einige lieben diese,
andere jene, z.B. Ameisen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 346-347 |
Erst
Bilder zu erklären, wie Bilder im Geiste entstehen. Dann Worte,
angewendet auf Bilder. Endlich Begriffe, erst möglich, wenn es Worte gibt
ein Zusammenfassen vieler Bilder unter etwas Nicht-Anschauliches, sondern
Hörbares (Wort). Das kleine bißchen Emotion, welches beim »Wort«
entsteht, also beim Anschauen ähnlicher Bilder, für die ein Wort da
ist diese schwache Emotion ist das Gemeinsame, die Grundlage des Begriffes.
Daß schwache Empfindungen als gleich angesetzt werden, als dieselben
empfunden werden, ist die Grundtatsache. Also die Verwechslung zweier ganz benachbarter
Empfindungen in der Konstatierung dieser Empfindungen; wer aber
konstatiert? Das Glauben ist das Uranfängliche schon in jedem Sinnes-Eindruck:
eine Art Ja-sagen erste intellektuelle Tätigkeit! Ein »Für-wahr-halten«
im Anfange! Also zu erklären: wie ein »Für-wahr-halten«
entstanden ist! Was liegt für eine Sensation hinter »wahr«?Ders., Der Wille zur Macht, S. 347 |
Die
Wertschätzung »ich glaube, daß das und das so ist«,
als Wesen der »Wahrheit«. In den Wertschätzungen drücken
sich Erhaltungs und Wachstums-Bedingungen aus. Alle unsre Erkenntnisorgane
und Sinne sind nur entwickelt in Hinsicht auf Erhaltungs-und Wachstums-Bedingungen.
Das Vertrauen zur Vernunft und ihren Kategorien, zur Dialektik, also die
Wertschätzung der Logik, beweist nur die durch Erfahrung bewiesene
Nützlichkeit derselben für das Leben: nicht deren »Wahrheit«.
Daß eine Menge Glauben da sein muß; daß geurteilt
werden darf; daß der Zweifel in Hinsicht auf alle wesentlichen Werte fehlt:
das ist Voraussetzung alles Lebendigen und seines Lebens. Also daß
etwas für wahr gehalten werden muß, ist notwendig, nicht, daß
etwas wahr ist. »Die wahre und die scheinbare Welt«
dieser Gegensatz wird von mir zurückgeführt auf Wertverhältnisse.
Wir haben unsere Erhaltungs-Bedingungen projiziert als Prädikate des Seins
überhaupt. Daß wir in unserm Glauben stabil sein müssen, um zu
gedeihen, daraus haben wir gemacht, daß die »wahre« Welt keine
wandelbare und werdende, sondern eine seiende ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 348 |
Ursprünglich
Chaos der Vorstellungen. Die Vorstellungen, die sich miteinander vertrugen, blieben
übrig, die größte Zahl ging zugrunde und geht zugrunde.Ders., Der Wille zur Macht, S. 348 |
Zur
Entstehung der Logik. Der fundamentale Hang, gleichzusetzen, gleichzusehen
wird modifiziert, im Zaum gehalten durch Nutzen und Schaden, durch den Erfolg:
es bildet sich eine Anpassung aus, ein milderer Grad, in dem er sich befriedigen
kann, ohne zu gleich das Leben zu verneinen und in Gefahr zu bringen. Dieser ganze
Prozeß ist ganz entsprechend jenem äußeren, mechanischen (der
sein Symbol ist), daß das Plasma fortwährend, was es sich aneignet,
sich gleichmacht und in seine Formen und Reihen einordnet.Ders., Der Wille zur Macht, S. 349 |
Gleichheit
und Ähnlichkeit.1. Das gröbere Organ
sieht viele scheinbare Gleichheit;2. der Geist
will Gleichheit, d.h. einen Sinneneindruck subsumieren unter eine vorhandene Reihe:
ebenso wie der Körper Unorganisches sich assimiliert. Zum
Verständnis der Logik:der Wille zur Gleichheit
ist der Wille zur Macht der Glaube, daß etwas so und so sei (das
Wesen des Urteils), ist die Folge eines Willens, es soll so viel als möglich
gleich sein.Ders., Der Wille zur Macht, S. 349 |
Die
Logik ist geknüpft an die Bedingung: gesetzt, es gibt identische Fälle.
Tatsächlich, damit logisch gedacht und geschlossen werde, muß diese
Bedingung erst als erfüllt fingiert werden. Das heißt: der
Wille zur logischen Wahrheit kann erst sich vollziehen, nachdem eine grundsätzliche
Fälschung alles Geschehens angenommen ist. Woraus sich ergibt, daß
hier ein Trieb waltet, der beider Mittel fähig ist, zuerst der Fälschung
und dann der Durchführung seines Gesichtspunktes: die Logik stammt nicht
aus dem Willen zur Wahrheit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 349-350 |
Die
erfinderische Kraft, welche Kategorien erdichtet hat, arbeitete im Dienst des
Bedürfnisses, nämlich von Sicherheit, von schneller Verständlichkeit
auf Grund von Zeichen und Klängen, von Abkürzungsmitteln: es
handelt sich nicht um metaphysische Wahrheiten bei »Substanz«, »Subjekt«,
»Objekt«, »Sein«, »Werden«. Die Mächtigen
sind es, welche die Namen der Dinge zum Gesetz gemacht haben, und unter den Mächtigen
sind es die größten Abstraktions-Künstler, die die Kategorien
geschaffen haben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 350 |
Eine
Moral, eine durch lange Erfahrung und Prüfung erprobte, bewiesene
Lebensweise kommt zuletzt als Gesetz zum Bewußtsein, als dominierend
.... Und damit tritt die ganze Gruppe verwandter Werte und Zustände in sie
hinein: sie wird ehrwürdig, unangreifbar, heilig, wahrhaft; es gehört
zu ihrer Entwicklung, daß ihre Herkunft vergessen wird .... Es ist
ein Zeichen, daß sie Herr geworden ist .... Ganz dasselbe könnte geschehen
sein mit den Kategorien der Vernunft: dieselben könnten, unter vielem
Tasten und Herumgreifen, sich bewährt haben durch relative Nützlichkeit
.... Es kam ein Punkt, wo man sie zusammenfaßte, sich als Ganzes zum Bewußtsein
brachte und wo man sie befahl, d.h. wo sie wirkten als befehlend
.... Von jetzt ab galten sie als a priori, als jenseits der Erfahrung, als unabweisbar.
Und doch drücken sie vielleicht nichts aus, als eine bestimmte Rassen- und
Gattungs-Zweckmäßigkeit, bloß ihre Nützlichkeit ist
ihre »Wahrheit«Ders., Der Wille zur Macht, S. 350-351 |
Nicht
»erkennen«, sondern schematisieren, dem Chaos so viel Regularität
und Formen auferlegen, als es unserm praktischen Bedürfnis genugtut. In der
Bildung der Vernunft, der Logik, der Kategorien ist das Bedürfnis
maßgebend gewesen: das Bedürfnis, nicht zu »erkennen«,
sondern zu subsumieren, zu schematisieren, zum Zweck der Verständigung, der
Berechnung .... (Das Zurechtmachen, das Ausdichten zum Ähnlichen, Gleichen,
derselbe Prozeß, den jeder Sinneseindruck durchmacht, ist die Entwicklung
der Vernunft!) Hier hat nicht eine präexistente »Idee« gearbeitet:
sondern die Nützlichkeit, daß nur, wenn wir grob und gleichgemacht
die Dinge sehen, sie für uns berechenbar und handlich werden .... Die Finalität
in der Vernunft ist eine Wirkung, keine Ursache: bei jeder anderen Art Vernunft,
zu der es fortwährend Ansätze gibt, mißrät das Leben,
es wird Unübersichtlich , zu ungleich . Die Kategorien sind »Wahrheiten«
nur in dem Sinne, als sie lebenbedingend für uns sind: wie der Euklidische
Raum eine solche bedingende »Wahrheit« ist. (An sich geredet: da niemand
die Notwendigkeit, daß es gerade Menschen gibt, aufrechterhalten wird, ist
die Vernunft, so wie der Euklidische Raum, eine bloße Idiosynkrasie bestimmter
Tierarten, und eine neben vielen anderen ...). Die subjektive Nötigung, hier
nicht widersprechen zu können, ist eine biologische Nötigung: der Instinkt
der Nützlichkeit, so zu schließen wie wir schließen, steckt uns
im Leibe, wir sind beinahe dieser Instinkt .... Welche Naivität aber, daraus
einen Beweis zu ziehen, daß wir damit eine »Wahrheit an sich«
besäßen!... Das Nicht-widersprechen-können beweist ein Unvermögen,
nicht eine »Wahrheit«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 351-352 |
Ein
und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns: das ist ein subjektiver
Erfahrungssatz, darin drückt sich keine »Notwendigkeit« aus,
sondern nur ein Nichtvermögen. Wenn, nach Aristoteles, der Satz
vom Widerspruch der gewisseste aller Grundsätze ist, wenn er der letzte
und unterste ist, auf den alle Beweisführungen zurückgehn, wenn in ihm
das Prinzip aller anderen Axiome liegt: um so strenger sollte man erwägen,
was er im Grunde schon an Behauptungen voraussetzt. Entweder wird mit ihm
etwas in betreff des Wirklichen, Seienden behauptet, wie als ob man es anderswoher
bereits kennte; nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate
zugesprochen werden können. Oder der Satz will sagen: daß ihm entgegengesetzte
Prädikate nicht zugesprochen werden sollen. Dann wäre Logik ein
Imperativ, nicht zur Erkenntnis des Wahren, sondern zur Setzung und Zurechtmachung
einer Welt, die uns wahr heißen soll. Kurz, die Frage steht offen:
sind die logischen Axiome dem Wirklichen adäquat, oder sind sie Maßstäbe
und Mittel, um Wirkliches, den Begriff »Wirklichkeit«, für uns
erst zu schaffen? .... Um das erste bejahen zu können, müßte man
aber, wie gesagt, das Seiende bereits kennen; was schlechterdings nicht der Fall
ist. Der Satz enthält also kein Kriterium der Wahrheit, sondern einen Imperativ
über das, was als wahr gelten soll. Gesetzt, es gäbe ein solches sich-selbst-identisches
A gar nicht, wie es jeder Satz der Logik (auch der Mathematik) voraussetzt, das
A wäre bereits eine Scheinbarkeit, so hätte die Logik eine bloß
scheinbare Welt zur Voraussetzung. In der Tat glauben wir an jenen Satz
unter dem Eindruck der unendlichen Empirie, welche ihn fortwährend zu bestätigen
scheint. Das »Ding« das ist das eigentliche Substrat zu A;
unser Glaube an Dinge ist die Voraussetzung für den Glauben an die
Logik. Das A der Logik ist wie das Atom eine Nachkonstruktion des »Dinges«
.... Indem wir das nicht begreifen und aus der Logik ein Kriterium des wahren
Seins machen, sind wir bereits auf dem Wege, alle jene Hypostasen: Substanz, Prädikat,
Objekt, Subjekt, Aktion usw. als Realitäten zu setzen: das heißt eine
metaphysische Welt zu konzipieren, das heißt eine »wahre Welt«
( diese ist aber die scheinbare Welt noch einmal ...). Die ursprünglichsten
Denkakte, das Bejahen und Verneinen, das Für-wahr-halten und Nicht-für-wahr-halten,
sind, insofern sie nicht nur eine Gewohnheit, sondern ein Recht voraussetzen,
überhaupt für wahr zu halten oder für unwahr zu halten, bereits
von einem Glauben beherrscht, daß es für uns Erkenntnis gibt, daß
Urteilen wirklich die Wahrheit treffen könne: kurz, die Logik
zweifelt nicht, etwas vom An-sich-Wahren aussagen zu können (nämlich
daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zukommen können).
Hier regiert das sensualistische grobe Vorurteil, daß die Empfindungen
uns Wahrheiten über die Dinge lehren daß ich nicht zu
gleicher Zeit von ein und demselben Dinge sagen kann, es ist hart und es ist weich.
(Der instinktive Beweis »ich kann nicht zwei entgegengesetzte Empfindungen
zugleich haben« ganz grob und falsch). Das begriffliche Widerspruchs-Verbot
geht von dem Glauben aus, daß wir Begriffe bilden können, daß
ein Begriff das Wesen eines Dinges nicht nur bezeichnet, sondern faßt...
Tatsächlich gilt die Logik (wie die Geometrie und Arithmetik) nur
von fingierten Wesenheiten, die wir geschaffen haben. Logik ist der Versuch,
nach einem von uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche Welt zu begreifen,
richtiger: uns formulierbar, berechenbar zu machen ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 352-354 |
Die
Annahme des Seienden ist nötig, um denken und schließen zu können:
die Logik handhabt nur Formeln für Gleichbleibendes. Deshalb wäre diese
Annahme noch ohne Beweiskraft für die Realität: »das Seiende«
gehört zu unsrer Optik. Das »Ich« als seiend ( durch Werden
und Entwicklung nicht berührt). Die fingierte Welt von Subjekt, Substanz,
»Vernunft« usw. ist nötig : eine ordnende, vereinfachende,
fälschende, künstlich-trennende Macht ist in uns. »Wahrheit«
ist Wille, Herr zu werden über das Vielerlei der Sensationen: die
Phänomene aufreihen auf bestimmte Kategorien. Hierbei gehen wir vom
Glauben an das »An-sich« der Dinge aus (wir nehmen die Phänomene
als wirklich). Der Charakter der werdenden Welt als unformulierbar,
als »falsch«, als »sich-widersprechend«. Erkenntnis
und Werden schließen sich aus. Folglich muß »Erkenntnis«
etwas anderes sein: es muß ein Wille zum Erkennbar-machen vorangehen, eine
Art Werden selbst muß die Täuschung des Seienden schaffen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 354-355 |
Wenn
unser »Ich« uns das einzige Sein ist, nach dem wir alles Sein machen
oder verstehen: sehr gut! Dann ist der Zweifel sehr am Platze, ob hier nicht eine
perspektivische Illusion vorliegt die scheinbare Einheit, in der
wie in einer Horizontlinie alles sich zusammenschließt. Am Leitfaden des
Leibes zeigt sich eine ungeheure Vielfachheit; es ist methodisch erlaubt,
das besser studierbare reichere Phänomen zum Leitfaden für das
Verständnis des ärmeren zu benutzen. Endlich: gesetzt, alles ist Werden,
so ist Erkenntnis nur möglich auf Grund des Glaubens an Sein.Ders., Der Wille zur Macht, S. 355 |
Wenn
es »nur ein Sein gibt, das Ich« und nach seinem Bilde alle andern
»Seienden« gemacht sind wenn schließlich der Glaube an
das »Ich« mit dem Glauben an die Logik, d. h. metaphysische Wahrheit
der Vernunft-Kategorien steht und fällt: wenn andrerseits das Ich sich als
etwas Werdendes erweist: so ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 355 |
Die
fortwährenden Übergänge erlauben nicht, von »Individuum«
usw. zu reden; die »Zahl« der Wesen ist selber im Fluß. Wir
würden nichts von Zeit und nichts von Bewegung wissen, wenn wir nicht, in
grober Weise, »Ruhendes« neben Bewegtem zu sehen glaubten. Ebensowenig
von Ursache und Wirkung, und ohne die irrtümliche Konzeption des »leeren
Raumes« wären wir gar nicht zur Konzeption des Raums gekommen. Der
Satz von der Identität hat als Hintergrund den »Augenschein«,
daß es gleiche Dinge gibt. Eine werdende Welt könnte im strengen Sinne
nicht »begriffen«, nicht »erkannt« werden; nur insofern
der »begreifende« und »erkennende« Intellekt eine schon
geschaffene grobe Welt vorfindet, gezimmert aus lauter Scheinbarkeiten, aber fest
geworden, insofern diese Art Schein das Leben erhalten hat nur insofern
gibt es etwas wie »Erkenntnis«: d. h. ein Messen der früheren
und der jüngeren Irrtümer aneinander.Ders., Der Wille zur Macht, S. 355-356 |
Zur
»logischen Scheinbarkeit«. Der Begriff »Individuum«
und »Gattung« gleichermaßen falsch und bloß augenscheinlich.
»Gattung« drückt nur die Tatsache aus, daß eine Fülle
ähnlicher Wesen zu gleicher Zeit hervortreten und daß das Tempo im
Weiterwachsen und Sich-Verändern eine lange Zeit verlangsamt ist: so daß
die tatsächlichen kleinen Fortsetzungen und Zuwachse nicht sehr in Betracht
kommen ( eine Entwicklungsphase, bei der das Sich-entwickeln nicht in die
Sichtbarkeit tritt, so daß ein Gleichgewicht erreicht scheint und die falsche
Vorstellung ermöglicht wird, hier sei ein Ziel erreicht und
es habe ein Ziel in der Entwicklung gegeben ...). Die Form gilt als etwas Dauerndes
und deshalb Wertvolleres; aber die Form ist bloß von uns erfunden; und wenn
noch so oft »dieselbe Form erreicht wird«, so bedeutet das nicht,
daß es dieselbe Form ist, -sondern es erscheint immer etwas Neues
und nur wir, die wir vergleichen, rechnen das Neue, insofern es Altem gleicht,
zusammen in die Einheit der »Form«. Als ob ein Typus erreicht werden
sollte und gleichsam der Bildung vorschwebe und innewohne. Die Form, die
Gattung, das Gesetz, die Idee, der Zweck hier
wird überall der gleiche Fehler gemacht, daß einer Fiktion eine falsche
Realität untergeschoben wird: wie als ob das Geschehen irgendwelchen Gehorsam
in sich trage, eine künstliche Scheidung im Geschehen wird da gemacht
zwischen dem, was tut, und dem, wonach das Tun sich richtet (aber das was
und das wonach sind nur angesetzt aus einem Gehorsam gegen unsre metaphysisch-logische
Dogmatik: kein »Tatbestand«). Man soll diese Nötigung, Begriffe,
Gattungen, Formen, Zwecke, Gesetze zu bilden (»eine Welt der identischen
Fälle«) nicht so verstehen, als ob wir damit die wahre Welt zu
fixieren imstande wären; sondern als Nötigung, uns eine Welt zurechtzumachen,
bei der unsre Existenz ermöglicht wird: wir schaffen damit
eine Welt, die berechenbar, vereinfacht, verständlich usw. für uns ist.
Diese selbe Nötigung besteht in der Sinnen-Aktivität, welche
der Verstand unterstützt durch Vereinfachen, Vergröbern, Unterstreichen
und Ausdichten, auf dem alles »Wiedererkennen«, alles Sich-verständlich-machen-können
beruht. Unsre Bedürfnisse haben unsre Sinne so präzisiert, daß
die »gleiche Erscheinungswelt« immer wiederkehrt und dadurch den Anschein
der Wirklichkeit bekommen hat. Unsre subjektive Nötigung, an die Logik
zu glauben, drückt nur aus, daß wir, längst bevor uns die Logik
selber zum Bewußtsein kam, nichts getan haben als ihre Postulate in das
Geschehen hineinlegen: jetzt finden wir sie in dem Geschehen vor , wir
können nicht mehr anders und vermeinen nun, diese Nötigung verbürge
etwas über die »Wahrheit«. Wir sind es, die das »Ding«,
das »gleiche Ding«, das Subjekt, das Prädikat, das Tun, das Objekt,
die Substanz, die Form geschaffen haben, nachdem wir das Gleichmachen, das Grob-
und Einfach-machen am längsten getrieben haben. Die Welt erscheint
uns logisch, weil wir sie erst logisiert haben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 356-358 |
Grundlösung.
Wir glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen
Begriffe. Die Sprache ist auf die allernaivsten Vorurteile hin gebaut. Nun lesen
wir Disharmonien und Probleme in die Dinge hinein, weil wir nur in der sprachlichen
Form denken somit die »ewige Wahrheit« der »Vernunft«
glauben (z. B. Subjekt, Prädikat usw.). Wir hören auf zu denken,
wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange tun wollen, wir langen gerade
noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn. Das vernünftige
Denken ist ein Interpretieren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können.Ders., Der Wille zur Macht, S. 358 |
Das,
was bewußt wird, steht unter kausalen Beziehungen, die uns ganz und gar
vorenthalten sind die Aufeinanderfolge von Gedanken, Gefühlen, Ideen
im Bewußtsein drückt nichts darüber aus, daß diese Folge
eine kausale Folge ist: es ist aber scheinbar so, im höchsten Grade. Auf
diese Scheinbarkeit hin haben wir unsere ganze Vorstellung von Geist,
Vernunft, Logik usw. gegründet ( das gibt es alles nicht: es sind
fingierte Synthesen und Einheiten) und diese wieder in die Dinge, hinter
die Dinge projiziert! Gewöhnlich nimmt man das Bewußtsein selbst als
Gesamt-Sensorium und oberste Instanz; indessen, es ist nur ein Mittel der Mitteilbarkeit:
es ist im Verkehr entwickelt, und in Hinsicht auf Verkehrs- Interessen . .... »Verkehr«
hier verstanden auch von den Einwirkungen der Außenwelt und den unsererseits
dabei nötigen Reaktionen; ebenso wie von unseren Wirkungen nach außen.
Es ist nicht die Leitung, sondern ein Organ der Leitung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 359-360 |
Das
theologische Vorurteil bei Kant, sein unbewußter Dogmatismus, seine moralistische
Perspektive als herrschend, lenkend, befehlend. Das proton
pseudos: wie ist die Tatsache der Erkenntnis möglich? ist die Erkenntnis
überhaupt eine Tatsache? was ist Erkenntnis? Wenn wir nicht wissen, was Erkenntnis
ist, können wir unmöglich die Frage beantworten, ob es Erkenntnis gibt.
Sehr schön! Aber wenn ich nicht schon »weiß«, ob
es Erkenntnis gibt, geben kann, kann ich die Frage »was ist Erkenntnis«
vernünftigerweise gar nicht stellen. Kant glaubt an die Tatsache der Erkenntnis:
es ist eine Naivität, was er will: die Erkenntnis der Erkenntnis! »Erkenntnis
ist Urteil!« Aber Urteil ist ein Glaube, daß etwas so und so
ist! Und nicht Erkenntnis! »Alle Erkenntnis besteht in synthetischen Urteilen«
mit dem Charakter der Allgemeingültigkeit (die Sache verhält
sich in allen Fällen so und nicht anders), mit dem Charakter der Notwendigkeit
(das Gegenteil der Behauptung kann nie stattfinden). Die Rechtmäßigkeit
im Glauben an die Erkenntnis wird immer vorausgesetzt: so wie die Rechtmäßigkeit
im Gefühl des Gewissensurteils vorausgesetzt wird. Hier ist die moralische
Ontologie das herrschende Vorurteil.Also
der Schluß ist:1. es gibt Behauptungen,
die wir für allgemeingültig und notwendig halten;2.
der Charakter der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit kann nicht aus der
Erfahrung stammen;3. folglich muß er ohne
Erfahrung, anderswoher sich begründen und eine andere Erkenntnisquelle
haben!(Kant schließt:1.
es gibt Behauptungen, die nur unter gewisser Bedingung gültig sind;2.
diese Bedingung ist, daß sie nicht aus der Erfahrung, sondern aus der reinen
Vernunft stammen.)Also: die Frage ist, woher
unser Glaube an die Wahrheit solcher Behauptungen seine Gründe nimmt?
Nein, woher er seine Ursache hat! Aber die Entstehung eines Glaubens, einer starken
Überzeugung ist ein psychologisches Problem: und eine sehr begrenzte und
enge Erfahrung bringt oft einen solchen Glauben zuwege! Er setzt bereits voraus,
daß es nicht nur »data a posteriori« gibt, sondern auch data
a priori, »vor der Erfahrung«. Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit
könne nie durch Erfahrung gegeben werden: womit ist denn nun klar, daß
sie ohne Erfahrung überhaupt da sind?Es
gibt keine einzelnen Urteile!Ein einzelnes Urteil
ist niemals »wahr«, niemals Erkenntnis; erst im Zusammenhang,
in der Beziehung von vielen Urteilen ergibt sich eine Bürgschaft. Was unterscheidet
den wahren und den falschen Glauben? Was ist Erkenntnis? Er »weiß«
es, das ist himmlisch!Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit
können nie durch Erfahrung gegeben werden! Also unabhängig von der Erfahrung,
vor aller Erfahrung! Diejenige Einsicht, die a priori stattfindet, also unabhängig
von aller Erfahrung aus der bloßen Vernunft, »eine reine Erkenntnis«!
»Die Grundsätze der Logik, der Satz der Identität und des Widerspruchs,
sind reine Erkenntnisse, weil sie aller Erfahrung vorausgehen.« Aber
das sind gar keine Erkenntnisse! sondern regulative Glaubensartikel.Um
die Apriorität (die reine Vernunftmäßigkeit) der mathematischen
Urteile zu begründen, muß der Raum begriffen werden als eine Form
der reinen Vernunft. Hume hatte erklärt: »es gibt gar keine synthetischen
Urteile a priori.« Kant sagt: doch! die mathematischen! Und wenn es also
solche Urteile gibt, gibt es vielleicht auch Metaphysik, eine Erkenntnis der Dinge
durch die reine Vernunft! Mathematik wird möglich unter Bedingungen, unter
denen Metaphysik nie möglich ist. Alle menschliche Erkenntnis ist entweder
Erfahrung oder Mathematik.Ein Urteil ist synthetisch:
d. h. es verknüpft verschiedene Vorstellungen. Es ist a priori: d.h. jene
Verknüpfung ist eine allgemeingültige und notwendige, die nie durch
sinnliche Wahrnehmung, sondern nur durch reine Vernunft gegeben sein kann. Soll
es synthetische Urteile a priori geben, so wird die Vernunft imstande sein müssen,
zu verknüpfen: das Verknüpfen ist eine Form. Die Vernunft muß
formgebende Vermögen besitzen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 362-365 |
Das
Urteilen ist unser ältester Glaube, unser gewohntestes Für-Wahr-
oder Für-Unwahr-halten, ein Behaupten oder Leugnen, eine Gewißheit,
daß etwas so und nicht anders ist, ein Glaube, hier wirklich »erkannt«
zu haben was wird in allen Urteilen als wahr geglaubt?Ders., Der Wille zur Macht, S. 365 |
Was
sind Prädikate? Wir haben Veränderungen an uns nicht als
solche genommen, sondern als ein »An-sich«, das uns fremd ist, das
wir nur »wahrnehmen«: und wir haben sie nicht als ein Geschehen, sondern
als ein Sein gesetzt, als »Eigenschaft« und ein Wesen hinzuerfunden,
an dem sie haften, d. h. wir haben die Wirkung als Wirkendes angesetzt
und das Wirkende als Seiendes. Aber auch noch in dieser Formulierung ist
der Begriff »Wirkung« willkürlich: denn von jenen Veränderungen,
die an uns vorgehen und von denen wir bestimmt glauben, nicht selbst die Ursache
zu sein, schließen wir nur, daß sie Wirkungen sein müssen: nach
dem Schluß: »zu jeder Veränderung gehört ein Urheber«;
aber dieser Schluß ist schon Mythologie: er trennt das Wirkende
und das Wirken. Wenn ich sage »der Blitz leuchtet«, so habe ich das
Leuchten einmal als Tätgkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also
zum Geschehen ein Sein supponiert, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr
bleibt, ist und nicht »wird«. Das Geschehen
als Wirken anzusetzen: und die Wirkung als Sein: das ist der doppelte
Irrtum, oder Interpretation, deren wir uns schuldig machen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 365 |
Das
Urteil das ist der Glaube: »Dies und dies ist so.« Also
steckt im Urteil das Geständnis, einem »identischen Fall« begegnet
zu sein: es setzt also Vergleichung voraus, mit Hilfe des Gedächtnisses.
Das Urteil schafft es nicht, daß ein identischer Fall da zu sein scheint.
Vielmehr es glaubt einen solchen wahrzunehmen; es arbeitet unter der Voraussetzung,
daß es überhaupt identische Fälle gibt. Wie heißt nun jene
Funktion, die viel älter, früher arbeitend sein muß, welche
an sich ungleiche Fälle ausgleicht und verähnlicht? Wie heißt
jene zweite, welche auf Grund dieser ersten usw.. »Was gleiche Empfindungen
erregt, ist gleich«: wie aber heißt das, was Empfindungen gleich macht,
als gleich »nimmt«? Es könnte gar keine Urteile geben,
wenn nicht erst innerhalb der Empfindungen eine Art Ausgleichung geübt wäre:
Gedächtnis ist nur möglich mit einem beständigen Unterstreichen
des schon Gewohnten, Erlebten. Bevor geurteilt wird, muß der Prozeß
der Assimilation schon getan sein: also liegt auch hier eine intellektuelle
Tätigkeit vor, die nicht ins Bewußtsein fällt, wie beim Schmerz
infolge einer Verwundung. Wahrscheinlich entspricht allen organischen Funktionen
ein inneres Geschehen, also ein Assimilieren, Ausscheiden, Wachsen usw.. Wesentlich:
vom Leib ausgehen und ihn als Leitfaden zu benutzen. Er ist das viel reichere
Phänomen, welches deutlichere Beobachtung zuläßt. Der Glaube an
den Leib ist besser festgestellt als der Glaube an den Geist. »Eine Sache
mag noch so stark geglaubt werden: darin liegt kein Kriterium der Wahrheit.«
Aber was ist Wahrheit? Vielleicht eine Art Glaube, welche zur Lebensbedingung
geworden ist? Dann freilich wäre die Stärke ein Kriterium, z.
B. in betreff der Kausalität.Ders., Der Wille zur Macht, S. 366 |
Die
logische Bestimmtheit, Durchsichtigkeit als Kriterium der Wahrheit (»omne
illud verum est, quod clare et distincte percipitur«, Descartes); damit
ist die mechanische Welt-Hypothese erwünscht und glaublich. Aber das ist
eine grobe Verwechslung: wie simplex sigillum veri. Woher weiß man das,
daß die wahre Beschaffenheit der Dinge in diesem Verhältnis zu unserm
Intellekt steht? Wäre es nicht anders? Daß die ihm am meisten
das Gefühl von Macht und Sicherheit gebende Hypothese am meisten von ihm
bevorzugt, geschätzt und folglich als wahr bezeichnet wird?
Der Intellekt setzt sein freiestes und stärkstes Vermögen
und Können als Kriterium des Wertvollsten, folglich Wahren ....»Wahr«:
von seiten des Gefühls aus : was das
Gefühl am stärksten erregt (»Ich«);von
seiten des Denkens aus : was dem Denken das größte Gefühl
von Kraft gibt;von seiten des Tastens, Sehens,
Hörens aus : wobei am stärksten Widerstand zu leisten ist.Also
die höchsten Grade in der Leistung erwecken für das Objekt den Glauben
an dessen »Wahrheit«, das heißt Wirklichkeit. Das Gefühl
der Kraft, des Kampfes, des Widerstandes überredet dazu, daß es etwas
gibt, dem hier widerstanden wird.Ders., Der Wille zur Macht, S. 367 |
Das
Kriterium der Wahrheit liegt in der Steigerung des Machtgefühls.Ders., Der Wille zur Macht, S. 367 |
»Wahrheit«:
das bezeichnet innerhalb meiner Denkweise nicht notwendig einen Gegensatz zum
Irrtum, sondern in den grundsätzlichsten Fällen nur eine Stellung verschiedner
Irrtümer zueinander: etwa daß der eine älter, tiefer als der andere
ist, vielleicht sogar unausrottbar, insofern ein organisches Wesen unserer Art
nicht ohne ihn leben könnte; während andere Irrtümer uns nicht
dergestalt als Lebensbedingungen tyrannisieren, vielmehr, gemessen an solchen
»Tyrannen«, beseitigt und »widerlegt« werden können.
Eine Annahme, die unwiderlegbar ist, warum sollte sie deshalb schon »wahr«
sein? Dieser Satz empört vielleicht die Logiker, welche ihre Grenzen
als Grenzen der Dinge ansetzen: aber diesem Logiker- Optimismus habe ich schon
lange den Krieg erklärt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 367-368 |
Alles,
was einfach ist, ist bloß imaginär, ist nicht »wahr«. Was
aber wirklich, was wahr ist, ist weder Eins noch auch nur reduzierbar auf Eins.Ders., Der Wille zur Macht, S. 368 |
Was
ist Wahrheit? Inertia; die Hypothese, bei welcher Befriedigung entsteht:
geringster Verbrauch von geistiger Kraft usw.Ders., Der Wille zur Macht, S. 368 |
Erster
Satz.Die leichtere Denkweise siegt über
die schwierigere als Dogma: simplex sigillum veri. Dico:
daß die Deutlichkeit etwas für Wahrheit ausweisen soll, ist
eine vollkommne Kinderei ....Zweiter Satz.Die
Lehre vom Sein, vom Ding, von lauter festen Einheiten ist hundertmal leichter
als die Lehre vom Werden, von der Entwicklung ....Dritter
Satz.Die Logik war als Erleichterung gemeint:
als Ausdrucksmittel nicht als Wahrheit .... Später wirkte
sie als Wahrheit ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 368-369 |
Parmenides
hat gesagt: »man denkt das nicht, was nicht ist«; wir sind
am andern Ende und sagen: »was gedacht werden kann, muß sicherlich
eine Fiktion sein«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 369 |
Es
gibt vielerlei Augen. Auch die Sphinx hat Augen : und folglich gibt es vielerlei
»Wahrheiten«, und folglich gibt es keine Wahrheit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 369 |
Wenn
der Charakter des Daseins falsch sein sollte das wäre nämlich
möglich , was wäre dann die Wahrheit, alle unsere Wahrheit? ....
Eine gewissenlose Umfälschung des Falschen? Eine höhere Potenz des Falschen?Ders., Der Wille zur Macht, S. 369 |
In
einer Welt, die wesentlich falsch ist, wäre Wahrhaftigkeit eine widernatürliche
Tendenz: eine solche könnte nur Sinn haben als Mittel zu einer besonderen
höheren Potenz von Falschheit. Damit eine Welt des Wahren, Seienden fingiert
werden konnte, mußte zuerst der Wahrhaftige geschaffen sein (eingerechnet,
daß ein solcher sich »wahrhaftig« glaubt). Einfach, durchsichtig,
mit sich nicht im Widerspruch, dauerhaft, sich gleichbleibend, ohne Falte, Volte,
Vorhang, Form: ein Mensch derart konzipiert eine Welt des Seins als »Gott«
nach seinem Bilde. Damit Wahrhaftigkeit möglich ist, muß die ganze
Sphäre des Menschen sehr sauber, klein und achtbar sein: es muß der
Vorteil in jedem Sinne auf seiten des Wahrhaftigen sein. Lüge, Tücke,
Verstellung müssen Erstaunen erregen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 369-370 |
Die
Zunahme der »Verstellung« gemäß der aufwärtssteigenden
Rangordnung der Wesen. In der anorganischen Welt scheint sie zu fehlen
Macht gegen Macht, ganz roh , in der organischen beginnt die List;
die Pflanzen sind bereits Meister in ihr. Die höchsten Menschen wie Cäsar,
Napoleon (Stendhals Wort über ihn), insgleichen die höheren Rassen (Italiener
[? HB]), die Griechen (Odysseus); die tausendfältigste
Verschlagenheit gehört ins Wesen der Erhöhung des Menschen .... Problem
des Schauspielers. Mein Dionysos-Ideal .... Die Optik aller organischen Funktionen,
aller stärksten Lebensinstinkte: die irrtumwollende Kraft in allem
Leben; der Irrtum als Voraussetzung selbst des Denkens. Bevor »gedacht«
wird, muß schon »gedichtet« worden sein; das Zurechtbilden zu
identischen Fällen, zur Scheinbarkeit des Gleichen ist ursprünglicher
als das Erkennen des Gleichen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 370 |
Ich
glaube an den absoluten Raum als Substrat der Kraft: diese begrenzt und gestaltet.
Die Zeit ewig. Aber an sich gibt es nicht Raum noch Zeit. »Veränderungen«
sind nur Erscheinungen (oder Sinnes-Vorgänge für uns); wenn wir zwischen
diesen noch so regelmäßige Wiederkehr ansetzen, so ist damit nichts
begründet als eben diese Tatsache, daß es immer so geschehen
ist. Das Gefühl, daß das post hoc ein propter hoc ist, ist leicht als
Mißverständnis abzuleiten; es ist begreiflich. Aber Erscheinungen können
nicht »Ursachen« sein!Ders., Der Wille zur Macht, S. 370-371 |
»Subjekt«,
»Objekt«, »Prädikat« diese Trennungen sind
gemacht und werden jetzt wie Schemata übergestülpt über alle anscheinenden
Tatsachen. Die falsche Grundbeobachtung ist, daß ich glaube, ich bin's,
der etwas tut, etwas leidet, der etwas »hat«, der eine Eigenschaft
»hat«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 371-372 |
In
jedem Urteile steckt der ganze, volle, tiefe Glaube an Subjekt und Prädikat
oder an Ursache und Wirkung (nämlich als die Behauptung, daß
jede Wirkung Tätigkeit sei und daß jede Tätigkeit einen Täter
voraussetzt); und dieser letztere Glaube sit sogar nur ein Einzelfall des ersteren,
so daß als Grundglaube der Glaube ürbigbleibt: es gibt Subjekte, alles,
was geschieht, verhält sich prädikativ zur irgendwelchem Subjekte.Ders., Der Wille zur Macht, S. 372 |
Ehemals
sah man in allem Geschehen Absichten, dies ist unsere älteste Gewohnheit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 372 |
»Ursache«
kommt gar nicht vor: von einigen Fällen, wo sie uns gegeben schien und wo
wir aus uns sie projiziert haben zum Verständnis des Geschehens, ist
die Selbsttäuschung nachgewiesen. Unser »Verständnis eines Geschehens«
bestand darin, daß wir ein Subjekt erfanden, welches verantwortlich wurde
dafür, daß etwas geschah und wie es geschah. Wir haben unser Willens-Gefühl,
unser »Freiheits«-Gefühl, unser Verantwortlichkeits-Gefühl
und unsre Absicht zu einem Tun in den Begriff »Ursache« zusammengefaßt:
causa efficiens und causa finalis ist in der Grundkonzeption eins.Ders., Der Wille zur Macht, S. 373 |
Wir
meinten, eine Wirkung sei erklärt, wenn ein Zustand aufgezeigt würde,
dem sie bereits inhäriert. Tatsächlich erfinden wir alle Ursachen nach
dem Schema der Wirkung: letztere ist uns bekannt... Umgekehrt sind wir außerstande,
von irgendeinem Dinge vorauszusagen, was es »wirkt«. Das Ding, das
Subjekt, der Wille, die Absicht alles inhäriert der Konzeption »Ursache«.
Wir suchen nach Dingen, um zu erklären, weshalb sich etwas verändert
hat. Selbst noch das Atom ist ein solches hinzugedachtes »Ding« und
»Ursubjekt«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 373-374 |
Aus
einer notwendigen Reihenfolge von Zuständen folgt nicht deren Kausal-Verhältnis
( das hieße deren wirkende Vermögen von 1 auf 2, auf 3,
auf 4, auf 5 springen machen). Es gibt weder Ursachen, noch Wirkungen.
Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran liegt nichts. Wenn ich
den Muskel von seinen »Wirkungen« getrennt denke, so habe ich ihn
negiert.Ders., Der Wille zur Macht, S. 374 |
In
summa: ein Geschehen ist weder bewirkt, noch bewirkend. Causa ist ein Vermögen
zu wirken, hinzuerfunden zum Geschehen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 374 |
Die
Kausalitäts-Interpretation eine Täuschung .... Ein »Ding«
ist die Summe seiner Wirkungen, synthetisch gebunden durch einen Begriff, Bild.
Tatsächlich hat die Wissenschaft den Begriff Kausalität seines Inhalts
entleert und ihn übrigbehalten zu einer Gleichnisformel, bei der es im Grunde
gleichgültig geworden ist, auf welcher Seite Ursache oder Wirkung. Es wird
behauptet, daß in zwei Komplex-Zuständen (Kraftkonstellationen) die
Quanten Kraft gleich blieben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 374 |
Die
Berechenbarkeit eines Geschehens liegt nicht darin, daß eine Regel
befolgt wurde, oder einer Notwendigkeit gehorcht wurde, oder ein Gesetz von Kausalität
von uns in jedes Geschehen projiziert wurde : sie liegt in der Wiederkehr
»identischer Fälle«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 374-375 |
Es
gibt nicht, wie Kant meint, einen Kausalitäts-Sinn. Man wundert sich,
man ist beunruhigt, man will etwas Bekanntes, woran man sich halten kann ....
Sobald im Neuen uns etwas Altes aufgezeigt wird, sind wir beruhigt. Der angebliche
Kausalitäts-Instinkt ist nur die Furcht vor dem Ungewohnten und der Versuch,
in ihm etwas Bekanntes zu entdecken, ein Suchen nicht nach Ursachen, sondern
nach Bekanntem.Ders., Der Wille zur Macht, S. 375 |
Zur
Bekämpfung des Determinismus und der Teleologie. Daraus, daß
etwas regelmäßig erfolgt und berechenbar erfolgt, ergibt sich nicht,
daß es notwendig erfolgt. .... Die »mechanische Notwendgkeit«
ist kein Tatbestand: wir erst haben sie in das Geschehen hineininterpretiert.
.... Der Zwang ist in den Dingen gar nicht nachweisbar: die Regel beweist nur,
daß daß ein und dasselbe Geschehen nicht auch ein anderes Geschehen
ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 375 |
Erst
dadurch, daß wir Subjekte, »Täter« in die Dinge hineingedeutet
haben, entsteht der Anschein, daß alles Geschehen die Folge von einem auf
Subjekte ausgeübten Zwange ist, ausgeübt von wem? wiederum
von einem »Täter«. Ursache und Wirkung ein gefährlicher
Begriff, solange man ein Etwas denkt, das verursacht, und ein Etwas, auf
das gewirkt wird.Ders., Der Wille zur Macht, S. 375 |
Die
Notwendigkeit ist kein Tatbestand, sondern eine Interpretation.Ders., Der Wille zur Macht, S. 376 |
Hat
man begriffen, daß das »Subjekt« nichts ist, das wirkt, sondern
nur eine Fiktion, so folgt vielerlei.Ders., Der Wille zur Macht, S. 376 |
Wir haben nur nach dem Vorbilde des Subjekts die Dinglichkeit erfunden
und in den Sensations-Wirrwarr hineininterpretiert. Glauben wir nicht mehr an
das wirkende Subjekt, so fällt auch der Glaube an wirkende
Dinge, an Wechselwirkung, Ursache und Wirkung zwischen jenen Phänomenen,
die wir Dinge nennen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 376 |
Geben
wir das wirkende Subjekt auf, so auch das Objekt, auf das gewirkt
wird. Ders., Der Wille zur Macht, S. 376 |
Geben
wir den Begriff »Subjekt« und »Objekt« auf, dann auch
den Begriff »Substanz« und folglich auch dessen verschiedene
Modifikationen, z.B. »Materie«, »Geist« und andere hypothetische
Wesen, »Ewigkeit und Unveränderlichkeit des Stoffs« usw.. Wir
sind die Stofflichkeit los.Ders., Der Wille zur Macht, S. 377 |
Moralisch
ausgedrückt, ist die Welt falsch. Aber insofern die Moral selbst ein
Stück dieser Welt ist, so ist die Moral falsch.Ders., Der Wille zur Macht, S. 377 |
Der
Wille zur Wahrheit ist ein Fest-machen, ein Wahr-, Dauerhaft-machen,
ein Aus-dem-Auge-schaffen jenes falschen Charakters, eine Umdeutung desselben
ins Seiende. »Wahrheit« ist somit nicht etwas, das da wäre
und das aufzufinden, zu entdecken wäre, sondern etwas, das zu schaffen
ist und das den namen für einen Prozeß abgibt, mehr noch
für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat:
Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen,
nicht ein Bewußtwerden von etwas, das an sich fest und bestimmt
wäre. Es ist ein Wort für den »Willen zur Macht«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 377 |
Das
Leben ist auf die Voraussetzung eines Glaubens an Dauerndes und Regulär-Wiederkehrendes
gegründet; je mächtiger das Leben, um so breiter muß die erratbare,
gleichsam seiend gemachte Welt sein. Logisierund, Rationalisierung, Systematisierung
als Hilfsmittel des Lebens.Ders., Der Wille zur Macht, S. 377 |
Der
mensch projiziert seinen Trieb zur Wahrheit, sein »Ziel« in einem
gewissen Sinne außer sich als seiende Welt, als metaphysische Welt,
als »Ding an sich«, als bereits vorhandene Welt. Sein Bedürfnis
als Schaffender erdichtet bereits die Welt, an der er arbeitet, nimmt sie
vorweg; diese Vorwegnahme (dieser »Glaube« an die Wahrheit) ist seine
Stütze.Ders., Der Wille zur Macht, S. 378 |
Sobald
wir uns jemanden imaginieren, der verantwortlich ist dafür, daß
wir so und so sind usw. (Gott, Natur), ihm also unsere Existenz, unser Glück
und Elend als Absicht zulgen, verderben wir uns die Unschuld des Werdens.
Wir haben dann jemandenm der durch uns und mit uns etwas erreichen will.Ders., Der Wille zur Macht, S. 378 |
Das
»Wohl des Individuumns« ist ebenso imaginär als das »Wohl
der Gattung«: das erstere wird nicht dem letzteren geopfert, Gattung
ist aus der ferne betrachtet etwas ebenso Flüssigens wie Individuum. »Erhaltung
der Gattung« ist nur eine Folge des Wachstums der Gattung, d.h. der
Überwindung der Gattung auf dem Wege zu einer stärkeren Art.Ders., Der Wille zur Macht, S. 378 |
Thesen.
Daß die anscheinende »Zweckmäßigkeit« (»die
aller menschlichen Kunst unendlich überlegene Zweckmäßigkeit«)
bloß die Folge jenes in allem Geschehen sich abspielenden Willens zur
Macht ist : daß das Stärker-werden Ordnungen mit sich
bringt, die einem Zweckmäßigkeits-Entwurf ähnlich sehen :
daß die anscheinenden Zwecke nicht beabsichtigt sind, aber, sobald
die Übermacht über eine geringe Macht erreicht ist und letztere als
Funktion der größeren arbeitet, eine Ordnung des Ranges, der
Organisation den Anschein einer Ordnung von Mittel und Zweck erwecken muß.Ders., Der Wille zur Macht, S. 378 |
Gegen
die anscheinende »Notwendigkeit«: diese nur ein Ausdruck
dafür, daß eine Kraft nicht auch etwas anderes ist.Gegen
die anscheinende »Zweckmäßigkeit«: letztere
nur ein Ausdruck für eine Ordnung von Machtsphären und deren
Zusammenspiel. Ders., Der Wille zur Macht, S. 378-379 |
Ein
»Ding an sich« ebnso verkehrt wie ein »Sein an sich«.
eine »Bedeutung an sich«. Es gibt keinen »Tatbestand an sich«.
sondern ein Sinn muß immer erst hineingelegt werden, damit es einen Tatbestand
geben kann.Ders., Der Wille zur Macht, S. 381 |
Wenn
alle Einheit nur als Organisation Einheit ist? Aber das »Ding«, an
das wir glauben, ist nur als Unterlage zu verschiednen Prädikaten hinzuerfunden.
Wenn das Ding »wirkt«, so heißt das: wir fassen alle übrigen
Eigenschaften, die sonst noch hier vorhanden sind und momentan latent sind, als
Ursache, daß jetzt eine einzelne Eigenschaft hervortritt: d. h. wir nehmen
die Summe seiner Eigenschaften x als Ursache der Eigenschaft
x: was doch ganz dumm und verrückt ist! Alle Einheit ist nur als Organisation
und Zusammenspiel Einheit: nicht anders, als wie ein menschliches Gemeinwesen
eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschafts-Gebilde,
das eins bedeutet, aber nicht eins ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 383 |
»Es
mußte in der Ausbildung des Denkens der Punkt eintreten, wo es zum Bewußtsein
kam, daß das, was man als Eigenschaften der Dinge bezeichnete, Empfindungen
des empfindenden Subjekts seien: damit hörten die Eigenschaften auf, dem
Dinge anzugehören.« Es blieb »das Ding an sich« übrig.
Die Unterscheidung zwischen Ding an sich und des Dinges für uns basiert auf
der älteren, naiven Wahrnehmung, die dem Dinge Energie beilegte: aber die
Analyse ergab, daß auch die Kraft hineingedichtet worden ist, und ebenso
die Substanz. »Das Ding affiziert ein Subjekt.«? Wurzel der
Substanzvorstellung in der Sprache, nicht im Außer-uns-Seienden! Das Ding
an sich ist gar kein Problem! Das Seiende wird als Empfindung zu denken sein,
welcher nichts Empfindungsloses mehr zugrunde liegt. In der Bewegung ist kein
neuer Inhalt der Empfindung gegeben. Das Seiende kann nicht inhaltlich
Bewegung sein: also Form des Seins.NB.
Die Erklärung des Geschehens kann versucht werden einmal: durch Vorstellung
von Bildern des Geschehens, die ihm voranlaufen (Zwecke); zweitens: durch
Vorstellung von Bildern, die ihm nachlaufen (die mathematisch-physikalische
Erklärung). | Beide soll man nicht durcheinanderwerfen.
Also: die physische Erklärung, welche die Verbildlichung der Welt ist aus
Empfindung und Denken, kann nicht selber wieder das Empfinden und Denken ableiten
und entstehen machen: vielmehr muß die Physik auch die empfindende Welt
konsequent als ohne Empfindung und Zweck konstruieren bis hinauf
zum höchsten Menschen. Und die teleologische ist nur eine Geschichte der
Zwecke und nie physikalisch!Ders., Der Wille zur Macht, S. 383-384 |
Unser
»Erkennen« beschränkt sich darauf, Quantitäten festzustellen;
aber wir können durch nichts hindern, diese Quantitäts-Differenzen als
Qualitäten zu empfinden. Die Qualität ist eine perspektivische
Wahrheit für uns; kein »An sich«. Unsere Sinne haben ein bestimmtes
Quantum als Mitte, innerhalb deren sie funktionieren, d. h. wir empfinden groß
und klein im Verhältnis zu den Bedingungen unsrer Existenz. Wenn wir unsre
Sinne um das Zehnfache verschärften oder verstumpften, würden wir zugrunde
gehn: d. h. wir empfinden auch Größenverhältnisse
in bezug auf unsre Existenz-Ermöglichung als Qualitäten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 384-385 |
Sollten
nicht alle Quantitäten Anzeichen von Qualitäten sein?
Der größeren Macht entspricht ein anderes Bewußtsein, Begehren,
ein anderer perspektivischer Blick; Wachstum selbst ist ein Verlangen, mehr zu
sein; aus einem quale heraus erwächst das Verlangen nach einem Mehr von quantum;
in einer rein quantitativen Welt wäre alles tot, starr, unbewegt.
Die Reduktion aller Qualitäten auf Quantitäten ist Unsinn: was sich
ergibt, ist, daß eins und das andre beisammensteht, eine Analogie Ders., Der Wille zur Macht, S. 385 |
Die
Qualitäten sind unsere unübersteiglichen Schranken; wir können
durch nichts verhindern, bloße Quantitäts-Differenzen als etwas
von Quantität Grundverschiedenes zu empfinden, nämlich als Qualitäten,
die nicht mehr aufeinander reduzierbar sind. Aber alles, wofür nur das Wort
»Erkenntnis« Sinn hat, bezieht sich auf das Reich, wo gezählt,
gewogen, gemessen werden kann, auf die Quantität: während umgekehrt
alle unsre Wertempfindungen (d. h. eben unsre Empfindungen) gerade an den Qualitäten
haften, d. h. an unsren, nur uns allein zugehörigen perspektivischen »Wahrheiten«,
die schlechterdings nicht »erkannt« werden können. Es liegt auf
der Hand, daß jedes von uns verschiedene Wesen andere Qualitäten empfindet
und folglich in einer andern Welt, als wir leben, lebt. Die Qualitäten sind
unsre eigentliche menschliche Idiosynkrasie: zu verlangen, daß diese unsre
menschlichen Auslegungen und Werte allgemeine und vielleicht konstitutive Werte
sind, gehört zu den erblichen Verrücktheiten des menschlichen Stolzes.Ders., Der Wille zur Macht, S. 385-386 |
Die
»wahre Welt«, wie immer auch man sie bisher konzipiert hat
sie war immer die scheinbare Welt noch einmal.Ders., Der Wille zur Macht, S. 386 |
Die
scheinbare Welt, d. h. eine Welt, nach Werten angesehn; geordnet, ausgewählt
nach Werten, d. h. in diesem Falle nach dem Nützlichkeits-Gesichtspunkt in
Hinsicht auf die Erhaltung und Macht- Steigerung einer bestimmten Gattung von
Animal. Das Perspektivische also gibt den Charakter der »Scheinbarkeit«
ab! Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnet!
Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet! Jedes Kraftzentrum
hat für den ganzen Rest seine Perspektive, d.h. seine ganz bestimmte
Wertung, seine Aktions-Art, seine Widerstands-Art. Die »scheinbare
Welt« reduziert sich also auf eine spezifische Art von Aktion auf die Welt,
ausgehend von einem Zentrum. Nun gibt es gar keine andre Art Aktion: und die »Welt«
ist nur ein Wort für das Gesamtspiel dieser Aktionen. Die Realität besteht
exakt in dieser Partikular-Aktion und -Reaktion jedes Einzelnen gegen das Ganze
.... Es bleibt kein Schatten von Recht mehr übrig, hier von Schein
zu reden .... Die spezifische Art zu reagieren ist die einzige Art des
Reagierens: wir wissen nicht, wie viele und was für Arten es alles gibt.
Aber es gibt kein »anderes«, kein »wahres«, kein
wesentliches Sein damit würde eine Welt ohne Aktion und Reaktion ausgedrückt
sein .... Der Gegensatz der scheinbaren Welt und der wahren Welt reduziert sich
auf den Gegensatz »Welt« und »Nichts«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 386-387 |
Kritik
des Begriffes »wahre und scheinbare Welt«. Von diesen ist
die erste eine bloße Fiktion, aus lauter fingierten Dingen gebildet. Die
»Scheinbarkeit« gehört selbst zur Realität: sie ist eine
Form ihres Seins; d. h. in einer Welt, wo es kein Sein gibt, muß durch den
Schein erst eine gewisse berechenbare Welt identischer Fälle geschaffen
werden: ein Tempo, in dem Beobachtung und Vergleichung möglich ist, usw..
»Scheinbarkeit« ist eine zurechtgemachte und vereinfachte Welt, an
der unsre praktischen Instinkte gearbeitet haben: sie ist für uns
vollkommen wahr: nämlich wir leben, wir können in ihr leben:
Beweis ihrer Wahrheit für uns ..., die Welt, abgesehen von unsrer
Bedingung, in ihr zu leben, die Welt, die wir nicht auf unser Sein, unsre
Logik und psychologischen Vorurteile reduziert haben, existiert nicht als Welt
»an sich«; sie ist essentiell Relations-Welt: sie hat, unter Umständen,
von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht: ihr Sein ist essentiell
an jedem Punkte anders: sie drückt auf jeden Punkt, es widersteht ihr jeder
Punkt und diese Summierungen sind in jedem Falle gänzlich inkongruent.
Das Maß von Macht bestimmt, welches Wesen das andre Maß von
Macht hat: unter welcher Form, Gewalt, Nötigung es wirkt oder widersteht.Unser
Einzelfall ist interessant genug: wir haben eine Konzeption gemacht, um in einer
Welt leben zu können, um gerade genug zu perzipieren, daß wir noch
es aushalten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 387-388 |
Unsre
psychologische Optik ist dadurch bestimmt:1.
daß Mitteilung nötig ist und daß zur Mitteilung etwas
fest, ver-einfacht, präzisierbar sein muß (vor allem im sogenannten
identischen Fall). Damit es aber mitteilbar sein kann, muß es zurechtgemacht
empfunden werden, als »wiedererkennbar«. Das Material der Sinne
vom Verstande zurechtgemacht, reduziert auf grobe Hauptstriche, ähnlich gemacht,
subsumiert unter Verwandtes. Also: die Undeutlichkeit und das Chaos des Sinneseindrucks
wird gleichsam logisiert;2. die Welt der »Phänomene«
ist die zurechtgemachte Welt, die wir als real empfinden. Die »Realität«
liegt in dem beständigen Wieder-kommen gleicher, bekannter, verwandter Dinge,
in ihrem logisierten Charakter, im Glauben, daß wir hier rechnen, berechnen
können;3. der Gegensatz dieser Phänomenal-Welt
ist nicht »die wahre Welt«, sondern die formlos-unformulier bare Welt
des Sensationen-Chaos also eine andere Art Phänomenal-Welt,
eine für uns »unerkennbare«;4.
Fragen, wie die Dinge »an sich« sein mögen, ganz abgesehen von
unsrer Sinnen-Rezeptivität und Verstandes-Aktivität, muß man mit
der Frage zurückweisen: woher könnten wir wissen, daß es Dinge
gibt? Die »Dingheit« ist erst von uns geschaffen. Die Frage ist,
ob es nicht noch viele Arten geben könnte, eine solche scheinbare Welt zu
schaffen und ob nicht dieses Schaffen, Logisieren, Zurechtmachen, Fälschen
die bestgarantierte Realität selbst ist: kurz, ob nicht das, was »Dinge
setzt«, allein real ist; und ob nicht die »Wirkung der äußeren
Welt auf uns« auch nur die Folge solcher wollenden Subjekte ist .... Die
anderen »Wesen« agieren auf uns; unsre zurechtgemachte Scheinwelt
ist eine Zurechtmachung und Überwältigung von deren Aktionen:
eine Art Defensiv-Maßregel. Das Subjekt allein ist beweisbar:
Hypothese, daß es nur Subjekte gibt daß »Objekt«
nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt ist ... ein Modus des Subjekts.Ders., Der Wille zur Macht, S. 388-389 |
Ist
man Philosoph, wie man immer Philosoph war, so hat man kein Auge für das,
was war, und das, was wird man sieht nur das Seiende. Da es aber nichts
Seiendes gibt, so blieb dem Philosophen nur das Imaginäre aufgespart, als
seine »Welt«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 389 |
Ein
Künstler hält keine Wirklichkeit aus, er blickt weg, zurück: seine
ernsthafte Meinung ist, daß was ein Ding wert ist, jener schattengleiche
Rest ist, den man aus Farben, Gestalt, Klang, Gedanken gewinnt; er glaubt daran,
daß, je mehr subtilisiert, verdünnt, verflüchtigt ein Ding, ein
Mensch wird, um so mehr sein Wert zunimmt: je weniger real, um so mehr
Wert. Dies ist Platonismus: der aber noch eine Kühnheit mehr besaß,
im Umdrehen: er maß den Grad Realität nach dem Wertgrade ab
und sagte: je mehr »Idee«, desto mehr Sein. Er drehte den Begriff
»Wirklichkeit« herum und sagte: »Was ihr für wirklich haltet,
ist ein Irrtum, und wir kommen, je näher wir der Idee kommen,
um so näher der Wahrheit«. Versteht man es? Das
war die größte Umtaufung: und weil sie vom Christentum aufgenommen
ist, so sehen wir die erstaunliche Sache nicht. Plato hat im Grunde den Schein,
als Artist, der er war, dem Sein vorgezogen! also die Lüge und Erdichtung
der Wahrheit! das Unwirkliche dem Vorhandenen! er war aber so sehr vom
Werte des Scheins überzeugt, daß er ihm die Attribute »Sein«,
»Ursächlichkeit« und »Gutheit«, »Wahrheit«,
kurz alles übrige beilegte, dem man Wert beilegt. Der Wertbegriff selbst,
als Ursache gedacht: erste Einsicht. Das Ideal mit allen Attributen bedacht, die
Ehre verleihen: zweite Einsicht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 389-390 |
Die
Idee der »wahren Welt« oder »Gottes« als absolut unsinnlich,
geistig, gütig ist eine Notmaßregel im Verhältnis dazu,
als die Gegen-Instinkte noch allmächtig sind .... Die Mäßigkeit
und erreichte Humanität zeigt sich exakt in der Vermenschlichung der Götter:
die Griechen der stärksten Zeit, die vor sich selber keine Furcht hatten,
sondern Glück an sich hatten, näherten ihre Götter an alle ihre
Affekte . Die Vergeistigung der Gottes-Idee ist deshalb fern davon, einen
Fortschritt zu bedeuten: man fühlt dies recht herzlich bei der Berührung
mit Goethe wie da die Verdunstung Gottes zu Tugend und Geist sich als eine
rohere Stufe fühlbar macht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 390-391 |
Erst
vermöge des Denkens gibt es Unwahrheit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 391 |
Zur
Psychologie der Metaphysik. Diese Welt ist scheinbar: folglich gibt
es eine wahre Welt; diese Welt ist bedingt: folglich gibt es eine
unbedingte Welt; diese Welt ist widerspruchsvoll: folglich gibt es eine
widerspruchslose Welt; diese Welt ist werdend: folglich gibt es eine seiende
Welt: lauter falsche Schlüsse (blindes Vertrauen in die Vernunft:
wenn A ist, so muß auch sein Gegensatz-Begriff B sein). Zu diesen Schlüssen
inspiriert das Leiden: im Grunde sind es Wünsche, es möchte eine
solche Welt geben; ebenfalls drückt sich der Haß gegen eine Welt, die
leiden macht, darin aus, daß eine andere imaginiert wird, eine wertvollere:
das Ressentiment der Metaphysiker gegen das Wirkliche ist hier schöpferisch.
Zweite Reihe von Fragen: wozu Leiden? Und hier ergibt sich ein Schluß
auf das Verhältnis der wahren Welt zu unsrer scheinbaren, wandelbaren, leidenden,
widerspruchsvollen: 1. Leiden als Folge des Irrtums:
wie ist Irrtum möglich?2. Leiden als Folge
von Schuld: wie ist Schuld möglich?(Lauter
Erfahrungen aus der Natursphäre oder der Gesellschaft universalisiert und
ins »An-sich« projiziert).Wenn aber
die bedingte Welt ursächlich von der unbedingten bedingt ist, so muß
die Freiheit zum Irrtum und zur Schuld mit von ihr bedingt sein: und wieder
fragt man wozu? .... Die Welt des Scheins, des Werdens, des Widerspruchs, des
Leidens ist also gewollt: wozu? Der Fehler dieser Schlüsse: zwei gegensätzliche
Begriffe sind gebildet weil dem einen von ihnen eine Realität entspricht,
»muß« auch dem andern eine Realität entsprechen. »Woher
sollte man sonst dessen Gegenbegriff haben?« Vernunft somit als eine
Offenbarungs-Quelle über An-sich-Seiendes. Aber die Herkunft jener Gegensätze
braucht nicht notwendig auf eine übernatürliche Quelle der Vernunft
zurückzugehn: es genügt, die wahre Genesis der Begriffe dagegenzustellen:
diese stammt aus der praktischen Sphäre, aus der Nützlichkeitssphäre,
und hat eben daher ihren starken Glauben (man geht daran zugrunde, wenn
man nicht gemäß dieser Vernunft schließt: aber damit ist das
nicht »bewiesen«, was sie behauptet). Die Präokkupation durch
das Leiden bei den Metaphysikern: ist ganz naiv. »Ewige Seligkeit«:
psychologischer Unsinn. Tapfere und schöpferische Men schen fassen Lust und
Leid nie als letzte Wertfragen, es sind Begleit-Zustände: man muß
beides wollen, wenn man etwas erreichen will . Darin drückt
sich etwas Müdes und Krankes an den Metaphysikern und Religiösen aus,
daß sie Lust- und Leidprobleme im Vordergrunde sehn. Auch die Moral hat
nur deshalb für sie solche Wichtigkeit, weil sie als wesentliche Bedingung
in Hinsicht auf Abschaffung des Leidens gilt. Insgleichen die Präokkuptaion
durch Schein und Irrtum. Ursache von Leiden, Aberglaube, daß das Glück
mit der Wahrheit verbunden sei (Verwechslung: das Glück in der »Gewißheit«,
im »Glauben«).Ders., Der Wille zur Macht, S. 393-395 |
Inwiefern
die einzelnen erkenntnistheoretischen Grundstellungen (Materialismus, Sensualismus,
Idealismus) Konsequenzen der Wertschätzungen sind: die Quelle der obersten
Lustgefühle (»Wertgefühle«) auch als entscheidend über
das Problem der Realität! Das Maß positiven Wissens
ist ganz gleichgültig oder nebensächlich: man sehe doch die indische
Entwicklung. Die buddhistische Negation der Realität überhaupt (Scheinbarkeit
= Leiden) ist eine vollkommene Konsequenz: Unbeweisbarkeit, Unzugänglichkeit,
Mangel an Kategorien nicht nur für eine »Welt an sich«, sondern
Einsicht in die fehlerhaften Prozeduren, vermöge deren dieser ganze
Begriff gewonnen ist. »Absolute Realität«, »Sein an sich«
ein Widerspruch. In einer werdenden Welt ist »Realität« immer
nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken oder eine Täuschung
auf Grund grober Organe oder eine Verschiedenheit im Tempo desWerdens.
Die logische Weltverneinung und Nihilisierung folgt daraus, daß wir Sein
dem Nichtsein entgegensetzen müssen und daß der Begriff »Werden«
geleugnet wird. (»Etwas« wird.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 395 |
Wir
haben keine Kategorien, nach denen wir eine wahre und eine scheinbare Welt scheiden
dürften. (Es könnte eben bloß eine scheinbare Welt geben, aber
nicht nur unsere scheinbare Welt.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 397 |
Es
ist von kardinaler Wichtigkeit, daß man die wahre Welt abschafft. Sie ist
die große Anzweiflerin und Wertverminderung der Welt, die wir sind: sie
war bisher unser gefährlichstes Attentat auf das Leben. Krieg
gegen alle Voraussetzungen, auf welche hin man eine wahre Welt fingiert hat. Zu
diesen Voraussetzungen gehört, daß die moralischen Werte die obersten
seien. Die moralische Wertung als oberste wäre widerlegt, wenn sie bewiesen
werden könnte als die Folge einer unmoralischen Wertung: als ein Spezialfall
der realen Unmoralität: sie reduzierte sich damit selbst auf einen Anschein,
und als Anschein hätte sie, von sich aus, kein Recht mehr, den Schein
zu verurteilen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 398 |
Der
»Wille zur Wahrheit« wäre sodann psychologisch zu untersuchen:
er ist keine moralische Gewalt, sondern eine Form des Willens zur Macht. Dies
wäre damit zu beweisen, daß er sich aller unmoralischen Mittel
bedient: die Metaphysiker voran . Wir sind heute vor die Prüfung der
Behauptung gestellt, daß die moralischen Werte die obersten Werte seien.
Die Methodik der Forschung ist erst erreicht, wenn alle moralischen
Vorurteile überwunden sind: sie stellt einen Sieg über die
Moral dar.Ders., Der Wille zur Macht, S. 398 |
Der
Satz vom Widerspruch gab das Schema: die wahre Welt, zu der man den Weg sucht,
kann nicht mit sich in Widerspruch sein, kann nicht wechseln, kann nicht werden,
hat keinen Ursprung und kein Ende. Das ist der größte Irrtum, der begangen
worden ist, das eigentliche Verhängnis des Irrtums auf Erden: man glaubte
ein Kriterium der Realität in den Vernunftformen zu haben, während
man sie hatte, um Herr zu werden über die Realität, um auf eine kluge
Weise die Realität mißzuverstehn .... Und siehe da: jetzt wurde
die Welt falsch, und exakt der Eigenschaften wegen, die ihre Realität ausmachen,
Wechsel, Werden, Vielheit, Gegensatz, Widerspruch, Krieg. Und nun war das ganze
Verhängnis da:1. Wie kommt man los von der
falschen, der bloß scheinbaren Welt? ( es war die wirkliche, die einzige);2.
wie wird man selbst möglichst der Gegensatz zu dem Charakter der scheinbaren
Welt? (Begriff des vollkommnen Wesens als eines Gegensatzes zu jedem realen Wesen,
deutlicher, als Widerspruch zum Leben ...).Die
ganze Richtung der Werte war auf Verleumdung des Lebens aus; man schuf
eine Verwechslung des Ideal-Dogmatismus mit der Erkenntnis überhaupt:
so daß die Gegenpartei immer nun auch die Wissenschaft perhorreszierte.
Der Weg zur Wissenschaft war dergestalt doppelt versperrt: einmal durch den Glauben
an die »wahre« Welt, und dann durch die Gegner dieses Glaubens. Die
Naturwissenschaft ... war1. in ihren Objekten
verurteilt,2. um ihre Unschuld gebracht ....In
der wirklichen Welt, wo schlechterdings alles verkettet und bedingt ist, heißt
irgend etwas verurteilen und wegdenken, alles wegdenken und verurteilen.
Das Wort »das sollte nicht sein«, »das hätte nicht sein
sollen« ist eine Farce .... Denkt man die Konsequenzen aus, so ruinierte
man den Quell des Lebens, wenn man das abschaffen wollte, was in irgendeinem Sinne
schädllich, zerstörerisch ist. Die Physiologie demonstriert es ja
besser! Wir sehen, wie die Morala)
die ganze Weltauffassung vergiftet,b)
den Weg zur Erkenntnis, zur Wissenschaft abschneidet,c)
alle wirklichen Instinkte auflöst und untergräbt (indem sie deren Wurzeln
als unmoralisch empfinden lehrt).Wir sehen
ein furchtbares Werkzeug der décadence vor uns arbeiten, das sich mit den
heiligsten Namen und Gebärden aufrecht hält.Ders., Der Wille zur Macht, S. 400-401 |
A.Der Mensch sucht »die Wahrheit«: eine Welt, die nicht sich wider-spricht,
nicht täuscht, nicht wechselt, eine wahre Welt eine Welt, in
der man nicht leidet: Widerspruch, Täuschung, Wechsel Ursachen des
Leidens! Er zweifelt nicht, daß es eine Welt, wie sie sein soll, gibt; er
möchte zu ihr sich den Weg suchen. (Indische Kritik: selbst das »Ich«
als scheinbar, als nicht-real.) Woher nimmt hier der Mensch den Begriff
der Realität? Warum leitet er gerade das Leiden von
Wechsel, Täuschung, Widerspruch ab? und warum nicht vielmehr sein Glück?
Die Verachtung, der Haß gegen alles, was vergeht, wechselt, wandelt:
woher diese Wertung des Bleibenden; Ersichtlich ist hier der Wille zur
Wahrheit bloß das Verlangen in eine Welt des Bleibenden. Die Sinne
täuschen, die Vernunft korrigiert die Irrtümer: folglich, schloß
man, ist die Vernunft der Weg zu dem Bleibenden; die unsinnlichsten Ideen
müssen der »wahren Welt« am nächsten sein. Von den
Sinnen her kommen die meisten Unglücksschläge, sie sind Betrüger,
Betörer, Vernichter. Das Glück kann nur im Seienden verbürgt
sein: Wechsel und Glück schließen sich aus. Der höchste Wunsch
hat demnach die Einswerdung mit dem Seienden im Auge. Das ist die Formel
für: Weg zum höchsten Glück.In
summa: Die Welt, wie sie sein sollte, existiert; diese Welt, in der wir
leben, ist ein Irrtum, diese unsre Welt sollte nicht existieren.Der
Glaube an das Seiende erweist sich nur als eine Folge: das eigentliche
primum mobile ist der Unglaube an das Werdende, das Mißtrauen
gegen das Werdende, die Geringschätzung alles Werdens .... Was für eine
Art Mensch reflektiert so? Eine unproduktive, leidende Art, eine lebensmüde
Art. Dächten wir uns die entgegengesetzte Art Mensch, so hätte sie den
Glauben an das Seiende nicht nötig; mehr noch, sie würde es verachten,
als tot, langweilig, indifferent ....Der Glaube,
daß die Welt, die sein sollte, ist, wirklich existiert, ist ein Glaube der
Unproduktiven, die nicht eine Welt schaffen wollen, wie sie sein soll.
Sie setzen sie als vorhanden, sie suchen nach Mitteln und Wegen, um zu ihr zu
gelangen. »Wille zur Wahrheit« als Ohnmacht des Willens
zum Schaffen.Erkennen, daß
etwas so und so ist: | { | Antagonismus
in den Kraft-Graden der Naturen. | Tun,
daß etwas so und so wird: | Fiktion einer
Welt, welche unseren Wünschen entspricht; psychologische Kunstgriffe und
Interpretationen, um alles, was wir ehren und als angenehm empfinden, mit dieser
wahren Welt zu verknüpfen.»Wille zur Wahrheit« auf dieser
Stufe ist wesentlich Kunst der Interpretation: wozu immer noch Kraft der
Interpretation gehört.Dieselbe Spezies Mensch,
noch eine Stufe ärmer geworden, nicht mehr im Besitz der Kraft zu interpretieren,
des Schaffens von Fiktionen, macht den Nihilisten. Ein Nihilist ist der
Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urteilt, sie sollte nicht sein, und
von der Welt, wie sie sein sollte, urteilt, sie existiert nicht. Demnach hat dasein
(handeln, leiden, wollen, fühlen) keinen Sinn: das Pathos des »Umsonst«
ist das Nihilisten-Pathos zugleich noch als Pathos eine Inkonsequenz
des Nihilisten.Wer seinen Willen nicht in die
Dinge zu legen vermag, der Willens- und Kraftlose, der legt wenigstens noch einen
Sinn hinein, d.h. den Glauben, daß schon ein Wille darin sei.Es
ist ein Gradmesser von Willenskraft, wie weit man des Sinnes in
den Dingen entbehren kann, wie weit man in einer sinnlosen Welt zu leben aushält:
weil man ein kleines Stück von ihr selbst organisiert.Das
philosophische Objektiv-Blicken kann somit ein Zeichen von Willens- und
Kraft-Armut sein. Denn die Kraft organisiert das Nähere und Nächste;
die »Erkennenden«, welche nur feststellen wollen, was ist, sind solche,
die nichts festsetzen können, wie es sein soll.Die
Künstler, eine Zwischenart: sie setzen wenigstens ein Gleichnis von
dem fest, was sein soll, sie sind produktiv, insofern sie wirklich verändern
und umformen; nicht wie die Erkennenden, welche alles lassen, wie es ist.Zusammenhang
der Philosophen mit den pessimistischen Religionen: dieselbe Spezies Mensch
( sie legen den höchsten Grad von Realität den höchstgewerteten
Dingen bei ).Zusammenhang der Philosophen
mit den moralischen Menschen und deren Wertmaßen ( die moralische
Weltauslegung als Sinn nach dem Niedergang des religiösen Sinnes ).Überwindung
der Philosophen durch Vernichtung der Welt des Seienden: Zwischenperiode des
Nihilismus: bevor die Kraft da ist, die Werte umzuwenden und das Werdende, die
scheinbare Welt, als die einzige, zu vergöttlichen und gutzuheißen.B.Der
Nihilismus als normales Phänomen kann ein Symptom wachsender Stärke
sein oder wachsender Schwäche:teils,
daß die Kraft, zu schaffen, zu wollen, so gewachsen ist, daß
sie diese Gesamt-Ausdeutungen und Sinn-Einlegungen nicht mehr braucht (»nähere
Aufgaben«, Staat usw.);teils, daß
selbst die schöpferische Kraft, Sinn zu schaffen, nachläßt und
die Enttäuschung der herrschende Zustand wird. Die Unfähigkeit zum Glauben
an einen »Sinn«, der »Unglaube«.Was
die Wissenschaft in Hinsicht auf beide Möglichkeiten bedeutet?1.
Als Zeichen von Stärke und Selbstbeherrschung, als Entbehren-können
heilender, tröstlicher Illusions-Welten;2.
als untergrabend, sezierend, enttäuschend, schwächend.C.Der
Glaube an die Wahrheit, das Bedürfnis einen Halt zu haben an etwas
Wahrgeglaubtem: psychologische Reduktion abseits von allen bisherigen Wertgefühlen.
Die Furcht, die Faulheit.Insgleichen der Unglaube: Reduktion. Inwiefern
er einen neuen Wert bekommt, wenn es eine wahre Welt gar nicht gibt ( dadurch
werden die Wertgefühle wieder frei, die bisher auf die seiende Welt verschwendet
worden sind).Ders., Der Wille zur Macht, S. 401-405 |
Die
»wahre« und die »scheinbare Welt«A.Die Verführungen,
die von diesem Begriff ausgehen, sind dreierlei Art:a)
eine unbekannte Welt: wir sind Abenteurer, neugierig das
Bekannte scheint uns müde zu machen ( die Gefahr des Begriffs liegt
darin, uns »diese« Welt als bekannt zu insinuieren ...); b)
eine andre Welt, wo es anders ist: es rechnet etwas in uns nach, unsre
stille Ergebung, unser Schweigen verlieren dabei ihren Wert, vielleicht
wird alles gut, wir haben nicht umsonst gehofft .... Die Welt, wo es anders, wo
wir selbst wer weiß? anders sind .... c)
eine wahre Welt: das ist der wunderlichste Streich und Angriff, der auf
uns gemacht wird; es ist so vieles an das Wort »wahr« ankrustiert,
unwillkürlich machen wir's auch der »wahren Welt« zum Geschenk:
die wahre Welt muß auch eine wahrhaftige sein, eine solche, die uns
nicht betrügt, nicht zu Narren hat: an sie glauben ist beinahe glauben müssen
( aus Anstand, wie es unter zutrauenswürdigen Wesen geschieht ).
Der Begriff »die unbekannte Welt«
insinuiert uns diese Welt als »bekannt« (als langweilig ); der
Begriff »die andre Welt« insinuiert, als ob die Welt anders
sein könnte, hebt die Notwendigkeit und das Fatum auf (
unnütz, sich zu ergeben, sich anzupassen ); der Begriff
»die wahre Welt« insinuiert diese Welt als eine unwahrhaftige,
betrügerische, unredliche, unechte, unwesentliche und folglich auch
nicht unserm Nutzen zugetane Welt ( unratsam, sich ihr anzupassen; besser:
ihr widerstreben).Wir
entziehen uns also in dreierlei Weise »dieser« Welt:a)
mit unsrer Neugierde wie als ob der interessantere Teil woanders
wäre;b) mit unsrer Ergebung
wie als ob es nicht nötig sei, sich zu ergeben, wie als ob diese Welt
keine Notwendigkeit letzten Ranges sei;c) mit
unsrer Sympathie und Achtung wie als ob diese Welt sie nicht verdiente,
als unlauter, als gegen uns nicht redlich ....In
summa: wir sind auf eine dreifache Weise revoltiert: wir haben ein x zur
Kritik der »bekannten Welt« gemacht.B.Erster
Schritt der Besonnenheit: zu begreifen, inwiefern wir verführt
sind nämlich es könnte an sich exakt umgekehrt sein;a)
die unbekannte Welt könnte derartig beschaffen sein, um uns Lust zu
machen zu »dieser« Welt, als eine vielleicht stupide und geringere
Form des Daseins;b) die andere Welt, geschweige,
daß sie unsern Wünschen, die hier keinen Austrag fänden, Rechnung
trüge, könnte mit unter der Masse dessen sein, was uns diese
Welt möglich macht: sie kennen lernen wäre ein Mittel, uns zufrieden
zu machen;c) die wahre Welt: aber wer
sagt uns eigentlich, daß die scheinbare Welt weniger wert sein muß
als die wahre? Widerspricht nicht unser Instinkt diesem Urteile? Schafft sich
nicht ewig der Mensch eine fingierte Welt, weil er eine bessere Welt haben will
als die Realität? Vor allem: wie kommen wir darauf, daß nicht
unsre Welt die wahre ist? ... zunächst könnte doch die andre Welt
die »scheinbare« sein (in der Tat haben sich die Griechen z. B. ein
Schattenreich, eine Scheinexistenz neben der wahren Existenz,
gedacht ). Und endlich: was gibt uns ein Recht, gleichsam Grade der Realität
anzusetzen? Das ist etwas andres als eine unbekannte Welt das ist
bereits Etwas-wissen-wollen von der unbekannten. Die »andere«,
die »unbekannte« Welt gut! aber sagen »wahre Welt«
das heißt »etwas wissen von ihr«, das ist der Gegensatz
zur Annahme einer x-Welt ....In summa: die Welt
x könnte in jedem Sinne langweiliger, unmenschlicher und unwürdiger
sein als diese Welt.Es stünde anders, wenn
behauptet würde, es gebe x Welten, d. h. jede mögliche Welt noch außer
dieser. Aber das ist nie behauptet worden ....C.Problem:
warum die Vorstellung von der andern Welt immer zum Nachteil, resp. zur
Kritik »dieser« Welt ausgefallen ist worauf das weist?
Nämlich: ein Volk, das auf sich stolz ist, das im Aufgange des Lebens ist,
denkt das Anders-sein immer als Niedriger-, Wertloser-sein; es betrachtet
die fremde, die unbekannte Welt als seinen Feind, als seinen Gegensatz, es fühlt
sich ohne Neugierde, in voller Ablehnung gegen das Fremde... Ein Volk würde
nicht zugeben, daß ein anderes Volk das »wahre Volk« wäre
....Schon daß ein solches Unterscheiden möglich ist daß
man diese Welt für die »scheinbare« und jene für die »wahre«
nimmt, ist symptomatisch. Die Entstehungsherde der Vorstellung »andre Welt«:
der Philosoph, der eine Vernunft-Welt erfindet, wo die Vernunft und die
logischen Funktionen adäquat sind daher stammt die »wahre«
Welt; der religiöse Mensch, der eine »göttliche Welt« erfindet
daher stammt die »entnatürlichte, widernatürliche«
Welt; der moralische Mensch, der eine »freie Welt« fingiert
daher stammt die »gute, vollkommene, gerechte, heilige« Welt. Das
Gemeinsame der drei Entstehungsherde: der psychologische Fehlgriff,
die physiologischen Verwechslungen. Die »andre Welt«, wie sie tatsächlich
in der Geschichte erscheint, mit welchen Prädikaten abgezeichnet? Mit den
Stigmaten des philosophischen, des religiösen, des moralischen Vorurteils.
Die »andre Welt«, wie sie aus diesen Tatsachen erhellt, als ein Synonym
des Nicht-seins, des Nicht-lebens, des Nicht-leben-wollens ....Gesamteinsicht:
der Instinkt der Lebensmüdigkeit, und nicht der des Lebens, hat die
»andre Welt« geschaffen.Konsequenz:
Philosophie, Religion und Moral sind Symptome der décadence.Ders., Der Wille zur Macht, S. 405-409 |
Die
Frage der Werte ist fundamentaler als die Frage der Gewißheit: letztere
erlangt ihren Ernst erst unter der Voraussetzung, daß die Wertfrage beantwortet
ist. Sein und Schein, psychologisch nachgerechnet, ergibt kein »Sein an
sich«, keine Kriterien für »Realität«, sondern nur
für Grade der Scheinbarkeit, gemessen an der Stärke des Anteils,
den wir einem Schein geben. Nicht ein Kampf um Existenz wird zwischen den Vorstellungen
und Wahrnehmungen gekämpft, sondern um Herrschaft; vernichtet
wird die überwundene Vorstellung nicht, nur zurückgedrängt oder
subordiniert. Es gibt im Geistigen keine Vernichtung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 409-410 |
Die
Wissenschaft das war bisher die Beseitigung der vollkommenen Verworrenheit
der Dinge durch Hypothesen, welche alles »erklären« also
aus dem Widerwillen des Intellekts an dem Chaos. Dieser selbe Widerwille
ergreift mich bei der Betrachtung meiner selber: die innere Welt möchte
ich auch durch ein Schema mir bildlich vorstellen und über die intellektuelle
Verworrenheit hinauskommen. Die Moral war eine solche Vereinfachung: sie
lehrte den Menschen als erkannt, als bekannt. Nun haben wir
die Moral vernichtet wir selber sind uns wieder völlig dunkel
geworden! Ich weiß, daß ich von mir nichts weiß. Die Physik
ergibt sich als eine Wohltat für das Gemüt: die Wissenschaft
(als der Weg zur Kenntnis) bekommt einen neuen Zauber nach der Beseitigung
der Moral und weil wir hier allein Konsequenz finden, so müssen
wir unser Leben darauf einrichten, sie uns zu erhalten. Dies ergibt eine
Art praktischen Nachdenkens über unsre Existenzbedingungen als
Erkennende.Ders., Der Wille zur Macht, S. 411 |
Keine
»moralische Erziehung« des Menschengeschlechts: sondern die
Zwangsschule der wissenschaftlichen Irrtümer ist nötig, weil
die »Wahrheit« degoutiert und das Leben verleidet vorausgesetzt,
daß der Mensch nicht schon unentrinnbar in seine Bahn gestoßen ist
und seine redliche Einsicht mit einem tragischen Stolze auf sich nimmt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 412 |
Wir
wissen, daß die Zerstörung einer Illusion noch keine Wahrheit ergibt,
sondern nur ein Stück Unwissenheit mehr, eine Erweiterung unseres
»leeren Raumes«, einen Zuwachs unserer »Öde«Ders., Der Wille zur Macht, S. 414 |
Was
kann allein Erkenntnis sein? »Auslegung«, Sinn-hineinlegen
nicht »Erklärung« (in den meisten Fällen eine
neue Auslegung über eine alte unverständlich gewordne Auslegung, die
jetzt selbst nur Zeichen ist). Es gibt keinen Tatbestand, alles ist flüssig,
unfaßbar, zurückweichend; das Dauerhafteste sind noch unsre Meinungen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 414 |
Der
Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt
hat: das Wiederfinden heißt sich Wissenschaft, das Hineinstecken
Kunst, Religion, Liebe, Stolz. In beidem, wenn es selbst Kinderspiel sein
sollte, sollte man fortfahren und guten Mut zu beidem haben, die einen
zum Wiederfinden, die andern wir andern! zum Hineinstecken!Ders., Der Wille zur Macht, S. 415 |
Die
Entwicklung der Wissenschaft löst das »Bekannte« immer mehr in
ein Unbekanntes auf: sie will aber gerade das Umgekehrte und geht
von dem Instinkt aus, das Unbekannte auf das Bekannte zurückzuführen.
In summa bereitet die Wissenschaft eine souveräne Unwissenheit vor,
ein Gefühl, daß »Erkennen« gar nicht vorkommt, daß
es eine Art Hochmut war, davon zu träumen, mehr noch, daß wir nicht
den geringsten Begriff übrig behalten, um auch nur »Erkennen«
als eine Möglichkeit gelten zu lassen daß »Erkennen«
eine widerspruchsvolle Vorstellung ist. Wir übersetzen eine uralte Mythologie
und Eitelkeit des Menschen in die harte Tatsache: so wenig »Ding an sich«,
so wenig ist »Erkenntnis an sich« noch erlaubt als Begriff. Die Verführung
durch »Zahl und Logik«, die Verführung durch die »Gesetze«.
»Weisheit« als Versuch, über die perspektivischen Schätzungen
(d.h. über den »Willen zur Macht«) hinwegzukommen: ein
lebensfeindliches und auflösendes Prinzip, Symptom wie bei den Indern usw.,
Schwächung der Aneignungskraft.Ders., Der Wille zur Macht, S. 415-416 |
Es
ist nicht genug, daß du einsiehst, in welcher Unwissenheit Mensch und Tier
lebt: du mußt auch noch den Willen zur Unwissenheit haben und hinzulernen.
Es ist dir nötig, zu begreifen, daß ohne diese Art Unwissenheit das
Leben selber unmöglich wäre, daß sie eine Bedingung ist, unter
welcher das Lebendige allein sich erhält und gedeiht: eine große, feste
Glocke von Unwissenheit muß um dich stehn.Ders., Der Wille zur Macht, S. 416 |
Wissenschaft
Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck der Beherrschung der Natur
das gehört in die Rubrik »Mittel«. Aber der Zweck und Wille des
Menschen muß ebenso wachsen, die Absicht in Hinsicht auf das Ganze.Ders., Der Wille zur Macht, S. 416 |
Die
Erkenntnis wird, bei höherer Art von Wesen, auch neue Formen haben, welche
jetzt noch nicht nötig sind.Ders., Der Wille zur Macht, S. 417 |
Daß
der Wert der Welt in unserer Interpretation liegt ( daß vielleicht
irgendwo noch andre Interpretationen möglich sind als bloß menschliche
), daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen
sind, vermöge deren wir uns im Leben, d. h. im Willen zur Macht, zum Wachstum
der Macht, erhalten, daß jede Erhöhung des Menschen die Überwindung
engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung
und Machterweiterung neue Perspektiven auftut und an neue Horizonte glauben heißt
das geht durch meine Schriften. Die Welt, die uns etwas angeht,
ist falsch, d.h. ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über
einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist »im Flusse«, als etwas
Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals
der Wahrheit nähert: denn es gibt keine »Wahrheit«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 418 |
Rekapitulation:Dem
Werden den Charakter des Seins aufzuprägen das ist der höchste
Wille zur Macht.Zwiefache Fälschung,
von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten,
des Verharrenden, Gleichwertigen usw.Daß
alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des
Werdens an die des Seins Gipfel der Betrachtung.Von
den Werten aus, die dem Seienden beigelegt werden, stammt die Verurteilung und
Unzufriedenheit im Werdenden: nachdem eine solche Welt des Seins erst erfunden
war.Die Metamorphosen des Seienden (Körper,
Gott, Ideen, Naturgesetze, Formeln usw.).»Das
Seiende« als Schein; Umkehrung der Werte: der Schein war das Wertverleihende
.Erkenntnis an sich im Werden unmöglich;
wie ist also Erkenntnis möglich? Als Irrtum über sich selbst, als Wille
zur Macht, als Wille zur Täuschung.Werden
als Erfinden, Wollen, Selbstverneinen, Sich-selbst-überwinden: kein Subjekt,
sondern ein Tun, Setzen, schöpferisch, keine »Ursachen und Wirkungen«.Kunst
als Wille zur Überwindung des Werdens, als »Verewigen«, aber
kurzsichtig, je nach der Perspektive: gleichsam im kleinen die Tendenz des Ganzen
wiederholend.Was alles Leben zeigt, als
verkleinerte Formel für die gesamte Tendenz zu betrachten: deshalb eine neue
Fixierung des Begriffs »Leben«, als Wille zur Macht.Anstatt »Ursache
und Wirkung« der Kampf des Werdenden miteinander, oft mit Einschlürfung
des Gegners; keine konstante Zahl des Werdenden.Unbrauchbarkeit
der alten Ideale zur Interpretation des ganzen Geschehens, nachdem man deren tierische
Herkunft und Nützlichkeit erkannt hat; alle überdies dem Leben widersprechend.Unbrauchbarkeit
der mechanistischen Theorie gibt den Eindruck der Sinnlosigkeit.Der
ganze Idealismus der bisherigen Menschheit ist im Begriff, in Nihilismus
umzuschlagen in den Glauben an die absolute Wertlosigkeit, d.h.
Sinnlosigkeit.Die Vernichtung der Ideale,
die neue Öde; die neuen Künste, um es auszuhalten, wir Amphibien.Voraussetzung:
Tapferkeit, Geduld, keine »Rückkehr«, keine Hitze nach vorwärts.
(NB. Zarathustra, sich beständig parodisch zu allen früheren Werten
verhaltend, aus der Fülle heraus.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 418-419 |
Der
siegreiche Begriff »Kraft«, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt
geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm ein innerer
Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als »Willen zur Macht«,
d.h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung,
Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw. Die Physiker werden
die »Wirkung in die Ferne« aus ihren Prinzipien nicht los; ebensowenig
eine abstoßende Kraft (oder anziehende). Es hilft nichts: man muß
alle Bewegungen, alle »Erscheinungen«, alle »Gesetze«
nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie
des Menschen zu diesem Ende bedienen. Am Tier ist es möglich, aus dem Willen
zur Macht alle seine Triebe abzuleiten; ebenso alle Funktionen des organischen
Lebens aus dieser einen Quelle.Ders., Der Wille zur Macht, S. 421 |
Druck
und Stoß etwas unsäglich Spätes, Abgeleitetes, Unursprüngliches.
Es setzt ja schon etwas voraus, das zusammenhält und drücken
und stoßen kann! Aber woher hielte es zusammen?Ders., Der Wille zur Macht, S. 422 |
ES
gibt nicht Unveränderliches in der Chemie.Ders., Der Wille zur Macht, S. 422 |
Illusion,
daß etwas erkannt sei, wo wir eine mathematische Formel für
das Geschehene haben: es ist nur bezeichnet, beschrieben: nichts mehr!Ders., Der Wille zur Macht, S. 424 |
Wenn
ich ein regelmäßiges Geschehen in eine Formel bringe, so habe
ich mir die Bezeichnung des ganzen Phänomens erleichtert, abgekürzt
usw. Aber ich habe kein »Gesetz« konstatiert, sondern die Frage aufgestellt,
woher es kommt, daß hier etwas sich wiederholt: es ist eine Vermutung, daß
der Formel ein Komplex von zunächst unbekannten Kräften und Kraft-Auslösungen
entspricht: es ist Mythologie zu denken, daß hier Kräfte einem Gesetz
gehorchen, so daß infolge ihres Gehorsams wir jedesmal das gleiche Phänomen
haben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 425 |
Ich
hüte mich, von chemischen »Gesetzen« zu sprechen: das
hat einen moralischen Beigeschmack. Es handelt sich vielmehr um eine absolute
Feststellung von Machtverhältnissen: das Stärkere wird über das
Schwächere Herr, soweit dies eben seinen Grad von Selbständigkeit nicht
durchsetzen kann, hier gibt es kein Erbarmen, keine Schonung, noch weniger
eine Achtung vor »Gesetzen«!Ders., Der Wille zur Macht, S. 425 |
Die
unabänderliche Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen beweist kein »Gesetz«,
sondern ein Machtverhältnis zwischen zwei oder mehreren Kräften. Zu
sagen »aber gerade dies Verhältnis bleibt sich gleich!« heißt
nichts anderes als: »ein und dieselbe Kraft kann nicht auch eine andere
Kraft sein«. Es handelt sich nicht um ein Nacheinander,
sondern um ein Ineinander, einen Prozeß, in dem die einzelnen sich
folgenden Momente nicht als Ursache und Wirkung sich bedingen .... Die Trennung
des »Tuns« vom »Tuenden«, des Geschehens von einem, der
geschehen macht, des Prozesses von einem Etwas, das nicht Prozeß,
sondern dauernd, Substanz, Ding, Körper, Seele usw. ist, der
Versuch, das Geschehen zu begreifen als eine Art Verschiebung und Stellungs-Wechsel
von »Seiendem«, von Bleibendem: diese alte Mythologie hat den Glauben
an »Ursache und Wirkung« festgestellt, nachdem er in den sprachlich-grammatischen
Funktionen eine feste Form gefunden hatte.Ders., Der Wille zur Macht, S. 425-426 |
Die
»Regelmäßigkeit« der Aufeinanderfolge ist nur ein bildlicher
Ausdruck, wie als ob hier eine Regel befolgt werde: kein Tatbestand. Ebenso
»Gesetzmäßigkeit«. Wir finden eine Formel, um eine immer
wiederkehrende Art der Folge auszudrücken: damit haben wir kein »Gesetz«
entdeckt, noch weniger eine Kraft, welche die Ursache zur Wiederkehr von Folgen
ist. Daß etwas immer so und so geschieht, wird hier interpretiert, als ob
ein Wesen infolge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer
so und so handelte: während es, abgesehen vom »Gesetz«, Freiheit
hätte, anders zu handeln. Aber gerade jenes So-und-nicht-anders könnte
aus dem Wesen selbst stammen, das nicht in Hinsicht erst auf ein Gesetz sich so
und so verhielte, sondern als so und so beschaffen. Es heißt nur: etwas
kann nicht auch etwas anderes sein, kann nicht bald dies, bald anderes tun, ist
weder frei noch unfrei, sondern eben so und so. Der Fehler steckt in der Hineindichtung
eines Subjekts.Ders., Der Wille zur Macht, S. 426 |
Zwei
aufeinanderfolgende Zustände, der eine »Ursache«, der andere
»Wirkung« : ist falsch. Der erste Zustand hat nichts zu bewirken,
den zweiten hat nichts bewirkt. Es handelt sich um einen Kampf zweier an Macht
ungleichen Elemente: es wird ein Neu-Arrangement der Kräfte erreicht, je
nach dem Maß von Macht eines jeden. Der zweite Zustand ist etwas Grundverschiedenes
vom ersten (nicht dessen Wirkung): das Wesentliche ist, daß die im Kampf
befindlichen Faktoren mit anderen Machtquanten herauskommen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 426-427 |
Kritik
des Mechanismus. Entfernen wir hier die zwei populären Begriffe
»Notwendigkeit« und »Gesetz«: das erste legt einen falschen
Zwang, das zweite eine falsche Freiheit in die Welt. »Die Dinge« betragen
sich nicht regelmäßig, nicht nach einer Regel: es gibt keine Dinge
( das ist unsre Fiktion); sie betragen sich ebensowenig unter einem Zwang
von Notwendigkeit. Hier wird nicht gehorcht: denn daß etwas so ist, wie
es ist, so stark, so schwach, das ist nicht die Folge eines Gehorchens oder
einer Regel oder eines Zwanges .... Der Grad von Widerstand und der Grad von Übermacht
darum handelt es sich bei allem Geschehen: wenn wir, zu unserm Handgebrauch
der Berechnung, das in Formeln und »Gesetzen« auszudrücken wissen,
um so besser für uns! Aber wir haben damit keine »Moralität«
in die Welt gelegt, daß wir sie als gehorsam fingieren . Es gibt kein
Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz. Gerade, daß
es kein Anderskönnen gibt, darauf beruht die Berechenbarkeit. Ein Machtquantum
ist durch die Wirkung, die es übt, und die, der es widersteht, bezeichnet.
Es fehlt die Adiaphorie: die an sich denkbar wäre. Es ist essentiell ein
Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigung zu wehren. Nicht Selbsterhaltung:
jedes Atom wirkt in das ganze Sein hinaus es ist weggedacht, wenn man diese
Strahlung von Machtwillen wegdenkt. Deshalb nenne ich es ein Quantum »Wille
zur Macht«: damit ist der Charakter ausgedrückt, der aus der mechanischen
Ordnung nicht weggedacht werden kann, ohne sie selbst wegzudenken. Eine Übersetzung
dieser Welt von Wirkung in eine sichtbare Welt eine Welt fürs
Auge ist der Begriff »Bewegung«. Hier ist immer subintelligiert,
daß etwas bewegt wird hierbei wird, sei es nun in der Fiktion
eines Klümpchen-Atoms oder selbst von dessen Abstraktion, dem dynamischen
Atom, immer noch ein Ding gedacht, welches wirkt d.h. wir sind aus der
Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und Sprache verleiten. Subjekt,
Objekt, ein Täter zum Tun, das Tun und das, was es tut, gesondert: vergessen
wir nicht, daß dies eine bloße Semiotik und nichts Reales bezeichnet.
Die Mechanik als eine Lehre der Bewegung ist bereits eine Übersetzung in
die Sinnensprache des Menschen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 427-428 |
Wir
haben »Einheiten« nötig, um rechnen zu können: deshalb
ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten gibt. Wir haben den Begriff
der Einheit entlehnt von unserm »Ich«-Begriff unserm ältesten
Glaubensartikel. Wenn wir uns nicht für Einheiten hielten, hätten wir
nie den Begriff »Ding« gebildet. Jetzt, ziemlich spät, sind wir
reichlich davon überzeugt, daß unsre Konzeption des Ich-Begriffs nichts
für eine reale Einheit verbürgt. Wir haben also, um die mechanistische
Welt theoretisch aufrechtzuerhalten, immer die Klausel zu machen, inwiefern wir
sie mit zwei Fiktionen durchführen: dem Begriff der Bewegung (aus
unsrer Sinnensprache genommen) und dem Begriff des Atoms (= Einheit, aus
unsrer psychischen »Erfahrung« herstammend): sie hat ein Sinnen-Vorurteil
und ein psychologisches Vorurteil zu ihrer Voraussetzung. Die Mechanik
formuliert Folgeerscheinungen, noch dazu semiotisch, in sinnlichen und psychologischen
Ausdrucksmitteln (daß alle Wirkung Bewegung ist; daß wo Bewegung
ist, etwas bewegt wird): sie berührt die ursächliche Kraft nicht.
Die mechanistische Welt ist so imaginiert, wie das Auge und das Getast
sich allein eine Welt vorstellen (als »bewegt«), so, daß
sie berechnet werden kann, daß ursächliche Einheiten fingiert
sind, »Dinge« (Atome), deren Wirkung konstant bleibt ( Übertragung
des falschen Subjektbegriffs auf den Atombegriff).Phänomenal ist also:
die Einmischung des Zahlbegriffs, des Dingbegriffs (Subjektbegriffs), des Tätigkeitsbegriffs
(Trennung von Ursache-sein und Wirken), des Bewegungsbegriffs: wir haben unser
Auge, unsre Psychologie immer noch darin. Eliminieren wir diese
Zutaten, so bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem
Spannungsverhältnis zu allen andern dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem
Verhältnis zu allen andern Quanten besteht, in ihrem »Wirken«
auf dieselben. Der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein
Pathos ist die elementarste Tatsache, aus der sich erst ein Werden, ein
Wirken ergibt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 428-429 |
Die
Physiker glauben an eine »wahre Welt« auf ihre Art: eine feste, für
alle Wesen gleiche Atom-Systematisation in notwendigen Bewegungen
so daß für sie die »scheinbare Welt« sich reduziert auf
die jedem Wesen nach seiner Art zugängliche Seite des allgemeinen und allgemein
notwendigen Seins (zugänglich und auch noch zurechtgemacht »subjektiv«
ge macht). Aber damit verirren sie sich. Das Atom, das sie ansetzen, ist erschlossen
nach der Logik jenes Bewußtseins-Perspektivismus ist somit auch selbst
eine subjektive Fiktion. Dieses Weltbild, das sie entwerfen, ist durchaus nicht
wesensverschieden von dem Subjektiv-Weltbild: es ist nur mit weitergedachten
Sinnen konstruiert, aber durchaus mit unsern Sinnen .... Und zuletzt haben
sie in der Konstellation etwas ausgelassen, ohne es zu wissen: eben den notwendigen
Perspektivismus, vermöge dessen jedes Kraftzentrum und nicht
nur der Mensch von sich aus die ganze übrige Welt konstruiert,
d.h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet .... Sie haben vergessen,
diese Perspektiven-setzende Kraft in das »wahre Sein« einzurechnen
in der Schulsprache geredet: das Subjekt-sein. Sie meinen, dies sei »entwickelt«,
hinzugekommen; aber noch der Chemiker braucht es: es ist ja das Spezifisch-Sein,
das bestimmt So-und-so-Agieren und -Reagieren, je nachdem. Der Perspektivismus
ist nur eine komplexe Form der Spezifität. Meine Vorstellung ist, daß
jeder spezifische Körper danach strebt, über den ganzen Raum Herr zu
werden und seine Kraft auszudehnen ( sein Wille zur Macht:) und alles das
zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt. Aber er stößt
fortwährend auf gleiche Bestrebungen andrer Körper und endet, sich mit
denen zu arrangieren (»vereinigen«), welche ihm verwandt genug sind:
so konspirieren sie dann zusammen zur Macht. Und der Prozeß
geht weiter ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 427-428 |
Auch
im Reiche des Unorganischen kommt für ein Kraft-Atom nur seine Nachbarschaft
in Betracht: die Kräfte in der Ferne gleichen sich aus. Hier steckt der Kern
des Perspektivischen und warum ein lebendiges Wesen durch und durch »egoistisch«
ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 428-429 |
Gesetzt,
die Welt verfügte über ein Quantum von Kraft, so liegt auf der Hand,
daß jede Macht-Verschiebung an irgendeiner Stelle das ganze System bedingt
also neben der Kausalität hintereinander wäre eine Abhängigkeit
neben und miteinander gegebenDers., Der Wille zur Macht, S. 429-430 |
Die
einzige Möglichkeit, einen Sinn für den Begriff »Gott« aufrechtzuerhalten,
wäre: Gott nicht als treibende Kraft, sondern Gott als Maximal-Zustand, als
eine Epoche : ein Punkt in der Entwicklung des Willens zur Macht:
aus dem sich ebensosehr die Weiterentwicklung als das Vorher, das Bis-zu-ihm erklärte.
Mechanistisch betrachtet, bleibt die Energie des Gesamt-Werdens konstant; ökonomisch
betrachtet, steigt sie bis zu einem Höhepunkt und sinkt von ihm wieder herab
in einem ewigen Kreislauf. Dieser »Wille zur Macht« drückt sich
in der Ausdeutung, in der Art des Kraftverbrauchs aus: Verwandlung
der Energie in Leben und »Leben in höchster Potenz« erscheint
demnach als Ziel. Dasselbe Quantum Energie bedeutet auf den verschiedenen Stufen
der Entwicklung verschiedenes. Das, was das Wachstum im Leben ausmacht, ist die
immer sparsamer und weiter rechnende Ökonomie, welche mit immer weniger Kraft
immer mehr erreicht .... Als Ideal das Prinzip des kleinsten Aufwandes .... Daß
die Welt nicht auf einen Dauerzustand hinauswill, ist das einzige, was bewiesen
ist. Folglich muß man ihren Höhezustand so ausdenken, daß
er kein Gleichgewichtszustand ist .... Die absolute Nezessität des gleichen
Geschehens in einem Weltlauf, wie in allen übrigen, ist in Ewigkeit nicht
ein Determinismus über dem Geschehen, sondern bloß der Ausdruck dessen,
daß das Unmögliche nicht möglich ist; daß eine bestimmte
Kraft nichts anderes sein kann als eben diese bestimmte Kraft; daß sie sich
an einem Quantum Kraft- Widerstand nicht anders ausläßt, als ihrer
Stärke gemäß ist; Geschehen und Notwendig-Geschehen ist
eine Tautologie.Ders., Der Wille zur Macht, S. 431-432 |
»Leben«
wäre zu definieren als eine dauernde Form von Prozessen der Kraftfeststellung,
wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits zugleich wachsen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 433 |
Der
Wille zur Macht interpretiert ( bei der Bildung eines Organs handelt
es sich um eine Interpretation): er grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten.
Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden:
es muß ein wachsenwollendes Etwas da sein, das jedes andre wachsen-wollende
Etwas auf seinen Wert hin interpretiert. Darin gleich In Wahrheit
ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden. (Der
organische Prozeß setzt fortwährend Interpretieren voraus.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 433 |
Die
größte Kompliziertheit, die scharfe Abscheidung, das Nebeneinander
der ausgebildeten Organe und Funktionen, mit Verschwinden der Mittelglieder
wenn das Vollkommenheit ist, so ergibt sich ein Wille zur Macht im organischen
Prozeß, vermöge deren herrschaftliche, gestaltende, befehlende
Kräfte immer das Gebiet ihrer Macht mehren und innerhalb desselben immer
wieder vereinfachen: der Imperativ wachsend. Der »Geist« ist nur ein
Mittel und Werkzeug im Dienst des höheren Lebens, der Erhöhung des Lebens.Ders., Der Wille zur Macht, S. 434 |
Gegen
den Darwinismus. Der Nutzen eines Organs erklärt nicht seine Entstehung,
im Gegenteil! Die längste Zeit, während deren eine Eigenschaft sich
bildet, erhält sie das Individuum nicht und nützt ihm nicht, am wenigsten
im Kampf mit äußeren Umständen und Feinden. Was ist zuletzt »nützlich«?
Man muß fragen »in bezug worauf nützlich?« Z.B.
was der Dauer des Individuums nützt, könnte seiner Stärke und Pracht
ungünstig sein; was das Individuum erhält, könnte es zugleich festhalten
und stillstellen in der Entwicklung. Andererseits kann ein Mangel, eine
Entartung vom höchsten Nutzen sein, insofern sie als Stimulans anderer
Organe wirkt. Ebenso kann eine Notlage Existenzbedingung sein, insofern sie ein
Individuum auf das Maß herunterschraubt, bei dem es zusammenhält
und sich nicht vergeudet. Das Individuum selbst als Kampf der Teile (um
Nahrung, Raum usw.): seine Entwicklung geknüpft an ein Siegen, Vorherrschen
einzelner Teile, an ein Verkümmern, »Organwerden« anderer
Teile. Der Einfluß der »äußeren Umstände« ist
bei Darwin ins Unsinnige überschätzt: das Wesentliche am Lebensprozeß
ist gerade die ungeheure gestaltende, von innen her formenschaffende Gewalt, welche
die »äußeren Umstände« ausnützt, ausbeutet
. Die von innen her gebildeten neuen Formen sind nicht auf einen Zweck hin
geformt; aber im Kampf der Teile wird eine neue Form nicht lange ohne Beziehung
zu einem partiellen Nutzen stehen und dann, dem Gebrauche nach, sich immer vollkommener
ausgestalten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 435-436 |
»Nützlich«
in bezug auf die Beschleunigung des Tempos der Entwicklung ist ein anderes »Nützlich«
als das in bezug auf möglichste Feststellung und Dauerhaftigkeit des Entwickelten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 436 |
»Nützlich«
im Sinne der darwinistischen Biologie das heißt: im Kampf mit anderen
sich als begünstigend erweisend. Aber mir scheint schon das Mehrgefühl,
das Gefühl des Stärker-werdens, ganz abgesehen vom Nutzen im
Kampf, der eigentliche Fortschritt: aus diesem Gefühle entspringt erst der
Wille zum KampfDers., Der Wille zur Macht, S. 436 |
Die
Physiologen sollten sich besinnen, den »Erhaltungstrieb« als
kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor allem will etwas Lebendiges
seine Kraft auslassen: die »Erhaltung« ist nur eine der Konsequenzen
davon. Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Prinzipien!
Und dahin gehört der ganze Begriff »Erhaltungstrieb«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 436 |
Man
kann die unterste und ursprünglichste Tätigkeit im Protoplasma nicht
aus einem Willen zur Selbsterhaltung ableiten, denn es nimmt auf eine unsinnige
Art mehr in sich hinein, als die Erhaltung bedingen würde: und vor allem,
es »erhält sich« damit nicht, sondern zerfällt ....
Der Trieb, der hier waltet, hat gerade dieses Sich-nicht-erhalten-wollen zu erklären:
»Hunger« ist schon eine Ausdeutung, nach ungleich komplizierteren
Organismen ( Hunger ist eine spezialisierte und spätere Form des Triebes,
ein Ausdruck der Arbeitsteilung, im Dienst eines darüber waltenden höheren
Triebes).Ders., Der Wille zur Macht, S. 436-437 |
Es
ist nicht möglich, den Hunger als primum mobile zu nehmen,
ebenso wenig als die Selbsterhaltung. Der Hunger als Folge der Unterernährung
aufgefaßt, heißt: der Hunger als Folge eines nicht mehr Herr werdenden
Willens zur Macht. Es handelt sich durchaus nicht um eine Wiederherstellung
eines Verlustes erst spät, infolge Arbeitsteilung, nachdem der Wille
zur Macht ganz andre Wege zu seiner Befriedigung einschlagen lernte, wird das
Aneignungsbedürfnis des Organismus reduziert auf den Hunger, auf das
Wiederersatzbedürfnis des Verlorenen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 437 |
Der
Trieb, sich anzunähern, und der Trieb, etwas zurückzustoßen,
sind in der unorganischen wie organischen Welt das Band. Die ganze Scheidung ist
ein Vorurteil. Der Wuille zur Macht in jeder Jraft-Kombination, sich wehrend
gegen das Stärkere, losstürzend auf das Schwächere, ist richtiger.
NB. Die Prozesse als »Wesen«. Ders., Der Wille zur Macht, S. 438 |
Der
Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er
sucht also nach dem, was ihm widersteht, dies die ursprüngliche Tendenz
des Protoplasmas, wenn es Pseudopodien ausstreckt und um sich tastet. Die Aneignung
und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigen-wollen, ein Formen,
An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in den Machtbereich
des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat. Gelingt
diese Einverleibung nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und die Zweiheit
erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert
ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander (unter Umständen
ohne seine Verbindung untereinander völlig aufzugeben). »Hunger«
ist nur eine engere Anpassung, nachdem der Grundtrieb nach Macht geistigere Gestalt
gewonnen hat.Ders., Der Wille zur Macht, S. 438 |
Der
Leib als Herrschaftsgebilde. Die Aristokratie im Leibe, die Mehrheit
der Herrschenden (Kampf der Zellen und Gewebe). Die Sklaverei und die Arbeitsteilung:
der höhere Typus nur möglich durch Herunterdrückung eines
niederen auf eine Funktion. Lust und Schmerz kein Gegensatz. Das Gefühl der
Macht. »Ernährung« nur eine Konsequenz der unersättlichen
Aneignung, des Willens zur Macht. Die »Zeugung«, der Zerfall eintretend
bei der Ohnmacht der herrschenden Zellen, das Angeeignete zu organisieren. Die
gestaltende Kraft ist es, die immer neuen »Stoff« (noch mehr
»Kraft«) vorrätig haben will. Das Meisterstück des Aufbaus
eines Organismus aus dem Ei. »Mechanistische Auffassung«: will nichts
als Quantitäten: aber die Kraft steckt in der Qualität. Die Mechanistik
kann also nur Vorgänge beschreiben, nicht erklären. Der »Zweck«.
Auszugehen von der »Sagazität« der Pflanzen. Begriff der »Vervollkommnung«:
nicht nur größere Kompliziertheit, sondern größere Macht
( braucht nicht nur größere Masse zu sein ). Schluß
auf die Entwicklung der Menschheit: die Vervollkommnung besteht in der Hervorbringung
der mächtigsten Individuen, zu deren Werkzeug die größte Menge
gemacht wird (und zwar als intelligentestes und beweglichstes Werkzeug).Ders., Der Wille zur Macht, S. 438-439 |
Am
Leitfaden des Leibes. Gesetzt, daß die »Seele«
ein anziehender und geheimnisvoller Gedanke war, von dem sich die Philosophen
mit Recht nur widerstrebend getrennt haben vielleicht ist das, was sie
nunmehr dagegen einzutauschen lernen, noch anziehender, noch geheimnisvoller.
Der menschliche Leib, an dem die ganze fernste und nächste Vergangenheit
alles organischen Werdens wieder lebendig und leibhaft wird, durch den hindurch,
über den hinweg und hinaus ein ungeheurer, unhörbarer Strom zu fließen
scheint: der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte »Seele«.
Es ist zu allen Zeiten besser an den Leib als an unseren eigentlichsten Besitz,
unser gewissestes Sein, kurz unser ego geglaubt worden als an den Geist (oder
die »Seele« oder das Subjekt, wie die Schulsprache jetzt statt Seele
sagt). Niemand kam je auf den Einfall, seinen Magen als einen fremden, etwa einen
göttlichen Magen zu verstehen: aber seine Gedanken als »eingegeben«,
seine Wertschätzungen als »von einem Gott eingeblasen«, seine
Instinkte als Tätigkeit im Dämmern zu fassen für diesen
Hang und Geschmack des Menschen gibt es aus allen Altern der Menschheit Zeugnisse.
Noch jetzt ist, namentlich unter Künstlern, eine Art Verwunderung und ehrerbietiges
Aushängen der Entscheidung reichlich vorzufinden, wenn sich ihnen die Frage
vorlegt, wodurch ihnen der beste Wurf gelungen und aus welcher Welt ihnen der
schöpferische Gedanke gekommen ist: sie haben, wenn sie dergestalt fragen,
etwas wie Unschuld und kindliche Scham dabei, sie wagen es kaum zu sagen: »Das
kam von mir, das war meine Hand, die die Würfel warf.« Umgekehrt
haben selbst jene Philosophen und Religiösen, welche den zwingendsten Grund
in ihrer Logik und Frömmigkeit hatten, ihr Leibliches als Täuschung
(und zwar als überwundene und abgetane Täuschung) zu nehmen, nicht umhin
gekonnt, die dumme Tatsächlichkeit anzuerkennen, daß der Leib nicht
davongegangen ist: worüber die seltsamsten Zeugnisse teils bei Paulus, teils
in der Vedânta- Philosophie zu finden sind. Aber was bedeutet zuletzt Stärke
des Glaubens? Deshalb könnte es immer noch ein sehr dummer Glaube sein!
Hier ist nachzudenken: Und zuletzt, wenn der Glaube an den Leib
nur die Folge eines Schlusses ist: gesetzt, es wäre ein falscher Schluß,
wie die Idealisten behaupten, ist es nicht ein Fragezeichen an der Glaubwürdigkeit
des Geistes selber, daß er dergestalt die Ursache falscher Schlüsse
ist? Gesetzt, die Vielheit, und Raum und Zeit und Bewegung (und was alles die
Voraussetzungen eines Glaubens an Leiblichkeit sein mögen) wären Irrtümer
welches Mißtrauen würde dies gegen den Geist erregen, der uns
zu solchen Voraussetzungen veranlaßt hat? Genug, der Glaube an den Leib
ist einstweilen immer noch ein stärkerer Glaube als der Glaube an den Geist;
und wer ihn untergraben will, untergräbt eben damit am gründlichsten
auch den Glauben an die Autorität des Geistes!Ders., Der Wille zur Macht, S. 440-441 |
Warum
alle Tätigkeit, auch die eines Sinnes, mit Lust verknüpft ist? Weil
vorher eine Hemmung, ein Druck bestand? Oder vielmehr weil alles Tun ein Überwinden,
ein Herrwerden ist und Vermehrung des Machtgefühls gibt? Die
Lust im Denken. Zuletzt ist es nicht nur das Gefühl der Macht, sondern
die Lust an dem Schaffen und am Geschaffenen: denn alle Tätigkeit kommt uns
ins Bewußtsein als Bewußtsein eines »Werks«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 441-442 |
Schaffen
als Auswählen und Fertig-machen des Gewählten. (Bei jedem
Willensakte ist dies das Wesentliche.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 442 |
Alles
Geschehen aus Absichten ist reduzierbar auf die Absicht der Mehrung von Macht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 443 |
Die
Wissenschaft fragt nicht, was uns zum Wollen trieb: sie leugnet
vielmehr, daß gewollt worden ist, und meint, daß etwas ganz anderes
geschehen sei kurz, daß der Glaube an »Wille« und »Zweck«
eine Illusion sei.Ders., Der Wille zur Macht, S. 446 |
Lust
und Unlust sind immer Schlußphänomene, keine »Ursachen«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 448 |
Ich
erkannte die aktive Kraft, das Schaffende inmitten des Zufälligen:
Zufall ist selber nur das Aufeinanderstoßen der schaffenden Impulse.Ders., Der Wille zur Macht, S. 450 |
In
der ungeheuren Vielheit des Geschehens innerhalb eines Organismus ist der uns
bewußt werdende Teil ein bloßes Mittel: und das bißchen
»Tugend«, »Selbstlosigkeit« und ähnliche Fiktionen
werden auf eine vollkommen radikale Weise vom übrigen Gesamtgeschehen aus
Lügen gestraft. Wir tun gut, unseren Organismus in seiner vollkommenen Unmoralität
zu studieren .... Die animalischen Funktionen sind ja prinzipiell millionenfach
wichtiger als alle schönen Zustände und Bewußtseins-Höhen:
letztere sind ein Überschuß, soweit sie nicht Werkzeuge sein müssen
für jene animalischen Funktionen. Das ganze bewußte Leben, der
Geist samt der Seele, samt dem Herzen, samt der Güte, samt der Tugend: in
wessen Dienst arbeitet es denn? In dem möglichster Vervollkommnung der Mittel
(Ernährungs-, Steigerungsmittel) der animalischen Grundfunktionen: vor allem
der Lebenssteigerung. Es liegt so unsäglich viel mehr an dem, was
man »Leib« und »Fleisch« nannte: der Rest ist ein kleines
Zubehör. Die Aufgabe, die ganze Kette des Lebens fortzuspinnen, und so, daß
der Faden immer mächtiger wird das ist die Aufgabe. Aber nun sehe
man, wie Herz, Seele, Tugend, Geist förmlich sich verschwören, diese
prinzipielle Aufgabe zu verkehren: wie als ob sie die Ziele wären!
Die Entartung des Lebens ist wesentlich bedingt durch die außerordentliche
Irrtumsfähigkeit des Bewußtseins: es wird am wenigsten durch
Instinkte in Zaum gehalten und vergreift sich deshalb am längsten und gründlichsten.
Nach den angenehmen oder unangenehmen Gefühlen dieses Bewußtseins
abmessen, ob das Dasein Wert hat: kann man sich eine tollere Ausschweifung
der Eitelkeit denken? Es ist ja nur ein Mittel: und angenehme oder unangenehme
Gefühle sind ja auch nur Mittel! Woran mißt sich objektiv der Wert?
Allein an dem Quantum gesteigerter und organisierter Macht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 450-451 |
Wert
alles Abwertens. Meine Forderung ist, daß man den Täter
wieder in das Tun hineinnimmt, nachdem man ihn begrifflich aus ihm herausgezogen
und damit das Tun entleert hat; daß man das Etwas-tun, das »Ziel«,
die »Absicht«, daß man den »Zweck« wieder in das
Tun zurücknimmt, nachdem man ihn künstlich aus ihm herausgezogen und
damit das Tun entleert hat. Alle »Zwecke«, »Ziele«, »Sinne«
sind nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des einen Willens, der allem Geschehen
inhäriert: des Willens zur Macht. Zwecke-, Ziele-, Absichten-haben, Wollen
überhaupt, ist so viel wie Stärker-werden-wollen, Wachsen-wollen
und dazu auch die Mittel wollen. Der allgemeinste und unterste Instinkt
in allem Tun und Wollen ist eben deshalb der unerkannteste und verborgenste geblieben,
weil in praxi wir immer seinem Gebote folgen, weil wir dies Gebot sind .... Alle
Wertschätzungen sind nur Folgen und engere Perspektiven im Dienste
dieses einen Willens: das Wertschätzen selbst ist nur dieser Wille zur
Macht. Eine Kritik des Seins aus irgendeinem dieser Werte heraus ist etwas
Widersinniges und Mißverständliches. Gesetzt selbst, daß sich
darin ein Untergangsprozeß einleitet, so steht dieser Prozeß noch
im Dienste dieses Willens. Das Sein selbst abschätzen! Aber das Abschätzen
selbst ist dieses Sein noch! und indem wir nein sagen, tun wir immer noch,
was wir sind. Man muß die Absurdität dieser daseinsrichtenden Gebärde
einsehn; und sodann noch zu erraten suchen, was sich eigentlich damit begibt.
Es ist symptomatisch.Ders., Der Wille zur Macht, S. 451-452 |
Es
ist zu zeigen, wie sehr alles Bewußte auf der Oberfläche bleibt:
wie Handlung und Bild der Handlung verschieden ist, wie wenig man von dem
weiß, was einer Handlung vorhergeht: wie phantastisch unsere Gefühle
»Freiheit des Willens«, »Ursache und Wirkung« sind: wie
Gedanken und Bilder, wie Worte nur Zeichen von Gedanken sind: die Unergründlichkeit
jeder Handlung: die Oberflächlichkeit alles Lobens und Tadelns: wie wesentlich
Erfindung und Einbildung ist, worin wir bewußt leben: wie
wir in allen unsern Worten von Erfindungen reden (Affekte auch), und wie die Verbindung
der Menschheit auf einem Überleiten und Fortdichten dieser Erfindungen
beruht: während im Grunde die wirkliche Verbindung (durch Zeugung) ihren
unbekannten Weg gehtDers., Der Wille zur Macht, S. 453-454 |
Die
Individuation, vom Standpunkt der Abstammungstheorie beurteilt, zeigt das
beständige Zerfallen von eins in zwei und das ebenso beständige Vergehen
der Individuen auf den Gewinn von wenig Individuen, die die Entwicklung
fortsetzen: die übergroße Masse stirbt jedesmal ab (»der Leib«).
Das Grundphänomen: unzählige Individuen geopfert um weniger willen:
als deren Ermöglichung. Man muß sich nicht täuschen lassen:
ganz so steht es mit den Völkern und Rassen: sie bilden den »Leib«
zur Erzeugung von einzelnen wertvollen Individuen, die den großen
Prozeß fortsetzen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 457 |
Gegen
die Theorie, daß das einzelne Individuum den Vorteil der Gattung,
seiner Nachkommenschaft im Auge hat, auf Unkosten des eigenen Vorteils: das ist
nur Schein. Die ungeheure Wichtigkeit, mit der das Individuum den geschlechtlichen
Instinkt nimmt, ist nicht eine Folge von dessen Wichtigkeit für
die Gattung, sondern das Zeugen ist die eigentliche Leistung des Individuums und
sein höchstes Interesse folglich, seine höchste Machtäußerung
(natürlich nicht vom Bewußtsein aus beurteilt, sondern von dem
Zentrum der ganzen Individuation).Ders., Der Wille zur Macht, S. 457-458 |
Grundirrtümer
der bisherigen Biologen: es handelt sich nicht um die Gattung, sondern um stärker
auszuwirkende Individuen. (Die Vielen sind nur Mittel.) Das Leben ist nicht
Anpassung innerer Bedingungen an äußere, sondern Wille zur Macht, der
von innen her immer mehr »Äußeres« sich unterwirft und
einverleibt. Diese Biologen setzen die moralischen Wertschätzungen
fort ( der »an sich höhere Wert des Altruismus«, die Feindschaft
gegen die Herrschsucht, gegen den Krieg, gegen die Unnützlichkeit, gegen
die Rang-und Ständeordnung).Ders., Der Wille zur Macht, S. 458 |
Mit
der moralischen Herabwürdigung des ego geht auch noch, in der Naturwissenschaft,
eine Überschätzung der Gattung Hand in Hand. Aber die Gattung
ist etwas ebenso Illusorisches wie das ego: man hat eine falsche Distinktion gemacht.
Das ego ist hundertmal mehr als bloß eine Einheit in der Kette von Gliedern;
es ist die Kette selbst, ganz und gar; und die Gattung ist eine bloße
Abstraktion aus der Vielheit dieser Ketten und deren partieller Ähnlichkeit.
Daß, wie so oft behauptet worden ist, das Individuum der Gattung geopfert
wird, ist durchaus kein Tatbestand: vielmehr nur das Muster einer fehlerhaften
Interpretation.Ders., Der Wille zur Macht, S. 458 |
Man
rechnet auf den Kampf um die Existenz, den Tod der schwächlichen Wesen und
das Überleben der Robustesten und Bestbegabten; folglich imaginiert man ein
beständiges Wachstum der Vollkommenheit für die Wesen. Wir haben uns
umgekehrt versichert, daß, in dem Kampf um das Leben, der Zufall den Schwachen
so gut dient, wie den Starken; daß die List die Kraft oft mit Vorteil suppliert;
daß die Fruchtbarkeit der Gattungen in einem merkwürdigen Rapport zu
den Chancen der Zerstörung steht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 459 |
Anti-Darwin.
Die Domestikation des Menschen: welchen definitiven Wert kann sie
haben? oder hat überhaupt eine Domestikation einen definitiven Wert?
Man hat Gründe, dies letztere zu leugnen. Die Schule Darwins macht zwar große
Anstrengung, uns zum Gegenteil zu überreden: sie will, daß die Wirkung
der Domestikation tief, ja fundamental werden kann. Einstweilen halten wir
am Alten fest: es hat sich nichts bisher bewiesen, als eine ganz oberflächliche
Wirkung durch Domestikation oder aber die Degenereszenz. Und alles, was
der menschlichen Hand und Züchtung entschlüpft, kehrt fast sofort wieder
in seinen Natur-Zustand zurück. Der Typus bleibt konstant: man kann nicht
»dénaturer la nature«. Man rechnet auf den Kampf um
die Existenz, den Tod der schwächlichen Wesen und das Überleben der
Robustesten und Bestbegabten; folglich imaginiert man ein beständiges Wachstum
der Vollkommenheit für die Wesen. Wir haben uns umgekehrt versichert, daß,
in dem Kampf um das Leben, der Zufall den Schwachen so gut dient, wie den Starken;
daß die List die Kraft oft mit Vorteil suppliert; daß die Fruchtbarkeit
der Gattungen in einem merkwürdigen Rapport zu den Chancen der Zerstörung
steht. Man
teilt der natürlichen Selektion zugleich langsame und unendliche Metamorphosen
zu: man will glauben, daß jeder Vorteil sich vererbt und sich in abfolgenden
Geschlechtern immer stärker ausdrückt (während die Erblichkeit
so kapriziös ist...); man betrachtet die glücklichen Anpassungen gewisser
Wesen an sehr besondere Lebensbedingungen und man erklärt, daß sie
durch den Einfluß des Milieus erlangt seien. Man findet aber Beispiele
der unbewußten Selektion nirgendswo (ganz und gar nicht). Die disparatesten
Individuen einigen sich, die extremen mischen sich in die Masse. Alles konkurriert,
seinen Typus aufrechtzuerhalten; Wesen, die äußere Zeichen haben, die
sie gegen gewisse Gefahren schützen, verlieren dieselben nicht, wenn sie
unter Umstände kommen, wo sie ohne Gefahr leben. Wenn sie Orte bewohnen,
wo das Kleid aufhört, sie zu verbergen, nähern sie sich keineswegs dem
Milieu an.Man
hat die Auslese der Schönsten in einer Weise übertrieben, wie
sie weit über den Schönheitstrieb unsrer eignen Rasse hinausgeht! Tatsächlich
paart sich das Schönste mit sehr enterbten Kreaturen, das Größte
mit dem Kleinsten. Fast immer sehen wir Männchen und Weibchen von jeder zufälligen
Begegnung profitieren und sich ganz und gar nicht wählerisch zeigen.
Modifikation durch Klima und Nahrung: aber in Wahrheit gleichgültig.Man
behauptet die wachsende Entwicklung der Wesen. Es fehlt jedes Fundament. Jeder
Typus hat seine Grenze: über diese hinaus gibt es keine Entwicklung. Bis
dahin absolute Regelmäßigkeit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 459-460 |
Meine
Gesamtansicht. Erster Satz: der
Mensch als Gattung ist nicht im Fortschritt. Höhere Typen werden wohl
erreicht, aber sie halten sich nicht. Das Niveau der Gattung wird nicht
gehoben.Zweiter Satz: der Mensch als Gattung
stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu irgendeinem andern Tier dar. Die gesamte
Tier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom Niederen zum Höheren ....
Sondern alles zugleich, und übereinander und durcheinander und gegeneinander.
Die reichsten und komplexesten Formen denn mehr besagt das Wort »höherer
Typus« nicht gehen leichter zugrunde: nur die niedrigsten halten
eine scheinbare Unvergänglichkeit fest. Erstere werden selten erreicht und
halten sich mit Not oben: letztere haben eine kompromittierende Fruchtbarkeit
für sich. Auch in der Menschheit gehen unter wechselnder Gunst und
Ungunst die höheren Typen, die Glücksfälle der Entwicklung, am
leichtesten zugrunde. Sie sind jeder Art von décadence ausgesetzt: sie
sind extrem, und damit selbst beinahe schon décadents .... Die kurze Dauer
der Schönheit, des Genies, des Cäsar ist sui generis: dergleichen
vererbt sich nicht. Der Typus vererbt sich; ein Typus ist nichts Extremes,
kein »Glücksfall« .... Das liegt an keinem besonderen Verhängnis
und »bösen Willen« der Natur, sondern einfach am Begriff »höherer
Typus«: der höhere Typus stellt eine unvergleichlich größere
Komplexität eine größere Summe koordinierter Elemente dar:
damit wird auch die Disgregation unvergleichlich wahrscheinlicher. Das »Genie«
ist die sublimste Maschine, die es gibt folglich die zerbrechlichste.Dritter
Satz: die Domestikation (die »Kultur«) des Menschen geht nicht
tief .... Wo sie tief geht, ist sie sofort die Degenereszenz (Typus: der Christ).
Der »wilde« Mensch (oder, moralisch ausgedrückt: der böse
Mensch) ist eine Rückkehr zur Natur und, in gewissem Sinne, seine
Wiederherstellung, seine Heilung von der »Kultur« ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 460-461 |
Anti-Darwin.
Was mich beim Überblick über die großen Schicksale des
Menschen am meisten überrascht, ist, immer das Gegenteil vor Augen zu sehn
von dem, was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen will: die Selektion
zugunsten der Stärkeren, Besser-Weg-gekommenen, den Fortschritt der Gattung.
Gerade das Gegenteil greift sich mit Händen: das Durchstreichen der Glücksfälle,
die Unnützlichkeit der höher geratenen Typen, das unvermeidliche Herr-werden
der mittleren, selbst der unter-mittleren Typen. Gesetzt, daß man
uns nicht den Grund aufzeigt, warum der Mensch die Ausnahme unter den Kreaturen
ist, neige ich zum Vorurteil, daß die Schule Darwins sich überall getäuscht
hat. Jener Wille zur Macht, in dem ich den letzten Grund und Charakter aller Veränderung
wiedererkenne, gibt uns das Mittel an die Hand, warum gerade die Selektion zugunsten
der Ausnahmen und Glücksfälle nicht statthat: die Stärksten und
Glücklichsten sind schwach, wenn sie organisierte Herdeninstinkte, wenn sie
die Furchtsamkeit der Schwachen, die Überzahl gegen sich haben. Mein Gesamtaspekt
der Welt der Werte zeigt, daß in den obersten Werten, die über der
Menschheit heute aufgehängt sind, nicht die Glücksfälle, die Selektions-Typen,
die Oberhand haben: vielmehr die Typen der décadence, vielleicht
gibt es nichts Interessanteres in der Welt, als dieses unerwünschte
Schauspiel .... So seltsam es klingt: man hat die Starken immer zu beweisen gegen
die Schwachen; die Glücklichen gegen die Mißglückten; die Gesunden
gegen die Verkommenden und Erblich/Belasteten. Will man die Realität zur
Moral formulieren, so lautet diese Moral: die Mittleren (ich
glaube, es sind sogar die Unteren! Anm HB) sind mehr wert, als die Ausnahmen;
die décadence-Gebilde mehr als die Mittleren; der Wille zum Nichts
hat die Oberhand über den Willen zum Leben und das Gesamtziel ist,
nun, christlich, buddhistisch, schopenhauerisch ausgedrückt: »besser
nicht sein, als sein.« Gegen die Formulierung der Realität zur
Moral empöre ich mich: deshalb perhorresziere ich das Christentum
mit einem tödlichen Haß, weil es die sublimen Worte und Gebärden
schuf, um einer schauderhaften Wirklichkeit den Mantel des Rechts, der Tugend,
der Göttlichkeit zu geben .... Ich sehe alle Philosophen, ich sehe die Wissenschaft
auf den Knien vor der Realität vom umgekehrten Kampf ums Dasein, als
ihn die Schule Darwins lehrt, nämlich ich sehe überall die obenauf,
die übrigbleibend, die das Leben, den Wert des Lebens kompromittieren.
Der Irrtum der Schule Darwins wurde mir zum Problem: wie kann man blind sein,
um gerade hier falsch zu sehen? Daß die Gattungen einen Fortschritt
darstellen, ist die unvernünftigste Behauptung von der Welt: einstweilen
stellen sie ein Niveau dar. Daß die höheren Organismen aus den
niederen sich entwickelt hätten, ist durch keinen Fall bisher bezeugt.Ich
sehe, daß die niederen durch die Menge, durch die Klugheit, durch die List
im Übergewicht sind, ich sehe nicht, wie eine zufällige Veränderung
einen Vorteil abgibt, zum mindesten nicht für eine so lange Zeit: diese wäre
wieder ein neues Motiv, zu erklären, warum eine zufällige Veränderung
derartig stark geworden ist.Ich finde die »Grausamkeit
der Natur«, von der man so viel redet, an einer andern Stelle: sie ist grausam
gegen ihre Glückskinder, sie schont und schützt und liebt les humbles.In
summa: das Wachstum der Macht einer Gattung ist durch die Präponderanz
ihrer Glückskinder, ihrer Starken vielleicht weniger garantiert, als durch
die Präponderanz der mittleren und niederen Typen .... In letzteren ist die
große Fruchtbarkeit, die Dauer; mit ersteren wächst die Gefahr, die
rasche Verwüstung, die schnelle Zahl-Verminderung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 462-464 |
Der
bisherige Mensch gleichsam ein Embryo des Menschen der Zukunft;
alle gestaltenden Kräfte, die auf diesen hinzielen, sind in
ihm: und weil sie ungeheuer sind, so entsteht für das jetzige Individuum,
je mehr es zukunftbestimmend ist, Leiden. Dies ist die tiefste Auffassung
des Leidens: die gestaltenden Kräfte stoßen sich. Die Vereinzelung
des Individuums darf nicht täuschen in Wahrheit fließt etwas
fort unter den Individuen. Daß es sich einzeln fühlt, ist der mächtigste
Stachel im Prozesse selber nach fernsten Zielen hin: sein Suchen für
sein Glück ist das Mittel, welches die gestaltenden Kräfte andrerseits
zusammenhält und mäßigt, daß sie sich nicht selber zerstören.Ders., Der Wille zur Macht, S. 464 |
Wir
sind mehr als das Individuum: wir sind die ganze Kette noch, mit den Aufgaben
aller Zukünfte der Kette.Ders., Der Wille zur Macht, S. 464 |
Meine
Theorie wäre: daß der Wille zur Macht die primitive Affekt-Form
ist, daß alle andern Affekte nur seine Ausgestaltungen sind; daß es
eine bedeutende Aufklärung gibt, an Stelle des individuellen »Glücks«
(nach dem jedes Lebende streben soll) zu setzen Macht: »es strebt
nach Macht, nach mehr in der Macht«; Lust ist nur ein Symptom
vom Gefühl der erreichten Macht, eine Differenz-Bewußtheit (
es strebt nicht nach Lust: sondern Lust tritt ein, wenn es erreicht, wonach es
strebt: Lust begleitet, Lust bewegt nicht ); daß alle treibende Kraft
Wille zur Macht ist, daß es keine physische, dynamische oder psychische
Kraft außerdem gibt. In unsrer Wissenschaft, wo der Begriff Ursache und
Wirkung reduziert ist auf das Gleichungs-Verhältnis, mit dem Ehrgeiz, zu
beweisen, daß auf jeder Seite dasselbe Quantum von Kraft ist, fehlt die
treibende Kraft: wir betrachten nur Resultate, wir setzen sie als gleich in
Hinsicht auf Inhalt an Kraft ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 465 |
Es
ist eine bloße Erfahrungssache, daß die Veränderung nicht
aufhört: an sich haben wir nicht den geringsten Grund, zu verstehen,
daß auf eine Veränderung eine andre folgen müsse. Im Gegenteil:
ein erreichter Zustand schiene sich selbst erhalten zu müssen, wenn
es nicht ein Vermögen in ihm gäbe, eben nicht sich erhalten zu wollen
.... Der Satz des Spinoza von der »Selbsterhaltung« müßte
eigentlich der Veränderung einen Halt setzen: aber der Satz ist falsch, das
Gegenteil ist wahr. Gerade an allem Lebendigen ist am deutlichsten zu zeigen,
daß es alles tut, um nicht sich zu erhalten, sondern um mehr
zu werden.Ders., Der Wille zur Macht, S. 465 |
Der
Wille zur Akkumulation von Kraft ist spezifisch für das Phänomen
des Lebens, für Ernährung, Zeugung, Vererbung, für Gesellschaft,
Staat, Sitte, Autorität. Sollten wir diesen Willen nicht als bewegende Ursache
auch in der Chemie annehmen dürfen? und in der kosmischen Ordnung?Ders., Der Wille zur Macht, S. 466 |
Nicht
bloß Konstanz der Energhie: sondern Maximal-Ökonomie des Verbrauchs:
so daß das Stärker-werden-wollen von jedem Kraftzentrum aus
die einzige Realität ist, nicht Selbstbewahrung, sondern Aneignen,
Herr-werden, Mehr-werden, Stärker-werden-wollen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 466 |
Daß
Wissenschaft möglich ist, das soll uns ein Kausalitäts-Prinzip beweisen?
»Aus gleichen Ursachen gleiche Wirkungen« »Ein permanentes
Gesetz der Dinge« »Eine invariable Ordnung«? Weil
etwas berechenbar ist, ist es deshalb schon notwendig?Ders., Der Wille zur Macht, S. 467 |
Wenn
etwas so und nicht anders geschieht, so ist darin kein »Prinzip«,
kein »Gesetz«, keine »Ordnung«, sondern es wirken Kraft-Quanta,
deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraft-Quanta Macht auszuüben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 467 |
Können
wir ein Streben nach Macht annehmen, ohne eine Lust- und Unlust-Empfindung,
d.h. ohne ein Gefühl von der Steigerung und Verminderung der Macht? Der Mechanismus
ist nur eine Zeichensprache für die interne Tatsachen-Welt kämpfender
und überwindender Willens-Quanta? Alle Voraussetzungen des Mechanismus, Stoff,
Atom, Schwere, Druck und Stoß sind nicht »Tatsachen an sich«,
sondern Interpretationen mit Hilfe psychischer Fiktionen. Das Leben als
die uns bekannteste Form des Seins ist spezifisch ein Wille zur Akkumulation der
Kraft ; alle Prozesse des Lebens haben hier ihren Hebel: nichts will sich
erhalten, alles soll summiert und akkumuliert werden. Das Leben, als ein Einzelfall
(Hypothese von da aus auf den Gesamtcharakter des Daseins ) strebt nach
einem Maximal-Gefühl von Macht; ist essentiell ein Streben nach Mehr
von Macht; Streben ist nichts anderes als Streben nach Macht; das Unterste und
Innerste bleibt dieser Wille. (Mechanik ist eine bloße Semiotik der Folgen.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 467 |
Man
kann das, was die Ursache dafür ist, daß es überhaupt Entwicklung
gibt, nicht selbst wieder auf dem Wege der Forschung über Entwicklung finden;
man soll es nicht als »werdend« verstehn wollen, noch weniger als
geworden. .... Der »Wille zur Macht« kann nicht geworden sein.Ders., Der Wille zur Macht, S. 467-468 |
Ist
»Wille zur Macht« eine Art »Wille« oder identisch mit
dem Begriff »Wille«? Heißt es so viel als begehren? oder kommandieren?
Ist es der »Wille«, von dem Schopenhauer meint, er sei das »An
sich der Dinge«? Mein Satz ist: daß Wille der bisherigen Psychologie
eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung ist, daß es diesen Willen gar
nicht gibt, daß, statt die Ausgestaltung eines bestimmten Willens in
viele Formen zu fassen, man den Charakter des Willens weggestrichen hat, indem
man den Inhalt, das Wohin? heraussubtrahiert hat : das ist im höchsten
Grade bei Schopenhauer der Fall: das ist ein bloßes leeres Wort, was er
»Wille« nennt. Es handelt sich noch weniger um einen »Willen
zum Leben«: denn das Leben ist bloß ein Einzelfall des Willens
zur Macht; es ist ganz willkürlich, zu behaupten, daß alles
danach strebe, in diese Form des Willens zur Macht überzutreten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 468 |
Wenn
das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist, wenn Lust alles Wachstum der
Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen, nicht Herr werden zu können,
ist: dürfen wir dann nicht Lust und Unlust als Kardinal-Tatsachen ansetzen?
Ist Wille möglich ohne diese beiden Oszillationen des Ja und des Nein?
Aber wer fühlt Lust? .... Aber wer will Macht? .... Absurde
Frage! wenn das Wesen selbst Machtwille und folglich Lust- und Unlust-fühlen
ist! Trotzdem: es bedarf der Gegensätze, der Widerstände, also, relativ,
der übergreifenden Einheiten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 468-469 |
Je
nach den Widerständen, die eine Kraft aufsucht, um über sie Herr zu
werden, muß das Maß des hiermit herausgeforderten Mißlingens
und Verhängnisses wachsen: und insofern jede Kraft sich nur an Widerstehendem
auslassen kann, ist notwendig in jeder Aktion ein Ingrediens von Unlust.
Nur wirkt diese Unlust als Reiz des Lebens und stärkt den Willen zur Macht!Ders., Der Wille zur Macht, S. 469 |
Wenn
Lust und Unlust sich auf das Gefühl der Macht beziehen, so müßte
Leben ein Wachstum von Macht darstellen, so daß die Differenz des »Mehr«
ins Bewußtsein träte .... Ein Niveau von Macht festgehalten, würde
sich die Lust nur an Verminderungen des Niveaus zu messen haben, an Unlustzuständen,
nicht an Lustzuständen .... Der Wille zum Mehr liegt im Wesen
der Lust: daß die Macht wächst, daß die Differenz ins Bewußtsein
tritt. Von einem gewissen Punkte an, bei der décadence, tritt die umgekehrte
Differenz ins Bewußtsein, die Abnahme: das Gedächtnis der starken Augenblicke
von ehedem drückt die gegenwärtigen Lustgefühle herab, der
Vergleich schwächt jetzt die Lust.Ders., Der Wille zur Macht, S. 469 |
Nicht
die Befriedigung des Willens ist Ursache der Lust (: gegen diese oberflächlichste
Theorie will ich besonders kämpfen, die absurde psychologische Falschmünzerei
der nächsten Dinge ), sondern daß der Wille vorwärts will
und immer wieder Herr über das wird, was ihm im Wege steht. Das Lustgefühl
liegt gerade in der Unbefriedigung des Willens, darin, daß er ohne den Gegner
und Widerstand noch nicht satt genug ist. »Der Glückliche«:
Herdenideal.Ders., Der Wille zur Macht, S. 469-470 |
Die
normale Unbefriedigung unsrer Triebe, z. B. des Hungers, des Geschlechtstriebs,
des Bewegungstriebs, enthält in sich durchaus noch nichts Herabstimmendes;
sie wirkt vielmehr agazierend auf das Lebensgefühl, wie jeder Rhythmus von
kleinen, schmerzhaften Reizen es stärkt, was auch die Pessimisten
uns vorreden mögen. Diese Unbefriedigung, statt das Leben zu verleiden, ist
das große Stimulans des Lebens. (Man könnte vielleicht die Lust
überhaupt bezeichnen als einen Rhythmus kleiner Unlustreize.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 470 |
Der
Schmerz ist etwas anderes als die Lust, ich will sagen, er ist nicht deren
Gegenteil. Wenn das Wesen der »Lust« zutreffend bezeichnet worden
ist als ein Plus-Gefühl von Macht (somit als ein Differenz-Gefühl,
das die Vergleichung voraussetzt), so ist damit das Wesen der »Unlust«
noch nicht definiert. Die falschen Gegensätze, an die das Volk und folglich
die Sprache glaubt, sind immer gefährliche Fußfesseln für den
Gang der Wahrheit gewesen. Es gibt sogar Fälle, wo eine Art Lust bedingt
ist durch eine gewisse rhythmische Abfolge kleiner Unlust-Reize: damit
wird ein sehr schnelles Anwachsen des Machtgefühls, des Lustgefühls
erreicht. Dies ist der Fall z. B. beim Kitzel, auch beim geschlechtlichen Kitzel
im Akt des Koitus: wir sehen dergestalt die Unlust als Ingrediens der Lust tätig.
Es scheint, eine kleine Hemmung, die überwunden wird und der sofort wieder
eine kleine Hemmung folgt, die wieder überwunden wird dieses Spiel
von Widerstand und Sieg regt jenes Gesamtgefühl von überschüssiger,
überflüssiger Macht am stärksten an, das das Wesen der Lust ausmacht.
Die Umkehrung, eine Vermehrung der Schmerzempfindung durch kleine eingeschobene
Lustreize, fehlt: Lust und Schmerz sind eben nichts Umgekehrtes. Der Schmerz ist
ein intellektueller Vorgang, in dem entschieden ein Urteil laut wird,
das Urteil »schädlich«, in dem sich lange Erfahrung aufsummiert
hat. An sich gibt es keinen Schmerz. Es ist nicht die Verwundung, die wehtut;
es ist die Erfahrung, von welchen schlimmen Folgen eine Verwundung für den
Gesamt-Organismus sein kann, welche in Gestalt jener tiefen Erschütterung
redet, die Unlust heißt (bei schädigenden Einflüssen, welche der
älteren Menschheit unbekannt geblieben sind, z. B. von seiten neu kombinierter
giftiger Chemikalien, fehlt auch die Aussage des Schmerzes, und wir sind
verloren). Im Schmerz ist das eigentlich Spezifische immer die lange Erschütterung,
das Nachzittern eines schreckenerregenden Schocks im zerebralen Herde des Nervensystems
man leidet eigentlich nicht an der Ursache des Schmerzes (irgendeiner
Verletzung z.B.), sondern an der langen Gleichgewichtsstörung, welche infolge
jenes Schocks eintritt. Der Schmerz ist eine Krankheit der zerebralen Nervenherde,
die Lust ist durchaus keine Krankheit. Daß der Schmerz die Ursache
ist zu Gegenbewegungen, hat zwar den Augenschein und sogar das Philosophen-Vorurteil
für sich; aber in plötzlichen Fällen kommt, wenn man genau beobachtet,
die Gegenbewegung ersichtlich früher als die Schmerzempfindung. Es stünde
schlimm um mich, wenn ich bei einem Fehltritt zu warten hätte, bis das Faktum
an die Glocke des Bewußtseins schlüge und ein Wink, was zu tun ist,
zurücktelegraphiert würde. Vielmehr unterscheide ich so deutlich als
möglich, daß erst die Gegenbewegung des Fußes, um den Fall zu
verhüten, folgt und dann, in einer meßbaren Zeitdistanz, eine Art schmerzhafter
Welle plötzlich im vordern Kopfe fühlbar wird. Man reagiert also nicht
auf den Schmerz. Der Schmerz wird nachher projiziert in die verwundete Stelle
aber das Wesen dieses Lokal-Schmerzes ist trotzdem nicht der Ausdruck der
Art der Lokal-Verwundung; er ist ein bloßes Ortszeichen, dessen Stärke
und Tonart der Verwundung gemäß ist, welche die Nerven-Zentren davon
empfangen haben. Daß infolge jenes Schocks die Muskelkraft des Organismus
meßbar heruntergeht, gibt durchaus noch keinen Anhalt dafür, das Wesen
des Schmerzes in einer Verminderung des Machtgefühls zu suchen. Man reagiert,
nochmals gesagt, nicht auf den Schmerz: die Unlust ist keine »Ursache«
von Handlungen. Der Schmerz selbst ist eine Reaktion, die Gegenbewegung ist eine
andre und frühere Reaktion beide nehmen von verschiedenen Stellen
ihren Ausgangspunkt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 470-472 |
Intellektualität
des Schmerzes: er bezeichnet nicht an sich, was augenblicklich geschädigt
ist, sondern welchen Wert die Schädigung hat in Hinsicht auf das allgemeine
Individuum. Ob es Schmerzen gibt, in denen »die Gattung« und nicht
das Individuum leidet ?Ders., Der Wille zur Macht, S. 473 |
»Die
Summe der Unlust überwiegt die Summe der Lust: folglich wäre das Nichtsein
der Welt besser, als deren Sein« »Die Welt ist etwas, das vernünftigerweise
nicht wäre, weil sie dem empfindenden Subjekt mehr Unlust als Lust verursacht«
dergleichen Geschwätz heißt sich heute Pessimismus! Lust und
Unlust sind Nebensachen, keine Ursachen; es sind Werturteile zweiten Ranges,
die sich erst ableiten von einem regierenden Wert ein in Form des Gefühls
redendes »nützlich«, »schädlich« und folglich
absolut flüchtig und abhängig. Denn bei jedem »nützlich«,
»schädlich« sind immer noch hundert verschiedene Wozu? zu fragen.
Ich verachte diesen Pessimismus der Sensibilität: er ist selbst ein
Zeichen tiefer Verarmung an Leben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 473 |
Der
Mensch sucht nicht die Lust und vermeidet nicht die Unlust: man versteht, welchem
berühmten Vorurteile ich hiermit widerspreche. Lust und Unlust sind bloße
Folge, bloße Begleiterscheinung was der Mensch will, was jeder kleinste
Teil eines lebenden Organismus will, das ist ein Plus von Macht. Im Streben
danach folgt sowohl Lust als Unlust; aus jenem Willen heraussucht er nach Widerstand,
braucht er etwas, das sich entgegenstellt... Die Unlust, als Hemmung seines Willens
zur Macht, ist also ein normales Faktum, das normale Ingrediens jedes organischen
Geschehens; der Mensch weicht ihr nicht aus, er hat sie vielmehr fortwährend
nötig: jeder Sieg, jedes Lustgefühl, jedes Geschehen setzt einen überwundenen
Widerstand voraus. Nehmen wir den einfachsten Fall, den der primitiven Ernährung:
das Protoplasma streckt seine Pseudopodien aus, um nach etwas zu suchen, das ihm
widersteht nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht. Darauf macht
es den Versuch, dasselbe zu überwinden, sich anzueignen, sich einzuverleiben:
das, was man »Ernährung« nennt, ist bloß eine Folge-Erscheinung,
eine Nutzanwendung jenes ursprünglichen Willens, stärker zu werden.
Die Unlust hat also so wenig notwendig eine Verminderung unsres Machtgefühls
zur Folge, daß, in durchschnittlichen Fällen, sie gerade als Reiz auf
dieses Machtgefühl wirkt das Hemmnis ist der stimulus dieses Willens
zur Macht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 473-474 |
Man
hat die Unlust verwechselt mit einer Art der Unlust, mit der der Erschöpfung:
letztere stellt in der Tat eine tiefe Verminderung und Herabstimmung des Willens
zur Macht, eine meßbare Einbuße an Kraft dar. Das will sagen: es gibt
a) Unlust als Reizmittel zur Verstärkung
der Macht und b) Unlust nach einer Vergeudung
von Macht; im erstern Fall ein stimulus, im letztern die Folge einer übermäßigen
Reizung.Die Unfähigkeit zum Widerstand ist
der letzteren Unlust zu eigen: die Herausforderung des Widerstehenden gehört
zur ersteren .... Die Lust, welche im Zustand der Erschöpfung allein noch
empfunden wird, ist das Einschlafen; die Lust im andern Falle ist der Sieg. Die
große Verwechslung der Psychologen bestand darin, daß sie diese beiden
Lustarten die des Einschlafens und die des Sieges
nicht auseinanderhielten. Die Erschöpften wollen Ruhe, Gliederausstrecken,
Frieden, Stille es ist das Glück der nihilistischen Religionen und
Philosophien; die Reichen und Lebendigen wollen Sieg, überwundene Gegner,
Überströmen des Machtgefühls über weitere Bereiche als bisher.
Alle gesunden Funktionen des Organismus haben dies Bedürfnis und der
ganze Organismus ist ein solcher nach Wachstum von Machtgefühlen ringender
Komplex von Systemen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 474-475 |
Wie
kommt es, daß die Grundglaubensartikel in der Psychologie allesamt die ärgsten
Verdrehungen und Falschmünzereien sind? »Der Mensch strebt nach
Glück« z.B. was ist daran wahr? Um zu verstehn, was »Leben«
ist, welche Art Streben und Spannung Leben ist, muß die Formel so gut von
Baum und Pflanze, als vom Tier gelten. »Wonach strebt die Pflanze?«
aber hier haben wir bereits eine falsche Einheit erdichtet, die es nicht
gibt: die Tatsache eines millionenfachen Wachstums mit eigenen und halbeigenen
Initiativen ist versteckt und verleugnet, wenn wir eine plumpe Einheit »Pflanze«
voranstellen. Daß die letzten kleinsten »Individuen« nicht
in dem Sinn eines »metaphysischen Individuums« und Atoms verständlich
sind, daß ihre Machtsphäre fortwährend sich verschiebt
das ist zuallererst sichtbar: aber strebt ein jedes von ihnen, wenn es sich dergestalt
verändert, nach Glück? Aber alles Sich-ausbreiten, Einverleiben,
Wachsen ist ein Anstreben gegen Widerstehendes; Bewegung ist essentiell etwas
mit Unlustzuständen Verbundenes: es muß das, was hier treibt, jedenfalls
etwas anderes wollen, wenn es dergestalt die Unlust will und fortwährend
aufsucht. Worum kämpfen die Bäume eines Urwaldes miteinander?
Um »Glück«? Um Macht! .... Der Mensch, Herr über
die Naturgewalten geworden, Herr über seine eigne Wildheit und Zügellosigkeit
(die Begierden haben folgen, haben nützlich sein gelernt) der Mensch,
im Vergleich zu einem Vor-Menschen, stellt ein ungeheures Quantum Macht dar,
nicht ein Plus von »Glück«! Wie kann man behaupten, daß
er nach Glück gestrebt habe?Ders., Der Wille zur Macht, S. 475-476 |
Indem
ich dieses sage, sehe ich über mir den ungeheuren Rattenschwanz von Irrtümern
unter den Sternen glänzen, der bisher als die höchste Inspiration der
Menschheit galt: »alles Glück folgt aus der Tugend, alle Tugend aus
dem freien Willen«! Kehren wir die Werte um: alle Tüchtigkeit
Folge einer glücklichen Organisation, alle Freiheit Folge der Tüchtigkeit
( Freiheit hier als Leichtigkeit in der Selbstdirektive verstanden. Jeder
Künstler versteht mich).Ders., Der Wille zur Macht, S. 476 |
»Der
Wert des Lebens.« Das Leben ist ein Einzelfall; man muß alles
Dasein rechtfertigen und nicht nur das Leben, das rechtfertigende Prinzip
ist ein solches, aus dem sich das Leben erklärt. Das Leben ist nur Mittel
zu etwas: es ist der Ausdruck von Wachstumsformen der Macht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 476 |
Die
»bewußte Welt« kann nicht als Wert-Ausgangspunkt
gelten: Notwendigkeit einer »objektiven« Wertsetzung. In Hinsicht
auf das Ungeheure und Vielfache des Für- und Gegeneinanderarbeitens, wie
es das Gesamtleben jedes Organismus darstellt, ist dessen bewußte Welt von
Gefühlen, Absichten, Wertschätzungen ein kleiner Ausschnitt. Dies Stück
Bewußtsein als Zweck, als Warum? für jenes Gesamt-Phänomen von
Leben anzusetzen, fehlt uns alles Recht: ersichtlich ist das Bewußtwerden
nur ein Mittel mehr in der Entfaltung und Machterweiterung des Lebens. Deshalb
ist es eine Naivität, Lust oder Geistigkeit oder Sittlichkeit oder irgendeine
Einzelheit der Sphäre des Bewußtseins als höchsten Wert anzusetzen:
und vielleicht gar »die Welt« aus ihnen zu rechtfertigen. Das ist
mein Grundeinwand gegen alle philosophisch-moralischen Kosmo- und Theodizeen,
gegen alle Warums und höchsten Werte in der bisherigen Philosophie und Religionsphilosophie.
Eine Art der Mittel ist als Zweck mißverstanden worden: das Leben
und seine Machtsteigerung wurde umgekehrt zum Mittel erniedrigt. Wenn
wir einen Zweck des Lebens weit genug ansetzen wollten, so dürfte er mit
keiner Kategorie des bewußten Lebens zusammenfallen; er müßte
vielmehr jede noch erklären als Mittel zu sich .... Die »Verneinung
des Lebens« als Ziel des Lebens, Ziel der Entwicklung! Das Dasein als große
Dummheit! Eine solche Wahnwitz-Interpretation ist nur die Ausgeburt einer
Messung des Lebens mit Faktoren des Bewußtseins (Lust und Unlust,
Gut und Böse). Hier werden die Mittel geltend gemacht gegen den Zweck
die »unheiligen«, absurden, vor allem unangenehmen Mittel :
wie kann der Zweck etwas taugen, der solche Mittel gebraucht! Aber der Fehler
steckt darin, daß wir statt nach dem Zweck zu suchen, der
die Notwendigkeit solcher Mittel erklärt von vornherein einen
Zweck voraussetzen, welcher solche Mittel gerade ausschließt: d.h.
daß wir eine Wünschbarkeit in bezug auf gewisse Mittel (nämlich
angenehme, rationelle, tugendhafte) zur Norm nehmen, nach der wir erst ansetzen,
welcher Gesamtzweck wünschbar ist .... Der Grundfehler steckt
nur darin, daß wir die Bewußtheit statt sie als Werkzeug und
Einzelheit im Gesamt-Leben zu verstehen als Maßstab, als höchsten
Wertzustand des Lebens ansetzen: es ist die fehlerhafte Perspektive des a parte
ad totum, weshalb instinktiv alle Philosophen darauf aus sind, ein Gesamtbewußtsein,
ein bewußtes Mitleben und Mitwollen alles dessen, was geschieht, einen »Geist«,
»Gott« zu imaginieren. Man muß ihnen aber sagen, daß eben
damit das Dasein zum Monstrum wird; daß ein »Gott« und
Gesamtsensorium schlechterdings etwas wäre, dessentwegen das Dasein verurteilt
werden müßte .... Gerade daß wir das zweck- und mittelsetzende
Gesamtbewußtsein eliminiert haben: das ist unsre große Erleichterung,
damit hören wir auf, Pessimisten sein zu müssen .... Unser
größter Vorwurf gegen das Dasein war die Existenz Gottes.Ders., Der Wille zur Macht, S. 477-478 |
Vom
Wert des »Werdens«. Wenn die Weltbewegung einen Zielzustand
hätte, so müßte er erreicht sein. Das einzige Grundfaktum ist
aber, daß sie keinen Zielzustand hat: und jede Philosophie und wissenschaftliche
Hypothese (z. B. der Mechanismus), in der ein solcher notwendig wird, ist durch
jenes Grundfaktum widerlegt. Ich suche ein Weltkonzeption, welche dieser
Tatsache gerecht wird. Das Werden soll erklärt werden, ohne zu solchen finalen
Absichten Zuflucht zu nehmen: das Werden muß gerechtfertigt erscheinen in
jedem Augenblick (oder unabwertbar: was auf eins hinausläuft); es
darf absolut nicht das Gegenwärtige um eines Zukünftigen wegen oder
das Vergangene um des Gegenwärtigen willen gerechtfertigt werden. Die »Notwendigkeit«
nicht in Gestalt einer übergreifenden, beherrschenden Gesamtgewalt, oder
eines ersten Motors; noch weniger als notwendig, um etwas Wertvolles zu bedingen.
Dazu ist nötig, ein Gesamtbewußtsein des Werdens, einen »Gott«,
zu leugnen, um das Geschehen nicht unter den Gesichtspunkt eines mitfühlenden,
mitwissenden und doch nichts wollenden Wesens zu bringen: »Gott« ist
nutzlos, wenn er nicht etwas will, und andrerseits ist damit eine Summierung von
Unlust und Unlogik gesetzt, welche den Gesamtwert des »Werdens«
erniedrigen würde: glücklicherweise fehlt gerade eine solche summierende
Macht ( ein leidender und überschauender Gott, ein »Gesamtsensorium«
und »Allgeist« wäre der größte Einwand gegen das
Sein). Strenger: man darf nichts Seiendes überhaupt zulassen
weil dann das Werden seinen Wert verliert und geradezu als sinnlos und überflüssig
erscheint. Folglich ist zu fragen: wie die Illusion des Seienden hat entstehen
können (müssen); insgleichen: wie alle Werturteile, welche auf der Hypothese
ruhen, daß es Seiendes gebe, entwertet sind. Damit aber erkennt man, daß
diese Hypothese des Seienden die Quelle aller Welt-Verleumdung ist
( die »bessere Welt«, die »wahre Welt«, die »jenseitige
Welt«, das »Ding an sich«).1.
Das Werden hat keinen Zielzustand, mündet nicht in ein »Sein«.2.
Das Werden ist kein Scheinzustand; vielleicht ist die seiende Welt
ein Schein.3. Das Werden ist wertgleich in jedem
Augenblick: die Summe seines Wertes bleibt sich gleich; anders ausgedrückt:
es hat gar keinen Wert, denn es fehlt etwas, woran es zu messen wäre
und in bezug worauf das Wort »Wert« Sinn hätte. Der Gesamtwert
der Welt ist unabwertbar, folglich gehört der philosophische Pessimismus
unter die komischen Dinge.Ders., Der Wille zur Macht, S. 478-480 |
Daß
wir nicht unsere »Wünschbarkeiten« zu Richtern über das
Sein machen! Daß wir nicht auch Endformen der Entwicklung (z. B. Geist)
wieder als ein »An-sich« hinter die Entwicklung placieren!Ders., Der Wille zur Macht, S. 480 |
Unsre
Erkenntnis ist in dem Maße wissenschaftlich geworden, als sie Zahl und Maß
anwenden kann. Der Versuch wäre zu machen, ob nicht eine wissenschaftliche
Ordnung der Werte einfach auf einer Zahl und Maß-Skala der Kraft
aufzubauen wäre .... Alle sonstigen »Werte« sind Vorurteile,
Naivitäten, Mißverständnisse. Sie sind überall reduzierbar
auf jene Zahl- und Maß-Skala der Kraft. Das Aufwärts in dieser
Skala bedeutet jedes Wachsen an Wert: das Abwärts in dieser
Skala bedeutet Verminderung des Wertes. Hier hat man den Schein und das
Vorurteil wider sich. (Die Moralwerte sind ja nur Scheinwerte, verglichen mit
den physiologischen.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 480 |
Wo
der Gesichtspunkt »Wert« unzulässig: Daß im »Prozeß
des Ganzen« die Arbeit der Menschheit nicht in Betracht kommt, weil
es einen Gesamtprozeß (diesen als System gedacht ) gar nicht gibt;
daß es kein »Ganzes« gibt; daß alle Abwertung des menschlichen
Daseins, der menschlichen Ziele nicht in Hinsicht auf etwas gemacht werden
kann, das gar nicht existiert; daß die »Notwendigkeit«, die
»Ursächlichkeit«, »Zweckmäßigkeit« nützliche
Scheinbarkeiten sind; daß nicht »Vermehrung des Bewußtseins«
das Ziel ist, sondern Steigerung der Macht: in welche Steigerung die Nützlichkeit
des Bewußtseins eingerechnet ist; ebenso verhält es sich mit Lust und
Unlust; daß man nicht die Mittel zum obersten Wertmaß nimmt (also
nicht Zustände des Bewußtseins, wie Lust und Schmerz, wenn das Bewußtwerden
selbst nur ein Mittel ist ); daß die Welt durchaus kein Organismus
ist, sondern das Chaos: daß die Entwicklung der »Geistigkeit«
nur Mittel zur relativen Dauer der Organisation ist; daß alle »Wünschbarkeit«
keinen Sinn hat in bezug auf den Gesamtcharakter des Seins.Ders., Der Wille zur Macht, S. 481 |
»Gott«
als Kulminations-Moment: das Dasein eine ewige Vergottung und Entgottung. Aber
darin kein Wert-Höhepunkt, sondern ein Macht-Höhepunkt. Absoluter
Ausschluß des Mechanismus und des Stoffs: beides nur Ausdrucksformen
niedriger Stufen, die entgeistigtste Form des Affekts (des »Willens zur
Macht«). Der Rückgang vom Höhepunkt im Werden (der höchsten
Vergeistigung der Macht auf dem sklavenhaftesten Grunde) als Folge dieser höchsten
Kraft darzustellen, welche, gegen sich sich wendend, nachdem sie nichts mehr zu
organisieren hat, ihre Kraft verwendet zu desorganisieren ....a)
Die immer größere Besiegung der Sozietäten und Unterjochung derselben
unter eine kleinere, aber stärkere Zahl;b)
die immer größere Besiegung der Bevorrechteten und Stärkeren und
folglich Heraufkunft der Demokratie, endlich Anarchie der ElementeDers., Der Wille zur Macht, S. 482 |
Wert
ist das höchste Quantum Macht, das der Mensch sich einzuverleiben vermag
der Mensch: nicht die Menschheit! Die Menschheit ist viel eher noch ein
Mittel, als ein Ziel. Es handelt sich um den Typus: die Menschheit ist bloß
das Versuchsmaterial, der ungeheure Überschuß des Mißratenen:
ein Trümmerfeld.Ders., Der Wille zur Macht, S. 470 |
Der
Gesichtspunkt des »Werts« ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-,
Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer Dauer
des Lebens innerhalb des Werdens. Es gibt keine dauerhaften letzten Einheiten,
keine Atome, keine Monaden: auch hier ist »das Seiende« erst von uns
hineingelegt (aus praktischen, nützlichen, perspektivischen Gründen).
»Herrschaftsgebilde«; die Sphäre des Beherrschenden fortwährend
wachsend oder unter der Gunst und Ungunst der Umstände (der Ernährung
) periodisch abnehmend, zunehmend. »Wert« ist wesentlich der
Gesichtspunkt für das Zunehmen oder Abnehmen dieser herrschaftlichen Zentren
(»Vielheiten« jedenfalls; aber die »Einheit« ist in der
Natur des Werdens gar nicht vorhanden). Die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar,
um das »Werden« auszudrücken: es gehört zu unserm unablöslichen
Bedürfnis der Erhaltung, beständig eine gröbere Welt von Bleibendem,
von »Dingen« usw. zu setzen. Relativ dürfen wir von Atomen und
Monaden reden: und gewiß ist, daß die kleinste Welt an Dauer die
dauerhafteste ist .... Es gibt keinen Willen: es gibt Willens-Punktationen,
die beständig ihre Macht mehren oder verlieren.Ders., Der Wille zur Macht, S. 482-483 |
Grundsatz:
nur Einzelne fühlen sich verantwortlich. Die Vielheiten sind erfunden, um
Dinge zu tun, zu denen der Einzelne nicht den Mut hat. Eben deshalb sind alle
Gemeinwesen, Gesellschaften hundertmal aufrichtiger und belehrender über
das Wesen des Menschen als das Individuum, welches zu schwach ist, um den Mut
zu seinen Begierden zu haben .... Der ganze »Altruismus« ergibt sich
als Privatmann-Klugheit: die Gesellschaften sind nicht »altruistisch«
gegeneinander... Das Gebot der Nächstenliebe ist noch niemals zu einem Gebot
der Nachbar- Liebe erweitert worden. Vielmehr gilt da noch, was bei Manu steht:
»Alle uns angrenzenden Reiche, ebenso deren Verbündete, müssen
wir als uns feindlich denken. Aus demselben Grunde hinwiederum müssen uns
deren Nachbarn als uns freundlich gesinnt gelten.« Das Studium der
Gesellschaft ist deshalb so unschätzbar, weil der Mensch als Gesellschaft
viel naiver ist als der Mensch als »Einheit«. Die »Gesellschaft«
hat die Tugend nie anders angesehen als als Mittel der Stärke, der
Macht, der Ordnung. Wie einfältig und würdig sagt es Manu: »Aus
eigner Kraft würde die Tugend sich schwerlich behaupten können. Im Grunde
ist es nur die Furcht vor Strafe, was die Menschen in Schranken hält und
jeden im ruhigen Besitz des Seinen läßt.«Ders., Der Wille zur Macht, S. 484-485 |
Der
Staat oder die organisierte Unmoralität inwendig:
als Polizei, Strafrecht, Stände, Handel, Familie; auswendig: als Wille
zur Macht, zum Kriege, zur Eroberung, zur Rache. Wie wird es erreicht, daß
eine große Menge Dinge tut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen
würde? Durch Zerteilung der Verantwortlichkeit, des Befehlens und
der Ausführung. Durch Zwischenlegung der Tugenden des Gehorsams, der
Pflicht, der Vaterlands-und Fürstenliebe. Durch Aufrechterhaltung des Stolzes,
der Strenge, der Stärke, des Hasses, der Rache kurz aller typischen
Züge, welche dem Herdentypus widersprechen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 485 |
Ihr
habt alle nicht den Mut, einen Menschen zu töten, oder auch nur zu peitschen,
oder auch nur zu , aber die ungeheure Maschine von Staat überwältigt
den einzelnen, so daß er die Verantwortlichkeit für das, was er tut,
ablehnt (Gehorsam, Eid usw.). Alles, was ein Mensch im Dienste des
Staates tut, geht wider seine Natur; insgleichen alles, was er in
Hinsicht auf den zukünftigen Dienst im Staate lernt, geht wider seine
Natur. Das wird erreicht durch die Arbeitsteilung (so daß niemand
die ganze Verantwortlichkeit mehr hat): der Gesetzgeber und der, der das
Gesetz ausführt; der Disziplin-Lehrer und die, welche in der Disziplin
hart und streng geworden sind.Ders., Der Wille zur Macht, S. 485-486 |
Eine
Arbeitsteilung der Affekte innerhalb der Gesellschaft: so daß die
Einzelnen und die Stände die unvollständige, aber eben damit
nützlichere Art von Seele heranzüchten. Inwiefern bei jedem Typus innerhalb
der Gesellschaft einige Affekte fast rudimentär geworden sind (auf die stärkere
Ausbildung eines andern Affekts hin). Zur Rechtfertigung der Moral: die
ökonomische (die Absicht auf möglichste Ausnutzung von Individual-Kraft
gegen die Verschwendung alles Ausnahmsweisen); die ästhetische (die
Ausgestaltung fester Typen samt der Lust am eignen Typus); die politische
(als Kunst, die schweren Spannungsverhältnisse von verschiedenen Machtgraden
auszuhalten); die psychologische (als imaginäres Übergewicht
der Schätzung zugunsten derer, die schlecht oder mittelmäßig weggekommen
sind zur Erhaltung der Schwachen).Ders., Der Wille zur Macht, S. 486 |
Das
furchtbarste und gründlichste Verlangen des Menschen, sein Trieb nach Macht
man nennt diesen Trieb »Freiheit« muß am längsten
in Schranken gehalten werden. Deshalb ist die Ethik bisher, mit ihren unbewußten
Erziehungs- und Züchtungs-Instinkten, darauf aus gewesen, das Macht-Gelüst
in Schranken zu halten: sie verunglimpft das tyrannische Individuum und unterstreicht,
mit ihrer Verherrlichung der Gemeindefürsorge und der Vaterlandsliebe, den
Herden-Machtinstinkt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 486 |
Das
Unvermögen zur Macht: seine Hypokrisie und Klugheit:
als Gehorsam (Einordnung, Pflicht-Stolz, Sittlichkeit...); als Ergebung, Hingebung,
Liebe (Idealisierung, Vergötterung des Befehlenden als Schadenersatz und
indirekte Selbstverklärung); als Fatalismus, Resignation; als »Objektivität«;
als Selbsttyrannisierung (Stoizismus, Askese, »Enselbstung«, »Heiligung«),
als Kritik, Pessimismus, Entrüstung, Quälgeisterei; als »schöne
Seele«, »Tugend«, »Selbstvergötterung«, »Abseits«,
»Reinheit von der Welt« usw. ( die Einsicht in das Unvermögen
zur Macht sich als dédain verkleidend). Überall drückt sich das
Bedürfnis aus, irgendeine Macht doch noch auszuüben, oder sich selbst
den Anschein von Macht zeitweilig zu schaffen als Rausch. Die Menschen,
welche die Macht wollen um der Glücks-Vorteile willen, die die Macht
gewährt: politische Parteien. Andre Menschen, welche die Macht wollen, selbst
mit sichtbaren Nachteilen und Opfern an Glück und Wohlbefinden: die Ambitiösen.
Andre Menschen, welche die Macht wollen, bloß weil sie sonst in andre Hände
fiele, von denen sie nicht abhängig sein wollen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 487 |
Kritik
der »Gerechtigkeit« und »Gleichheit vor dem Gesetz«: was
eigentlich damit wegschafft werden soll? Die Spannung, die Feindschaft,
der Haß. Aber ein Irrtum ist es, daß dergestalt »das
Glück« gemehrt wird: die Korsen z. B. genießen mehr Glück
als die Kontinentalen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 487 |
Die
Gegenseitigkeit, die Hinterabsicht auf Bezahlt-werden-wollen: eine der
verfänglichsten Formen der Wert-Erniedrigung des Menschen. Sie bringt jene
»Gleichheit« mit sich, welche die Kluft der Distanz als unmoralisch
abwertet.Ders., Der Wille zur Macht, S. 487-488 |
Was
»nützlich« heißt, ist ganz und gar abhängig von
der Absicht, dem Wozu?; dieAbsicht, das »Ziel« wieder ist ganz
und gar abhängig vom Grad der Macht. Deshalb ist Utilitarismus keine Grundlage,
sondern nur eine Folgen-Lehre und absolut zu keiner Verbindlichkeit
für alle zu bringen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 488 |
Erstmals
hatte man die Theorie vom Staat als einer berechnenden Nützlichkeit:
jetzt hat man die Praxis dazu! Die Zeit der Könige ist vorbei,
weil die Völker ihrer nicht mehr würdig sind: sie wollen nicht
das Urbild ihres Ideals im König sehn, sondern ein Mittel ihres Nutzens.
Das ist die ganze Wahrheit!Ders., Der Wille zur Macht, S. 488 |
Moral
wesentlich als Wehr, als Verteidigungsmittel; insofern ein Zeichen des unausgewachsenen
Menschen (verpanzert; stoisch). Der ausgewachsene Mensch hat vor allem Waffen:
er ist angreifend. Kriegswerkzeuge zu Friedenswerkzeugen umgewandelt (aus
Schuppen und Platten Federn und Haare).Ders., Der Wille zur Macht, S. 489 |
Es
gehört zum Begriff des Lebendigen, daß es wachsen muß
daß es seine Macht erweitern und folglich fremde Kräfte in sich hineinnehmen
muß. Man redet, unter der Benebelung durch die Moral-Narkose, von einem
Recht des Individuums, sich zu verteidigen; im gleichen Sinne dürfte man
auch von seinem Rechte anzugreifen reden: denn beides und das zweite
noch mehr als das erste sind Nezessitäten für jedes Lebendige
der aggressive und der defensive Egoismus sind nicht Sache der Wahl oder
gar des »freien Willens«, sondern die Fatalität des Lebens
selbst. Hierbei gilt es gleich, ob man ein Individuum oder einen lebendigen Körper,
eine aufwärtsstrebende »Gesellschaft« ins Auge faßt. Das
Recht zur Strafe (oder die gesellschaftliche Selbstverteidigung) ist im Grunde
nur durch einen Mißbrauch zum Worte »Recht« gelangt: ein Recht
wird durch Verträge erworben aber das Sich-wehren und Sich-verteidigen
ruht nicht auf der Basis eines Vertrags. Wenigstens dürfte ein Volk mit ebensoviel
gutem Sinn sein Eroberungsbedürfnis, sein Machtgelüst, sei es mit Waffen,
sei es durch Handel, Verkehr und Kolonisation, als Recht bezeichnen Wachstums-Recht
etwa. Eine Gesellschaft, die, endgültig und ihrem Instinkt nach, den
Krieg und die Eroberung abweist, ist im Niedergang: sie ist reif für Demokratie
und Krämerregiment... In den meisten Fällen freilich sind die Friedensversicherungen
bloße Betäubungsmittel.Ders., Der Wille zur Macht, S. 489-490 |
Die
Aufrechterhaltung des Militär-Staates ist das allerletzte Mittel, die
große Tradition sei es aufzunehmen, sei es festzuhalten hinsichtlich des
obersten Typus Mensch, des starken Typus. Und alle Begriffe, die
die Feindschaft und Rangdistanz der Staaten verewigen, dürfen daraufhin sanktioniert
erscheinen (z. B. Nationalismus, Schutzzoll).Ders., Der Wille zur Macht, S. 490 |
Damit
etwas bestehn soll, das länger ist als ein einzelner, damit also ein Werk
bestehn bleibt, das vielleicht ein einzelner geschaffen hat: dazu muß dem
einzelnen alle mögliche Art von Beschränkung, von Einseitigkeit usw.
auferlegt werden. Mit welchem Mittel? Die Liebe, Verehrung, Dankbarkeit gegen
die Person, die das Werk schuf, ist eine Erleichterung: oder daß unsere
Vorfahren es erkämpft haben: oder daß meine Nachkommen nur so garantiert
sind, wenn ich jenes Werk (z.B. die poliV) garantiere.
Moral ist wesentlich das Mittel, über die einzelnen hinweg oder vielmehr
durch eine Versklavung der einzelnen etwas zur Dauer zu bringen. Es versteht
sich, daß die Perspektive von unten nach oben ganz andere Ausdrücke
geben wird als die von oben nach unten. Ein Macht-Komplex: wie wird er erhalten?
Dadurch, daß viele Geschlechter ihm sich opfern.Ders., Der Wille zur Macht, S. 490-491 |
Das
Kontinuum: »Ehe, Eigentum, Sprache, Tradition, Stamm, Familie, Volk,
Staat« sind Kontinuen niederer und höherer Ordnung. Die Ökonomik
derselben besteht in dem Überschusse der Vorteile der ununterbrochenen
Arbeit, sowie der Vervielfachung über die Nachteile: die größeren
Kosten der Auswechslung der Teile oder der Dauerbarmachung derselben. (Vervielfältigung
der wirkenden Teile, welche doch vielfach unbeschäftigt bleiben, also größere
Anschaffungskosten und nicht unbedeutende Kosten der Erhaltung.) Der Vorteil besteht
darin, daß die Unterbrechungen vermieden und die aus ihnen entspringenden
Verluste gespart werden. Nichts ist kostspieliger als ein Anfang. »Je
größer die Daseinsvorteile, desto größer auch die Erhaltungs-
und Schaffungskosten (Nahrung und Fortpflanzung); desto größer auch
die Gefahren und die Wahrscheinlichkeit, vor der erreichten Höhe zugrunde
zu gehen.«Ders., Der Wille zur Macht, S. 491 |
Bei
den Ehen im bürgerlichen Sinne des Wortes, wohlverstanden im achtbartsen
Sinne des Wortes »Ehe«, handelt es sich ganz und gar nicht um Liebe,
ebensowenig, als es sich dabei um Geld handelt aus der Liebe läßt
sich keine Institution machen : sondern um die gesellschaftliche Erlaubnis,
die zwei Personen zur Geschlechtsbefriedigung aneinander erteilt wird, unter Bedingungen,
wie sich von selbst versteht, aber solchen, welche das Interesse der Gesellschaft
im Auge haben. Daß einiges Wohlgefallen der Beteiligten und sehr viel guter
Wille Wille zur Geduld, Verträglichkeit, Fürsorge füreinander
zu den Voraussetzungen eines solchen Vertrags gehören wird,
liegt auf der Hand; aber das Wort Liebe sollte man dafür nicht mißbrauchen!
Für zwei Liebende im ganzen und starken Sinn des Wortes ist eben die Geschlechtsbefriedigung
nichts Wesentliches und eigentlich nur ein Symbol: für den einen Teil, wie
gesagt, Symbol der unbedingten Unterwerfung, für den andern Symbol der Zustimmung
zu ihr, Zeichen der Besitzergreifung. Bei der Ehe im adeligen, altadeligen
Sinne des Wortes handelte es sich um Züchtung einer Rasse (gibt es
heute noch Adel? Quaeritur) also um Aufrechterhaltung eines festen, bestimmten
Typus herrschender Menschen: diesem Gesichtspunkt wurde Mann und Weib geopfert.
Es versteht sich, daß hier bei nicht Liebe das erste Erfordernis war, im
Gegenteil! und noch nicht einmal jenes Maß von gutem Willen füreinander,
welches die gute bürgerliche Ehe bedingt. Das Interesse eines Geschlechts
zunächst entschied, und über ihm der Stand. Wir würden vor
der Kälte, Strenge und rechnenden Klarheit eines solchen vornehmen Ehe-Begriffs,
wie er bei jeder gesunden Aristokratie geherrscht hat, im alten Athen wie noch
im Europa des 18. Jahrhunderts, ein wenig frösteln, wir warmblütigen
Tiere mit kitzlichem Herzen, wir »Modernen«! Eben deshalb ist die
Liebe als Passion nach dem großen Verstande des Wortes für
die aristokratische Welt erfunden worden und in ihr: da, wo der Zwang,
die Entbehrung eben am größten waren.Ders., Der Wille zur Macht, S. 491-492 |
Zur
Zukunft der Ehe: eine Steuer-Mehrbelastung (bei Erbschaften),
auch Kriegsdienst-Mehrbelastung der Junggesellen von einem bestimmten Alter an
und anwachsend (innerhalb der Gemeinde); Vorteile aller Art für Väter,
welche reichlich Knaben in die Welt setzen: unter Umständen eine Mehrheit
von Stimmen; ein ärztliches Protokoll, jeder Ehe vorangehend und von
den Gemeinde-Vorständen unterzeichnet: worin mehrere bestimmte Fragen seitens
der Verlobten und der Ärzte beantwortet sein müssen (»Familien-Geschichte«
); als Gegenmittel gegen die Prostitution (oder als deren Veredelung):
Ehen auf Frist, legalisiert (auf Jahre, auf Monate), mit Garantie für die
Kinder; jede Ehe verantwortet und befürwortet durch eine bestimmte Anzahl
Vertrauensmänner einer Gemeinde: als Gemeinde-Angelegenheit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 492-493 |
Auch
ein Gebot der Menschenliebe. Es gibt Fälle, wo ein Kind ein Verbrechen
sein würde: bei chronisch Kranken und Neurasthenikern dritten Grades. Was
hat man da zu tun? Solche zur Keuschheit ermutigen, etwa mit Hilfe von
Parsifal-Musik, mag immerhin versucht werden: Parsifal selbst, dieser typische
Idiot, hatte nur zu viel Gründe, sich nicht fortzupflanzen. Der Übelstand
ist, daß eine gewisse Unfähigkeit, sich zu »beherrschen«
( auf Reize, auf noch so kleine Geschlechtsreize nicht zu reagieren), gerade
zu den regelmäßigsten Folgen der Gesamt-Erschöpfung gehört.
.... Der Priester, der Moralist spielen da ein verlorenes Spiel; besser tut man
noch, in die Apotheke zu schicken. Zuletzt hat hier die Gesellschaft eine Pflicht
zu erfüllen: es gibt wenige dergestalt dringliche und grundsätzliche
Forderungen an sie. Die Gesellschaft, als Großmandatar des Lebens, hat jedes
verfehlte Leben vor dem Leben selber zu verantworten sie hat es auch zu
büßen: folglich soll sie es verhindern. Die Gesellschaft soll in zahlreichen
Fällen der Zeugung vorbeugen: sie darf hierzu, ohne Rücksicht auf Herkunft,
Rang und Geist, die härtesten Zwangs-Maßregeln, Freiheits-Entziehungen,
unter Umständen Kastrationen in Bereitschaft halten. Das Bibel-Verbot
»du sollst nicht töten!« ist eine Naivität im Vergleich
zum Ernst des Lebens-Verbots an die décadents: »ihr sollt nicht zeugen!«...
Das Leben selbst erkennt keine Solidarität, kein »gleiches Recht«
zwischen gesunden und entartenden Teilen eines Organismus an: letztere muß
man ausschneiden oder das Ganze geht zugrunde. Mitleiden mit den
décadents, gleiche Rechte auch für die Mißratenen das
wäre die tiefste Unmoralität, das wäre die Widernatur selbst als
Moral!Ders., Der Wille zur Macht, S. 494-494 |
Wir
lernen in unsrer zivilisierten Welt fast nur den ... Verbrecher kennen ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 494 |
Inmitten
unsrer späten Kultur ist die Fatalität und die Degenereszenz etwas,
das vollkommen den Sinn von Lohn und Strafe aufhebt .... Es setzt junge,
starke, kräftige Rassen voraus, dieses wirkliche Bestimmen der Handlung durch
Lohn- und Straf-Aussicht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 495 |
Man
vermag nur solche Menschen in die Höhe zu bringen, die man nicht mi Verachtung
behandelt; die moralische Verachtung ist eine größere Entwürdigung
und Schädigung als irgendein Verbrechen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 498 |
Ja,
die Philosophie des rechts. Das ist eine Wissenschaft, welche wie alle moralische
Wissenschaft noch nicht einmal in der Windel liegt!Ders., Der Wille zur Macht, S. 500 |
Ein
alter Chinese sagte, er habe gehört, wenn Reiche zugrunde gehn sollen, so
hätten sie viele Gesetze.Ders., Der Wille zur Macht, S. 500 |
Schopenhauer
wünscht, daß man die Schurken kastriert und die Gänse ins
Kloster sperrt: von welchem Gesichtspunkte aus könnte das wünschbar
sein? Der Schurke hat das vor vielen Menschen voraus, daß er nicht mittelmäßig
ist; und der Dumme das vor uns, daß er nicht am Anblick der Mittelmäßigkeit
leidet. Wünschbarer wäre es, daß die Kluft größer würde,
also die Schurkerei und die Dummheit wüchse. Dergestalt erweiterte
sich die menschliche Natur .... Aber zuletzt ist eben das auch das Notwendige;
es geschieht und wartet nicht darauf, ob wir es wünschen oder nicht. Die
Dummheit, die Schurkerei wachsen: das gehört zum »Fortschritt«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 500-501 |
Ein
wenig reine Luft! Dieser absurde Zustand Europas soll nicht mehr lange dauern!
Gibt es irgendeinen Gedanken hinter diesem Hornvieh-Nationalismus? Welchen Wert
könnte es haben, jetzt, wo alles auf größere und gemeinsame Interessen
hinweist, diese ruppigen Selbstgefühle aufzustacheln? Und das in einem Zustande,
wo die geistige Unselbständigkeit und Entnationalisierung in die Augen
springt und in einem gegenseitigen Sich-Verschmelzen und -Befruchtender eigentliche
Wert und Sinn der jetzigen Kultur liegt! .... Und das »neue Reich«,
wieder auf den verbrauchtesten und bestverachteten Gedanken gegründet: die
Gleichheit der Rechte und der Stimmen. Das Ringen um einen Vorrang innerhalb eines
Zustandes, der nichts taugt; diese Kultur der Großstädte, der Zeitungen,
des Fiebers und der »Zwecklosigkeit« ! Die wirtschaftliche Einigung
Europas kommt mit Notwendigkeit und ebenso, als Reaktion, die Friedenspartei
.... Eine Partei des Friedens, ohne Sentimentalität, welche sich
und ihren Kindern verbietet, Krieg zu führen; verbietet, sich der Gerichte
zu bedienen; welche den Kampf, den Widerspruch, die Verfolgung gegen sich heraufbeschwört:
eine Partei der Unterdrückten, wenigstens für eine Zeit; alsbald die
große Partei. Gegnerisch gegen die Rach und Nachgefühle.
Eine Kriegspartei, mit der gleichen Grundsätzlichkeit und Strenge
gegen sich, in umgekehrter Richtung vorgehend .Ders., Der Wille zur Macht, S. 502-503 |
Die
verfaulten herrschenden Stände haben das Bild des Herrschenden verdorben.
Der »Staat«, als Hericht übend, ist eine Feigheit, weil der große
Mensch fehlt, an dem gemessen werden kann. Zuletzt wird die Unsicherheit so
groß, daß die Menschen vor jeder Willenskraft, die befiehlt,
in den Staub fallen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 503 |
»Der
Wille zur Macht« wird in demokratischen Zeitaltern dermaßen gehaßt,
daß deren ganze Psychologie auf seine Verkleinerung und Verleumdung gerichtet
scheint. Der Typus des großen Ehrgeizigen: das soll Napoleon sein! Und Cäsar!
und Alexander! Als ob das nicht gerade die größten Verächter
der Ehre wären! Und Helvétius entwickelt uns, daß man nach Macht
strebt, um die Genüsse zu haben, welche dem Mächtigen zu Gebote stehn
er versteht dieses Streben nach Macht als Willen zum Genuß! als Hedonismus!Ders., Der Wille zur Macht, S. 503-504 |
Ich
bin abgeneigt1. dem Sozialismus, weil er ganz
naiv vom »Guten, Wahren, Schönen« und von »gleichen Rechten«
träumt (auch der Anarchismus wll, nur auf brutalere Weise, das gleiche Ideal!);2.
dem Parlamentarismus und Zeitungswesen, weil das die Mittel sind, wodurch das
Herdentier sich zum Hernn macht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 504 |
Die
Bewaffnung des Volkes ist schließlich die Bewaffnung des Pöbels.Ders., Der Wille zur Macht, S. 504 |
Wie
mir die Sozialisten lächerlich sind mit ihrem albernen Optimismus vom »guten
Menschen«, der hinter dem Busche wartet, wenn man nur erst die bisherige
»Ordnung« abgeschafft hat und alle »natürlichen Triebe«
losläßt. Und die Gegenpartei ist ebenso lächerlich, weil sie die
Gewalttat in dem Gesetz, die Härte und den Egoismus in jeder Art Autorität
nicht zugesteht. »,Ich und meine Art' will herrschen und übrigbleiben:
wer entartet, wird ausgestoßen oder vernichtet« ist Grundgefühl
jeder alten Gesetzgebung. Man haßt die Vorstellung einer höheren Art
Menschen mehr als die Monarchen. Anti-aristokratisch: das nimmt den Monarchenhaß
nur als Maske.Ders., Der Wille zur Macht, S. 505 |
Wie
verräterisch sind alle Parteien! sie bringen etwas von ihren Führern
ans Licht, das von ihnen vielleicht mit großer Kunst unter den Scheffel
gestellt ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 505 |
Der
moderne Sozialismus will die weltliche Nebenform des Jesuitismus schaffen: jeder
absolutes Werkzeug. Aber der Zweck, das Wozu? ist nicht aufgefunden bisher.Ders., Der Wille zur Macht, S. 505 |
Die
Sklaverei in der Gegenwart: eine Barbarei! Wo sind die, für welche
sie arbeiten? Man muß nicht immer Gleichzeitigkeit der beiden sich
komplementierenden Kasten erwarten. Der Nutzen und das Vergnügen sind Sklaven-Theorien
vom Leben: der »Segen der Arbeit« ist eine Verherrlichung ihrer selber.
Unfähigkeit zum otium.Ders., Der Wille zur Macht, S. 505 |
Man
hat kein Recht weder auf Dasein, noch auf Arbeit, noch gar auf »Glück«:
es steht mit dem einzelnen Menschen nicht anders, als mit dem niedrigsten Wurm.Ders., Der Wille zur Macht, S. 506 |
Die
europäische Demokratie ist zum kleinsten Teil eine Entfesselung von Kräften.
Vor allem ist sie eine Entfesselung von Faulheiten, von Müdigkeiten, von
Schwächen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 506 |
Überall,
wo Verantwortlichkeiten gesucht worden sind, ist es der Instinkt der Rache
gewesen, der da suchte. Dieser Instinkt der Rache wurde in Jahrtausenden dermaßen
über die Menschheit Herr, daß die ganze Metaphysik, Psychologie, Geschichtsvorstellung,
vor allem aber die Moral mit ihm abgezeichnet ist. Soweit auch nur der Mensch
gedacht hat, so weit hat er den Bazillus der Rache in die Dinge geschleppt. Er
hat Gott selbst damit krank gemacht, er hat das Dasein überhaupt um
seine Unschuld gebracht: nämlich dadurch, daß er jedes So-und-so-sein
auf Willen, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückführte.
Die ganze Lehre vom Willen, diese verhängnisvollste Fälschung in der
bisherigen Psychologie, wurde wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe. Es war
die gesellschaftliche Nützlichkeit der Strafe, die diesem Begriff
seine Würde, seine Macht, seine Wahrheit verbürgte. Die Urheber jener
Psychologie der Willens-Psychologie hat man in den Ständen
zu suchen, welche das Strafrecht in den Händen hatten, voran in dem der Priester
an der Spitze der ältesten Gemeinwesen: diese wollten sich ein Recht schaffen,
Rache zu nehmen sie wollten Gott ein Recht zur Rache schaffen. Zu diesem
Zwecke wurde der Mensch »frei« gedacht; zu diesem Zwecke mußte
jede Handlung als gewollt, mußte der Ursprung jeder Handlung als im Bewußtsein
liegend gedacht werden. Aber mit diesen Sätzen ist die alte Psychologie widerlegt.
Heute, wo Europa in die umgekehrte Bewegung eingetreten scheint, wo wir Halkyonier
zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und Strafbegriff aus der
Welt wieder zurückzuziehen, herauszunehmen, auszulöschen suchen, wo
unser größter Ernst darauf aus ist, die Psychologie, die Moral, die
Geschichte, die Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen, Gott
selbst von diesem Schmutze zu reinigen, in wem müssen wir unsre natürlichsten
Antagonisten sehen? Eben in jenen Aposteln der Rache und des Ressentiments, in
jenen Entrüstungs-Pessimisten par excelence, welche eine Mission daraus machen,
ihren Schmutz unter dem Namen »Entrüstung« zu heiligen... Wir
anderen, die wir dem Werden seine Unschuld zurückzugewinnen wünschen,
möchten die Missionare eines reinlicheren Gedankens sein: daß niemand
dem Menschen seine Eigenschaften gegeben hat, weder Gott, noch die Gesellschaft,
noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst, daß niemand schuld
an ihm ist .... Es fehlt ein Wesen, das dafür verantwortlich gemacht werden
könnte, daß jemand überhaupt da ist, daß jemand so und so
ist, daß jemand unter diesen Umständen, in dieser Umgebung geboren
ist. Es ist ein großes Labsal, daß solch ein Wesen fehlt
.... Wir sind nicht das Resultat einer ewigen Absicht, eines Willens, eines Wunsches:
mit uns wird nicht der Versuch gemacht, ein »Ideal von Vollkommenheit«
oder ein »Ideal von Glück« oder ein »Ideal von Tugend«
zu erreichen wir sind ebensowenig der Fehlgriff Gottes, vor dem ihm selber
angst werden müßte (mit welchem Gedanken bekanntlich das Alte Testament
beginnt). Es fehlt jeder Ort, jeder Zweck, jeder Sinn, wohin wir unser Sein, unser
So-und-so-sein abwälzen könnten. Vor allem: niemand könnte es:
man kann das Ganze nicht richten, messen, vergleichen oder gar verneinen! Warum
nicht? Aus fünf Gründen, allesamt selbst bescheidenen Intelligenzen
zugänglich: zum Beispiel, weil es nichts gibt außer dem Ganzen
.... Und nochmals gesagt, das ist ein großes Labsal, darin liegt die Unschuld
alles Daseins.Ders., Der Wille zur Macht, S. 509-511 |
Welcher
Grad von Widerstand beständig überwunden werden muß, um obenauf
zu bleiben, das ist das Maß der Freiheit, sei es für einzelne,
sei es für Gesellschaften: Freiheit nämlich als positive Macht, als
Wille zur Macht angesetzt. Die höchste Form der Individual-Freiheit, der
Souveränität wüchse demnach, mit großer Wahrscheinlichkeit,
nicht fünf Schritt weit von ihrem Gegensatze auf, dort wo die Gefahr der
Sklaverei gleich hundert Damoklesschwertern über dem Dasein hängt. Man
gehe daraufhin durch die Geschichte: die Zeiten, wo das »Individuum«
bis zu jener Vollkommenheit reif, das heißt frei wird, wo der klassische
Typus des souveränen Menschen erreicht ist: o nein! das waren niemals
humane Zeiten! Man muß keine Wahl haben: entweder obenauf oder
unten, wie ein Wurm, verhöhnt, vernichtet, zertreten. Man muß Tyrannen
gegen sich haben, um Tyrann, d. h. frei zu werden. Es ist kein kleiner Vorteil,
hundert Damoklesschwerter über sich zu haben: damit lernt man tanzen, damit
kommt man zur »Freiheit der Bewegung«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 512-513 |
Scheinbar
entgegengesetzt die zwei Züge, welche die modernen Europäer kennzeichnen:
das Individualisti sche und die Forderung gleicher Rechte: das verstehe
ich endlich. Nämlich, das Individuum ist eine äußerst verwundbare
Eitelkeit diese fordert, bei ihrem Bewußtsein wie schnell sie leidet,
daß jeder andere ihm gleichgestellt gelte, daß er nur inter pares
sei. Damit ist eine gesellschaftliche Rasse charakterisiert, in welcher tatsächlich
die Begabungen und Kräfte nicht erheblich auseinandergehn. Der Stolz, welcher
Einsamkeit und wenige Schätzer will, ist ganz außer Verständnis;
die ganz »großen« Erfolge gibt es nur durch Massen, ja man begreift
es kaum noch, daß ein Massen-Erfolg immer eigentlich ein kleiner Erfolg
ist: weil pulchrum est paucorum hominum. Alle Moralen wissen nichts von
»Rangordnung« der Menschen; die Rechtslehrer nichts vom Gemeinde-Gewissen.
Das Individual-Prinzip lehnt die ganz großen Menschen ab und verlangt, unter
ungefähr gleichen, das feinste Auge und die schnellste Herauserkennung eines
Talentes; und weil jeder etwas von Talenten hat, in solchen späten und zivilisierten
Kulturen also erwarten kann, sein Teil Ehre zurückzubekommen ,
deshalb findet heute ein Herausstreichen der kleinen Verdienste statt wie niemals
noch: es gibt dem Zeitalter einen Anstrich von grenzenloser Billigkeit.
Seine Unbilligkeit besteht in einer Wut ohne Grenzen nicht gegen die Tyrannen
und Volksschmeichler, auch in den Künsten, sondern gegen die vornehmen Menschen,
welche das Lob der vielen verachten. Die Forderung gleicher Rechte (z. B. über
alles und jeden zu Gericht sitzen zu dürfen) ist anti-aristokratisch.
Ebenso fremd ist ihm das verschwundene Individuum, das Untertauchen in einen großen
Typus, das Nicht-Person-sein-wollen: worin die Auszeichnung und der Eifer vieler
hohen Menschen früher bestand (die größten Dichter darunter);
oder »Stadt-sein« wie in Griechenland; Jesuitismus, preußisches
Offiziers-Korps und Beamtentum; oder Schüler-sein und Fortsetzer großer
Meister: wozu ungesellschaftliche Zustände und der Mangel der kleinen Eitelkeit
nötig ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 521-522 |
Der
Individualismus ist eine bescheidene und noch unbewußte Art des »Willens
zur Macht«; hier scheint es dem einzelnen schon genug, freizukommen von
einer Übermacht der Gesellschaft (sei es des Staates oder der Kirche). Er
setzt sich nicht als Person in Gegensatz, sondern bloß als einzelner; er
vertritt alle einzelnen gegen die Gesamtheit. Das heißt: er setzt sich instinktiv
gleich an mit jedem einzelnen; was er erkämpft, das erkämpft
er nicht sich als Person, sondern sich als Vertreter einzelner gegen die Gesamtheit.
Der Sozialismus ist bloß ein Agitationsmittel
des Individualismus: er begreift, daß man sich, um etwas zu erreichen,
zu einer Gesamtaktion organisieren muß, zu einer »Macht«. Aber
was er will, ist nicht die Sozietät als Zweck des einzelnen, sondern die
Sozietät als Mittel zur Ermöglichung vieler einzelnen:
das ist der Instinkt der Sozialisten, über den sie sich häufig betrügen
( abgesehen, daß sie, um sich durchzusetzen, häufig betrügen
müssen). Die altruistische Moral-Predigt im Dienste des Individual-Egoismus:
eine der gewöhnlichsten Falschheiten des neunzehnten Jahrhunderts.Der
Anarchismus ist wiederum bloß ein Agitationsmittel des Sozialismus;
mit ihm erregt er Furcht, mit der Furcht beginnt er zu faszinieren und zu terrorisieren:
vor allem er zieht die Mutigen, die Gewagten auf seine Seite, selbst noch
im Geistigsten.Trotz alledem: der Individualismus
ist die bescheidenste Stufe des Willens zur Macht.Hat
man eine gewisse Unabhängigkeit erreicht, so will man mehr: es tritt die
Sonderung heraus nach dem Grade der Kraft: der Einzelne setzt sich nicht ohne
weiteres mehr gleich, sondern er sucht nach seinesgleichen er hebt andere
von sich ab. Auf den Individualismus folgt die Glieder und Organbildung:
die verwandten Tendenzen sich zusammenstellend und sich als Macht betätigend:
zwischen diesen Machtzentren Reibung, Krieg, Erkenntnis beiderseitiger Kräfte,
Ausgleichung, Annäherung, Festsetzung von Austausch der Leistungen.
Am Schluß: eine Rangordnung.Rekapitulation:1.
Die Individuen machen sich frei;2. sie treten
in Kampf, sie kommen über »Gleichheit der Rechte« überein
( »Gerechtigkeit« als Ziel );3.
ist das erreicht, so treten die tatsächlichen Ungleichheiten der Kraft
in eine vergrößerte Wirkung (weil im großen ganzen der Friede
herrscht und viele kleine Kraft-Quanta schon Differenzen ausmachen, solche, die
früher fast gleich null waren). Jetzt organisieren sich die Einzelnen zu
Gruppen; die Gruppen streben nach Vorrechten und nach Übergewicht.
Der Kampf, in milderer Form, tobt von neuem.Man
will Freiheit, solange man noch nicht die Macht hat. Hat man sie, will man Übermacht;
erringt man sie nicht (ist man noch zu schwach zu ihr), will man »Gerechtigkeit«,
d.h. gleiche Macht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 522-524 |
Berichtigung
des Begriffs »Egoismus«. Hat man begriffen, inwiefern »Individuum«
ein Irrtum ist, sondern jedes Einzelwesen eben der ganze Prozeß in
gerader Linie ist (nicht bloß »vererbt«, sondern er selbst ),
so hat das Einzelwesen eine ungeheuer große Bedeutung. Der Instinkt
redet darin ganz richtig. Wo dieser Instinkt nachläßt,
wo das Individuum sich einen Wert erst im Dienst für andere sucht, kann man
sicher auf Ermüdung und Entartung schließen. Der Altruismus
der Gesinnung, gründlich und ohne Tartüfferie, ist ein Instinkt dafür,
sich wenigstens einen zweiten Wert zu schaffen, im Dienste anderer Egoismen.
Meistens aber ist er nur scheinbar: ein Umweg zur Erhaltung des eigenen
Lebensgefühls, Wertgefühls.Ders., Der Wille zur Macht, S. 524 |
Geschichte
der Vermoralisierung und EntmoralisierungErster
Satz: Es gilt gar keine moralischen Handlungen: sie sind vollkommen
eingebildet. Nicht nur, daß sie nicht nachweisbar sind (was z. B.
Kant zugab und das Christentum insgleichen), sondern sie sind gar nicht
möglich. Man hat einen Gegensatz zu den treibenden Kräften erfunden,
durch ein psychologisches Mißverständnis, und glaubt eine andere Art
von ihnen bezeichnet zu haben; man hat ein primum mobile fingiert, das gar nicht
existiert. Nach der Schätzung, welche überhaupt den Gegensatz »moralisch«
und »unmoralisch« aufgebracht hat, muß man sagen: es gibt
nur unmoralische Absichten und Handlungen.Zweiter
Satz: Diese ganze Unterscheidung »moralisch« und »unmoralisch«
geht davon aus, daß sowohl die moralischen als die unmoralischen Handlungen
Akte der freien Spontaneität seien kurz, daß es eine solche
gebe, oder anders ausgedrückt: daß die moralische Beurteilung überhaupt
sich nur auf eine Gattung von Absichten und Handlungen beziehe, die freien. Aber
diese ganze Gattung von Absichten und Handlungen ist rein imaginär: die Welt,
an welche der moralische Maßstab allein anlegbar ist, existiert gar nicht
es gibt weder moralische noch unmoralische Handlungen.Der
psychologische Irrtum, aus dem der Gegensatz-Begriff »moralisch«
und »unmoralisch« entstanden ist: »selbstlos«, »unegoistisch«,
»selbstverleugnend« alles unreal, fingiert. Fehlerhafter
Dogmatismus in betreff des »ego«: dasselbe als atomistisch genommen,
in einem falschen Gegensatz zum »Nicht-Ich«; insgleichen aus dem Werden
herausgelöst, als etwas Seiendes. Die falsche Versubstanzialisierung des
Ich: diese (in dem Glauben an die individuelle Unsterblichkeit) besonders
unter dem Druck religiös-moralischer Zucht zum Glaubensartikel gemacht. Nach
dieser künstlichen Loslösung und An-und-für-sich-Erklärung
des ego hatte man einen Wert-Gegensatz vor sich, der unwidersprechlich schien:
das Einzel-ego und das ungeheure Nicht-Ich. Es schien handgreiflich, daß
der Wert des Einzel-ego nur darin liegen könne, sich auf das ungeheure »Nicht-Ich«
zu beziehen resp. sich ihm unterzuordnen und um seinet-willen zu existieren.
Hier waren die Herden-Instinkte bestimmend: nichts geht so sehr wider diese Instinkte
als die Souveränität des Einzelnen. Gesetzt aber, das ego ist begriffen
als ein An-und-für-sich, so muß sein Wert in der Selbstverneinung
liegen. Also:1. die falsche Verselbständigung
des »Individuums«, als Atom;2. die
Herden-Würdigung, welche das Atom-bleiben-wollen perhorresziert und als feindlich
empfindet;3. als Folgerung: Überwindung
des Individuums durch Verlegung seines Ziels;4.
nun schien es Handlungen zu geben, welche selbstverneinend waren: man phantasierte
um sie eine ganze Sphäre von Gegensätzen herum;5.
man fragte: in welchen Handlungen bejaht sich der Mensch am stärksten? Um
diese (Geschlechtlichkeit, Habsucht, Herrschsucht, Grausamkeit usw.) wurde der
Bann, der Haß, die Verachtung gehäuft: man glaubte, daß es unselbstische
Triebe gibt, man verwarf alle selbstischen, man verlangte die unselbstischen;6.
Folge davon: was hatte man getan? Man hatte die stärksten, natürlichsten,
mehr noch, die einzig realen Triebe in Bann getan, man mußte, um
eine Handlung fürderhin lobenswert zu finden, in ihr die Anwesenheit solcher
Triebe leugnen ungeheure Fälscherei in psychologicis.
Selbst jede Art »Selbstzufriedenheit« hatte sich erst dadurch wieder
möglich zu machen, daß man sich sub specie boni mißverstand und
zurechtlegte. Umgekehrt: jene Spezies, wel che ihren Vorteil davon hatte, dem
Menschen seine Selbstzufriedenheit zu nehmen (die Repräsentanten des Herden-Instinkts,
z. B. die Priester und Philosophen), wurde fein und psychologisch-scharfsichtig,
zu zeigen, wie überall doch die Selbstsucht herrsche. Christlicher Schluß:
»Alles ist Sünde; auch unsre Tugenden. Absolute Verwerflichkeit des
Menschen. Die selbstlose Handlung ist nicht möglich.« Erbsünde.
Kurz: nachdem der Mensch seinen Instinkt in Gegensatz zu einer rein imaginären
Welt des Guten gebracht hatte, endete er mit Selbstverachtung, als unfähig,
Handlungen zu tun, welche »gut« sind.NB.
Das Christentum bezeichnet damit einen Fortschritt in der psychologischen Verschärfung
des Blicks: Larochefoucauld und Pascal. Es begriff die Wesensgleichheit der menschlichen
Handlungen und ihre Wert-Gleichheit in der Hauptsache ( alle unmoralisch).Nun
machte man Ernst, Menschen zu bilden, in denen die Selbstsucht getötet ist
die Priester, die Heiligen. Und wenn man zweifelte an der Möglichkeit,
»vollkommen« zu werden, man zweifelte nicht, zu wissen, was vollkommen
ist. Die Psychologie des Heiligen, des Priesters, des »guten Menschen«
mußte natürlich rein phantasmagorisch ausfallen. Man hatte die wirklichen
Motive des Handelns für schlecht erklärt: man mußte, um überhaupt
noch handeln zu können, Handlungen vorschreiben zu können, Handlungen,
die gar nicht möglich sind, als möglich beschreiben und gleichsam heiligen.
Mit derselben Falschheit, mit der man verleumdet hatte, hat man nunmehr verehrt
und veridealisiert. Das Wüten gegen die Instinkte des Lebens als »heilig«,
verehrungswürdig. Die absolute Keuschheit, der absolute Gehorsam, die absolute
Armut: priesterliches Ideal. Almosen, Mitleiden, Aufopferung, Verleugnung des
Schönen, der Vernunft, der Sinnlichkeit, moroser Blick für alle starken
Qualitäten, die man hat: Laien-Ideal. Man kommt vorwärts: die verleumdeten
Instinkte suchen sich auch ein Recht zu schaffen (z. B. Luthers Reformation: gröbste
Form der moralischen Verlogenheit unter der »Freiheit des Evangeliums«),
man tauft sie um auf heilige Namen; die verleumdeten Instinkte suchen sich
als notwendig zu beweisen, damit die tugendhaften überhaupt möglich
sind; man muß vivre, pour vivre pour autrui: Egoismus als Mittel zum Zweck;
man geht weiter, man sucht sowohl den egoistischen als auch den altruistischen
Regungen ein Existenz-Recht zu geben: Gleichheit der Rechte für die einen
wie für die andern (vom Gesichtspunkt des Nutzens); man geht weiter, man
sucht die höhere Nützlichkeit in der Bevorzugung des egoistischen Gesichtspunktes
gegenüber dem altruistischen: nützlicher in Hinsicht auf das Glück
der meisten oder die Förderung der Menschheit usw. Also: ein Übergewicht
an Rechten des Egoismus, aber unter einer extrem altruistischen Perspektive (»Gesamt-Nutzen
der Menschheit«); man sucht die altruistische Handlungsweise mit der Natürlichkeit
zu versöhnen, man sucht das Altruistische auf dem Grunde des Lebens; man
sucht das Egoistische wie das Altruistische als gleich begründet im Wesen
des Lebens und der Natur; man träumt von einem Verschwinden des Gegensatzes
in irgendeiner Zukunft, wo, durch fortgesetzte Anpassung, das Egoistische auch
zugleich das Altruistische ist; endlich, man begreift, daß die altruistischen
Handlungen nur eine Spezies der egoistischen sind und daß
der Grad, in dem man liebt, sich verschwendet, ein Beweis ist für den Grad
einer individuellen Macht und Personalität. Kurz, daß man,
indem man den Menschen böser macht, ihn besser macht und daß
man das eine nicht ohne das andere ist... Damit geht der Vorhang auf vor der ungeheuren
Fälschung der Psychologie des bisherigen Menschen.Folgerungen:
es gibt nur unmoralische Absichten und Handlungen; die sogenannten moralischen
sind also als Unmoralitäten nachzuweisen. Die Ableitung aller Affekte aus
dem einen Willen zur Macht: wesensgleich. Der Begriff des Lebens: es drücken
sich in dem anscheinenden Gegensatze (von »gut und böse«) Machtgrade
von Instinkten aus, zeitweilige Rangordnung, unter der gewisse Instinkte im
Zaum gehalten werden oder in Dienst genommen werden. Rechtfertigung
der Moral: ökonomisch usw..Gegen den
zweiten Satz. Der Determinismus: Versuch, die moralische Welt zu retten, dadurch
daß man sie transloziert ins Unbekannte. Der Determinismus ist nur
ein modus, unsre Wertschätzungen eskamotieren zu dürfen, nachdem sie
in der mechanistisch-gedachten Welt keinen Platz haben. Man muß deshalb
den Determinismus angreifen und unterminieren: insgleichen unser Recht
zu einer Scheidung einer An-sich- und Phänomenal-Welt bestreiten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 524-529 |
Ist
man über das »Warum?« seines Lebens mit sich im reinen, so gibt
man dessen »Wie?« leichten Kaufs dahin. Es ist selbst schon ein Zeichen
von Unglauben an Warum, an Zweck und Sinn, ein Mangel an Willen, wenn der
Wert von Lust und Unlust in den Vordergrund tritt und hedonistisch-pessimistische
Lehren Gehör finden; und Entsagung, Resignation, Tugend, »Objektivität«
können zum mindesten schon Zeichen davon sein, daß es an der Hauptsache
zu mangeln beginnt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 531 |
Deutschland,
welches reich ist an geschickten und wohlunterrichteten Gelehrten, ermangelt in
einem solchen Maße seit langer Zeit der großen Seelen, der mächtigen
Geister, daß es verlernt zu haben scheint, was eine große Seele, was
ein mächtiger Geist ist: und heutzutage stellen sich, beinahe mit gutem Gewissen
und aller Verlegenheit bar, mittelmäßige und dazu noch übelgeratene
Menschen an den Markt und preisen sich selber als große Männer, Reformatoren
an; wie z. B. Eugen Dühring tut, wahrhaftig ein geschickter und wohlunterrichteter
Gelehrter, der aber doch fast mit jedem Worte verrät, daß er eine kleinliche
Seele herbergt und durch enge neidische Gefühle zerquetscht wird; auch daß
nicht ein mächtiger, überschäumender, wohltätig-verschwenderischer
Geist ihn treibt sondern der Ehrgeiz! In diesem Zeitalter aber nach Ehren
zu geizen, ist eines Philosophen noch viel unwürdiger als in irgendeinem
früheren Zeitalter: jetzt, wo der Pöbel herrscht, wo der Pöbel
die Ehren vergibt!Ders., Der Wille zur Macht, S. 531-532 |
Das Kunstwerk, wo es ohne Künstler erscheint, z. B. als Leib, als Organisation
(preußisches Offizierkorps, Jesuitenorden). Inwiefern der Künstler
nur eine Vorstufe ist. Die Welt als ein sich selbstgebärendes Kunstwerk.Ders., Der Wille zur Macht, S. 533 |
Apollinisch
dionysisch. Es gibt zwei Zustände, in denen die Kunst selbst
wie eine Naturgewalt im Menschen auftritt, über ihn verfügend, ob er
will oder nicht: einmal als Zwang zur Vision, andrerseits als Zwang zum Orgiasmus.
Beide Zustände sind auch im normalen Leben vorgespielt, nur schwächer:
im Traum und im Rausch. Aber derselbe Gegensatz besteht noch zwischen Traum und
Rausch: beide entfesseln in uns künstlerische Gewalten, jede aber verschieden:
der Traum die des Sehens, Verknüpfens, Dichtens; der Rausch die der Gebärde,
der Leidenschaft, des Gesangs, des Tanzes.Ders., Der Wille zur Macht, S. 534 |
Im
dionysischen Rausche ist die Geschlechtlichkeit und die Wollust: sie fehlt nicht
im apollinischen. Es muß noch eine Tempo-Verschiedenheit in beiden Zuständen
geben .... Die extreme Ruhe gewisser Rauschempfindungen (strenger: die Verlangsamung
des Zeit-und Raumgefühls) spiegelt sich gern in der Vision der ruhigsten
Gebärden und Seelen-Arten. Der klassische Stil stellt wesentlich diese Ruhe,
Vereinfachung, Abkürzung, Konzentration dar das höchste Gefühl
der Macht ist konzentriert im klassischen Typus. Schwer reagieren: ein großes
Bewußtsein: kein Gefühl von Kampf.Ders., Der Wille zur Macht, S. 534 |
Die
Häßlichkeit bedeutet décadence eines Typus, Widerspruch
und mangelnde Koordination der inneren Begehrungen bedeutet einen Niedergang
an organisierender Kraft, an »Willen«, psychologisch geredet. Der
Lustzustand, den man Rausch nennt, ist exakt ein hohes Machtgefühl... Die
Raum- und Zeit-Empfindungen sind verändert: ungeheure Fernen werden überschaut
und gleichsam erst wahrnehmbar; die Ausdehnung des Blicks über
größere Mengen und Weiten; die Verfeinerung des Organs für
die Wahrnehmung vieles Kleinsten und Flüchtigsten; die Divination, die Kraft
des Verstehens auf die leiseste Hilfe hin, auf jede Suggestion hin: die »intelligente«
Sinnlichkeit-; die Stärke als Herrschaftsgefühl in den Muskeln,
als Geschmeidigkeit und Lust an der Bewegung, als Tanz, als Leichtigkeit und Presto;
die Stärke als Lust am Beweis der Stärke, als Bravourstück, Abenteuer,
Furchtlosigkeit, Gleichgültigkeit gegen Leben und Tod... Alle diese Höhen-Momente
des Lebens regen sich gegenseitig an; die Bilder- und Vorstellungswelt des einen
genügt, als Suggestion, für den andern: dergestalt sind schließlich
Zustände ineinander verwachsen, die vielleicht Grund hätten, sich fremd
zu bleiben. Zum Beispiel: das religiöse Rauschgefühl und die Geschlechtserregung
( zwei tiefe Gefühle, nachgerade fast verwunderlich koordiniert. Was
gefällt allen frommen Frauen, alten? jungen? Antwort: ein Heiliger mit schönen
Beinen, noch jung, noch Idiot). Die Grausamkeit in der Tragödie und das Mitleid
( ebenfalls normal koordiniert ...). Frühling, Tanz, Musik:
alles Wettbewerb der Geschlechter, und auch noch jene Faustische »Unendlichkeit
im Busen«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 535-536 |
Biologischer
Wert des Schönen und des Häßlichen. Was uns instinktiv
widersteht, ästhetisch, ist aus allerlängster Erfahrung dem Menschen
als schädlich, gefährlich, mißtrauen-verdienend bewiesen: der
plötzlich redende ästhetische Instinkt (im Ekel z. B.) enthält
ein Urteil. Insofern steht das Schöne innerhalb der allgemeinen Kategorie
der biologischen Werte des Nützlichen, Wohltätigen, Leben-steigernden:
doch so, daß eine Menge Reize, die ganz von ferne an nützliche Dinge
und Zustände erinnern und anknüpfen, uns das Gefühl des Schönen,
d. h. der Vermehrung von Machtgefühl geben ( nicht also bloß
Dinge, sondern auch die Begleitempfindungen solcher Dinge oder ihre Symbole).
Hiermit ist das Schöne und Häßliche als bedingt erkannt;
nämlich in Hinsicht auf unsre untersten Erhaltungswerte. Davon abgesehen
ein Schönes und ein Häßliches ansetzen wollen, ist sinnlos. Das
Schöne existiert so wenig als das Gute, das Wahre. Im einzelnen handelt es
sich wieder um die Erhaltungsbedingungen einer bestimmten Art von Mensch: so wird
der Herdenmensch bei anderen Dingen das Wertgefühl des Schönen
haben als der Ausnahme- und Über-Mensch. Es ist die Vordergrunds-Optik,
welche nur die nächsten Folgen in Betracht zieht, aus der der Wert
des Schönen (auch des Guten, auch des Wahren) stammt. Alle Instinkt-Urteile
sind kurzsichtig in Hinsicht auf die Kette der Folgen: sie raten an, was zunächst
zu tun ist. Der Verstand ist wesentlich ein Hemmungsapparat gegen das Sofort-Reagieren
auf das Instinkt-Urteil: er hält auf, er überlegt weiter, er sieht die
Folgenkette ferner und länger. Die Schönheits und Häßlichkeits-Urteile
sind kurzsichtig ( sie haben immer den Verstand gegen sich ):
aber im höchsten Grade überredend; sie appellieren an unsre Instinkte,
dort, wo sie am schnellsten sich entscheiden und ihr Ja und Nein sagen, bevor
noch der Verstand zu Worte kommt. Die gewohntesten Schönheits-Bejahungen
regen sich gegenseitig auf und an; wenn der ästhetische Trieb einmal
in Arbeit ist, kristallisiert sich um »das einzelne Schöne« noch
eine ganze Fülle anderer und anders woher stammender Vollkommenheiten.
Es ist nicht möglich, objektiv zu bleiben resp. die interpretierende,
hinzugebende, ausfüllende, dichtende Kraft auszuhängen ( letztere
ist jene Verkettung der Schönheits-Bejahungen selber). Der Anblick eines
»schönen Weibes« .... Also1.
das Schönheits-Urteil ist kurzsichtig, es sieht nur die nächsten
Folgen;2. es überhäuft den Gegenstand,
der es erregt, mit einem Zauber, der durch die Assoziation verschiedener Schönheits-Urteile
bedingt ist der aber dem Wesen jenes Gegenstandes ganz fremd ist.
Ein Ding als schön empfinden heißt: es notwendig falsch empfinden
(weshalb, beiläufig gesagt, die Liebesheirat die gesellschaftlich unvernünftigste
Art der Heirat ist).Ders., Der Wille zur Macht, S. 538-539 |
Der
ästhetische Zustand hat einen Überreichtum von Mitteilungsmitteln,
zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen.
Er ist der Höhepunkt der Mitteilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen
lebenden Wesen er ist die Quelle der Sprachen. Die Sprachen haben hier
ihren Entstehungsherd: die Tonsprachen so gut als die Gebärden-und Blicksprachen.
Das vollere Phänomen ist immer der Anfang: unsere Vermögen sind subtilisiert
aus volleren Vermögen. Aber auch heute hört man noch mit den Muskeln,
man liest selbst noch mit den Muskeln. Jede reife Kunst hat eine Fülle Konvention
zur Grundlage: insofern sie Sprache ist. Die Konvention ist die Bedingung der
großen Kunst, nicht deren Verhinderung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 544-545 |
Es
sind die Ausnahme-Zustände, die den Künstler bedingen: alle, die mit
krankhaften Erscheinungen tief verwandt und verwachsen sind: so daß es nicht
möglich scheint, Künstler zu sein und nicht krank zu sein.Ders., Der Wille zur Macht, S. 545 |
Ein
Bild, innerlich auftauchend, wirkt schon als Bewegung der Glieder , eine
gewisse Willens-Aushängung ... (Schopenhauer!!!!) Eine Art Taubsein, Blindsein
nach außen hin das Reich der zugelassenen Reize ist scharf
umgrenzt. Dies unterscheidet den Künstler vom Laien (dem künstlerisch-
Empfänglichen): letzterer hat im Aufnehmen seinen Höhepunkt von Reizbarkeit;
ersterer im Geben, dergestalt, daß ein Antagonismus dieser beiden
Begabungen nicht nur natürlich, sondern wünschenswert ist. Jeder dieser
Zustände hat eine umgekehrte Optik vom Künstler verlangen daß
er sich die Optik des Zuhörers (Kritikers) einübe, heißt verlangen,
daß er sich und seine schöpferische Kraft verarme... Es ist hier wie
bei der Differenz der Geschlechter: man soll vom Künstler, der gibt, nicht
verlangen, daß er Weib wird daß er »empfängt«.
Unsre Ästhetik war insofern bisher eine Weibs-Ästhetik, als nur die
Empfänglichen für Kunst ihre Erfahrungen »was ist schön«?
formuliert haben. In der ganzen Philosophie bis heute fehlt der Künstler
.... Das ist, wie das Vorhergehende andeutete, ein notwendiger Fehler: denn der
Künstler, der anfinge, sich zu begreifen, würde sich damit vergreifen,
er hat nicht zurückzusehen, er hat überhaupt nicht zu sehen,
er hat zu geben. Es ehrt einen Künstler, der Kritik unfähig zu
sein andernfalls ist er halb und halb, ist er »modern«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 546-547 |
Ich
setze hier eine Reihe psychologischer Zustände als Zeichen vollen und blühenden
Lebens hin, welche man heute gewohnt ist, als krankhaft zu beurteilen. Nun haben
wir inzwischen verlernt, zwischen gesund und krank von einem Gegensatze zu reden:
es handelt sich um Grade meine Behauptung in diesem Falle ist, daß,
was heute »gesund« genannt wird, ein niedrigeres Niveau von dem darstellt,
was unter günstigen Verhältnissen gesund wäre , daß
wir relativ krank sind... Der Künstler gehört zu einer noch stärkeren
Rasse. Was uns schon schädlich, was bei uns krankhaft wäre, ist bei
ihm Natur Aber man wendet uns ein, daß gerade die Verarmung
der Maschine die extravagante Verständniskraft über jedwede Suggestion
ermögliche:Zeugnis unsre hysterischen Weiblein.Die
Überfülle an Säften und Kräften kann so gut Symptome
der partiellen Unfreiheit, von Sinnes-Halluzinationen, von Suggestions-Raffinements
mit sich bringen, wie eine Verarmung an Leben , der Reiz ist anders bedingt,
die Wirkung bleibt sich gleich .... Vor allem ist die Nachwirkung nicht
dieselbe; die extreme Erschlaffung aller morbiden Naturen nach ihren Nerven-Exzentrizitäten
hat nichts mit den Zuständen des Künstlers gemein: der seine guten Zeiten
nicht abzubüßen hat .... Er ist reich genug dazu: er kann verschwenden,
ohne arm zu werden. Wie man heute »Genie« als eine Form der Neurose
beurteilen dürfte, so vielleicht auch die künstlerische Suggestiv-Kraft
und unsre Artisten sind in der Tat den hysterischen Weiblein nur zu verwandt!!!
Das aber spricht gegen »heute«, und nicht gegen die »Künstler«.
Die unkünstlerischen Zustände: die der Objektivität, der
Spiegelung, des ausgehängten Willens... (das skandalöse Mißverständnis
Schopenhauers, der die Kunst als Brücke zur Verneinung des Lebens
nimmt) .... Die unkünstlerischen Zustände: der Verarmenden, Abziehenden,
Abblassenden, unter deren Blick das Leben leidet der Christ.Ders., Der Wille zur Macht, S. 547-548 |
Der
moderne Künstler, in seiner Physiologie dem Hysterismus nächstverwandt,
ist auch als Charakter auf diese Krankhaftigkeit hin abgezeichnet. Der Hysteriker
ist falsch er lügt aus Lust an der Lüge, er ist bewunderungswürdig
in jeder Kunst der Verstellung , es sei denn, daß seine krankhafte
Eitelkeit ihm einen Streich spielt. Diese Eitelkeit ist wie ein fortwährendes
Fieber, welches Betäubungsmittel nötig hat und vor keinem Selbstbetrug,
vor keiner Farce zurückschreckt, die eine augenblickliche Linderung verspricht.
(Unfähigkeit zum Stolz und beständig Rache für eine tief
eingenistete Selbstverachtung nötig zu haben das ist beinahe die Definition
dieser Art von Eitelkeit.) Die absurde Erregbarkeit seines Systems, die aus allen
Erlebnissen Krisen macht und das »Dramatische« in die geringsten Zufälle
des Lebens einschleppt, nimmt ihm alles Berechenbare: er ist keine Person mehr,
höchstens ein Rendezvous von Personen, von denen bald diese, bald jene mit
unverschämter Sicherheit herausschießt. Eben darum ist er groß
als Schauspieler: alle diese armen Willenlosen, welche die Ärzte in der Nähe
studieren, setzen in Erstaunen durch ihre Virtuosität der Mimik, der Transfiguration,
des Eintretens in fast jeden verlangten Charakter.Ders., Der Wille zur Macht, S. 548-549 |
Verglichen
mit dem Künstler, ist das Erscheinen des wissenschaftlichen Menschen
in der Tat ein Zeichen einer gewissen Eindämmung und Niveau-Erniedrigung
des Lebens ( aber auch einer Verstärkung, Strenge, Härte, Willenskraft).
Inwiefern die Falschheit, die Gleichgültigkeit gegen Wahr und Nützlich
beim Künstler Zeichen von Jugend, von »Kinderei« sein
mögen .... Ihre habituelle Art, ihre Unvernünftigkeit, ihre Ignoranz
über sich, ihre Gleichgültigkeit gegen »ewige Werte«, ihr
Ernst im »Spiele« ihr Mangel an Würde; Hanswurst und Gott
benachbart; der Heilige und die Kanaille... Das Nachmachen als Instinkt,
kommandierend. Aufgangs-Künstler Niedergangs-Künstler:
ob sie nicht allen Phasen zugehören? .... Ja!Ders., Der Wille zur Macht, S. 550-551 |
Würde
irgendein Ring in der ganzen Kette von Kunst und Wissenschaft fehlen, wenn das
Weib, wenn das Werk des Weibes darin fehlte? Geben wir die Ausnahme zu
sie beweist die Regel das Weib bringt es in allem zur Vollkommenheit,
was nicht ein Werk ist, in Brief, in Memoiren, selbst in der delikatesten Handarbeit,
die es gibt, kurz in allem, was nicht ein Metier ist, genau deshalb, weil es darin
sich selbst vollendet, weil es damit seinem einzigen Kunst-Antrieb gehorcht, den
es besitzt es will gefallen .... Aber was hat das Weib mit der leidenschaftlichen
Indifferenz des echten Künstlers zu schaffen, der einem Klang, einem Hauch,
einem Hopsassa mehr Wichtigkeit zugesteht, als sich selbst? der mit allen fünf
Fingern nach seinem Geheimsten und Innersten greift? der keinem Dinge einen Wert
zugesteht, es sei denn, daß es Form zu werden weiß ( daß
es sich preisgibt, daß es sich öffentlich macht ). Die Kunst,
so wie der Künstler sie übt begreift ihr's denn nicht, was sie
ist: ein Attentat auf alle pudeurs?... Erst mit diesem Jahrhundert hat das Weib
jene Schwenkung zur Literatur gewagt ( vers la canaille plumière
écrivassière, mit dem alten Mirabeau zu reden): es schriftstellert,
es künstlert, es verliert an Instinkt. Wozu doch? wenn man fragen darf.Ders., Der Wille zur Macht, S. 551 |
Man
ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler
»Form« nennen, als Inhalt, als »die Sache selbst« empfindet.
Damit gehört man freilich in eine verkehrte Welt: denn nunmehr wird
einem der Inhalt zu etwas bloß Formalem unser Leben eingerechnet.Ders., Der Wille zur Macht, S. 552 |
In
der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr recht als allen Philosophen bisher:
sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben geht, sie liebten die
Dinge »dieser Welt« sie liebten ihre Sinne. »Entsinnlichung«
zu erstreben: das scheint mir ein Mißverständnis oder eine Krankheit
oder eine Kur, wo sie nicht eine bloße Heuchelei oder Selbstbetrügerei
ist. Ich wünsche mir selber und allen denen, welche ohne die Ängste
eines Puritaner-Gewissens leben leben dürfen, eine immer größere
Vergeistigung und Vervielfältigung ihrer Sinne; ja wir wollen den Sinnen
dankbar sein für ihre Feinheit, Fülle und Kraft und ihnen das Beste
von Geist, was wir haben, dagegen bieten. Was gehen uns die priesterlichen und
metaphysischen Verketzerungen der Sinne an! Wir haben diese Verketzerung nicht
mehr nötig: es ist ein Merkmal der Wohlgeratenheit, wenn einer, gleich Goethe,
mit immer größerer Lust und Herzlichkeit an »den Dingen der Welt«
hängt dergestalt nämlich hält er die große Auffassung
des Menschen fest, daß der Mensch der Verklärer des Daseins
wird, wenn er sich selbst verklären lernt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 552-553 |
Was
bedeutet eine pessimistische Kunst? Ist das nicht eine contradictio? Ja.
Schopenhauer irrt, wenn er gewisse Werke der Kunst in den Dienst
des Pessimismus stellt. Die Tragödie lehrt nicht »Resignation« ....
Die furchtbaren und fragwürdigen Dinge darstellen ist selbst schon ein Instinkt
der Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie nicht .... Es
gibt keine pessimistische Kunst .... Die Kunst bejaht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 553-554 |
Wenn
meine Leser darüber zur Genüge eingeweiht sind, daß auch »der
Gute« im großen Gesamt-Schauspiel des Lebens eine Form der Erschöpfung
darstellt: so werden sie der Konsequenz des Christentums die Ehre geben, welche
den Guten als den Häßlichen konzipierte. Das Christentum hatte
damit recht. An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen »das
Gute und das Schöne sind eins«; fügt er gar noch hinzu »auch
das Wahre«, so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist häßlich.
Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehn.Ders., Der Wille zur Macht, S. 554 |
In
Hinsicht auf die Maler: ... Sie sind tausend Meilem weit von den alten Meistern,
welche nicht lasen und nur daran dachten, ihren Augen ein Fest zu geben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 557 |
Die
Romantik: eine zweideutige Frage, wie alles Moderne.Ders., Der Wille zur Macht, S. 567 |
Was
ist Romantik? In Hinsicht auf alle ästhetischen Werte bediene
ich mich jetzt dieser Grundunterscheidung: ich frage in jedem einzelnen Falle:
»Ist hier der Hunger oder der Überfluß schöpferisch geworden?«
Von vornherein möchte sich eine andre Unterscheidung besser zu empfehlen
scheinen sie ist bei weitem augenscheinlicher , nämlich die
Unterscheidung, ob das Verlangen nach Starr-werden, Ewig-werden, nach »Sein«
die Ursache des Schaffens ist oder aber das Verlangen nach Zerstörung, nach
Wechsel, nach Werden. Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer angesehn,
noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und mit
Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach Zerstörung,
Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen zukunftsschwangern Kraft
sein (mein Terminus dafür ist, wie man weiß, das Wort »dionysisch«);
es kann aber auch der Haß der Mißratnen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen
sein, der zerstört, zerstören muß, weil ihn das Bestehende, ja
alles Bestehen, alles Sein selbst, empört und aufreizt. »Verewigen«
andrerseits kann einmal aus Dankbarkeit und Liebe kommen eine Kunst dieses
Ursprungs wird immer eine Apotheosen-Kunst sein, dithyrambisch vielleicht mit
Rubens, selig mit Hafis, hell und gütig mit Goethe und einen homerischen
Glorienschein über alle Dinge breitend; es kann aber auch jener tyrannische
Wille eines Schwer-Leidenden sein, welcher das Persönlichste, Einzelnste,
Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz
und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt,
dadurch daß er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur aufdrückt, einzwängt,
einbrennt. Letzteres ist romantischer Pessimismus in der ausdrucksvollsten Form:
....Ders., Der Wille zur Macht, S. 568-569 |
Ob
nicht hinter dem Gegensatz von klassisch und romantisch der Gegensatz des Aktiven
und Reaktiven verborgen liegt?Ders., Der Wille zur Macht, S. 569 |
Um
Klassiker zu sein, muß man alle starken, anscheinend widerspruchsvollen
Gaben und Begierden haben: aber so, daß sie miteinander unter einem Joche
gehen; zur rechten Zeit kommen, um ein Genus von Literatur oder Kunst oder Politik
auf seine Höhe und Spitze zu bringen (nicht nachdem dies schon geschehen
ist...): einen Gesamtzustand (sei es eines Volkes, sei es einer Kultur)
in seiner tiefsten und innersten Seele widerspiegeln, zu einer Zeit, wo er noch
besteht und noch nicht überfärbt ist von der Nachahmung des Fremden
(oder noch abhängig ist ...); kein reaktiver, sondern ein schließender
und vorwärtsführender Geist sein, ja sagend in allen Fällen, selbst
mit seinem Haß. »Es gehört dazu nicht der höchste persönliche
Wert?« .... Vielleicht zu erwägen, ob die moralischen Vorurteile hier
nicht ihr Spiel spielen und ob große moralische Höhe nicht vielleicht
an sich ein Widerspruch gegen das Klassische ist? .... Ob nicht
die moralischen Monstra notwendig Romantiker sein müssen, in Wort
und Tat? .... Ein solches Übergewicht einer Tugend über die anderen
(wie beim moralischen Monstrum) steht eben der klassischen Macht im Gleichgewicht
feindlich entgegen: gesetzt, man hätte diese Höhe und wäre trotzdem
Klassiker, so dürfte dreist geschlossen werden, man besitze auch die Immoralität
auf gleicher Höhe: ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 569-570 |
Die
Romantiker in Deutschland protestieren nicht gegen den Klassizismus, sondern
gegen Vernunft, Aufklärung, Geschmack, achtzehntes Jahrhundert.Ders., Der Wille zur Macht, S. 571 |
Die
Wohltat besteht im Anblick der großartigen Indifferenz der Natur gegen
Gut und Böse. Keine Gerechtigkeit in der Geschichte, keine Güte in der
Natur: deshalb geht der Pessimist, falls er Artist ist, dorthin, in historicis,
wo die Absenz der Gerechtigkeit selber noch mit großartiger Naivität
sich zeigt, wo gerade die Vollkommenheit zum Ausdruck kommt , und
insgleichen in der Natur dorthin, wo der böse und indifferente Charakter
sich nicht verfehlt, wo sie den Charakter der Vollkommenheit darstellt
.... Der nihilistische Künstler verrät sich im Wollen zum Bevorzugen
der zynischen Geschichte, der zynischen Natur.Ders., Der Wille zur Macht, S. 571-572 |
Die
Kunst in der »Geburt der Tragödie«IDie
Konzeption des Werks, auf welche man in dem Hintergrunde dieses Buches stößt,
ist absonderlich düster und unangenehm: unter den bisher bekannt gewordnen
Typen des Pessimismus scheint keiner diesen Grad von Bösartigkeit erreicht
zu haben. Hier fehlt der Gegensatz einer wahren und einer scheinbaren Welt: es
gibt nur eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch,
ohne Sinn. .... Eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt. Wir haben Lüge
nötig, um über diese Realität, diese »Wahrheit« zum
Sieg zu kommen, das heißt, um zu leben. .... Daß die Lüge nötig
ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen
Charakter des Daseins.Die Metaphysik, die Moral,
die Religion, die Wissenschaft sie werden in diesem Buche nur als verschiedne
Formen der Lüge in Betracht gezogen: mit ihrer Hilfe wird ans Leben geglaubt.
»Das Leben soll Vertrauen einflößen«: die Aufgabe, so gestellt,
ist ungeheuer. Um sie zu lösen, muß der Mensch schon von Natur Lügner
sein, er muß mehr als alles andere Künstler sein. Und er ist es auch:
Metaphysik, Religion, Moral, Wissenschaft alles nur Ausgeburten seines
Willens zur Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der »Wahrheit«, zur
Verneinung der »Wahrheit«. Das Vermögen selbst, dank dem
er die Realität durch die Lüge vergewaltigt, dieses Künstler-Vermögen
des Menschen par excellence er hat es noch mit allem, was ist, gemein.
Er selbst ist ja ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit, Natur: wie sollte er nicht
auch ein Stück Genie der Lüge sein!Daß
der Charakter des Daseins verkannt werde tiefste und höchste Geheim-Absicht
hinter allem, was Tugend, Wissenschaft, Frömmigkeit, Künstlertum ist.
Vieles niemals sehn, vieles falsch sehn, vieles hinzusehn: o wie klug man noch
ist, in Zuständen, wo man am fernsten davon ist, sich für klug zu halten!
Die Liebe, die Begeisterung, »Gott« lauter Feinheiten des letzten
Selbstbetrugs, lauter Verführungen zum Leben, lauter Glaube an das Leben!
In Augenblicken, wo der Mensch zum Betrognen ward, wo er sich überlistet
hat, wo er ans Leben glaubt: o wie schwillt es da in ihm auf! Welches Entzücken!
Welches Gefühl von Macht! Wieviel Künstler-Triumph im Gefühl der
Macht! .... Der Mensch ward wieder einmal Herr über den »Stoff«
Herr über die Wahrheit! .... Und wann immer der Mensch sich freut,
er ist immer der gleiche in seiner Freude: er freut sich als Künstler, er
genießt sich als Macht, er genießt die Lüge als seine Macht ....IIDie
Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des
Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans
des Lebens.Die Kunst als einzig überlegene
Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche,
Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.Die
Kunst als die Erlösung des Erkennenden dessen, der den furchtbaren
und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehen will, des Tragisch-Erkennenden.Die
Kunst als die Erlösung des Handelnden dessen, der den furchtbaren
und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben
will, des tragisch-kriegerischen Menschen, des Helden.Die
Kunst als die Erlösung des Leidenden als Weg zu Zuständen,
wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine
Form der großen Entzückung ist.IIIMan
sieht, daß in diesem Buche der Pessimismus, sagen wir deutlicher der Nihilismus,
als die »Wahrheit« gilt. Aber die Wahrheit gilt nicht als oberstes
Wertmaß, noch weniger als oberste Macht. Der Wille zum Schein, zur Illusion,
zur Täuschung, zum Werden und Wechseln (zur objektivierten Täuschung)
gilt hier als tiefer, ursprünglicher, »metaphysischer« als der
Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Schein letzterer ist selbst bloß
eine Form des Willens zur Illusion. Ebenso gilt die Lust als ursprünglicher
als der Schmerz: der Schmerz erst als bedingt, als eine Folgeerscheinung des Willens
zur Lust (des Willens zum Werden, Wachsen, Gestalten, d.h. zum Schaffen:
im Schaffen ist aber das Zerstören eingerechnet). Es wird ein höchster
Zustand von Bejahung des Daseins konzipiert, aus dem auch der höchste Schmerz
nicht abgerechnet werden kann: der tragisch-dionysische Zustand.IVDies
Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in dem Sinne, daß
es etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus, das »göttlicher«
ist als die Wahrheit: die Kunst. Niemand würde, wie es scheint, einer radikalen
Verneinung des Lebens, einem wirklichen Neintun noch mehr als einem Neinsagen
zum Leben ernstlicher das Wort reden, als der Verfasser dieses Buches. Nur weiß
er er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts anderes erlebt! daß
die Kunst mehr wert ist, als die Wahrheit.In
der Vorrede bereits, mit der Richard Wagner wie zu einem Zwiegespräche eingeladen
wird, erscheint dies Glaubensbekenntnis, dies Artisten-Evangelium: »die
Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische
Tätigkeit ....«Ders., Der Wille zur Macht, S. 575-578 |
Ich
bin dazu gedrängt, im Zeitalter ..., wo jeder über jeden und jedes zu
Gericht sitzen darf, die Rangordnung wiederherzustellen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 581 |
Ramg
bestimmend, Rang abhebend sind allein Macht-Quantitäten: und nichts sonst.Ders., Der Wille zur Macht, S. 581 |
Der
Wille zur Macht. Wie die Menschen beschaffen sein müßten,
welche diese Umwertung an sich vornehmen. Die Rangordnung als Machtordnung: Krieg
und Gefahr die Voraussetzung, daß ein Rang seine Bedingungen festhält.
Das grandiose Vorbild: der Mensch in der Natur das schwächste, klügste
Wesen sich zum Herrn machend, die dümmeren Galten sich unterjochend.Ders., Der Wille zur Macht, S. 581 |
Ich
unterscheide einen Typus des aufsteigenden Lebens und einen andern des Verfalls,
der Zersetzung, der Schwäche. Sollte man glauben, daß die Rangfrage
zwischen beiden Typen überhaupt noch zu stellen ist?Ders., Der Wille zur Macht, S. 581 |
Über
den Rang entscheidet das Quantum Macht, das du bist; der Rest ist Feigheit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 582 |
Vorteil
eines Abseits von seiner Zeit. Abseits gestellt gegen die beiden Bewegungen,
die individualistische und die kollektivistische Moral denn auch die erste
kennt die Rangordnung nicht und will dem einen die gleiche Freiheit geben wie
allen. Meine Gedanken drehen sich nicht um den Grad von Freiheit, der dem einen
oder dem anderen oder allen zu gönnen ist, sondern um den Grad von Macht,
den einer oder der andere über andere oder alle üben soll, resp. inwiefern
eine Opferung von Freiheit, eine Versklavung selbst, zur Hervorbringung eines
höheren Typus die Basis gibt. In gröbster Form gedacht: wie
könnte man die Entwicklung der Menschheit opfern, um einer höheren
Art, als der Mensch ist, zum Dasein zu helfen?Ders., Der Wille zur Macht, S. 582 |
Vom
Range. Die scheckliche Konsequenz der »Gleichheit«
schließlich glaubt jeder das Recht zu haben zu jedem Problem. Es ist alle
Rangordnung verlorengegangenen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 582 |
Eine
Kriegserklärung der höheren Menschen an die Massen ist nötig! Überall
geht das Mittelmäßige zusammen, um sich zum Hernn zu machen! Alles,
was verweichlicht, sanft macht, das »Volk« zur Geltung bringt oder
das »Weibliche«, wirkt zugunsten ... der Herrschaft der neideren Menschen.
Aber wir wollen Repressalien übern und diese ganze Wirtschaft (die in Europa
mit dem Chrisrtentum anhebt) ans Licht und vors Gericht brngen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 582-583 |
Es
bedarf einer Lehre, starkt genug, um züchtend zu wirken: stärkend für
die Starken. lähmend und zerbrechend für die Weltmüden. Die Vernichtung
der verfallenden Rassen. Verfall Europas. Die Vernichtung der sklavenhaften
Wertschätzungen. Die Herrschaft über die Erde, als Mittel zur
Erzeugung eines höheren Typus. Die Vernichtung der Tartüfferie,
welche »Moral« heißt (das Christentum als eine hysterische Art
von Ehrlichkeit hierin: Augustin, Bunyan). Die Vernichtung ... des Systems,
vermöge dessen die niedrigsten Naturen sich als Gesetz den höheren vorschreiben.
Die Vernichtung der Mittelmäßigkeit und ihrer Geltung. (Die
Einseitigen, einzelne Völker; Fülle der Natur zu erstreben durch
Paarung von Gegensätzen: Rassen-Mischungen dazu.) Der neue Mut
keine apriorischen Wahrheiten (solche suchten die an Glauben Gewöhnten!),
sondern freie Unterordnung unter einen herrschenden Gedanken, der seine Zeit hat,
z.B. Zeit als Eigenschaft des Raumes usw.Ders., Der Wille zur Macht, S. 583 |
Der
Begriff »starker und schwacher Mensch« reduziert sich darauf,
daß im ersten Falle viel Kraft vererbt ist er ist eine Summe: im
andern noch wenig ( unzureichende Vererbung, Zersplitterung
des Ererbten). Die Schwäche kann ein Anfangs-Phänomen sein: »noch
wenig«; oder ein End-Phänomen: »nicht mehr«.
Der Ansatz-Punkt ist der, wo große Kraft ist, wo Kraft auszugeben
ist. Die Masse, als die Summe der Schwachen, reagiert langsam; wehrt sich
gegen vieles, für das sie zu schwach ist von dem sie keinen Nutzen
haben kann; schafft nicht, geht nicht voran. Dies gegen die Theorie,
welche das starke Individuum leugnet und meint »die Masse tut's«.
Es ist die Differenz wie zwischen getrennten Geschlechtern: es können vier,
fünf Generationen zwischen dem Tätigen und der Masse liegen eine
chronologische Differenz. Die Werte der Schwachen sind obenan, weil
die Starken sie übernommen haben, um damit zu leiten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 583-584 |
Warum
die Schwachen siegen. In summa: die Kranken und Schwachen haben mehr
Mitgefühl, sind »menschlicher« : die Kranken und Schwachen
haben mehr Geist, sind wechselnder, vielfacher, unterhaltender boshafter:
die Kranken allein haben die Bosheit erfunden. (Eine krankhafte Frühreife
häufig bei Rhachitischen, Skrophulosen und Tuberkulosen .)Die
Kranken und Schwachen haben die Faszination für sich gehabt: sie sind interessanter
als die Gesunden: der Narr und der Heilige die zwei interessantesten Arten
Mensch ..., in enger Verwandtschaft das »Genie«. Die großen
»Abenteurer und Verbrecher« und alle Menschen, die gesündesten
voran, sind gewisse Zeiten ihres Lebens krank die großen Gemütsbewegungen,
die Leidenschaft der Macht, die Liebe, die Rache sind von tiefen Störungen
begleitet. Und was die décadence betrifft, so stellt sie jeder Mensch,
der nicht zu früh stirbt, in jedem Sinne beinahe dar, er kennt also
auch die Instinkte, welche zu ihr gehören, aus Erfahrung für
die Hälfte fast jedes Menschenlebens ist der Mensch décadent.Endlich:
das Weib! Die eine Hälfte der Menschheit ist schwach, typisch-krank,
wechselnd, unbeständig das Weib braucht die Stärke, um sich an
sie zu klammern, und eine Religion der Schwäche, welche es als göttlich
verherrlicht, schwach zu sein, zu lieben, demütig zu sein : oder besser,
es macht die Starken schwach es herrscht, wenn es gelingt, die
Starken zu überwältigen. Das Weib hat immer mit den Typen der
décadence, den Priestern, zusammen konspiriert gegen die »Mächtigen«,
die »Starken«, die Männer . Das Weib bringt die
Kinder beiseite für den Kultus der Pietät, des Mitleids, der Liebe
die Mutter repräsentiert den Altruismus überzeugend.Endlich:
die zunehmende Zivilisation, die zugleich notwendig auch die Zunahme der
morbiden Elemente, des Neurotisch-Psychiatrischen und des Kriminalistischen
mit sich bringt. Eine Zwischen-Spezies entsteht, der Artist, von der Kriminalität
der Tat durch Willensschwäche und soziale Furchtsamkeit abgetrennt, insgleichen
noch nicht reif für das Irrenhaus, aber mit seinen Fühlhörnern
in beide Sphären neugierig hineingreifend: diese spezifische Kulturpflanze,
der moderne Artist, Maler, Musiker, vor allem Romancier, der für seine Art,
zu sein, das sehr uneigentliche Wort »Naturalismus« handhabt... Die
Irren, die Verbrecher und die »Naturalisten« nehmen zu: Zeichen einer
wachsenden und jäh vorwärts eilenden Kultur d.h. der Ausschuß,
der Abfall, die Auswurfstoffe gewinnen Importanz, das Abwärts hält
Schritt.Endlich: der soziale Mischmasch,
Folge der Revolution, der Herstellung gleicher Rechte, des Aberglaubens an »gleiche
Menschen«. Dabei mischen sich die Träger der Niedergangs-Instinkte
(des Ressentiments, der Unzufriedenheit, des Zerstörer-Triebes, des Anarchismus
und Nihilismus), eingerechnet der Sklaven-Instinkte, der Feigheits-, Schlauheits-
und Kanaillen-Instinkte der lange unten gehaltenen Schichten in alles Blut aller
Stände hinein: zwei, drei Geschlechter darauf ist die Rasse nicht mehr
zu erkennen (darauf steuern derzeit dle Abendländer
zu, wie man deutlich sehen kann! HB) alles ist verpöbelt.
Hieraus resultiert ein Gesamtinstinkt gegen die Auswahl, gegen das Privilegium
jeder Art, von einer Macht und Sicherheit, Härte, Grausamkeit der Praxis,
daß in der Tat sich alsbald selbst die Privilegierten unterwerfen
was noch Macht festhalten will, schmeichelt dem Pöbel, arbeitet mit
dem Pöbel, muß den Pöbel auf seiner Seite haben , die »Genies«
voran: sie werden Herolde der Gefühle, mit denen man Massen begeistert
die Note des Mitleids, der Ehrfurcht selbst vor allem, was leidend, niedrig,
verachtet, verfolgt gelebt hat, klingt über alle andern Noten weg (Typen:
Victor Hugo und Richard Wagner). Die Heraufkunft des Pöbels bedeutet
noch einmal die Heraufkunft der alten Werte.Bei
einer solchen extremen Bewegung in Hinsicht auf Tempo und Mittel, wie sie unsre
Zivilisation darstellt, verlegt sich das Schwergewicht der Menschen: der
Menschen, auf die es am meisten ankommt, die es gleichsam auf sich haben, die
ganze große Gefahr einer solchen krankhaften Bewegung zu kompensieren
es werden die Verzögerer par excellence, die Langsam-Aufnehmenden,
die Schwer-Loslassenden, die Relativ-Dauerhaften inmitten dieses ungeheuren Wechselns
und Mischens von Elementen sein. Das Schwergewicht fällt unter solchen Umständen
notwendig den Mediokren zu: gegen die Herrschaft des Pöbels und der
Exzentrischen (beide meist verbündet) konsolidiert sich die Mediokrität,
als die Bürgschaft und Trägerin der Zukunft. Daraus erwächst für
die Ausnahme-Menschen ein neuer Gegner oder aber eine neue Verführung.
Gesetzt, daß sie sich nicht dem Pöbel anpassen und dem Instinkte der
»Enterbten« zu Gefallen Lieder singen, werden sie nötig haben,
»mittelmäßig« und »gediegen« zu sein. Sie wissen:
die mediocritas ist auch aurea sie allein sogar verfügt über
Geld und Gold ( über alles, was glänzt ....) .... Und noch
einmal gewinnt die alte Tugend, und überhaupt die ganze verlebte Welt des
Ideals eine begabte FürsprecHerrschaft .... Resultat: die Mediokrität
bekommt Geist, Witz, Genie sie wird unterhaltend, sie verführt.Resultat.
Eine hohe Kultur kann nur stehen auf einem breiten Boden, auf einer stark
und gesund konsolidierten Mittelmäßigkeit. In ihrem Dienste und von
ihr bedient arbeitet die Wissenschaft und selbst die Kunst. Die Wissenschaft
kann es sich nicht besser wünschen: sie gehört als solche zu einer mittleren
Art Mensch sie ist deplaziert unter Ausnahmen , sie hat nichts Aristokratisches
und noch weniger etwas Anarchistisches in ihren Instinkten. Die Macht der
Mitte wird sodann aufrecht gehalten durch den Handel, vor allem den Geldhandel:
der Instinkt der Großfinanziers geht gegen alles Extreme die Juden
sind deshalb einstweilen die konservierendste Macht in unserm so bedrohten
und unsicheren Europa (als ob nur Juden Großfinanziers
wären! Nein, unter ihnen gab und gibt es mehr Revolutionäre und Sozialisten,
als es den Anschein hatte und hat! HB) . Sie können weder Revolutionen
brauchen, noch Sozialismus, noch Militarismus: wenn sie Macht haben wollen und
brauchen, auch über die revolutionäre Partei, so ist dies nur eine Folge
des Vorhergesagten und nicht im Widerspruch dazu. Sie haben nötig, gegen
andere extreme Richtungen gelegentlich Furcht zu erregen dadurch, daß
sie zeigen, was alles in ihrer Hand steht. Aber ihr Instinkt selbst ist unwandelbar
konservativ und »mittelmäßig« .... Sie wissen überall,
wo es Macht gibt, mächtig zu sein: aber die Ausnützung ihrer Macht geht
immer in einer Richtung. Das Ehren-Wort für mittelmäßig ist bekanntlich
das Wort »liberal«Besinnung.
Es ist unsinnig, vorauszusetzen, daß dieser ganze Sieg der Werte
antibiologisch sei: man muß suchen, ihn zu erklären aus einem Interesse
des Lebens, zur Aufrechterhaltung des Typus »Mensch« selbst durch
diese Methodik der Überherrschaft der Schwachen und Schlechtweggekommenen
: im andern Falle existierte der Mensch nicht mehr? Problem
Die Steigerung des Typus verhängnisvoll
für die Erhaltung der Art? Warum? Es
zeigen die Erfahrungen der Geschichte: die starken Rassen dezimieren sich gegenseitig:
durch Krieg, Machtbegierde, Abenteuer; die starken Affekte: die Vergeudung
(es wird Kraft nicht mehr kapitalisiert, es entsteht die geistige Störung
durch die übertriebene Spannung); ihre Existenz ist kostspielig, kurz
sie reiben sich untereinander auf ; es treten Perioden tiefer Abspannung
und Schlaffheit ein: alle großen Zeiten werden bezahlt .... Die Starken
sind hinterdrein schwächer, willenloser, absurder, als die durchschnittlich-Schwachen.Es
sind verschwenderische Rassen. Die »Dauer« an sich hätte
ja keinen Wert: man möchte wohl eine kürzere, aber wertreichere
Existenz der Gattung vorziehen. Es bliebe übrig, zu beweisen, daß
selbst so ein reicherer Wertertrag erzielt würde als im Fall der kürzeren
Existenz; d.h. der Mensch als Aufsummierung von Kraft gewinnt ein viel höheres
Quantum von Herrschaft über die Dinge, wenn es so geht, wie es geht ....
Wir stehen vor einem Problem der Ökonomie Ders., Der Wille zur Macht, S. 584-589 |
Eine
Gesinnung, die sich »Idealismus« nennt und die der Mittelmäßigkeit
nicht erlauben will, mittelmäßig zu sein, und dem Weibe nicht, Weib
zu sein! Nicht uniformieren! Uns klarmachen, wie teuer eine Tugend zu
stehen kommt: und daß Tugend nichts Durchschnittlich-Wünschenswertes,
sondern eine noble Tollheit, eine schöne Ausnahme, mit dem Vorrecht,
stark-gestimmt zu werden.Ders., Der Wille zur Macht, S. 589 |
Die
Notwendigkeit zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren
Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester ineinander verschlungenen
»Maschinerie« der Interessen und Leistungen eine Gegenbewegung
gehört. Ich bezeichne dieselbe als Ausscheidung eines Luxus-Überschusses
der Menschheit: in ihr soll eine stärkere Art, ein höherer Typus ans
Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der
Durchschnitts-Mensch. Mein Begriff, mein Gleichnis für diesen Typus ist,
wie man weiß, das Wort »Übermensch«.Auf
jenem ersten Wege, der vollkommen jetzt überschaubar ist, entsteht die Anpassung,
die Abflachung, das höhere Chinesentum, die Instinkt-Bescheidenheit, die
Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen eine Art Stillstands-Niveau
des Menschen. Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende Wirtschafts-Gesamtverwaltung
der Erde, dann kann die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren
besten Sinn finden: als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren,
immer feiner »anzupassenden« Rädern; als ein immer wachsendes
Überflüssig-werden aller dominierenden und kommandierenden Elemente;
als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Kräfte,
Minimal-Werte darstellen.Im Gegensatz zu
dieser Verkleinerung und Anpassung der Menschen an eine spezialisiertere Nützlichkeit
bedarf es der umgekehrten Bewegung der Erzeugung des synthetischen,
des summierenden, des rechtfertigenden Menschen, für den jene
Machinalisierung der Menschheit eine Daseins-Vorausbedingung ist, als ein Untergestell,
auf dem er seine höhere Form zu sein sich erfinden kann.Er
braucht die Gegnerschaft der Menge, der »Nivellierten«, das Distanz-Gefühl
im Vergleich zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere
Form des Aristokratismus ist die der Zukunft. Moralisch geredet, stellt
jene Gesamt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein Maximum in
der Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setzt solche voraus, derentwegen diese
Ausbeutung Sinn hat. Im anderen Falle wäre sie tatsächlich bloß
die Gesamt-Verringerung, Wert-Verringerung des Typus Mensch, ein Rückgangs-Phänomen
im größten Stile. Man sieht,
was ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus; wie als ob
mit den wachsenden Unkosten aller auch der Nutzen aller notwendig wachsen müßte.
Das Gegenteil scheint mir der Fall: die Unkosten aller summieren sich zu einem
Gesamt-Verlust: der Mensch wird geringer so daß man nicht mehr weiß,
wozu überhaupt dieser ungeheure Prozeß gedient hat. Ein Wozu? ein neues
Wozu? das ist es, was die Menschheit nötig hat.Ders., Der Wille zur Macht, S. 589-591 |
Einsicht
in die Zunahme der Gesamt-Macht: ausrechnen, inwiefern auch der Niedergang
von Einzelnen, von Ständen, von Zeiten, Völkern einbegriffen ist
in diesem Wachstum. Verschiebung des Schwergewichts einer Kultur. Die Unkosten
jedes großen Wachstums: wer sie trägt! Inwiefern sie jetzt ungeheuer
sein müssen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 591 |
Gesamt-Anblick
des zukünftigen Europäers: derselbe als das intelligenteste Sklaventier,
sehr arbeitsam, im Grunde sehr bescheiden, bis zum Exzeß neugierig, vielfach,
verzärtelt, willensschwach ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzen-Chaos.
Wie möchte sich aus ihm eine stärkere Art herausheben? Eine solche
mit klassischem Geschmack? Der klassische Geschmack: das ist der Wille zur Vereinfachung,
Verstärkung, zur Sichtbarkeit des Glücks, zur Furchtbarkeit, der Mut
zur psychologischen Nacktheit ( die Vereinfachung ist eine Konsequenz des
Willens zur Verstärkung; das Sichtbar-werdenlassen des Glücks, insgleichen
der Nacktheit, eine Konsequenz des Willens zur Furchtbarkeit ...). Um sich aus
jenem Chaos zu dieser Gestaltung emporzukämpfen dazu bedarf
es einer Nötigung: man muß die Wahl haben, entweder zugrunde
zu gehn oder sich durchzusetzen. Eine herrschaftliche Rasse kann nur aus
furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen. Problem: wo sind die Barbaren
des zwanzigsten Jahrhunderts? Offenbarwerden sie erst nach ungeheuren sozialistischen
Krisen sichtbar werden und sich konsolidieren es werden die Elemente sein,
die der größten Härte gegen sich selber fähig sind,
und den längsten Willen garantieren können.Ders., Der Wille zur Macht, S. 591-592 |
Die
mächtigsten und gefährlichsten Leidenschaften des Menschen, an denen
er am leichtesten zugrunde geht, sind so gründlich in Acht getan, daß
damit die mächtigsten Menschen selber unmöglich geworden sind oder sich
als böse, als »schädlich und unerlaubt« fühlen mußten.
Diese Einbuße ist groß, aber notwendig bisher gewesen: jetzt, wo eine
Menge Gegenkräfte großgezüchtet sind durch zeitweilige Unterdrückung
jener Leidenschaften (von Herrschsucht, Lust an der Verwandlung und Täuschung)
ist deren Entfesselung wieder möglich: sie werden nicht mehr die alte Wildheit
haben. Wir erlauben uns die zahme Barbarei: man sehe unsre Künstler und Staatsmänner
an.Ders., Der Wille zur Macht, S. 592 |
Die
Wurzel alles Üblen: daß die sklavische Moral der Demut, Keuschheit,
Selbstlosigkeit, absoluten Gehorsams gesiegt hat die herrschenden Naturen
wurden dadurch1. zur Heuchelei,2.
zur Gewissensqual verurteilt die schaffenden Naturen fühlten sich
als Aufrührer gegen Gott, unsicher und gehemmt durch die ewigen Werte.Die
Barbaren zeigten, daß Maßhalten-können bei ihnen nicht
zu Hause war: sie fürchteten und verlästerten die Leidenschaften und
Triebe der Natur ebenso der Anblick der herrschenden Cäsaren und Stände.
Es entstand andrerseits der Verdacht, daß alle Mäßigung eine
Schwäche sei, oder Alt- und Müdewerden ( so hat Larochefoucauld
den Verdacht, daß »Tugend« ein schönes Wort sei bei solchen,
welchen das Laster keine Lust mehr mache). Das Maßhalten selber war als
Sache der Härte, Selbstbezwingung, Askese geschildert, als Kampf mit dem
Teufel usw.. Das natürliche Wohlgefallen der ästhetischen Natur am Maße,
der Genuß am Schönen des Maßes war übersehen
oder verleugnet, weil man eine anti-eudämonistische Moral wollte.
Der Glaube an die Lust im Maßhalten fehlte bisher diese Lust
des Reiters auf feurigem Rosse! Die Mäßigkeit schwacher Naturen
mit der Mäßigung der starken verwechselt! In summa: die besten
Dinge sind verlästert worden, weil die Schwachen oder die unmäßigen
Schweine ein schlechtes Licht darauf warfen und die besten Menschen sind
verborgen geblieben und haben sich oft selber verkannt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 592-593 |
Die
Kirche hat deutsche Kaiser auf Grund ihrer Laster in Bann getan: als ob ein Mönch
oder Priester über das mitreden dürfte, was ein Friedrich der Zweite
von sich fordern darf. Ein Don Juan wird in die Hölle geschickt: das ist
sehr naiv. Hat man bemerkt, daß im Himmel alle interessanten Menschen fehlen?
... Nur ein Wink für die Weiblein, wo sie ihr Heil am besten finden.
Denkt man ein wenig konsequent und außerdem mit einer vertieften Einsicht
in das, was ein »großer Mensch« ist, so unterliegt es keinem
Zweifel, daß die Kirche alle »großen Menschen« in die
Hölle schickt , sie kämpft gegen alle »Größe
des Menschen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 594 |
Die
Rechte, die ein Mensch sich nimmt, stehn im Verhältnis zu den Pflichten,
die er sich stellt, zu den Aufgaben, denen er sich gewachsen fühlt.
Die allermeisten Menschen sind ohne Recht zum Dasein, sondern ein Unglück
für die höheren.Ders., Der Wille zur Macht, S. 594-595 |
Mißverständnis
des Egoismus: von seiten der gemeinen Naturen, welche gar nichts von der Eroberungslust
und Unersättlichkeit der großen Liebe wissen, ebenso von den ausströmenden
Kraft-Gefühlen, welche überwältigen, zu sich zwingen, sich ans
Herz legen wollen der Trieb des Künstlers nach seinem Material. Oft
auch nur sucht der Tätigkeitssinn nach einem Terrain. Im gewöhnlichen
»Egoismus« will gerade das »Nicht-ego«, das tiefe Durchschnittswesen,
der Gattungsmensch seine Erhaltung das empört, falls es von den Seltneren,
Feineren und weniger Durchschnittlichen wahrgenommen wird. Denn diese urteilen:
»Wir sind die Edleren! Es liegt mehr an unserer Erhaltung
als an der jenes Viehs!«Ders., Der Wille zur Macht, S. 595 |
Die
Entartung der Herrscher und der herrschenden Stände hat den größten
Unfug in der Geschichte gestiftet! Ohne die römischen Cäsaren und die
römische Gesellschaft wäre das Christentum nicht zur Herrschaft gekommen.
Wenn die geringeren Menschen der Zweifel anfällt, ob es höhere Menschen
gibt, da ist die Gefahr groß! Und man endet zu entdecken, daß es auch
bei den geringen, unterworfenen, geistesarmen Menschen Tugenden gibt und daß
vor Gott die Menschen gleich stehn: was das non plus ultra des Blödsinns
bisher auf Erden gewesen ist! Nämlich die höheren Menschen maßen
sich selber schließlich nach dem Tugend-Maßstab der Sklaven
fanden sich »stolz« usw., fanden alle ihre höheren Eigenschaften
als verwerflich. Als Nero und Caracalla oben saßen, entstand die Paradoxie
»der niedrigste Mensch ist mehr wert als der da oben!« Und ein
Bild Gottes brach sich Bahn, welches möglichst entfernt war vom Bilde
der Mächtigsten der Gott am Kreuze!Ders., Der Wille zur Macht, S. 595-596 |
Der
höhere Mensch und der Herden-Mensch. Wenn die großen Menschen
fehlen, so macht man aus den vergangenen großen Menschen Halbgötter
oder ganze Götter: das Ausbrechen von Religion beweist, daß der Mensch
nicht mehr am Menschen Lust hat ( »und am Weibe auch nicht«
mit Hamlet). Oder: man bringt viele Menschen auf einen Haufen, als Parlamente,
und wünscht, daß sie gleich tyrannisch wirken.Das »Tyrannisierende«
ist die Tatsache großer Menschen: sie machen den Geringeren dumm.Ders., Der Wille zur Macht, S. 596 |
Bis
zu welchem Grade die Unfähigkeit eines pöbelhaften Agitators der Menge
geht, sich den Begriff »höhere Natur« klar zu machen, dafür
gibt Buckle das beste Beispiel ab. Die Meinung, welche er so leidenschaftlich
bekämpft daß »große Männer«, Einzelne,
Fürsten, Staatsmänner, Genies, Feldherrn die Hebel und Ursachen aller
großen Bewegungen sind wird von ihm instinktiv dahin mißverstanden,
als ob mit ihr behauptet würde, das Wesentliche und Wertvolle an einem solchen
»höheren Menschen« liege eben in der Fähigkeit, Massen in
Bewegung zu setzen: kurz in ihrer Wirkung .... Aber die »höhere
Natur« des großen Mannes liegt im Anderssein, in der Unmitteilbarkeit,
in der Rangdistanz nicht in irgendwelchen Wirkungen: und ob er auch
den Erdball erschütterte.Ders., Der Wille zur Macht, S. 596-597 |
Die
Revolution ermöglichte Napoleon: das ist ihre Rechtfertigung. Um einen ähnlichen
Preis würde man den anarchistischen Einsturz unsrer ganzen Zivilisation wünschen
müssen. Napoleon ermöglichte den Nationalismus: das ist dessen Entschuldigung.Der
Wert eines Menschen (abgesehen, wie billig, von Moralität und Unmoralität:
denn mit diesen Begriffen wird der Wert eines Menschen noch nicht einmal berührt)
liegt nicht in seiner Nützlichkeit: denn er bestünde fort, selbst wenn
es niemanden gäbe, dem er zu nützen wüßte. Und warum könnte
nicht gerade der Mensch, von dem die verderblichsten Wirkungen ausgingen, die
Spitze der ganzen Spezies Mensch sein: so hoch, so überlegen, daß an
ihm alles vor Neid zugrunde ginge?Ders., Der Wille zur Macht, S. 597 |
Den
Wert eines Menschen danach abschätzen, was er den Menschen nützt oder
kostet oder schadet: das bedeutet ebensoviel und ebensowenig, als ein Kunstwerk
abschätzen je nach den Wirkungen, die es tut. Aber damit ist der Wert des
Menschen im Vergleich mit anderen Menschen gar nicht berührt. Die
»moralische Wertschätzung«, soweit sie eine soziale ist,
mißt durchaus den Menschen nach seinen Wirkungen. Ein Mensch mit seinem
eigenen Geschmack auf der Zunge, umschlossen und versteckt durch seine Einsamkeit,
unmitteilbar, unmitteilsam ein unausgerechneter Mensch, also ein
Mensch einer höheren, jedenfalls anderen Spezies: wie wollt ihr den
abwerten können, da ihr ihn nicht kennen könnt, nicht vergleichen könnt?
Die moralische Abwertung hat die größte Urteils-Stumpfheit im
Gefolge gehabt: der Wert eines Menschen an sich ist unterschätzt, fast
übersehen, fast geleugnet. Rest der naiven Teleologie: der Wert des
Menschen nur in Hinsicht auf die Menschen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 597-598 |
Die
moralische Präokkupation stellt einen Geist tief in der Rangordnung:
damit fehlt ihm der Instinkt des Sonderrechts, das a parte, das Freiheits-Gefühl
der schöpferischen Naturen, der »Kinder Gottes« (oder des Teufels
). Und gleichgültig, ob er herrschende Moral predigt oder sein Ideal
zur Kritik der herrschenden Moral anlegt: er gehört damit zur Herde
und sei es auch als deren oberster Notbedarf, als »Hirt«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 598 |
Ersatz
der Moral durch den Willen zu unserem Ziele, und folglich zu dessen
Mitteln.Ders., Der Wille zur Macht, S. 598 |
Zur
Rangordnung. Was ist am typischen Menschen mittelmäßig?
Daß er nicht die Kehrseite der Dinge als notwendig versteht: daß er
die Übelstände bekämpft, wie als ob man ihrer entraten könne;
daß er das eine nicht mit dem anderen hinnehmen will daß er
den typischen Charakter eines Dinges, eines Zustandes, einer Zeit, einer
Person verwischen und auslöschen möchte, indem er nur einen Teil ihrer
Eigenschaften gutheißt und die andern abschaffen möchte. Die »Wünschbarkeit«
der Mittelmäßigen ist das, was von uns anderen bekämpft wird:
das Ideal gefaßt als etwas, an dem nichts Schädliches, Böses,
Gefährliches, Fragwürdiges, Vernichtendes übrigbleiben soll. Unsere
Einsicht ist die umgekehrte: daß mit jedem Wachstum des Menschen auch seine
Kehrseite wachsen muß, daß der höchste Mensch, gesetzt daß
ein solcher Begriff erlaubt ist, der Mensch wäre, welcher den Gegensatz-Charakter
des Daseins am stärksten darstellte als dessen Glorie und einzige Rechtfertigung...
Die gewöhnlichen Menschen dürfen nur ein ganz kleines Eckchen und Winkelchen
dieses Naturcharakters darstellen: sie gehen alsbald zugrunde, wenn die Vielfachheit
der Elemente und die Spannung der Gegensätze wächst, d. h. die Vorbedingung
für die Größe des Menschen. Daß der Mensch besser und böser
werden muß, das ist meine Formel für diese Unvermeidlichkeit. Die meisten
stellen den Menschen als Stücke und Einzelheiten dar: erst wenn man sie zusammenrechnet,
so kommt ein Mensch heraus. Ganze Zeiten, ganze Völker haben in diesem Sinne
etwas Bruchstückhaftes; es gehört vielleicht zur Ökonomie der Menschen-Entwicklung,
daß der Mensch sich stückweise entwickelt. Deshalb soll man durchaus
nicht verkennen, daß es sich trotzdem nur um das Zustande kommen des synthetischen
Menschen handelt: daß die niedrigen Menschen, die ungeheure Mehrzahl bloß
Vorspiele und Einübungen sind, aus deren Zusammenspiel hie und da der ganze
Mensch entsteht, der Meilenstein-Mensch, welcher anzeigt, wie weit bisher
die Menschheit vorwärts gekommen. Sie geht nicht in einem Striche vorwärts;
oft geht der schon erreichte Typus wieder verloren ( wir haben z. B. mit
aller Anspannung von drei Jahrhunderten noch nicht den Menschen der Renaissance
wieder erreicht, und hinwiederum blieb der Mensch der Renaissance hinter dem antiken
Menschen zurück).Ders., Der Wille zur Macht, S. 598-599 |
Man
erkennt die Überlegenheit des griechischen Menschen, des Renaissance-Menschen
an aber man möchte ihn ohne seine Ursachen und Bedingungen haben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 600 |
Die
»Reinigung des Geschmacks« kann nur die Folge einer Verstärkung
des Typus sein. Unsre Gesellschaft von heute repräsentiert nur
die Bildung; der Gebildete fehlt. Der große synthetische Mensch fehlt:
in dem die verschiedenen Kräfte zu einem Ziele unbedenklich ins Joch gespannt
sind. Was wir haben, ist der vielfache Mensch, das interessanteste Chaos,
das es vielleicht bisher gegeben hat: aber nicht das Chaos vor der Schöpfung
der Welt, sondern hinter ihr Goethe als schönster Ausdruck des Typus
( ganz und gar kein Olympier!).Ders., Der Wille zur Macht, S. 600 |
Händel,
Leibniz, Goethe, Bismarck für die deutsche starke Art charakteristisch.
Unbedenklich zwischen Gegensätzen lebend, voll jener geschmeidigen Stärke,
welche sich vor Überzeugungen und Doktrinen hütet, indem sie eine gegen
die andere benutzt und sich selber die Freiheit vorbehält.Ders., Der Wille zur Macht, S. 600 |
Soviel
habe ich begriffen: wenn man das Entstehen großer und seltener Menschen
abhängig gemacht hätte von der Zustimmung der vielen (einbegriffen,
daß diese wüßten, welche Eigenschaften zur Größe
gehören, und insgleichen, auf wessen Unkosten alle Größe sich
entwickelt) nun, es hätte nie einen bedeutenden Menschen gegeben!
Daß der Gang der Dinge unabhängig von der Zustimmung
der allermeisten seinen Weg nimmt: daran liegt es, daß einiges Erstaunliche
sich auf der Erde eingeschlichen hat.Ders., Der Wille zur Macht, S. 600-601 |
Die
Rangordnung der Menschen-Werte. a)
Man soll einen Menschen nicht nach einzelnen Werken abschätzen. Epidermal-Handlungen.
Nichts ist seltener als eine Personal-Handlung. Ein Stand, ein Rang, eine Volks-Rasse,
eine Umgebung, ein Zufall alles drückt sich eher noch in einem Werke
oder Tun aus als eine »Person«.b)
Man soll überhaupt nicht voraussetzen, daß viele Menschen »Personen«
sind. Und dann sind manche auch mehrere Personen, die meisten sind keine.
Überall, wo die durchschnittlichen Eigenschaften überwiegen, auf die
es ankommt, daß ein Typus fortbesteht, wäre Person-Sein eine
Vergeudung, ein Luxus, hätte es gar keinen Sinn, nach einer »Person«
zu verlangen. Es sind Träger, Transmissions-Werkzeuge.c)
Die »Person« ein relativ isoliertes Faktum; in Hinsicht auf
die weit größere Wichtigkeit des Fortflusses und der Durchschnittlichkeit
somit beinahe etwas Widernatürliches. Zur Entstehung der Person gehört
eine zeitige Isolierung, ein Zwang zu einer Wehr- und Waffen-Existenz, etwas wie
Einmauerung, eine größere Kraft des Abschlusses; und, vor allem, eine
viel geringere Impressionabilität, als sie der mittlere Mensch, dessen
Menschlichkeit kontagiös ist, hat.Erste
Frage in betreff der Rangordnung: wie solitär oder wie
herdenhaft jemand ist. (Im letztern Falle liegt sein Wert in den Eigenschaften,
die den Bestand seiner Herde, seines Typus sichern; im andern Falle in dem, was
ihn abhebt, isoliert, verteidigt und solitär ermöglicht.)Folgerung:
man soll den solitären Typus nicht abschätzen nach dem herdenhaften,
und den herdenhaften nicht nach dem solitären.Aus
der Höhe betrachtet sind beide notwendig; insgleichen ist ihr Antagonismus
notwendig, und nichts ist mehr zu verbannen als jene »Wünschbarkeit«,
es möchte sich etwas Drittes aus beiden entwickeln (»Tugend«
als Hermaphroditismus). Das ist so wenig »wünschbar« als die
Annäherung und Aussöhnung der Geschlechter. Das Typische fortentwickeln,
die Kluft immer tiefer aufreißen .... Begriff der Entartung
in beiden Fällen: wenn die Herde den Eigenschaften der solitären Wesen
sich nähert und diese den Eigenschaften der Herde kurz, wenn sie sich
annähern. Dieser Begriff der Entartung ist abseits von der moralischen
Beurteilung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 601-602 |
Wo
man die stärkeren Naturen zu suchen hat. Das Zugrundegehen und
Entarten der solitären Spezies ist viel größer und furchtbarer:
sie haben die Instinkte der Herde, die Tradition der Werte gegen sich; ihre Werkzeuge
zur Verteidigung, ihre Schutz-Instinkte sind von vornherein nicht stark, nicht
sicher genug es gehört viel Gunst des Zufalls dazu, daß sie
gedeihen ( sie gedeihen in den niedrigsten und gesellschaftlich preisgegebensten
Elementen am häufigsten; wenn man nach Person sucht, dort findet man
sie, um wie viel sicherer als in den mittleren Klassen!). Der Stände- und
Klassenkampf, der auf »Gleichheit der Rechte« abzielt ist er
ungefähr erledigt, so geht der Kampf los gegen die Solitär-Person.
(In einem gewissen Sinne kann dieselbe sich am leichtesten in einer demokratischen
Gesellschaft erhalten und entwickeln: dann, wenn die gröberen Verteidigungs-Mittel
nicht mehr nötig sind und eine gewisse Gewöhnung an Ordnung, Redlichkeit,
Gerechtigkeit, Vertrauen zu den Durchschnittsbedingungen gehört.) Die Stärksten
müssen am festesten gebunden, beaufsichtigt, in Ketten gelegt und überwacht
werden: so will es der Instinkt der Herde. Für sie ein Régime der
Selbstüberwältigung, des asketischen Abseits oder der »Pflicht«
in abnützender Arbeit, bei der man nicht mehr zu sich selber kommt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 602-603 |
Ich
versuche eine ökonomische Rechtfertigung der Tugend. Die Aufgabe
ist, den Menschen möglichst nutzbar zu machen und ihn, soweit es irgendwie
angeht, der unfehlbaren Maschine zu nähern: zu diesem Zwecke muß er
mit Maschinen-Tugenden ausgestattet werden ( er muß die Zustände,
in welchen er machinal-nutzbar arbeitet, als die höchstwertigen empfinden
lernen: dazu tut not, daß ihm die anderen möglichst verleidet,
möglichst gefährlich und verrufen gemacht werden). Hier ist der erste
Stein des Anstoßes die Langeweile, die Einförmigkeit,
welche alle machinale Tätigkeit mit sich bringt. Diese ertragen zu lernen
und nicht nur zu ertragen , die Langeweile von einem höheren
Reiz umspielt sehen lernen: dies war bisher die Aufgabe alles höheren Schulwesens.
Etwas lernen, das uns nichts angeht; und eben darin, in diesem »objektiven«
Tätigsein, seine »Pflicht« empfinden; die Lust und die Pflicht
voneinander getrennt abschätzen lernen das ist die unschätzbare
Aufgabe und Leistung des höheren Schulwesens. Der Philologe war deshalb bisher
der Erzieher an sich: weil seine Tätigkeit selber das Muster einer
bis zum Großartigen gehenden Monotonie der Tätigkeit abgibt; unter
seiner Fahne lernt der Jüngling »ochsen«: erste Vorbedingung
zur einstmaligen Tüchtigkeit machinaler Pflichterfüllung (als Staats-Beamter,
Ehegatte, Büro-Sklave, Zeitungsleser und Soldat). Eine solche Existenz bedarf
vielleicht einer philosophischen Rechtfertigung und Verklärung mehr noch
als jede andere: die angenehmen Gefühle müssen von irgendeiner
unfehlbaren Instanz aus überhaupt als niedrigeren Ranges abgewer tet werden;
die »Pflicht an sich«, vielleicht sogar das Pathos der Ehrfurcht in
Hinsicht auf alles, was unangenehm ist und diese Forderung als jenseits
aller Nützlichkeit. Ergötzlichkeit, Zweckmäßigkeit redend,
imperativisch... Die machinale Existenzform als höchste, ehrwürdigste
Existenzform, sich selbst anbetend (Typus: Kant als Fanatiker des Formalbegriffs
»du sollst«).Ders., Der Wille zur Macht, S. 603-604 |
Die
ökonomische Abschätzung der bisherigen Ideale d.h. Auswahl
bestimmter Affekte und Zustände, auf Unkosten anderer ausgewählt und
großgezüchtet. Der Gesetzgeber (oder der Instinkt der Gesellschaft)
wählt eine Anzahl Zustände und Affekte aus, mit deren Tätigkeit
eine reguläre Leistung verbürgt ist (ein Machinalismus von Leistungen
nämlich als Folge von den regelmäßigen Bedürfnissen jener
Affekte und Zustände).Gesetzt, daß diese Zustände und Affekte
Ingredienzen des Peinlichen enthalten, so muß ein Mittel gefunden werden,
dieses Peinliche durch eine Wertvorstellung zu überwinden, die Unlust als
wertvoll, also in höherem Sinne lustvoll empfinden zu machen. In Formel gefaßt:
»wie wird etwas Unangenehmes angenehm?« Zum Beispiel wenn in
der Kraft, Macht, Selbstüberwindung unser Gehorsam, unsre Einordnung in das
Gesetz, zu Ehren kommt. Insgleichen unser Gemeinsinn. Nächstensinn, Vaterlandssinn,
unsre »Vermenschlichung«, unser »Altruismus«, »Heroismus«.
Daß man die unangenehmen Dinge gern tut Absicht der Ideale.Ders., Der Wille zur Macht, S. 604-605 |
Die
Verkleinerung des Menschen muß lange als einziges Ziel gelten: weil
erst ein breites Fundament zu schaffen ist, damit eine stärkere Art Mensch
darauf stehen kann. (: Inwiefern bisher jede verstärkte Art Mensch
auf einem Niveau der niedrigeren stand )Ders., Der Wille zur Macht, S. 605 |
Absurde
und verächtliche Art des Idealismus, welche die Mediokrität nicht medioker
haben will und, statt an einem Ausnahme-Sein einen Triumph zu fühlen, entrüstet
ist über Feigheit, Falschheit, Kleinheit und Miserabilität. Man soll
das nicht anders wollen! und die Kluft größer aufreißen!
Man soll die höhere Art zwingen, sich abzuscheiden durch die
Opfer, die sie ihrem Sein zu bringen hat. Hauptgesichtspunkt: Distanzen aufreißen,
aber keine Gegensätze schaffen. Die Mittelgebilde ablösen
und im Einfluß verringern: Hauptmittel, um Distanzen zu erhalten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 605 |
Wie
dürfte man den Mittelmäßigen ihre Mittelmäßigkeit verleiden!
Ich tue, man sieht es, das Gegenteil: jeder Schritt weg von ihr führt
so lehre ich ins Unmoralische.Ders., Der Wille zur Macht, S. 600 |
Der
Haß gegen die Mittelmäßigkeit ist eines Philosophen unwürdig:
es ist fast ein Fragezeichen an seinem »Recht auf Philosophie«.
Gerade deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er die Regel in Schutz zu nehmen,
hat er allem Mittleren den guten Mut zu sich selber zu erhalten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 606 |
Wogegen
ich kämpfe: daß eine Ausnahme-Art der Regel den Krieg macht
statt zu begreifen, daß die Fortexistenz der Regel die Voraussetzung für
den Wert der Ausnahme ist. Zum Beispiel die Frauenzimmer, welche, statt die Auszeichnung
ihrer abnormen Bedürfnisse zur Gelehrsamkeit zu empfinden, die Stellung des
Weibes überhaupt verrücken möchten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 606 |
Die
Vermehrung der Kraft, trotz des zeitweiligen Niedergehens des Individuums:
ein neues Niveau begründen;
eine Methodik der Sammlung von Kräften, zur Erhaltung kleiner Leistungen,
im Gegensatz zu unökonomischer Verschwendung;
die zerstörende Natur einstweilen unterjocht zum Werkzeug dieser Zukunfts-Ökonomik;
die Erhaltung der Schwachen, weil eine ungeheure Masse kleiner Arbeit getan
werden muß; die Erhaltung einer Gesinnung,
bei der Schwachen und Leidenden die Existenz noch möglich ist;
die Solidarität als Instinkt zu pflanzen gegen den Instinkt der Furcht
und der Servilität; der Kampf mit
dem Zufall, auch mit dem Zufall des »großen Menschen«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 606 |
Der
Kampf gegen die großen Menschen, aus ökonomischen Gründen
gerechtfertigt. Dieselben sind gefährlich, Zufälle, Ausnahmen, Unwetter,
stark genug, um Langsam-Gebautes und -Gegründetes in Frage zu stellen. Das
Explosive nicht nur unschädlich entladen, sondern womöglich seiner Entladung
vorbeugen: Grundinstinkt aller zivilisierten Gesellschaft.Ders., Der Wille zur Macht, S. 607 |
Wer
darüber nachdenkt, auf welche Weise der Typus Mensch zu seiner größten
Pracht und Mächtigkeit gesteigert werden kann, der wird zuallererst begreifen,
daß er sich außerhalb der Moral stellen muß: denn die Moral
war im wesentlichen auf das Entgegengesetzte aus, jene prachtvolle Entwicklung,
wo sie im Zuge war, zu hemmen oder zu vernichten. Denn in der Tat konsumiert eine
derartige Entwicklung eine solche ungeheure Quantität von Menschen in ihrem
Dienst, daß eine umgekehrte Bewegung nur zu natürlich ist: die
schwächeren, zarteren, mittleren Existenzen haben nötig, Partei zu machen
gegen jene Glorie von Leben und Kraft, und dazu müssen sie von sich eine
neue Schätzung bekommen, vermöge deren sie das Leben in dieser höchsten
Fülle verurteilen und womöglich zerstören. Eine lebensfeindliche
Wendung ist daher der Moral zu eigen, insofern sie die Typen des Lebens überwältigen
will.Ders., Der Wille zur Macht, S. 607 |
Die
Starken der Zukunft. Was teils die Not, teils der Zufall hier und da
erreicht hat, die Bedingungen zur Hervorbringung einer stärkeren Art:
das können wir jetzt begreifen und wissentlich wollen: wir können die
Bedingungen schaffen, unter denen eine solche Erhöhung möglich ist.
Bis jetzt hatte die »Erziehung« den Nutzen der Gesellschaft im Auge:
nicht den möglichsten Nutzen der Zukunft, sondern den Nutzen der gerade bestehenden
Gesellschaft. »Werkzeuge« für sie wollte man. Gesetzt, der
Reichtum an Kraft wäre großer, so ließe sich ein Abzug
von Kräften denken, dessen Ziel nicht dem Nutzen der Gesellschaft gälte,
sondern einem zukünftigen Nutzen. Eine solche Aufgabe wäre zu stellen,
je mehr man begriffe, inwiefern die gegenwärtige Form der Gesellschaft in
einer starken Verwandlung wäre, um irgendwann einmal nicht mehr um ihrer
selber willen existieren zu können: sondern nur noch als Mittel
in den Händen einer stärkeren Rasse. Die zunehmende Verkleinerung des
Menschen ist gerade die treibende Kraft, um an die Züchtung einer stärkeren
Rasse zu denken: welche gerade ihren Überschuß darin hätte,
worin die verkleinerte Spezies schwach und schwächer würde (Wille, Verantwortlichkeit,
Selbstgewißheit, Ziele-sich-setzen-können). Die Mittel wären
die, welche die Geschichte lehrt: die Isolation durch umgekehrte Erhaltungs-Interessen,
als die durchschnittlichen heute sind; die Einübung in umgekehrten Wertschätzungen;
die Distanz als Pathos; das freie Gewissen im heute Unterschätztesten und
Verbotensten. Die Ausgleichung des europäischen Menschen ist der große
Prozeß, der nicht zu hemmen ist: man sollte ihn noch beschleunigen. Die
Notwendigkeit für eine Kluftaufreißung, Distanz, Rangordnung
ist damit gegeben: nicht die Notwendigkeit, jenen Prozeß zu verlangsamen.
Diese ausgeglichene Spezies bedarf, sobald sie erreicht ist, einer Rechtfertigung:
sie liegt im Dienste einer höheren souveränen Art, welche auf ihr steht
und erst auf ihr sich zu ihrer Aufgabe erheben kann. Nicht nur eine Herren-Rasse,
deren Aufgabe sich damit erschöpfte, zu regieren: sondern eine Rasse mit
eigener Lebenssphäre, mit einem Überschuß von Kraft für
Schönheit, Tapferkeit, Kultur, Manier bis ins Geistigste; eine bejahende
Rasse, welche sich jeden großen Luxus gönnen darf, stark genug,
um die Tyrannei des Tugend-Imperativs nicht nötig zu haben, reich genug,
um die Sparsamkeit und Pedanterie nicht nötig zu haben, jenseits von Gut
und Böse; ein Treibhaus für sonderbare und ausgesuchte Pflanzen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 607-609 |
Unsere
Psychologen, deren Blick unwillkürlich nur an den Symptomen der décadence
hängen bleibt, lenken immer wieder unser Mißtrauen wider den Geist.
Man sieht immer nur die schwächenden, verzärtelnden, verkränkelnden
Wirkungen des Geistes: aber es kommen nunneue
Barbaren: | { | die
Zyniker, die Verucher, die Eroberer | } | Vereinigung
der geistigen Überlegenheit mit Wohlbefinden und Überschuß
von Kräften. |
Ders., Der Wille zur Macht, S. 609 |
Ich
zeige auf etwas Neues hin: gewiß, für ein solches demokratisches Wesen
gibt es die Gefahr des Barbaren, aber man sucht sie nur in der Tiefe. Es gibt
auch eine andere Art Barbaren, die kommen aus der Höhe: eine Art von
erobernden und herrschenden Naturen, welche nach einem Stoffe suchen, den sie
gestalten können. Prometheus war ein solcher Barbar.Ders., Der Wille zur Macht, S. 609 |
Hauptgesichtspunkt:
daß man nicht die Aufgabe der höheren Spezies in der Leitung
der niederen sieht (wie es z. B. Comte macht ), sondern die niedere als
Basis, auf der eine höhere Spezies ihrer eigenen Aufgabe lebt
auf der sie erst stehen kann. Die Bedingungen, unter denen eine starke und vornehme
Spezies sich erhält (in Hinsicht auf geistige Zucht), sind die umgekehrten
von denen, unter welchen die »industriellen Massen«, die Krämer
à la Spencer stehn. Das, was nur den stärksten und fruchtbarsten
Naturen freisteht zur Ermöglichung ihrer Existenz Muße, Abenteuer,
Unglaube, Ausschweifung selbst , das würde, wenn es den mittleren
Naturen freistünde, diese notwendig zugrunde richten und tut es auch.
Hier ist die Arbeitsamkeit, die Regel, die Mäßigkeit, die feste »Überzeugung«
am Platze kurz die »Herdentugenden«: unter ihnen wird diese
mittlere Art Mensch vollkommen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 610 |
Zu
den herrschaftlichen Typen. Der »Hirt« im Gegensatz zum
»Herrn« ( ersterer Mtitel zur Erhaltung der Herde; letzterer
Zweck, weshalb die Herde da ist).Ders., Der Wille zur Macht, S. 610 |
Zeitweiliges
Überwiegen der sozialen Wertgefühle begreiflich und nützlich: es
handelt sich um die Herstellung eines Unterbaus, auf dem endlich eine stärkere
Gattung möglich wird. Maßstab der Stärke: unter den umgekehrten
Wertschätzungen leben können und sie ewig wieder wollen. Staat und Gesellschaft
als Unterbau: weltwirtschaftlicher Gesichtspunkt, Erziehung als Züchtung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 610 |
Einsicht,
welche den »freien Geistern« fehlt: dieselbe Disziplin, welche
eine starke Natur noch verstärkt und zu großen Unternehmungen befähigt,
zerbricht und verkümmert die mittelmäßigen: der
Zweifel la largeur de cur das Experiment die Independenz.Ders., Der Wille zur Macht, S. 611 |
Der
Hammer. Wie müssen Menschen beschaffen sein, die umgekehrt wertschätzen?
Menschen, die alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug
sind, sie in lauter Gesundheit umzuwandeln? Ihr Mittel zu ihrer Aufgabe.Ders., Der Wille zur Macht, S. 611 |
Der
starke Mensch, mächtig in den Instinkten einer starken Gesundheit, verdaut
seine Taten ganz ebenso, wie er die Mahlzeiten verdaut; er wird mit schwerer Kost
selbst fertig: in der Hauptsache aber führt ihn ein unversehrter und strenger
Instinkt, daß er nichts tut, was ihm widersteht, so wenig als er etwas tut,
das ihm nicht schmeckt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 611 |
Könnten
wir die günstigsten Bedingungen voraussehen, unter denen Wesen entstehen
von höchstem Werte! Es ist tausendmal zu kompliziert und die Wahrscheinlichkeit
des Mißratens sehr groß: so begeistert es nicht, danach zu streben!
Skepsis. Dagegen: Mut, Einsicht, Härte, Unabhängigkeit,
Gefühl der Verantwortlichkeit können wir steigern, die Feinheit der
Waage verfeinern und erwarten, daß günstige Zufälle zu Hilfe kommen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 611 |
Bevor
wir ans Handeln denken dürfen, muß eine unendliche Arbeit getan sein.
In der Hauptsache aber ist das kluge Ausnützen der gegebenen Lage
wohl unsere beste, ratsamste Tätigkeit. Das wirkliche Schaffen solcher Bedingungen,
wie sie der Zufall schafft, setzt eiserne Menschen voraus, die noch nicht gelebt
haben. Zunächst das persönliche Ideal durchsetzen und verwirklichen!
Wer die Natur des Menschen, die Entstehung seines Höchsten begriffen hat,
schaudert vor dem Menschen und flieht alles Handeln: Folge der vererbten Schätzungen!Daß
die Natur des Menschen böse ist, ist mein Trost: es verbürgt die Kraft!Ders., Der Wille zur Macht, S. 612 |
Die
typischen Selbstgestaltungen. Oder: die acht Hauptfragen.1.
Ob man sich vielfacher haben will oder einfacher?2.
Ob man glücklicher werden will oder gleichgültiger gegen Glück
und Unglück?3. Ob man zufriedner mit sich
werden will oder anspruchsvoller und unerbittlicher?4.
Ob man weicher, nachgebender, menschlicher werden will oder »unmenschlicher«?5.
Ob man klüger werden will oder rücksichtsloser?6.
Ob man ein Ziel erreichen will oder allen Zielen ausweichen (wie es z. B. der
Philosoph tut, der in jedem Ziel eine Grenze, einen Winkel, ein Gefängnis,
eine Dummheit riecht)?7. Ob man geachteter werden
will oder gefürchteter? Oder verachteter?8.
Ob man Tyrann oder Verführer oder Hirt oder Herdentier werden will?Ders., Der Wille zur Macht, S. 612 |
Typus
meiner Jünger. Solchen Menschen, welche mich etwas angehn,
wünsche ich Leiden, Verlassenheit, Krankheit, Mißhandlung, Entwürdigung
ich wünsche, daß ihnen die tiefe Selbstverachtung, die Marter
des Mißtrauens gegen sich, das Elend des Überwundenen nicht unbekannt
bleibt: ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das einzige wünsche,
was heute beweisen kann, ob einer Wert hat oder nicht daß er standhält.Ders., Der Wille zur Macht, S. 613 |
Glück
und Selbstzufriedenheit des Lazzaroni oder »Seligkeit« bei »schönen
Seelen« oder schwindsüchtige Liebe bei herrnhuterischen Pietisten beweisen
nichts in bezug auf die Rangordnung der Menschen. Man müßte,
als großer Erzieher, eine Rasse solcher »seligen Menschen« unerbittlich
in das Unglück hineinpeitschen. Die Gefahr der Verkleinerung, des Ausruhens
ist sofort da gegen das spinozistische oder epikureische Glück und
gegen alles Ausruhen in kontemplativen Zuständen. Wenn aber die Tugend das
Mittel zu einem solchen Glück ist, nun, so muß man auch Herr über
die Tugend werden.Ders., Der Wille zur Macht, S. 613 |
Ich
sehe durchaus nicht ab, wie einer es wiedergutmachen kann, der versäumt hat,
zur rechten Zeit in eine gute Schule zu gehen. Ein solcher kennt sich nicht;
er geht durchs Leben, ohne gehen gelernt zu haben; der schlaffe Muskel verrät
sich bei jedem Schritt noch. Mitunter ist das Leben so barmherzig, diese harte
Schule nachzuholen: jahrelanges Siechtum vielleicht, das die äußerste
Willenskraft und Selbstgenugsamkeit herausfordert; oder eine plötzlich hereinbrechende
Notlage, zugleich noch für Weib und Kind, welche eine Tätigkeit erzwingt,
die den erschlafften Fasern wieder Energie gibt und dem Willen zum Leben die Zähigkeit
zurückgewinnt. Das Wünschenswerteste bleibt unter allen Umständen
eine harte Disziplin zur rechten Zeit, d.h. in jenem Alter noch, wo es
stolz macht, viel von sich verlangt zu sehn. Denn dies unterscheidet die harte
Schule als gute Schule von jeder anderen: daß viel verlangt wird; daß
streng verlangt wird; daß das Gute, das Ausgezeichnete selbst, als normal
verlangt wird; daß das Lob selten ist, daß die Indulgenz fehlt; daß
der Tadel scharf, sachlich, ohne Rücksicht auf Talent und Herkunft laut wird.
Eine solche Schule hat man in jedem Betracht nötig: das gilt vom Leiblichsten
wie vom Geistigsten: es wäre verhängnisvoll, hier trennen zu wollen!
Die gleiche Disziplin macht den Militär und den Gelehrten tüchtig: und
näher besehn, es gibt keinen tüchtigen Gelehrten, der nicht die Instinkte
eines tüchtigen Militärs im Leibe hat. Befehlen können und wieder
auf eine stolze Weise gehorchen; in Reih und Glied stehen, aber fähig jederzeit,
auch zu führen; die Gefahr dem Behagen vorziehn; das Erlaubte und Unerlaubte
nicht in einer Krämerwaage wiegen; dem Mesquinen, Schlauen, Parasitischen
mehr feind sein als dem Bösen. Was lernt man in einer harten
Schule? Gehorchen und Befehlen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 613-614 |
Das
Verdienst leugnen: aber das tun, was über allem Loben, ja über
allem Verstehn ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 614 |
Neue
Formen der Moralität: Treue-Gelübde im Vereinen über das,
was man lassen und tun will, ganz bestimmte Entsagung von vielem. Proben,
ob reif dazu.Ders., Der Wille zur Macht, S. 614 |
Ich
will auch die Asketik wieder vernatürlichen: an Stelle der Absicht
auf Verneinung die Absicht auf Verstärkung; eine Gymnastik des Willens;
eine Entbehrung und eingelegte Fastenzeit jeder Art, auch im Geistigsten; eine
Kasuistik der Tat in bezug auf unsre Meinung, die wir von unsern Kräften
haben; ein Versuch mit Abenteuern und willkürlichen Gefahren. (Dîners
chez Magny: lauter geistige Schlecker mit verdorbenem Magen.) Man sollte
Prüfungen erfinden auch für die Stärke im Wort-halten-können.Ders., Der Wille zur Macht, S. 615 |
Was
verdorben ist durch den Mißbrauch, den die Kirche damit getrieben
hat:1. die Askese: man hat kaum noch den Mut
dazu, deren natürliche Nützlichkeit, deren Unentbehrlichkeit im Dienste
der Willens-Erziehung ans Licht zu ziehen. Unsre absurde Erzieher-Welt,
der der »brauchbare Staatsdiener« als regulierendes Schema vorschwebt,
glaubt mit »Unterricht«, mit Gehirn-Dressur auszukommen; ihr fehlt
selbst der Begriff davon, daß etwas anderes zuerst not tut
Erziehung der Willenskraft; man legt Prüfungen für alles ab,
nur nicht für die Hauptsache: ob man wollen kann, ob man versprechen darf:
der junge Mann wird fertig, ohne auch nur eine Frage, eine Neugierde für
dieses oberste Wertproblem seiner Natur zu haben;2.
das Fasten: in jedem Sinne auch als Mittel, die feine Genußfähigkeit
aller guten Dinge aufrechtzuerhalten (z. B. zeitweise nicht lesen, keine Musik
mehr hören, nicht mehr liebenswürdig sein; man muß auch Fasttage
für seine Tugend haben);3. das »Kloster«:
die zeitweilige Isolation mit strenger Abweisung z. B. der Briefe; eine Art tiefster
Selbstbesinnung und Selbst-Wiederfindung, welche nicht den »Versuchungen«
aus dem Wege gehen will, sondern den »Pflichten«: ein Heraustreten
aus dem Zirkeltanz des Milieus; ein Abseits von der Tyrannei der Reize und Einströmungen,
welche uns verurteilt, unsre Kraft nur in Reaktionen auszugeben, und es nicht
mehr erlaubt, daß sie sich häuft bis zur spontanen Aktivität
(man sehe sich unsre Gelehrten aus der Nähe an: sie denken nur noch reaktiv,
d.h. sie müssen erst lesen, um zu denken);4.
die Feste: Man muß sehr grob sein, um nicht die Gegenwart von Christen
und christlichen Werten als einen Druck zu empfinden, unter dem jede eigentliche
Feststimmung zum Teufel geht. Im Fest ist einbegriffen: Stolz, Übermut, Ausgelassenheit;
der Hohn über alle Art Ernst und Biedermännerei; ein göttliches
Jasagen zu sich aus animaler Fülle und Vollkommenheit lauter Zustände,
zu denen der Christ nicht ehrlich ja sagen darf. Das Fest ist Heidentum par
excellence;5. der Mut vor der eigenen
Natur: die Kostümierung ins »Moralische«. Daß
man keine Moral-Formel nötig hat, um einen Affekt bei sich gutzuheißen:
Maßstab, wie weit einer zur Natur bei sich ja sagen kann wie viel
oder wie wenig er zur Moral rekurrieren muß;6.
der Tod. Man muß die dumme physiologische Tatsache in eine
moralische Notwendigkeit umdrehn. So leben, daß man auch zur rechten
Zeit seinen Willen zum Tode hat!Ders., Der Wille zur Macht, S. 616-616 |
Sich
stärker fühlen oder anders ausgedrückt: die Freude
setzt immer ein Vergleichen voraus (aber nicht notwendig mit anderen, sondern
mit sich, inmitten eines Zustands von Wachstum, und ohne daß man erst wüßte,
inwiefern man vergleicht ).Die künstliche
Verstärkung: sei es durch aufregende Chemika, sei es durch aufregende
Irrtümer (»Wahnvorstellungen«):z.B.
das Gefühl der Sicherheit, wie es der Christ hat; er fühlt sich
stark in sei nem Vertrauen-dürfen, in seinem Geduldig- und Gefaßt-sein-dürfen:
er verdankt diese künstliche Verstärkung dem Wahne, von einem Gott beschirmt
zu sein;z.B. das Gefühl der Überlegenheit:
wie wenn der Kalif von Marokko nur Erdkugeln zu sehen bekommt, auf denen seine
drei vereinigten Königreiche vier Fünftel der Oberfläche einnehmen;z.B.
das Gefühl der Einzigkeit: wie wenn der Europäer sich einbildet,
daß der Gang der Kultur sich in Europa abspielt, und wenn er sich selber
eine Art abgekürzter Weltprozeß scheint: oder der Christ alles Dasein
überhaupt um das »Heil des Menschen« sich drehen macht.
Es kommt darauf an, wo man den Druck, die Unfreiheit empfindet: je nachdem erzeugt
sich ein andres Gefühl des Stärker-seins. Einem Philosophen ist
z.B. inmitten der kühlsten, transmontansten Abstraktions-Gymnastik zumute
wie einem Fisch, der in sein Wasser kommt: während Farben und Töne ihn
drücken; gar nicht zu reden von den dumpfen Begehrungen von dem, was
die andern »das Ideal« nennen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 616-617 |
Mit
was für Mitteln man rohe Völker zu behandeln hat und daß die »Barbarei«
der Mittel nichts Willkürliches und Beliebiges ist, das kann man in praxi
mit Händen greifen, wenn man mit aller seiner europäischen Verzärtelung
einmal in die Notwendigkeit versetzt wird, am Kongo oder irgendwo Herr über
Barbaren bleiben zu müssen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 620-621 |
Die
Kriegerischen und die Friedlichen. Bist du ein Mensch, der die Instinkte
des Kriegers im Leibe hat? Und in diesem Falle bliebe noch eine zweite Frage:
bist du ein Angriffskrieger oder ein Widerstandskrieger von Instinkt? Der Rest
von Menschen, alles, was nicht kriegerisch von Instinkt ist, will Frieden, will
Eintracht, will »Freiheit«, will »gleiche Rechte« :
das sind nur Namen und Stufen für ein und dasselbe. Dorthin gehn, wo man
nicht nötig hat, sich zu wehren solche Menschen werden unzufrieden
mit sich, wenn sie genötigt sind, Widerstand zu leisten: sie wollen Zustände
schaffen, wo es überhaupt keinen Krieg mehr gibt. Schlimmstenfalls sich unterwerfen,
gehorchen, einordnen: immer noch besser als Krieg führen so rät
es z.B. dem Christen sein Instinkt. Bei den geborenen Kriegern gibt es etwas wie
Bewaffnung in Charakter, in Wahl der Zustände, in der Ausbildung jeder Eigenschaft:
die »Waffe« ist im ersten Typus, die Wehr im zweiten am besten entwickelt.
Die Unbewaffneten, die Unbewehrten: welche Hilfsmittel und Tugenden sie nötig
haben, um es auszuhalten um selbst obzusiegen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 621 |
Randbemerkung
zu einer niaiserie anglaise. »Was du nicht willst, daß
dir die Leute tun, das tue ihnen auch nicht.« Das gilt als Weisheit; das
gilt als Klugheit; das gilt als Grund der Moral als »güldener
Spruch«. John Stuart Mill (und wer nicht unter Engländern?) glaubt
daran! ... Aber der Spruch hält nicht den leichtesten Angriff aus. Der Kalkül:
»tue nichts, was dir selber nicht angetan werden soll« verbietet Handlungen
um ihrer schädlichen Folgen willen: der Hintergedanke ist, daß eine
Handlung immer vergolten wird. Wie nun, wenn jemand, mit dem »Principe«
in der Hand, sagte: »gerade solche Handlungen muß man tun, damit andere
uns nicht zuvorkommen damit wir andere außerstand setzen, sie uns
anzutun«? Andrerseits: denken wir uns einen Korsen, dem seine Ehre
die vendetta gebietet. Auch er wünscht keine Flintenkugel in den Leib: aber
die Aussicht auf eine solche, die Wahrscheinlichkeit einer Kugel hält ihn
nicht ab, seiner Ehre zu genügen .... Und sind wir nicht in allen anständigen
Handlungen eben absichtlich gleichgültig gegen das, was daraus für uns
kommt? Eine Handlung zu vermeiden, die schädliche Folgen für uns hätte
das wäre ein Verbot für anständige Handlungen überhaupt.
Dagegen ist der Spruch wertvoll, weil er einen Typus Mensch verrät:
es ist der Instinkt der Herde, der sich mit ihm formuliert man ist
gleich, man nimmt sich gleich: wie ich dir, so du mir. Hier wird wirklich
an eine Äquivalenz der Handlungen geglaubt, die, in allen realen Verhältnissen,
einfach nicht vorkommt. Es kann nicht jede Handlung zurückgegeben werden:
zwischen wirklichen »Individuen« gibt es keine gleichen Handlungen,
folglich auch keine »Vergeltung«... Wenn ich etwas tue, so liegt mir
der Gedanke vollkommen fern, daß überhaupt dergleichen irgendeinem
Menschen möglich sei: es gehört mir... Man kann mir nichts zurückzahlen,
man würde immer eine »andere« Handlung gegen mich begehen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 621-622 |
Gegen
John Stuart Mill. Ich perhorresziere seine Gemeinheit, welche sagt
»was dem einen recht ist, ist dem andern billig«; »was du nicht
willst usw., das füg auch keinem andern zu«; welche den ganzen menschlichen
Verkehr auf Gegenseitigkeit der Leistung begründen will, so daß
jede Handlung als eine Art Abzahlung erscheint für etwas, das uns erwiesen
ist. Hier ist die Voraussetzung unvornehm im untersten Sinne: hier wird die Äquivalenz
der Werte von Handlungen vorausgesetzt bei mir und dir; hier ist der persönlichste
Wert einer Handlung einfach annulliert (das, was durch nichts ausgeglichen und
bezahlt werden kann ). Die »Gegenseitigkeit« ist eine große
Gemeinheit; gerade daß etwas, das ich tue, nicht von einem andern getan
werden dürfte und könnte, daß es keinen Ausgleich
geben darf ( außer in der ausgewähltesten Sphäre
der »meines-gleichen«, inter pares ), daß man in einem
tieferen Sinne nie zurückgibt, weil man etwas Einmaliges ist und nur
Einmaliges tut diese Grundüberzeugung enthält die Ursache der
aristokratischen Absonderung von der Menge, weil die Menge an »Gleichheit«
und folglich Ausgleichbarkeit und »Gegenseitigkeit« glaubt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 622-623 |
Die
Krähwinkelei und Schollenkleberei der moralischen Abwertung und ihres »nützlich«
und »schädlich« hat ihren guten Sinn; es ist die notwendige Perspektive
der Gesellschaft, welche nur das Nähere und Nächste in Hinsicht der
Folgen zu übersehen vermag. Der Staat und der Politiker hat schon
eine mehr übermoralische Denkweise nötig: weil er viel größere
Komplexe von Wirkungen zu berechnen hat. Insgleichen wäre eine Weltwirtschaft
möglich, die so ferne Perspektiven hat, daß alle ihre einzelnen Forderungen
für den Augenblick als ungerecht und willkürlich erscheinen dürften.Ders., Der Wille zur Macht, S. 623 |
»Seinem
Gefühle folgen?« Daß man, einem generösen Gefühle
nachgebend, sein Leben in Gefahr bringt, und unter dem Impuls eines Augenblicks:
das ist wenig wert und charakterisiert nicht einmal. In der Fähigkeit dazu
sind sich alle gleich und in der Entschlossenheit dazu übertrifft
der Verbrecher, Bandit und Korse einen honetten Menschen gewiß. Die höhere
Stufe ist: auch diesen Andrang bei sich zu überwinden und die heroische Tat
nicht auf Impulse hin zu tun sondern kalt, raisonnable, ohne das stürmische
Überwallen von Lustgefühlen dabei .... Dasselbe gilt vom Mitleid: es
muß erst habituell durch die raison durchgesiebt sein; im anderen
Falle ist es so gefährlich wie irgendein Affekt. Die blinde Nachgiebigkeit
gegen einen Affekt, sehr gleichgültig, ob es ein generöser und mitleidiger
oder feindseliger ist, ist die Ursache der größten Übel.
Die Größe des Charakters besteht nicht darin, daß man diese Affekte
nicht besitzt im Gegenteil, man hat sie im furchtbarsten Grade: aber daß
man sie am Zügel führt... und auch das noch ohne Lust an dieser Bändigung,
sondern bloß weil ....Ders., Der Wille zur Macht, S. 623-624 |
»Sein
Leben lassen für eine Sache« großer Effekt. Aber man läßt
für vieles sein Leben: die Affekte samt und sonders wollen ihre Befriedigung.
Ob es das Mitleid ist oder der Zorn oder die Rache daß das Leben
daran gesetzt wird, verändert nichts am Werte. Wie viele haben ihr Leben
für die hübschen Weiblein geopfert und selbst, was schlimmer
ist, ihre Gesundheit! Wenn man das Temperament hat, so wählt man instinktiv
die gefährlichen Dinge: z.B. die Abenteuer der Spekulation, wenn man Philosoph;
oder der Immoralität, wenn man tugendhaft ist. Die eine Art Mensch will nichts
riskieren, die andre will riskieren. Sind wir anderen Verächter des Lebens?
Im Gegenteil, wir suchen instinktiv ein potenziertes Leben, das Leben in
der Gefahr .... Damit, nochmals gesagt, wollen wir nicht tugendhafter sein, als
die anderen. Pascal z. B. wollte nichts riskieren und blieb Christ: das war vielleicht
tugendhaft. Man opfert immer.Ders., Der Wille zur Macht, S. 624 |
Wie
viel Vorteil opfert der Mensch, wie wenig »eigennützig«
ist er! Alle seine Affekte und Leidenschaften wollen ihr Recht haben und
wie fern vom klugen Nutzen des Eigennutzes ist der Affekt! Man will nicht
sein »Glück«; man muß Engländer sein, um glauben zu
können, daß der Mensch immer seinen Vorteil sucht. Unsre Begierden
wollen sich in langer Leidenschaft an den Dingen vergreifen , ihre aufgestaute
Kraft sucht die Widerstände.Ders., Der Wille zur Macht, S. 625 |
Nützlich
sind die Affekte allesamt, die einen direkt, die andern indirekt; in Hinsicht
auf den Nutzen ist es schlechterdings unmöglich, irgendeine Wertabfolge festzusetzen,
so gewiß, ökonomisch gemessen, die Kräfte in der Natur
allesamt gut, d. h. nützlich sind, so viel furchtbares und unwiderrufliches
Verhängnis auch von ihnen ausgeht. Höchstens könnte man sagen,
daß die mächtigsten Affekte die wertvollsten sind: insofern es keine
größeren Kraftquellen gibt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 625 |
Summa:
die Herrschaft über die Leidenschaften, nicht deren Schwächung
und Ausrottung! Je größer die Herren-Kraft des Willens ist,
um soviel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben werden. Der »große
Mensch« ist groß durch den Freiheits-Spielraum seiner Begierden und
durch die noch größere Macht, welche diese prachtvollen Untiere in
Dienst zu nehmen weiß. Der »gute Mensch« ist auf jeder Stufe
der Zivilisation der Ungefährliche und Nützliche zugleich: eine
Art Mitte; der Ausdruck im gemeinen Bewußtsein davon, vor wem
man sich nicht zu fürchten hat und wen man trotzdem nicht verachten darf.
Erziehung: wesentlich das Mittel, die Ausnahme zu ruinieren zugunsten der
Regel. Bildung: wesentlich das Mittel, den Geschmack gegen die Ausnahme zu richten
zugunsten des Mittleren. Erst wenn eine Kultur über einen Überschuß
von Kräften zu gebieten hat, kann sie auch ein Treibhaus für den Luxus-Kultus
der Ausnahme, des Versuchs, der Gefahr, der Nuance sein jede aristokratische
Kultur tendiert dahin.Ders., Der Wille zur Macht, S. 626 |
Lauter
Fragen der Kraft: wie weit sich durchsetzen gegen die Erhaltungsbedingungen der
Gesellschaft und deren Vorurteile? wie weit seine furchtbaren
Eigenschaften entfesseln, an denen die meisten zugrunde gehen? wie
weit der Wahrheit entgegengehen und sich die fragwürdigsten Seiten
derselben zu Gemüte führen? wie weit dem Leiden, der Selbstverachtung,
dem Mitleiden, der Krankheit, dem Laster entgegengehen, mit dem Fragezeichen,
ob man darüber Herr werden wird? ( was uns nicht umbringt, macht
uns stärker ...) endlich: wie weit der Regel, dem Gemeinen,
dem Kleinlichen, Guten, Rechtschaffenen, der Durchschnitts-Natur recht geben bei
sich, ohne sich damit vulgarisieren zu lassen? .... Stärkste Probe des Charakters:
sich nicht durch die Verführung des Guten ruinieren zu lassen. Das Gute
als Luxus, als Raffinement, als Laster.Ders., Der Wille zur Macht, S. 626-627 |
Typus:
Die wahre Güte, Vornehmheit, Größe der Seele, die aus dem Reichtum
heraus: welche nicht gibt, um zu nehmen welche sich nicht damit erheben
will, daß sie gütig ist; die Verschwendung als Typus
der wahren Güte, der Reichtum an Person als Voraussetzung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 627 |
Aristokratismus.
Die Herdentier-Ideale jetzt gipfelnd als höchste Wertansetzung
der »Sozietät«: Versuch, ihr einen kosmischen, ja metaphysischen
Wert zu geben. Gegen sie verteidige ich den Aristokratismus. Eine
Gesellschaft, welche in sich jene Rücksicht und Delikatesse in bezug
auf Freiheit bewahrt, muß sich als Ausnahme fühlen und sich gegenüber
eine Macht haben, gegen welche sie sich abhebt, gegen welche sie feindselig ist
und herabblickt. Je mehr ich Recht abgebe und mich gleichstelle, um so mehr gerate
ich unter die Herrschaft der Durchschnittlichsten, endlich der Zahlreichsten.
Die Voraussetzung, welche eine aristokratische Gesellschaft in sich hat, um zwischen
ihren Mitgliedern den hohen Grad von Freiheit zu erhalten, ist die extreme Spannung,
welche aus dem Vorhandensein des entgegengesetzten Triebes bei allen Mitgliedern
entspringt: des Willens zur Herrschaft .... Wenn ihr die starken Gegensätze
und Rangverschiedenheiten wegschaffen wollt, so schafft ihr die starke Liebe,
die hohe Gesinnung, das Gefühl des Für-sich-seins auch ab.Zur wirklichen
Psychologie der Freiheits- und Gleichheits-Sozietät. Was nimmt ab?
Der Wille zur Selbstverantwortlichkeit, Zeichen des Niedergangs der Autonomie;
die Wehr und Waffentüchtigkeit, auch im Geistigsten: die Kraft
zu kommandieren; der Sinn der Ehrfurcht, der Unterordnung, des Schweigen-könnens;
die große Leidenschaft, die große Aufgabe, die Tragödie,
die Heiterkeit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 627-628 |
Wie
sich die aristokratische Welt immer mehr selber schröpft und schwach macht!
Vermöge ihrer noblen Instinkte wirft sie ihre Vorrechte weg, und vermöge
ihrer verfeinerten Über-Kultur interessiert sie sich für das Volk, die
Schwachen, die Armen, die Poesie des Kleinen usw..Ders., Der Wille zur Macht, S. 628-629 |
Es
gibt eine vornehme und gefährliche Nachlässigkeit, welche einen tiefen
Schluß und Einblick gewährt: die Nachlässigkeit der selbstgewissen
und überreichen Seele, die sich nie um Freunde bemüht hat, sondern
nur die Gastfreundschaft kennt, immer nur Gastfreundschaft übt und zu üben
versteht Herz und Haus offen für jedermann, der eintreten will, seien
es nun Bettler oder Krüppel oder Könige. Dies ist die echte Leutseligkeit:
wer sie hat, hat hundert »Freunde«, aber wahrscheinlich keinen Freund.Ders., Der Wille zur Macht, S. 629 |
Die
Lehre mhden agan wendet sich an Menschen mit überströmender
Kraft nicht an die Mittelmäßigen. Die egkrateia
und aschsis ist nur eine Stufe der Höhe: höher
steht die »goldene Natur«. »Du sollst« unbedingter
Gehorsam bei Stoikern, in den Orden des Christentums und der Araber, in der Philosophie
Kants (es ist gleichgültig, ob einem Oberen, oder einem Begriff). Höher
als »du sollst« steht: »Ich will« (die Heroen);
höher als »ich will« steht: »Ich bin« (die
Götter der Griechen). Die barbarischen Götter drücken nichts von
der Lust am Maß aus sind weder einfach noch leicht noch maßvoll.Ders., Der Wille zur Macht, S. 629 |
Was
ist vornehm? Die Sorgfalt im Äußerlichsten,
insofern diese Sorgfalt abgrenzt, fernhält, vor Verwechslung schützt.
Der frivole Anschein in Wort, Kleidung, Haltung, mit dem eine stoische Härte
und Selbstbezwingung sich vor aller unbescheidenen Neugierde schützt.
Die langsame Gebärde, auch der langsame Blick. Es gibt nicht zu viel wertvolle
Dinge: und diese kommen und wollen von selbst zu dem Wertvollen. Wir bewundern
schwer. Das Ertragen der Armut und der
Dürftigkeit, auch der Krankheit. Das
Ausweichen vor kleinen Ehren, und Mißtrauen gegen jeden, welcher leicht
lobt: denn der Lobende glaubt daran, daß er verstehe, was er lobe: verstehen
aber Balzac hat es verraten, dieser typisch Ehrgeizige comprendre
c'est égaler. Unser Zweifel an der
Mitteilbarkeit des Herzens geht in die Tiefe; die Einsamkeit nicht als gewählt,
sondern als gegeben. Die Überzeugung,
daß man nur gegen seinesgleichen Pflichten hat, gegen die andern sich nach
Gutdünken verhält: daß nur inter pares auf Gerechtigkeit
zu hoffen (leider noch lange nicht zu rechnen) ist.
Die Ironie gegen die »Begabten«, der Glaube an den Geburtsadel auch
im Sittlichen. Immer sich als den fühlen,
der Ehren zu vergeben hat: während nicht häufig sich jemand findet,
der ihn ehren dürfte. Immer verkleidet:
je höherer Art, um so mehr bedarf der Mensch des Inkognitos. Gott, wenn es
einen gäbe, dürfte, schon aus Anstandsgründen, sich nur als Mensch
in der Welt bezeigen. Die Fähigkeit
zum otium, der unbedingten Überzeugung, daß ein Handwerk in jedem Sinne
zwar nicht schändet, aber sicherlich entadelt. Nicht »Fleiß«
im bürgerlichen Sinne, wie hoch wir ihn auch zu ehren und zu Geltung zu bringen
wissen, oder wie jene unersättlich gackernden Künstler, die es wie Hühner
machen, gackern und Eier legen und wieder gackern.
Wir beschützen die Künstler und Dichter und wer irgendworin Meister
ist: aber als Wesen, die höherer Art sind als diese, welche nur etwas können,
als die bloß »produktiven Menschen«, verwechseln wir uns nicht
mit ihnen. Die Lust an den Formen;
das In-Schutz-nehmen alles Förmlichen, die Überzeugung, daß Höflichkeit
eine der großen Tugenden ist; das Mißtrauen gegen alle Arten des Sich-gehen-lassens,
eingerechnet alle Preß- und Denkfreiheit, weil unter ihnen der Geist bequem
und tölpelhaft wird und die Glieder streckt.
Das Wohlgefallen an den Frauen als an einer vielleicht kleineren, aber
feineren und leichteren Art von Wesen. Welches Glück, Wesen zu begegnen,
die immer Tanz und Torheit und Putz im Kopfe haben! Sie sind das Entzücken
aller sehr gespannten und tiefen Mannsseelen gewesen, deren Leben mit großer
Verantwortlichkeit beschwert ist. Das Wohlgefallen
an den Fürsten und Priestern, weil sie den Glauben an eine Verschiedenheit
der menschlichen Werte selbst noch in der Abschätzung der Vergangenheit zum
mindesten symbolisch und im ganzen und großen sogar tatsächlich aufrechterhalten.
Das Schweigen-können: aber darüber kein Wort vor Hörern.
Das Ertragen langer Feindschaften: der Mangel an der leichten Versöhnlichkeit.
Der Ekel am Demagogischen, an der »Aufklärung«, an der »Gemütlichkeit«,
an der pöbelhaften Vertraulichkeit.
Das Sammeln kostbarer Dinge, die Bedürfnisse einer hohen und wählerischen
Seele; nichts gemein haben wollen. Seine Bücher, seine Landschaften.
Wir lehnen uns gegen schlimme und gute Erfahrungen auf und verallgemeinern nicht
so schnell. Der einzelne Fall: wie ironisch sind wir gegen den einzelnen Fall,
wenn er den schlechten Geschmack hat, sich als Regel zu gebärden!
Wir lieben das Naive und die Naiven, aber als Zuschauer und höhere Wesen;
wir finden Faust ebenso naiv als sein Gretchen.
Wir schätzen die Guten gering, als Herdentiere: wir wissen, wie unter den
schlimmsten, bösartigsten, härtesten Menschen oft ein unschätzbarer
Goldtropfen von Güte sich verborgen hält, welcher alle bloße Gutartigkeit
der Milchseelen überwiegt. Wir halten
einen Menschen unserer Art nicht widerlegt durch seine Laster noch durch seine
Torheiten. Wir wissen, daß wir schwer erkennbar sind und daß wir alle
Gründe haben, uns Vordergründe zu geben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 630-633 |
Was
ist vornehm? Daß man sich beständig zu repräsentieren
hat. Daß man Lagen sucht, wo man beständig Gebärden nötig
hat. Daß man das Glück der großen Zahl überläßt:
Glück als Frieden der Seele, Tugend, comfort, englisch-engelhaftes Krämertum
à la Spencer. Daß man instinktiv für sich schwere Verantwortungen
sucht. Daß man sich überall Feinde zu schaffen weiß, schlimmstenfalls
noch aus sich selbst. Daß man der großen Zahl nicht durch Worte,
sondern durch Handlungen beständig widerspricht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 633 |
Die
Tugend (z.B. als Wahrhaftigkeit) als unser vornehmer und gefährlicher Luxus;
wir müssen nicht die Nachteile ablehnen, die er mit sich bringt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 633 |
Der
»Ehr-Begriff«: beruhend auf dem Glauben an »gute Gesellschaft«,
an ritterliche Hauptqualitäten, an die Verpflichtung, sich fortwährend
zu repräsentieren. Wesentlich: daß man sein Leben nicht wichtig nimmt;
daß man unbedingt auf respektvollste Manieren hält, seitens aller,
mit denen man sich berührt (zum mindesten so weit sie nicht zu »uns«
gehören); daß man weder vertraulich, noch gutmütig, noch lustig,
noch bescheiden ist, außer inter pares; daß man sich immer repräsentiert.Ders., Der Wille zur Macht, S. 634 |
Daß
man sein Leben, seine Gesundheit, seine Ehre aufs Spiel setzt, das ist die Folge
des Übermutes und eines überströmenden, verschwenderischen Willens:
nicht aus Menschenliebe, sondern weil jede große Gefahr unsre Neugierde
in bezug auf das Maß unsrer Kraft, unsres Mutes herausfordert.Ders., Der Wille zur Macht, S. 634 |
»Geradezu
stoßen die Adler.« Die Vornehmheit der Seele ist nicht
am wenigsten an der prachtvollen und stolzen Dummheit zu erkennen, mit der sie
angreift »geradezu«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 634 |
Krieg
gegen die weichliche Auffassung der »Vornehmheit«! ein
Quantum Brutalität mehr ist nicht zu erlassen: so wenig als eine Nachbarschaft
zum Verbrechen. Auch die »Selbstzufriedenheit« ist nicht darin;
man muß abenteuerlich auch zu sich stehen, versucherisch, verderberisch
nichts von Schönseelen-Salbaderei . Ich will einem robusteren
Ideale Luft machen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 610 |
»Das
Paradies ist unter dem Schatten der Schwerter« auch ein Symbolon
und Kerbholz-Wort, an dem sich Seelen vornehmer und kriegerischer Abkunft verraten
und erraten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 635 |
Die
zwei Wege. Es kommt ein Zeitpunkt, wo der Mensch Kraft im Überfluß
zu Diensten hat: die Wissenschaft ist darauf aus, diese Sklaverei der Natur
herbeizuführen. Dann bekommt der Mensch Muße: sich selbst auszubilden,
zu etwas Neuem, Höherem. Neue Aristokratie. Dann werden eine Menge
Tugenden überlebt, die jetzt Existenzbedingungen waren.
Eigenschaften nicht mehr nötig haben, folglich sie verlieren. Wir haben die
Tugenden nicht mehr nötig: folglich verlieren wir sie ( sowohl die
Moral vom »Eins ist not«, vom Heil der Seele, wie der Unsterblichkeit:
sie waren Mittel, um dem Menschen eine ungeheure Selbstbezwingung zu ermöglichen,
durch den Affekt einer ungeheuren Furcht ...). Die verschiedenen Arten
Not, durch deren Zucht der Mensch geformt ist: Not lehrt arbeiten, denken, sich
zügeln. Die physiologische Reinigung und Verstärkung. Die neue
Aristokratie hat einen Gegensatz nötig, gegen den sie ankämpft: sie
muß eine furchtbare Dringlichkeit haben, sich zu erhalten. Die zwei Zukünfte
der Menschheit:1. die Konsequenz der Vermittelmäßigung;2.
das bewußte Abheben, Sich-Gestalten.Eine
Lehre, die eine Kluft schafft: sie erhält die oberste und die niedrigste
Art (sie zerstört die mittlere).Die
bisherigen Aristokraten, geistliche und weltliche, beweisen nichts gegen die Notwendigkeit
einer neuen Aristokratie.Ders., Der Wille zur Macht, S. 635-636 |
Eine
Frage kommt uns immer wieder, eine versucherische und schlimme Frage vielleicht:
sei sie denen ins Ohr gesagt, welche ein Recht auf solche fragwürdige Fragen
haben, den stärksten Seelen von heute, welche sich selbst auch am besten
in der Gewalt haben: wäre es nicht an der Zeit, je mehr der Typus
»Herdentier« jetzt in Europa entwickelt wird, mit einer grundsätzlichen
künstlichen und bewußten Züchtung des entgegengesetzten
Typus und seiner Tugenden den Versuch zu machen? Und wäre es für
die demokratische Bewegung nicht selber erst eine Art Ziel, Erlösung und
Rechtfertigung, wenn jemand käme, der sich ihrer bediente dadurch,
daß endlich sich zu ihrer neuen und sublimen Ausgestaltung der Sklaverei
( das muß die europäische Demokratie am Ende sein) jene höhere
Art herrschaftlicher und cäsarischer Geister hinzufände, welche sich
auf sie stellte, sich an ihr hielte, sich durch sie emporhübe? Zu neuen,
bisher unmöglichen, zu ihren Fernsichten? Zu ihren Aufgaben?Ders., Der Wille zur Macht, S. 636-637 |
Der
Anblick des jetzigen Europäers gibt mir viele Hoffnung: es bildet sich da
eine verwegene herrschende Rasse, auf der Breite einer äußerst intelligenten
Herden-Masse. Es steht vor der Tür, daß die Bewegungen zur Bildung
der letzteren nicht mehr allein im Vordergrund stehen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 637 |
Dieselben
Bedingungen, welche die Entwicklung des Herdentieres vorwärtstreiben, treiben
auch die Entwicklung des Führer-Tiers.Ders., Der Wille zur Macht, S. 637 |
Es
naht sich, unabweislich, zögernd, furchtbar wie das Schicksal, die große
Aufgabe und Frage: wie soll die Erde als Ganzes verwaltet werden? Und wozu
soll »der Mensch« als Ganzes und nicht mehr ein Volk, eine
Rasse gezogen und gezüchtet werden? Die gesetzgeberischen Moralen
sind das Hauptmittel, mit denen man aus dem Menschengestalten kann, was einem
schöpferischen und tiefen Willen beliebt: vorausgesetzt, daß ein solcher
Künstler-Wille höchsten Ranges die Gewalt in den Händen hat und
seinen schaffenden Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann in Gestalt
von Gesetzgebungen, Religionen und Sitten. Solchen Menschen des großen Schaffens,
den eigentlich großen Menschen, wie ich es verstehe, wird man heute und
wahrscheinlich für lange noch umsonst nachgehen: sie fehlen; bis man
endlich, nach vieler Enttäuschung, zu begreifen anfangen muß, warum
sie fehlen und daß ihrer Entstehung und Entwicklung für jetzt und für
lange nichts feindseliger im Wege steht als das, was man jetzt in Europa geradewegs
»die Moral« nennt: wie als ob es keine andere gäbe und geben
dürfte jene vorhin bezeichnete Herdentier-Moral, die mit allen Kräften
das allgemeine grüne Weide-Glück auf Erden erstrebt, nämlich Sicherheit,
Ungefährlichkeit, Behagen, Leichtigkeit des Lebens und zu guter Letzt, »wenn
alles gut geht«, sich auch noch aller Art Hirten und Leithämmel zu
entschlagen hofft. Ihre beiden am reichlichsten gepredigten Lehren heißen:
»Gleichheit der Rechte« und »Mitgefühl für alles Leidende«
und das Leiden selber wird von ihnen als etwas genommen, das man schlechterdings
abschaffen muß. Daß solche »Ideen« immer noch modern
sein können, gibt einen üblen Begriff von dieser Modernität. Wer
aber gründlich darüber nachgedacht hat, wo und wie die Pflanze Mensch
bisher am kräftigsten emporgewachsen ist, muß vermeinen, daß
dies unter den umgekehrten Bedingungen geschehen ist: daß dazu die Gefährlichkeit
seiner Lage ins Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungs-Kraft unter
langem Druck und Zwang sich emporkämpfen, sein Lebens-Wille bis zu einem
unbedingten Willen zur Macht und zur Übermacht gesteigert werden muß,
und daß Gefahr, Härte, Gewaltsamkeit, Gefahr auf der Gasse wie im Herzen,
Ungleichheit der Rechte, Verborgenheit, Stoizismus, Versucher-Kunst, Teufelei
jeder Art, kurz der Gegensatz aller Herden-Wünschbarkeiten zur Erhöhung
des Typus Mensch notwendig ist. Eine Moral mit solchen umgekehrten Absichten,
welche den Menschen ins Hohe statt ins Bequeme und Mittlere züchten will,
eine Moral mit der Absicht, eine regierende Kaste zu züchten die zukünftigen
Herren der Erde muß, um gelehrt werden zu können, sich
in Anknüpfung an das bestehende Sittengesetz und unter dessen Worten und
Anscheine einführen. Daß dazu aber viele Übergangs- und Täuschungsmittel
zu erfinden sind und daß, weil die Lebensdauer eines Menschen beinahe nichts
bedeutet in Hinsicht auf die Durchführung so langwieriger Aufgaben und Absichten,
vor allem erst eine neue Art angezüchtet werden muß, in der
dem nämlichen Willen, dem nämlichen Instinkte Dauer durch viele Geschlechter
verbürgt wird eine neue Herren-Art und -Kaste, dies begreift
sich ebensogut als das lange und nicht leicht aussprechbare Und-so-weiter dieses
Gedankens. Eine Umkehrung der Werte für eine bestimmte starke Art
von Menschen höchster Geistigkeit und Willenskraft vorzubereiten und zu diesem
Zwecke bei ihnen eine Menge in Zaum gehaltener und verleumdeter Instinkte langsam
und mit Vorsicht zu entfesseln: wer darüber nachdenkt, gehört zu uns,
den freien Geistern freilich wohl zu einer neueren Art von »freien
Geistern« als die bisherigen: denn diese wünschten ungefähr das
Entgegengesetzte. Hierher gehören, wie mir scheint, vor allem die Pessimisten
Europas, die Dichter und Denker eines empörten Idealismus, insofern ihre
Unzufriedenheit mit dem gesamten Dasein sie auch zur Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen
Menschen mindestens logisch nötigt; insgleichen gewisse unersättlich-ehrgeizige
Künstler, welche unbedenklich und unbedingt für die Sonderrechte höherer
Menschen und gegen das »Herdentier« kämpfen und mit den Verführungsmitteln
der Kunst bei ausgesuchteren Geistern alle Herden-Instinkte und Herden-Vorsichten
einschläfern; zu dritt endlich alle jene Kritiker und Historiker, von denen
die glücklich begonnene Entdeckung der alten Welt es ist das Werk
des neuen Kolumbus, des deutschen Geistes mutig fortgesetzt wird
(denn wir stehen immer noch in den Anfängen dieser Eroberung). In
der alten Welt nämlich herrschte in der Tat eine andere, eine herrschaftlichere
Moral als heute; und der antike Mensch, unter dem erziehenden Banne seiner Moral,
war ein stärkerer und tieferer Mensch als der Mensch von heute er
war bisher allein »der wohlgeratene Mensch«. Die Verführung aber,
welche vom Altertum her auf wohlgeratene, d. h. auf starke und unternehmende Seelen
ausgeübt wird, ist auch heute noch die feinste und wirksamste aller antidemokratischen
und antichristlichen: wie sie es schon zur Zeit der Renaissance war.Ders., Der Wille zur Macht, S. 637-640 |
Ich
schreibe für eine Gattung Menschen, welche noch nicht vorhanden ist: für
die »Herren der Erde«. Die Religionen als Tröstungen, Abschirrungen
gefährlich: der Mensch glaubt sich nun ausruhn zu dürfen.
Im Theages Platos steht es geschrieben: »Jeder von uns möchte Herr
womöglich aller Menschen sein, am liebsten Gott.« Diese Gesinnung
muß wieder da sein. Engländer, Amerikaner und Russen
Ders., Der Wille zur Macht, S. 640 |
Die
Urwald-Vegetation »Mensch« erscheint immer, wo der Kampf um
die Macht am längsten geführt worden ist. Die großen Menschen.
Urwald-Tiere die Römer.Ders., Der Wille zur Macht, S. 640 |
Es
wird von nun an günstige Vorbedingungen für umfänglichere Herrschafts-Gebilde
geben, derengleichen es noch nicht gegeben hat. Und dies ist noch nicht das wichtigste;
es ist die Entstehung von internationalen Geschlechts-Verbänden möglich
gemacht, welche sich die Aufgabe setzen, eine Herren-Rasse heraufzuzüchten,
die zukünftigen »Herren der Erde«; eine neue, ungeheure,
auf der härtesten Selbst-Gesetzgebung aufgebaute Aristokratie, in der
dem Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen Dauer über
Jahrtausende gegeben wird eine höhere Art Menschen, die sich, dank
ihrem Übergewicht von Wollen, Wissen, Reichtum und Einfluß, des demokratischen
Europas bedienen als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeugs, um die
Schicksale der Erde in die Hand zu bekommen, um am »Menschen« selbst
als Künstler zu gestalten. Genug, die Zeit kommt, wo man über Politik
umlernen wird.Ders., Der Wille zur Macht, S. 640-641 |
Mein
Augenmerk darauf, an welchen Punkten der Geschichte die großen Menschen
hervorspringen. Die Bedeutung langer despotischer Moralen: sie spannen
den Bogen, wenn sie ihn nicht zerbrechen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 641 |
Ein
großer Mensch ein Mensch, welchen die Natur in großem Stile
aufgebaut und erfunden hat was ist das?Erstens:
er hat in seinem gesamten Tun eine lange Logik, die ihrer Länge wegen schwer
überschaubar, folglich irreführend ist, eine Fähigkeit, über
große Flächen seines Lebens hin seinen Willen auszuspannen und alles
kleine Zeug an sich zu verachten und wegzuwerfen, seien darunter auch die schönsten,
»göttlichsten« Dinge von der Welt.Zweitens:
er ist kälter, härter, unbedenklicher und ohne Furcht vor der »Meinung«;
es fehlen ihm die Tugenden, welche mit der »Achtung« und dem Geachtetwerden
zusammenhängen, überhaupt alles, was zur »Tugend der Herde«
gehört. Kann er nicht führen, so geht er allein; es kommt dann
vor, daß er manches, was ihm auf dem Wege begegnet, angrunzt.Drittens:
er will kein »teilnehmendes« Herz, sondern Diener, Werkzeuge; er ist,
im Verkehre mit Menschen, immer dar auf aus, etwas aus ihnen zu machen. Er weiß
sich unmittelbar: er findet es geschmacklos, wenn er vertraulich wird; und er
ist es gewöhnlich nicht, wenn man ihn dafür hält. Wenn er nicht
zu sich redet, hat er seine Maske. Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit
redet: es kostet mehr Geist und Willen. Es ist eine Einsamkeit in ihm,
als welche etwas Unerreichbares ist für Lob und Tadel, eine eigene Gerichtsbarkeit,
welche keine Instanz über sich hat.Ders., Der Wille zur Macht, S. 641-642 |
Der
große Mensch ist notwendig Skeptiker (womit nicht gesagt ist, daß
er es scheinen müßte), vorausgesetzt, daß dies die Größe
ausmacht: etwas Großes wollen und die Mittel dazu. Die Freiheit von jeder
Art Überzeugung gehört zur Stärke seines Willens. So ist
es jenem »aufgeklärten Despotismus« gemäß, den jede
große Leidenschaft ausübt. Eine solche nimmt den Intellekt in ihren
Dienst; sie hat den Mut auch zu unheiligen Mitteln; sie macht unbedenklich; sie
gönnt sich Überzeugungen, sie braucht sie selbst, aber sie unterwirft
sich ihnen nicht. Das Bedürfnis nach Glauben, nach irgend etwas Unbedingtem
in Ja und Nein ist ein Beweis der Schwäche; alle Schwäche ist Willensschwäche.
Der Mensch des Glaubens, der Gläubige ist notwendig eine kleine Art Mensch.
Hieraus ergibt sich, daß »Freiheit des Geistes«, d.h. Unglaube
als Instinkt, Vorbedingung der Größe ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 642 |
Der
große Mensch fühlt seine Macht über ein Volk, sein zeitweiliges
Zusammenfallen mit einem Volke oder einem Jahrtausende diese Vergrößerung
im Gefühl von sich als causa und voluntas wird mißverstanden
als »Altruismus« es drängt ihn nach Mitteln der
Mitteilung: alle großen Menschen sind erfinderisch in solchen Mitteln. Sie
wollen sich hineingestalten in große Gemeinden, sie wollen eine Form dem
Vielartigen, Ungeordneten geben, es reizt sie, das Chaos zu sehn. Mißverständnis
der Liebe. Es gibt eine sklavische Liebe, welche sich unterwirft und weggibt:
welche idealisiert und sich täuscht es gibt eine göttliche Liebe,
welche verachtet und liebt und das Geliebte umschafft, hinaufträgt.
Jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um, durch Züchtung
und andrerseits durch Vernichtung von Millionen Mißratener, den zukünftigen
Menschen zu gestalten und nicht zugrunde zu gehn an dem Leid, das man schafft
und dessengleichen noch nie da war!Ders., Der Wille zur Macht, S. 642-643 |
Die
Revolution, Verwirrung und Not der Völker ist das Geringere in meiner Betrachtung
gegen die Not der großen Einzelnen in ihrer Entwicklung. Man muß
sich nicht täuschen lassen: die vielen Nöte aller dieser Kleinen
bilden zusammen keine Summe, außer im Gefühle von mächtigen
Menschen. An sich denken, in Augenblicken großer Gefahr: seinen Nutzen
ziehn aus dem Nachteile vieler das kann bei einem sehr hohen Grade von
Abweichung ein Zeichen großen Charakters sein, der über seine mitleidigen
und gerechten Empfindungen Herr wird.Ders., Der Wille zur Macht, S. 643 |
Der
Mensch hat, im Gegensatz zum Tier, eine Fülle gegensätzlicher
Triebe und Impulse in sich großgezüchtet: vermöge dieser Synthesis
ist er der Herr der Erde. Moralen sind der Ausdruck lokal beschränkter
Rangordnungen in dieser vielfachen Welt der Triebe: so daß an ihren
Widersprüchen der Mensch nicht zugrunde geht. Also ein Trieb als Herr,
sein Gegentrieb geschwächt, verfeinert, als Impuls, der den Reiz für
die Tätigkeit des Haupttriebes abgibt. Der höchste Mensch würde
die größte Vielheit der Triebe haben, und auch in der relativ größten
Stärke, die sich noch ertragen läßt. In der Tat: wo die Pflanze
Mensch sich stark zeigt, findet man die mächtig gegeneinander treibenden
Instinkte (z. B. Shakespeare), aber gebändigt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 643-644 |
Ob
man nicht ein Recht hat, alle großen Menschen unter die bösen
zu rechnen? Im einzelnen ist es nicht rein aufzuzeigen. Oft ist ihnen ein meisterhaftes
Versteckenspielen möglich gewesen, so daß sie die Gebärden und
Äußerlichkeiten großer Tugenden annahmen. Oft verehrten sie die
Tugenden ernsthaft und mit einer leidenschaftlichen Härte gegen sich selber,
aber aus Grausamkeit dergleichen täuscht, aus der Ferne gesehen. Manche
verstanden sich selber falsch; nicht selten fordert eine große Aufgabe große
Qualitäten heraus, z. B. die Gerechtigkeit. Das Wesentliche ist: die Größten
haben vielleicht auch große Tugenden, aber gerade dann noch deren Gegensätze.
Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der Gegensätze und aus deren
Gefühle gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen Spannung,
entstehtDers., Der Wille zur Macht, S. 644 |
Im
großen Menschen sind die spezifischen Eigenschaften des Lebens
Unrecht, Lüge, Ausbeutung am größten. Insofern sie aber
überwältigend gewirkt haben, ist ihr Wesen am besten mißverstanden
und ins Gute interpretiert worden. Typus Carlyle als Interpret.Ders., Der Wille zur Macht, S. 644-645 |
Im
allgemeinen ist jedes Ding so viel wert, als man dafür bezahlt hat. Dies
gilt freilich nicht, wenn man das Individuum isoliert nimmt; die großen
Fähigkeiten des einzelnen stehen außer allem Verhältnis zu dem,
was er selbst dafür getan, geopfert, gelitten hat. Aber sieht man seine Geschlechts-Vorgeschichte
an, so entdeckt man da die Geschichte einer Ungeheuern Aufsparung und Kapital-Sammlung
von Kraft, durch alle Art Verzichtleisten, Ringen, Arbeiten, Sich-Durchsetzen.
Weil der große Mensch so viel gekostet hat und nicht, weil er wie ein Wunder,
als Gabe des Himmels und »Zufalls« dasteht, wurde er groß
»Vererbung« ein falscher Begriff. Für das, was einer ist, haben
seine Vorfahren die Kosten bezahlt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 645 |
Menschen,
die Schicksale sind, die, indem sie sich tragen, Schicksale tragen, die ganze
Art der heroischen Lastträger: o wie gerne möchten sie einmal
von sich selber ausruhn! wie dürsten sie nach starken Herzen und Nacken,
um für Stunden wenigstens loszuwerden, was sie drückt! Und wie umsonst
dürsten sie! ... Sie warten; sie sehen sich alles an, was vorübergeht:
niemand kommt ihnen auch nur mit dem Tausendstel Leiden und Leidenschaft entgegen,
niemand errät, inwiefern sie warten .... Endlich, endlich lernen sie
ihre erste Lebensklugheit nicht mehr zu warten; und dann alsbald auch ihre
zweite: leutselig zu sein, bescheiden zu sein, von nun an jedermann zu ertragen,
jederlei zu ertragen kurz, noch ein wenig mehr zu ertragen, als
sie bisher schon getragen haben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 646 |
Gesetzgeber
der Zukunft. Nachdem ich lange und umsonst mit dem Worte »Philosoph«
einen bestimmten Begriff zu verbinden suchte denn ich fand viele
entgegengesetzte Merkmale , erkannte ich endlich, daß es zwei unterschiedliche
Arten von Philosophen gibt:1. solche, welche
irgendeinen großen Tatbestand von Wertschätzungen (logisch oder moralisch)
feststellen wollen;2. solche, welche Gesetzgeber
solcher Wertschätzungen sind.Die ersten
suchen sich der vorhandenen oder vergangenen Welt zu bemächtigen, indem sie
das mannigfach Geschehende durch Zeichen zusammenfassen und abkürzen: ihnen
liegt daran, das bisherige Geschehen übersichtlich, überdenkbar, faßbar,
handlich zu machen sie dienen der Aufgabe des Menschen, alle vergangenen
Dinge zum Nutzen seiner Zukunft zu verwenden.Die
zweiten aber sind Befehlende; sie sagen: »So soll es sein!«
Sie bestimmen erst das »Wohin« und »Wozu«, den Nutzen,
was Nutzen der Menschen ist; sie verfügen über die Vorarbeit der wissenschaftlichen
Menschen, und alles Wissen ist ihnen nur ein Mittel zum Schaffen. Diese zweite
Art von Philosophen gerät selten; und in der Tat ist ihre Lage und Gefahr
ungeheuer. Wie oft haben sie sich absichtlich die Augen zugebunden, um nur den
schmalen Raum nicht sehen zu müssen, der sie vom Abgrund und Absturz trennt:
z. B. Plato, als er sich überredete, das »Gute«, wie er es wollte,
sei nicht das Gute Platos, sondern das »Gute an sich«, der ewige Schatz,
den nur irgendein Mensch, namens Plato, auf seinem Wege gefunden habe! In viel
gröberen Formen waltet dieser selbe Wille zur Blindheit bei den Religionsstiftern:
ihr »du sollst« darf durchaus ihren Ohren nicht klingen wie »ich
will« nur als dem Befehl eines Gottes wagen sie ihrer Aufgabe nachzukommen,
nur als »Eingebung« ist ihre Gesetzgebung der Werte eine tragbare
Bürde, unter der ihr Gewissen nicht zerbricht.Sobald
nun jene zwei Trostmittel, das Platos und das Mohammeds, dahingefallen sind und
kein Denker mehr an der Hypothese eines »Gottes« oder »ewiger
Werte« sein Gewissen erleichtern kann, erhebt sich der Anspruch des Gesetzgebers
neuer Werte zu einer neuen und noch nicht erreichten Furchtbarkeit. Nunmehr werden
jene Auserkornen, vor denen die Ahnung einer solchen Pflicht aufzudämmern
beginnt, den Versuch machen, ob sie ihr wie als ihrer größten Gefahr
nicht noch »zur rechten Zeit« durch irgendeinen Seitensprung entschlüpfen
möchten: zum Beispiel indem sie sich einreden, die Aufgabe sei schon gelöst,
oder sie sei unlösbar, oder sie hätten keine Schultern für solche
Lasten, oder sie seien schon mit andern, näheren Aufgaben überladen,
oder selbst diese neue ferne Pflicht sei eine Verführung und Versuchung,
eine Abführung von allen Pflichten, eine Krankheit, eine Art Wahnsinn. Manchem
mag es in der Tat gelingen, auszuweichen: es geht durch die ganze Geschichte hindurch
die Spur solcher Ausweichenden und ihres schlechten Gewissens. Zumeist aber kam
solchen Menschen des Verhängnisses jene erlösende Stunde, jene Herbst-Stunde
der Reife, wo sie mußten, was sie nicht einmal »wollten«
und die Tat, vor der sie sich am meisten vorher gefürchtet hatten, fiel ihnen
leicht und ungewollt vom Baume, als eine Tat ohne Willkür, fast als Geschenk.Ders., Der Wille zur Macht, S. 647-648 |
Der
menschliche Horizont. Man kann die Philosophen auffassen als solche,
welche die äußerste Anstrengung machen, zu erproben, wie weit
sich der Mensch erheben könne besonders Plato: wie weit seine
Kraft reicht. Aber sie tun es als Individuen; vielleicht war der Instinkt der
Cäsaren, der Staatengründer usw. größer, welche daran
denken, wie weit der Mensch getrieben werden könne in der Entwicklung
und unter »günstigen Umständen«. Aber sie begriffen nicht
genug, was günstige Umstände sind. Große Frage: wo bisher die
Pflanze »Mensch« am prachtvollsten gewachsen ist. Dazu ist das vergleichende
Studium der Historie nötig.Ders., Der Wille zur Macht, S. 649 |
Ein
Faktum, ein Werk ist für jede Zeit und jede neue Art von Mensch von neuer
Beredsamkeit. Die Geschichte redet immer neue Wahrheiten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 649 |
Objektiv,
hart, fest, streng bleiben im Durchsetzen eines Gedankens das bringen die
Künstler noch am besten zustande; wenn einer aber Menschen dazu nötig
hat (wie Lehrer, Staatsmänner usw.), da geht die Ruhe und Kälte und
Härte schnell davon. Man kann bei Naturen wie Cäsar und Napoleon etwas
ahnen von einem »interesselosen« Arbeiten an ihrem Marmor, mag dabei
von Menschen geopfert werden, was nur möglich. Auf dieser Bahn liegt die
Zukunft der höchsten Menschen: die größte Verantwortlichkeit
tragen und nicht daran zerbrechen. Bisher waren fast immer Inspirations-Täuschungen
nötig, um selbst den Glauben an sein Recht und seine Hand nicht zu
verlieren.Ders., Der Wille zur Macht, S. 649 |
Weshalb
der Philosoph selten gerät. Zu seinen Bedingungen gehören Eigenschaften,
die gewöhnlich einen Menschen zugrunde richten:1.
eine ungeheure Vielheit von Eigenschaften, er muß eine Abbreviatur des Menschen
sein, aller seiner hohen und niedern Begierden: Gefahr der Gegensätze, auch
des Ekels an sich;2. er muß neugierig nach
den verschiedensten Seiten sein: Gefahr der Zersplitterung;3.
er muß gerecht und billig im höchsten Sinne sein, aber tief auch in
Liebe, Haß (und Ungerechtigkeit);4. er
muß nicht nur Zuschauer, sondern Gesetzgeber sein: Richter und Gerichteter
(insofern er eine Abbreviatur der Welt ist);5.
äußerst vielartig, und doch fest und hart. Geschmeidig.Ders., Der Wille zur Macht, S. 650 |
Der
eigentlich königliche Beruf des Philosophen (nach dem Ausdruck Alkuins
des Angelsachsen): prava corrigere, et recta corroborare, et sancta sublimare.Ders., Der Wille zur Macht, S. 650 |
Der
neue Philosoph kann nur in Verbindung mit einer herrschenden Kaste entstehen,
als deren höchste Vergeistigung. Die große Politik, Erdregierung in
der Nähe; vollständiger Mangel an Prinzipien dafür.Ders., Der Wille zur Macht, S. 650 |
Grundgedanke:
die neuen Werte müssen erst geschaffen werden das bleibt uns nicht
erspart! Der Philosoph muß uns ein Gesetzgeber sein. Neue Arten.
(Wie bisher die höchsten Arten [z. B. Griechen] gezüchtet wurden: diese
Art »Zufall« bewußt wollen.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 650 |
Gesetzt,
man denkt sich einen Philosophen als großen Erzieher, mächtig genug,
um von einsamer Höhe herab lange Ketten von Geschlechtern zu sich hinaufzuziehen:
so muß man ihm auch die unheimlichen Vorrechte des großen Erziehers
zugestehen. Ein Erzieher sagt nie, was er selber denkt: sondern immer nur, was
er im Verhältnis zum Nutzen dessen, den er erzieht, über eine Sache
denkt. In dieser Verstellung darf er nicht erraten werden; es gehört zu seiner
Meisterschaft, daß man an seine Ehrlichkeit glaubt. Er muß aller Mittel
der Zucht und Züchtigung fähig sein: manche Naturen bringt er nur durch
Peitschenschläge des Hohnes vorwärts, andere. Träge, Unschlüssige,
Feige, Eitle, vielleicht mit übertreibendem Lobe. Ein solcher Erzieher ist
jenseits von Gut und Böse; aber niemand darf es wissen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 651 |
Nicht
die Menschen »besser« machen, nicht zu ihnen auf irgendeine Art
Moral reden, als ob »Moralität an sich«, oder eine ideale Art
Mensch überhaupt, gegeben sei: sondern Zustände schaffen, unter
denen stärkere Menschen nötig sind, welche ihrerseits eine Moral
(deutlicher: eine leiblich-geistige Disziplin), welche stark macht, brauchen
und folglich haben werden! Sich nicht durch blaue Augen oder geschwellte Busen
verführen lassen: die Größe der Seele hat nichts Romantisches
an sich. Und leider gar nichts Liebenswürdiges!Ders., Der Wille zur Macht, S. 651 |
Man
muß von den Kriegen her lernen:1. den Tod
in die Nähe der Interessen zu bringen, für die man kämpft
das macht uns ehrwürdig; 2. man muß
lernen, viele zum Opfer bringen und seine Sache wichtig genug nehmen, um die Menschen
nicht zu schonen;3. die starre Disziplin, und
im Krieg Gewalt und List sich zugestehn.Ders., Der Wille zur Macht, S. 651-652 |
Die
Erziehung zu jenen Herrscher-Tugenden, welche auch über sein
Wohlwollen und Mitleiden Herr werden: die großen Züchter-Tugenden (»seinen
Feinden vergeben« ist dagegen Spielerei), den Affekt des Schaffenden
auf die Höhe bringen nicht mehr Marmor behauen! Die
Ausnahme- und Macht-Stellung jener Wesen (verglichen mit der der bisherigen Fürsten):
der römische Cäsar mit Christi Seele.Ders., Der Wille zur Macht, S. 652 |
Seelengröße
nicht zu trennen von geistiger Größe. Denn sie involviert Unabhängigkeit;
aber ohne geistige Größe soll diese nicht erlaubt sein, sie richtet
Unfug an, selbst noch durch Wohltun-wollen und »Gerechtigkeit«-üben.
Die geringen Geister haben zu gehorchen können also nicht Größe
haben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 652 |
Der
höhere philosophische Mensch, der um sich Einsamkeit hat, nicht weil er allein
sein will, sondern weil er etwas ist, das nicht seinesgleichen findet: welche
Gefahren und neuen Leiden sind ihm gerade heute aufgespart, wo man den Glauben
an die Rangordnung verlernt hat und folglich diese Einsamkeit nicht zu ehren und
nicht zu verstehen weiß! Ehemals heiligte sich der Weise beinahe durch ein
solches Beiseite-gehen für das Gewissen der Menge heute sieht sich
der Einsiedler wie mit einer Wolke trüber Zweifel und Verdächtigungen
umringt. Und nicht etwa nur von seiten der Neidischen und Erbärmlichen:
er muß Verkennung, Vernachlässigung und Oberflächlichkeit noch
an jedem Wohlwollen herausempfinden, das er erfährt, er kennt jene Heimtücke
des beschränkten Mitleidens, welches sich selber gut und heilig fühlt,
wenn es ihn, etwa durch bequemere Lagen, durch geordnetere, zuverlässigere
Gesellschaft, vor sich selber zu »retten« sucht ja er wird
den unbewußten Zerstörungstrieb zu bewundern haben, mit dem alle Mittelmäßigen
des Geistes gegen ihn tätig sind, und zwar im besten Glauben an ihr Recht
dazu! Es ist für Men schen dieser unverständlichen Vereinsamung nötig,
sich tüchtig und herzhaft auch in den Mantel der äußeren, der
räumlichen Einsamkeit zu wickeln: das gehört zu ihrer Klugheit. Selbst
List und Verkleidung werden heute not tun, damit ein solcher Mensch sich selber
erhalte, sich selber oben erhalte, inmitten der niederziehenden gefährlichen
Stromschnellen der Zeit. Jeder Versuch, es in der Gegenwart, mit der Gegenwart
auszuhalten, jede Annäherung an diese Menschen und Ziele von heute muß
er wie seine eigentliche Sünde abbüßen: und er mag die verborgene
Weisheit seiner Natur anstaunen, welche ihn bei allen solchen Versuchen sofort
durch Krankheit und schlimme Unfälle wieder zu sich selber zurückzieht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 652-653 |
Die
schwierigste und höchste Gestalt des Menschen wird am seltensten gelingen:
so zeigt die Geschichte der Philosophie eine Überfülle von Mißratenen,
von Unglücksfällen und ein äußerst langsames Schreiten; ganze
Jahrtausende fallen dazwischen und erdrücken, was erreicht war; der Zusammenhang
hört immer wieder auf. Das ist eine schauerliche Geschichte die Geschichte
des höchsten Menschen, des Weisen. Am meisten geschädigt ist
gerade das Gedächtnis der Großen, denn die Halb-Geratenen und Mißratenen
verkennen sie und besiegen sie durch »Erfolge«. Jedesmal, wo »die
Wirkung« sich zeigt, tritt eine Masse Pöbel auf den Schauplatz; das
Mitreden der Kleinen und der Armen im Geiste ist eine fürchterliche Ohrenmarter
für den, der mit Schauder weiß, daß das Schicksal der Menschheit
am Geraten ihres höchsten Typus liegt. Ich habe von Kindesbeinen
an über die Existenzbedingungen des Weisen nachgedacht und will meine frohe
Überzeugung nicht verschweigen, daß er jetzt in Europa wieder möglich
wird vielleicht nur für kurze Zeit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 653-654 |
Die
neuen Philosophen aber beginnen mit der Darstellung der tatsächlichen Rangordnung
und Wert-Verschiedenheit der Menschen sie wollen, ach, gerade das Gegenteil
einer Anähnlichung, einer Ausgleichung sie lehren die Entfremdung in jedem
Sinne, sie reißen Klüfte auf, wie es noch keine gegeben hat, sie wollen,
daß der Mensch böser werde, als er je war. Einstweilen leben sie noch
selber einander fremd und verborgen. Es wird ihnen aus vielen Gründen nötig
sein, Einsiedler zu sein und selbst Masken vorzunehmen sie werden folglich
schlecht zum Suchen von ihresgleichen taugen. Sie werden allein leben und wahrscheinlich
die Martern aller sieben Einsamkeiten kennen. Laufen sie sich aber über den
Weg, durch einen Zufall, so ist darauf zu wetten, daß sie sich verkennen
oder wechselseitig betrügen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 654 |
Ich
vergaß zu sagen, daß solche Philosophen heiter sind und daß
sie gerne in dem Abgrund eines vollkommen hellen Himmels sitzen sie haben
andere Mittel nötig, das Leben zu ertragen, als andere Menschen; denn sie
leiden anders (nämlich ebensosehr an der Tiefe ihrer Menschen-Verachtung
als an ihrer Menschen-Liebe). Das leidendste Tier auf Erden erfand sich
das Lachen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 655 |
Über
das Mißverständnis der »Heiterkeit«. Zeitweilige Erlösung
von der langen Spannung; der Übermut, die Saturnalien eines Geistes, der
sich zu langen und furchtbaren Entschlüssen weiht und vorbereitet. Der »Narr«
in der Form der »Wissenschaft«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 655 |
Neue
Rangordnung der Geister: nicht mehr die tragischen Naturen voran.Ders., Der Wille zur Macht, S. 655 |
Es
ist mir ein Trost, zu wissen, daß über dem Dampf und Schmutz der menschlichen
Niederungen es eine höhere, hellere Menschheit gibt, die der Zahl
nach eine sehr kleine sein wird ( denn alles, was hervorragt, ist seinem
Wesen nach selten): man gehört zu ihr, nicht weil man begabter oder tugendhafter
oder heroischer oder liebevoller wäre als die Menschen da unten, sondern
weil man kälter, heller, weitsichtiger, einsamer ist, weil
man die Einsamkeit erträgt, vorzieht, fordert als Glück, Vorrecht, ja
Bedingung des Daseins, weil man unter Wolken und Blitzen wie unter seinesgleichen
lebt, aber ebenso unter Sonnenstrahlen, Tautropfen, Schneeflocken und allem, was
notwendig aus der Höhe kommt und, wenn es sich bewegt, sich ewig nur in der
Richtung von oben nach unten bewegt. Die Aspirationen nach der Höhe
sind nicht die unsrigen. Die Helden, Märtyrer, Genies und Begeisterten
sind uns nicht still, geduldig, fein, kalt, langsam genug.Ders., Der Wille zur Macht, S. 655-656 |
Absolute
Überzeugung: daß die Wertgefühle oben und unten verschieden
sind; daß zahllose Erfahrungen den Unteren fehlen, daß
von unten nach oben das Mißverständnis notwendig ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 656 |
Wie
kommen Menschen zu einer großen Kraft und zu einer großen Aufgabe?
Alle Tugend und Tüchtigkeit am Leib und an der Seele ist mühsam und
im kleinen erworben worden, durch viel Fleiß, Selbstbezwingung, Beschränkung
auf weniges, durch viel zähe, treue Wiederholung der gleichen Arbeiten, der
gleichen Entsagungen: aber es gibt Menschen, welche die Erben und Herren dieses
langsam erworbenen vielfachen Reichtums an Tugenden und Tüchtigkeiten sind
weil auf Grund glücklicher und vernünftiger Ehen und auch glücklicher
Zufälle die erworbenen und gehäuften Kräfte vieler Geschlechter
nicht verschleudert und versplittert, sondern durch einen festen Ring und Willen
zusammengebunden sind. Am Ende nämlich erscheint ein Mensch, ein Ungeheuer
von Kraft, welches nach einem Ungeheuer von Aufgabe verlangt. Denn unsere Kraft
ist es, welche über uns verfügt: und das erbärmliche geistige Spiel
von Zielen und Absichten und Beweggründen nur ein Vordergrund mögen
schwache Augen auch hierin die Sache selber sehn.Ders., Der Wille zur Macht, S. 656-657 |
Der
sublime Mensch hat den höchsten Wert, auch wenn er ganz zart und zerbrechlich
ist, weil eine Fülle von ganz schweren und seltenen Dingen durch viele Geschlechter
gezüchtet und beisammen erhalten worden ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 657 |
Ich
lehre: daß es höhere und niedere Menschen gibt und daß ein einzelner
ganzen Jahrtausenden unter Umständen ihre Existenz rechtfertigen kann
das heißt ein voller, reicher, großer, ganzer Mensch in Hinsicht auf
zahllose unvollständige Bruchstück-Menschen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 657 |
Jenseits
der Herrschenden, losgelöst von allen Banden, leben die höchsten Menschen:
und in den Herrschenden haben sie ihre Werkzeuge.Ders., Der Wille zur Macht, S. 657 |
Rangordnung:
Der die Werte bestimmt und den Willen von Jahrtausenden lenkt, dadurch, daß
er die höchsten Naturen lenkt, ist der höchste Mensch.Ders., Der Wille zur Macht, S. 657 |
Ich
glaube, ich habe einiges aus der Seele des höchsten Menschen erraten;
vielleicht geht jeder zugrunde, der ihn errät: aber wer ihn gesehn
hat, muß helfen, ihn zu ermöglichen. Grundgedanke: wir müssen
die Zukunft als maßgebend nehmen für alle unsere Wertschätzung
und nicht hinter uns die Gesetze unseres Handelns suchen!Ders., Der Wille zur Macht, S. 657-658 |
Nicht
»Menschheit«, sondern Übermensch ist das Ziel!Ders., Der Wille zur Macht, S. 658 |
Dem
Wohlgeratenen, der meinem Herzen wohltut, aus einem Holz geschnitzt, welches
hart, zart und wohlriechend ist an dem selbst die Nase noch ihre Freude
hat , sei dies Buch geweiht.Ihm schmeckt,
was ihm zuträglich ist;sein Gefallen an
etwas hört auf, wo das Maß des Zuträglichen überschritten
wird;er errät die Heilmittel gegen partielle
Schädigungen; er hat Krankheiten als große Stimulantia seines Lebens;er
versteht seine schlimmen Zufälle auszunützen;er
wird stärker, durch die Unglücksfälle, die ihn zu vernichten drohen;er
sammelt instinktiv aus allem, was er sieht, hört, erlebt, zugunsten seiner
Hauptsache er folgt einem auswählenden Prinzip er läßt
viel durchfallen;er reagiert mit der Langsamkeit,
welche eine lange Vorsicht und ein gewollter Stolz angezüchtet haben
er prüft den Reiz, woher er kommt, wohin er will, er unterwirft sich nicht;er
ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen oder
Landschaften verkehrt;er ehrt, indem er wählt,
indem er zuläßt, indem er vertraut.Ders., Der Wille zur Macht, S. 659 |
Eine
Höhe und Vogelschau der Betrachtung gewinnen, wo man begreift, wie alles
so, wie es gehen sollte, auch wirklich geht: wie jede Art »Unvollkommenheit«
und das Leiden an ihr mit hinein in die höchste Wünschbarkeit
gehörtDers., Der Wille zur Macht, S. 659-660 |
Gegen
1876 hatte ich den Schrecken, mein ganzes bisheriges Wollen kompromittiert
zu sehen, als ich begriff, wohin es jetzt mit Wagner hinauswollte: und ich war
sehr fest an ihn gebunden, durch alle Bande der tiefen Einheit der Bedürfnisse,
durch Dankbarkeit, durch die Ersatzlosigkeit und absolute Entbehrung, die ich
vor mir sah. Um dieselbe Zeit schien ich mir wie unauflösbar eingekerkert
in meine Philologie und Lehrtätigkeit in einen Zufall und Notbehelf
meines Lebens : ich wußte nicht mehr, wie herauskommen, und war müde,
verbraucht, vernutzt. Um dieselbe Zeit begriff ich, daß mein Instinkt auf
das Gegenteil hinauswollte als der Schopenhauers: auf eine Rechtfertigung des
Lebens, selbst in seinem Furchtbarsten, Zweideutigsten und Lügenhaftesten
dafür hatte ich die Formel »dionysisch«, in den
Händen. Daß ein »An-sich der Dinge« notwendig gut, selig,
wahr, eins sein müsse, dagegen war Schopenhauers Interpretation des »An-sichs«
als Wille ein wesentlicher Schritt: nur verstand er nicht, diesen Willen zu vergöttlichen:
er blieb im moralisch-christlichen Ideal hängen. Schopenhauer stand so weit
noch unter der Herrschaft der christlichen Werte, daß er, nachdem ihm das
Ding an sich nicht mehr »Gott« war, es schlecht, dumm, absolut verwerflich
sehen mußte. Er begriff nicht, daß es unendliche Arten des Anders-sein-könnens,
selbst des Gott-sein-könnens geben kann.Ders., Der Wille zur Macht, S. 660-661 |
Die
moralischen Werte waren bis jetzt die obersten Werte: will das jemand in Zweifel
ziehen?... Entfernen wir diese Werte von jener Stelle, so verändern wir alle
Werte: das Prinzip ihrer bisherigen Rangordnung ist damit umgeworfen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 661 |
Werte
umwerten was wäre das? Es müssen die spontanen Bewegungen
alle da sein, die neuen, zukünftigen, stärkeren: nur stehen sie noch
unter falschen Namen und Schätzungen und sind sich selbst noch nicht bewußt
geworden.Ein mutiges Bewußt-werden und Ja-sagen zu dem, was erreicht
ist ein Losmachen von dem Schlendrian alter Wertschätzungen, die uns
entwürdigen im Besten und Stärksten, was wir erreicht haben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 661 |
Jede
Lehre ist überflüssig, für die nicht alles schon bereitliegt an
aufgehäuften Kräften, an Explosiv-Stoffen. Eine Umwertung von Werten
wird nur erreicht, wenn eine Spannung von neuen Bedürfnissen, von Neu-Bedürftigen
da ist, welche an den alten Werten leiden, ohne zum Bewußtsein zu kommen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 661-662 |
Gesichtspunkte
für meine Werte: ob aus der Fülle oder aus dem Verlangen? ob man zusieht
oder Hand anlegt oder wegsieht, beiseite geht?... ob aus der aufgestauten
Kraft, »spontan«, oder bloß reaktiv angeregt, angereizt?
ob einfach, aus Wenigkeit der Elemente, oder aus überwältigender
Herrschaft über viele, so daß sie dieselben in Dienst nimmt, wenn sie
sie braucht? ob man Problem oder Lösung ist? ob vollkommen bei
der Kleinheit der Aufgabe oder unvollkommen bei dem Außerordentlichen
eines Ziels? ob man echt oder nur Schauspieler, ob man als Schauspieler
echt oder nur ein nachgemachter Schauspieler, ob man »Vertreter« oder
das Vertretene selbst ist ? ob »Person« oder bloß ein
Rendez-vous von Personen ..., ob krank aus Krankheit oder aus überschüssiger
Gesundheit? ob man vorangeht als Hirt oder als »Ausnahme« (dritte
Spezies: als Entlaufener)? ob man Würde nötig hat oder
den »Hanswurst«? ob man den Widerstand sucht oder ihm aus dem Wege
geht? ob man unvollkommen ist, als »zu früh« oder als »zu
spät«? ob man von Natur ja sagt oder nein sagt oder ein Pfauenwedel
von bunten Dingen ist? ob man stolz genug ist, um sich auch seiner Eitelkeit nicht
zu schämen? ob man eines Gewissensbisses noch fähig ist ( die
Spezies wird selten: früher hatte das Gewissen zu viel zu beißen: es
scheint, jetzt hat es nicht mehr Zähne genug dazu)? ob man einer »Pflicht«
noch fähig ist? ( es gibt solche, die sich den Rest ihrer Lebenslust
rauben würden, wenn sie sich die Pflicht rauben ließen
sonderlich die Weiblichen, die Untertänig-Geborenen.)Ders., Der Wille zur Macht, S. 662 |
Gesetzt,
unsere übliche Auffassung der Welt wäre ein Mißverständnis:
könnte eine Vollkommenheit konzipiert werden, innerhalb deren selbst
solche Mißverständnisse sanktioniert wären? Konzeption
einer neuen Vollkommenheit: das, was unserer Logik, unserem »Schönen«,
unserem »Guten«, unserem »Wahren« nicht entspricht, könnte
in einem höheren Sinne vollkommen sein, als es unser Ideal selbst
ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 662-663 |
Unsere
große Bescheidung: das Unbekannte nicht vergöttern; wir fangen eben
an, wenig zu wissen. Die falschen und verschwendeten Bemühungen. Unsere »neue
Welt«: wir müssen erkennen, bis zu welchem Grade wir die Schöpfer
unsrer Wertgefühle sind also »Sinn« in die Geschichte
legen können.Dieser Glaube an die Wahrheit geht in uns zu seiner letzten
Konsequenz ihr wißt, wie sie lautet : daß, wenn es überhaupt
etwas anzubeten gibt, es der Schein ist, der angebetet werden muß, daß
die Lüge und nicht die Wahrheit göttlich ist!Ders., Der Wille zur Macht, S. 663 |
Wer
die Vernünftigkeit vorwärts stößt, treibt damit die entgegengesetzte
Macht auch wieder zu neuer Kraft, die Mystik und Narrheit aller Art. In jeder
Bewegung zu unterscheiden:1. daß sie
teilweise Ermüdung ist von einer vorhergegangenen Bewegung (Sattheit
davon, Bosheit der Schwäche gegen sie, Krankheit);2.
daß sie teilweise eine neu aufgewachte, lange schlummernde aufgehäufte
Kraft ist, freudig, übermutig, gewalttätig: Gesundheit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 663 |
Gesundheit
und Krankhaftigkeit: man sei vorsichtig! Der Maßstab bleibt die Effloreszenz
des Leibes, die Sprungkraft, Mut und Lustigkeit des Geistes aber, natürlich
auch, wieviel von Krankhaftem er auf sich nehmen und überwinden kann
gesund machen kann. Das, woran die zarteren Menschen zugrunde gehen würden,
gehört zu den Stimulanz-Mitteln der großen Gesundheit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 663-664 |
Es
ist nur eine Sache der Kraft: alle krankhaften Züge des Jahrhunderts haben,
aber ausgleichen in einer überreichen plastischen wiederherstellenden Kraft.
Der starke Mensch.Ders., Der Wille zur Macht, S. 664 |
Zur
Stärke des 19. Jahrhunderts. Wir sind mittelalterlicher
als das 18. Jahrhundert; nicht bloß neugieriger oder reizbarer für
Fremdes und Seltnes. Wir haben gegen die Revolution revoltiert .... Wir
haben uns von der Furcht vor der raison, dem Gespenst des 18. Jahrhunderts,
emanzipiert: wir wagen wieder absurd, kindisch, lyrisch zu sein mit einem
Wort: »wir sind Musiker«. Ebensowenig fürchten wir uns vor
dem Lächerlichen wie vor dem Absurden. Der Teufel findet die Toleranz
Gottes zu seinen Gunsten: mehr noch, er hat ein Interesse als der Verkannte, Verleumdete
von alters her wir sind die Ehrenretter des Teufels. Wir trennen das Große
nicht mehr von dem Furchtbaren. Wir rechnen die guten Dinge zusammen in ihrer
Komplexität mit den schlimmsten: wir haben die absurde »Wünschbarkeit«
von ehedem überwunden (die das Wachstum des Guten wollte ohne das
Wachstum des Bösen ). Die Feigheit vor dem Ideal der Renaissance hat
nachgelassen wir wagen es, zu ihren Sitten selbst zu aspirieren. Die Intoleranz
gegen den Priester und die Kirche hat zu gleicher Zeit ein Ende bekommen; »es
ist unmoralisch, an Gott zu glauben« aber gerade das gilt uns als
die beste Form der Rechtfertigung dieses Glaubens. Wir haben alledem ein Recht
bei uns gegeben. Wir fürchten uns nicht vor der Kehrseite der »guten
Dinge« ( wir suchen sie: wir sind tapfer und neugierig genug
dazu), z.B. am Griechentum, an der Moral, an der Vernunft, am guten Geschmack
( wir rechnen die Einbuße nach, die man mit all solchen Kostbarkeiten
macht: man macht sich beinahe arm mit einer solchen Kostbarkeit ).
Ebensowenig verhehlen wir uns die Kehrseite der schlimmen DingeDers., Der Wille zur Macht, S. 664-665 |
Was
uns Ehre macht. Wenn irgend etwas uns Ehre macht, so ist es dies: wir
haben den Ernst woandershin gelegt: wir nehmen die von allen Zeiten verachteten
und beiseite gelassenen niedrigen Dinge wichtig wir geben dagegen die »schönen
Gefühle« wohlfeil. Gibt es eine gefährlichere Verirrung als die
Verachtung des Leibes? Als ob nicht mit ihr die ganze Geistigkeit verurteilt wäre
zum Krankhaft-werden, zu den vapeurs des »Idealismus«! Es hat
alles nicht Hand noch Fuß, was von Christen und Idealisten ausgedacht ist:
wir sind radikaler. Wir haben die »kleinste Welt« als das überall
Entscheidende entdeckt. Straßenpflaster, gute Luft im Zimmer, die Speise
auf ihren Wertbegriffen; wir haben Ernst gemacht mit allen Nezessitäten
des Daseins und verachten alles »Schönseelentum« als eine Art
der »Leichtfertigkeit und Frivolität«. Das bisher Verachtetste
ist in die erste Linie gerückt.Ders., Der Wille zur Macht, S. 665 |
Statt
des »Naturmenschen« Rousseaus hat das 19. Jahrhundert ein wahreres
Bild vom »Menschen« entdeckt es hat dazu den Mut gehabt...
Im ganzen ist damit dem christlichen Begriff »Mensch« eine Wiederherstellung
zuteil geworden. Wozu man nicht den Mut gehabt hat, das ist, gerade diesen »Mensch
an sich« gutzuheißen und in ihm die Zukunft des Menschen garantiert
zu sehen. Insgleichen hat man nicht gewagt, das Wachstum der Furchtbarkeit
des Menschen als Begleiterscheinung jedes Wachstums der Kultur zu begreifen; man
ist darin immer noch dem christlichen Ideal unterwürfig und nimmt dessen
Partei gegen das Heidentum, insgleichen gegen den RenaissanceBegriff der virtù.
So aber hat man den Schlüssel nicht zur Kultur: und in praxi bleibt es bei
der Falschmünzerei der Geschichte zugunsten des »guten Menschen«
(wie als ob er allein der Fortschritt des Menschen sei) und beim sozialistischen
Ideal (d.h. dem Residuum des Christentums und Rousseaus in der entchristlichten
Welt). Der Kampf gegen das 18. Jahrhundert: dessen höchste Überwindung
durch Goethe und Napoleon. Auch Schopenhauer kämpft gegen dasselbe;
unfreiwillig aber tritt er zurück ins 17. Jahrhundert er ist ein moderner
Pascal, mit Pascalschen Werturteilen ohne Christentum. Schopenhauer war nicht
stark genug zu einem neuen Ja. Napoleon: die notwendige Zusammengehörigkeit
des höheren und des furchtbaren Menschen begriffen. Der »Mann«
wiederhergestellt; dem Weibe der schuldige Tribut von Verachtung und Furcht zurückgewonnen.
Die »Totalität« als Gesundheit und höchste Aktivität;
die gerade Linie, der große Stil im Handeln wiederentdeckt; der mächtigste
Instinkt, der des Lebens selbst, die Herrschsucht, bejaht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 665-667 |
Zum
Pessimismus der Stärke. In dem innern Seelen-Haushalt des primitiven
Menschen überwiegt die Furcht vor dem Bösen. Was ist das Böse?
Dreierlei: der Zufall, das Ungewisse, das Plötzliche. Wie bekämpft der
primitive Mensch das Böse? Er konzipiert
es als Vernunft, als Macht, als Person selbst. Dadurch gewinnt er die Möglichkeit,
mit ihnen eine Art Vertrag einzugehn und überhaupt auf sie im voraus einzuwirken
zu prävenieren. Ein anderes
Auskunftsmittel ist, die bloße Scheinbarkeit ihrer Bosheit und Schädlichkeit
zu behaupten: man legt die Folgen des Zufalls, des Ungewissen, des Plötzlichen
als wohlgemeint, als sinnvoll aus. Ein
drittes Mittel: man interpretiert vor allem das Schlimme als »verdient«:
man rechtfertigt das Böse als Strafe.
In summa: man unterwirft sich ihm : die ganze moralisch-religiöse
Interpretation ist nur eine Form der Unterwerfung unter das Böse.
Der Glaube, daß im Bösen ein guter Sinn sei, heißt Verzicht leisten,
es zu bekämpfen.Nun stellt die ganze Geschichte
der Kultur eine Abnahme jener Furcht vor dem Zufalle, vor dem Ungewissen,
vor dem Plötzlichen dar. Kultur, das heißt eben berechnen
lernen, kausal denken lernen, prävenieren lernen, an Notwendigkeit glauben
lernen. Mit dem Wachstum der Kultur wird dem Menschen jene primitive Form der
Unterwerfung unter das Übel (Religion oder Moral genannt), jene »Rechtfertigung
des Übels« entbehrlich. Jetzt macht er Krieg gegen das »Übel«
er schafft es ab. Ja, es ist ein Zustand von Sicherheitsgefühl, von
Glaube an Gesetz und Berechenbarkeit möglich, wo er als Überdruß
ins Bewußtsein tritt wo die Lust am Zufall, am Ungewissen und am
Plötzlichen als Kitzel hervorspringt. Verweilen wir einen Augenblick bei
diesem Symptom höchster Kultur ich nenne ihn den Pessimismus
der Stärke. Der Mensch braucht jetzt nicht mehr eine »Rechtfertigung
des Übels«, er perhorresziert gerade das »Rechtfertigen«:
er genießt das Übel pur, cru, er findet das sinnlose Übel
als das interessanteste. Hat er früher einen Gott nötig gehabt, so entzückt
ihn jetzt eine Welt-Unordnung ohne Gott, eine Welt des Zufalls, in der das Furchtbare,
das Zweideutige, das Verführerische zum Wesen gehört. In einem solchen
Zustande bedarf gerade das Gute einer »Rechtfertigung«, d.h.
es muß einen bösen und gefährlichen Untergrund haben oder eine
große Dummheit in sich schließen: dann gefällt es noch.
Die Animalität erregt jetzt nicht mehr Grausen; ein geistreicher und glücklicher
Übermut zugunsten des Tiers im Menschen ist in solchen Zeiten die triumphierendste
Form der Geistigkeit. Der Mensch ist nunmehr stark genug dazu, um sich eines Glaubens
an Gott schämen zu dürfen er darf jetzt von neuem den advocatus
diaboli spielen. Wenn er in praxi die Aufrechterhaltung der Tugend befürwortet,
so tut er es um der Gründe willen, welche in der Tugend eine Feinheit, Schlauheit,
Gewinnsuchts-, Machtsuchtsform erkennen lassen. Auch dieser Pessimismus der
Stärke endet mit einer Theodizee, d.h. mit einem absoluten Ja-sagen
zu der Welt aber um der Gründe willen, auf die hin man zu ihr ehemals
nein gesagt hat : und dergestalt zur Konzeption dieser Welt als des tatsächlich
erreichten höchstmöglichen Ideals.Ders., Der Wille zur Macht, S. 667-669 |
Die
Hauptarten des Pessimismus:der Pessimismus
der Sensibilität (: die Überreizbarkeit mit einem Übergewicht der
Unlustgefühle);der Pessimismus des »unfreien
Willens« (anders gesagt: der Mangel an Hemmungskräften gegen die Reize);der
Pessimismus des Zweifels (: die Scheu vor allem Festen, vor allem Fassen und Anrühren).Die
dazu gehörigen psychologischen Zustände kann man allesamt im Irrenhause
beobachten, wenn auch in einer gewissen Übertreibung. Insgleichen den »Nihilismus«
(das durchbohrende Gefühl des »Nichts«). Wohin aber gehört
der Moral-Pessimismus Pascals? der metaphysische Pessimismus der
Vedânta-Philosophie? der soziale Pessimismus des Anarchisten (oder
Shelleys)? der Mitgefühls-Pessimismus (wie der Leo Tolstois, Alfred
de Vignys) ? Sind das nicht alles gleichfalls Verfalls- und Erkrankungs-Phänomene?
.... Das exzessive Wichtig-nehmen von Moralwerten oder von »Jenseits«-Fiktionen
oder von sozialen Notständen oder von Leiden überhaupt. Jede solche
Übertreibung eines engeren Gesichtspunktes ist an sich schon
ein Zeichen von Erkrankung. Ebenfalls das Überwiegen des Neins über
das Ja! Was hier nicht zu verwechseln ist: die Lust am Nein-sagen und Nein-
tun aus einer ungeheuren Kraft und Spannung des Ja-sagens eigentümlich
allen reichen und mächtigen Menschen und Zeiten. Ein Luxus gleichsam; eine
Form der Tapferkeit ebenfalls, welche sich dem Furchtbaren entgegenstellt; eine
Sympathie für das Schreckliche und Fragwürdige, weil man, unter anderem,
schrecklich und fragwürdig ist: das Dionysische in Wille, Geist, Geschmack.Ders., Der Wille zur Macht, S. 669-670 |
Meine
fünf »Neins«.1. Mein Kampf gegen
das Schuldgefühl und die Einmischung des Strafbegriffs in die physische
und metaphysische Welt, insgleichen in die Psychologie, in die Geschichts-Ausdeutung.
Einsicht in die Vermoralisierung aller bisherigen Philosophie und Wertschätzung.
2. Mein Wiedererkennen und Herausziehn des
überlieferten Ideals, des christlichen, auch wo man mit der dogmatischen
Form des Christentums abgewirtschaftet hat. Die Gefährlichkeit des christlichen
Ideals steckt in seinen Wertgefühlen, in dem, was des begrifflichen Ausdrucks
entbehren kann: mein Kampf gegen das latente Christentum (z.B. in der Musik,
im Sozialismus).3. Mein Kampf gegen das 18. Jahrhundert
Rousseaus, gegen seine »Natur«, seinen »guten Menschen«,
seinen Glauben an die Herrschaft des Gefühls — gegen die Verweichlichung,
Schwächung, Vermoralisierung des Menschen: ein Ideal, das aus dem Haß
gegen die aristokratische Kultur geboren ist und in praxi die Herrschaft
der zügellosen Ressentiments-Gefühle ist, erfunden als Standarte für
den Kampf ( die Schuldgefühls-Moralität des Christen, die Ressentiments-Moralität
eine Attitüde des Pöbels).4. Mein Kampf
gegen die Romantik, in der christliche Ideale und Ideale Rousseaus zusammenkommen,
zugleich aber mit einer Sehnsucht nach den alten Zeiten der priesterlich-aristokratischen
Kultur, nach virtù, nach dem »starken Menschen« etwas
äußerst Hybrides; eine falsche und nachgemachte Art stärkeren Menschtums,
welches die extremen Zustände überhaupt schätzt und in ihnen das
Symptom der Stärke sieht (»Kultus der Leidenschaft«: ein Nachmachen
der expressivsten Formen, furore espressivo nicht aus der Fülle, sondern
dem Mangel) (Was relativ aus der Fülle geboren ist im 19. Jahrhundert,
mit Behagen: heitere Musik usw.; unter Dichtern ist z.B. Stifter
und Gottfried Keller Zeichen von mehr Stärke, innerem Wohlsein als
. Die große Technik und Erfindsamkeit, die Naturwissenschaften, die
Historie (?): relative Erzeugnisse der Stärke, des Selbstzutrauens des 19.
Jahrhunderts.) 5. Mein Kampf gegen die Überherrschaft
der Herden-Instinkte, nachdem die Wissenschaft mit ihnen gemeinsame Sache
macht; gegen den neuerlichen Haß, mit dem alle Art Rangordnung und Distanz
behandelt wird.Ders., Der Wille zur Macht, S. 670-671 |
Aus
dem Druck der Fülle, aus der Spannung von Kräften, die beständig
in uns wachsen und noch nicht sich zu entladen wissen, entsteht ein Zustand, wie
er einem Gewitter vorhergeht: die Natur, die wir sind, verdüstert sich.
Auch das ist »Pessimismus« .... Eine Lehre, die einem solchen Zustand
ein Ende macht, indem sie irgend etwas befiehlt: eine Umwertung der Werte,
vermöge deren den aufgehäuften Kräften ein Weg, ein Wohin gezeigt
wird, so daß sie in Blitzen und Taten explodieren braucht durchaus
keine Glückslehre zu sein: indem sie Kraft auslöst, die bis zur
Qual zusammengedrängt und gestaut war, bringt sie Glück.Ders., Der Wille zur Macht, S. 672 |
Die
Lust tritt auf, wo Gefühl der Macht. Das Glück: in dem
herrschend gewordnen Bewußtsein der Macht und des Siegs. Der Fortschritt:
die Verstärkung des Typus, die Fähigkeit zum großen Wollen: alles
andere ist Mißverständnis, Gefahr.Ders., Der Wille zur Macht, S. 672 |
Eine
Periode, wo die alte Maskerade und Moral-Aufputzung der Affekte Widerwillen macht:
die nackte Natur; wo die Macht-Quantitäten als entscheidend
einfach zugestanden werden (als rangbestimmend); wo der große
Stil wieder auftritt als Folge der großen Leidenschaft.Ders., Der Wille zur Macht, S. 672 |
Alles
Furchtbare in Dienst nehmen, einzeln, schrittweise, versuchsweise: so will
es die Aufgabe der Kultur; aber bis sie stark genug dazu ist, muß
sie es bekämpfen, mäßigen, verschleiern, selbst verfluchen. Überall,
wo eine Kultur das Böse ansetzt, bringt sie damit ein Furchtverhältnis
zum Ausdruck, also eine Schwäche. These:
alles Gute ist ein dienstbar gemachtes Böse von ehedem. Maßstab:
je furchtbarer und größer die Leidenschaften sind, die eine Zeit,
ein Volk, ein einzelner sich gestatten kann, weil er sie als Mittel zu
brauchen vermag, um so höher steht seine Kultur ; je mittelmäßiger,
schwächer, unterwürfiger und feiger ein Mensch ist, um so mehr wird
er als böse ansetzen: bei ihm ist das Reich des Bösen am umfänglichsten.
Der niedrigste Mensch wird das Reich des Bösen (d.h. des ihm Verbotenen und
Feindlichen) überall sehen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 672-673 |
Nicht
»das Glück folgt der Tugend« sondern der Mächtigere
bestimmt seinen glücklichen Zustand erst als Tugend. Die bösen
Handlungen gehören zu den Mächtigen und Tugendhaften: die schlechten,
niedrigen zu den Unterworfenen. Der mächtigste Mensch, der Schaffende, müßte
der böseste sein, insofern er sein Ideal an allen Menschen durchsetzt gegen
alle ihre Ideale und sie zu seinem Bilde umschafft. Böse heißt hier:
hart, schmerzhaft, aufgezwungen. Solche Menschen wie Napoleon müssen immer
wieder kommen und den Glauben an die Selbstherrlichkeit des einzelnen befestigen:
er selber aber war durch die Mittel, die er anwenden mußte, korrumpiert
worden und hatte die noblesse des Charakters verloren. Unter einer
andern Art Menschen sich durchsetzend, hätte er andere Mittel anwenden können;
und so wäre es nicht notwendig, daß ein Cäsar schlecht
werden müßte.Ders., Der Wille zur Macht, S. 673 |
Der
Mensch ist das Untier und Übertier; der höhere Mensch
ist der Unmensch und Übermensch: so gehört es zusammen. Mit jedem Wachstum
des Menschen in die Größe und Höhe wächst er auch in das
Tiefe und Furchtbare: man soll das eine nicht wollen ohne das andere oder
vielmehr: je gründlicher man das eine will, um so gründlicher erreicht
man gerade das andere.Ders., Der Wille zur Macht, S. 674 |
Zur
Größe gehört die Furchtbarkeit: man lasse sich nichts vormachen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 674 |
Ich
habe die Erkenntnis vor so furchtbare Bilder gestellt, daß jedes »epikureische
Vergnügen« dabei unmöglich ist. Nur die dionysische Lust reicht
aus : ich habe das Tragische erst entdeckt. Bei den Griechen
wurde es, dank ihrer moralistischen Oberflächlichkeit, mißverstanden.
Auch Resignation ist nicht eine Lehre der Tragödie, sondern ein Mißverständnis
derselben! Sehnsucht ins Nichts ist Verneinung der tragischen Weisheit,
ihr Gegensatz!Ders., Der Wille zur Macht, S. 674 |
Eine
volle und mächtige Seele wird nicht nur mit schmerzhaften, selbst furchtbaren
Verlusten, Entbehrungen, Beraubungen, Verachtungen fertig: sie kommt aus solchen
Höllen mit größerer Fülle und Mächtigkeit heraus: und,
um das Wesentlichste zu sagen, mit einem neuen Wachstum in der Seligkeit der Liebe.
Ich glaube, der, welcher etwas von den untersten Bedingungen jedes Wachstums in
der Liebe erraten hat, wird Dante, als er über die Pforte seines Inferno
schrieb: »auch mich schuf die ewige Liebe«, verstehen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 674 |
Den
ganzen Umkreis der modernen Seele umlaufen, in jedem ihrer Winkel gesessen zu
haben mein Ehrgeiz, meine Tortur und mein Glück. Wirklich den Pessimismus
überwinden ; ein Goethischer Blick voll Liebe und gutem Willen
als Resultat.Ders., Der Wille zur Macht, S. 675 |
Es
ist ganz und gar nicht die erste Frage, ob wir mit uns zufrieden sind, sondern
ob wir überhaupt irgendwomit zufrieden sind. Gesetzt, wir sagen ja zu einem
einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu allem
Dasein ja gesagt. Denn es steht nichts für sich, weder in uns selbst noch
in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsre Seele wie eine Saite vor Glück
gezittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nötig, um dies eine
Geschehen zu bedingen und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick
unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bejaht.Ders., Der Wille zur Macht, S. 675 |
Die
ja-sagenden Affekte: der Stolz, die Freude, die Gesundheit, die Liebe
der Geschlechter, die Feindschaft und der Krieg, die Ehrfurcht, die schönen
Gebärden, Manieren, der starke Wille, die Zucht der hohen Geistigkeit, der
Wille zur Macht, die Dankbarkeit gegen Erde und Leben alles, was reich
ist und abgeben will und das Leben beschenkt und vergoldet und verewigt und vergöttlicht
die ganze Gewalt verklärender Tugenden, alles Gutheißende,
Jasagende, Jatuende .Ders., Der Wille zur Macht, S. 675 |
Wir
wenigen oder vielen, die wir wieder in einer entmoralisierten Welt zu leben
wagen, wir Heiden dem Glauben nach: wir sind wahrscheinlich auch die ersten,
die es begreifen, was ein heidnischer Glaube ist sich höhere
Wesen, als der Mensch ist, vorstellen müssen, aber diese jenseits
von Gut und Böse; alles Höher-sein auch als Unmoralisch-sein
abschätzen müssen. Wir glauben an den Olymp und nicht an den
»Gekreuzigten«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 675-676 |
Der
neuere Mensch hat seine idealisierende Kraft in Hinsicht auf einen Gott zumeist
in einer wachsenden Vermoralisierung desselben ausgeübt was
bedeutet das? Nichts Gutes, ein Abnehmen der Kraft des Menschen. An sich
wäre nämlich das Gegenteil möglich: und es gibt Anzeichen davon.
Gott, gedacht als das Freigewordensein von der Moral, die ganze Fülle der
Lebensgegensätze in sich drängend und sie in göttlicher Qual erlösend,
rechtfertigend Gott als das Jenseits, das Oberhalb der erbärmlichen
Eckensteher-Moral von »Gut und Böse«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 676 |
Aus
der uns bekannten Welt ist der humanitäre Gott nicht nachzuweisen:
so weit kann man euch heute zwingen und treiben. Aber welchen Schluß zieht
ihr daraus? »Er ist uns nicht nachweisbar«: Skepsis der Erkenntnis.
Ihr alle fürchtet den Schluß »aus der uns bekannten Welt
würde ein ganz anderer Gott nachweisbar sein, ein solcher, der zum
mindesten nicht humanitär ist« und, kurz und gut,
ihr haltet euren Gott fest und erfindet für ihn eine Welt, die uns nicht
bekannt ist.Ders., Der Wille zur Macht, S. 676 |
Entfernen
wir die höchste Güte aus dem Begriff Gottes sie ist eines Gottes
unwürdig. Entfernen wir insgleichen die höchste Weisheit es ist
die Eitelkeit der Philosophen, die diesen Aberwitz eines Weisheits-Monstrums von
Gott verschuldet hat: er sollte ihnen möglichst gleichsehen. Nein! Gott die
höchste Macht das genügt! Aus ihr folgt alles, aus ihr folgt
»die Welt«!Ders., Der Wille zur Macht, S. 677 |
Und
wie viele neue Götter sind noch möglich! Mir selber, in dem der religiöse,
das heißt gottbildende Instinkt mitunter zur Unzeit lebendig wird:
wie anders, wie verschieden hat sich mir jedesmal das Göttliche offenbart!
.... So vieles Seltsame ging schon an mir vorüber, in jenen zeitlosen Augenblicken,
die ins Leben herein wie aus dem Monde fallen, wo man schlechterdings nicht mehr
weiß, wie alt man schon ist und wie jung man noch sein wird... Ich würde
nicht zweifeln, daß es viele Arten Götter gibt... Es fehlt nicht an
solchen, aus denen man einen gewissen Halkyonismus und Leichtsinn nicht hinwegdenken
darf .... Die leichten Füße gehören vielleicht selbst zum Begriffe
»Gott« .... Ist es nötig, auszuführen, daß ein Gott
sich mit Vorliebe jenseits alles Biedermännischen und Vernunftgemäßen
zu halten weiß? jenseits auch, unter uns gesagt, von Gut und Böse?
Er hat die Aussicht frei mit Goethe zu reden. Und um für diesen
Fall die nicht genug zu schätzende Autorität Zarathustras anzurufen:
Zarathustra geht so weit, von sich zu bezeugen »ich würde nur an einen
Gott glauben, der zu tanzen verstünde« .... Nochmals gesagt:
wie viele neue Götter sind noch möglich! Zarathustra selbst freilich
ist bloß ein alter Atheist: der glaubt weder an alte, noch neue Götter.
Zarathustra sagt, er würde ; aber Zarathustra wird nicht ....
Man verstehe ihn recht. Typus Gottes nach dem Typus der schöpferischen Geister,
der »großen Menschen«.Ders., Der Wille zur Macht, S. 677-678 |
Und
wie viele neue Ideale sind im Grunde noch möglich! Hier ein
kleines Ideal, das ich alle fünf Wochen einmal auf einem wilden und einsamen
Spaziergang erhasche, im azurnen Augenblick eines frevelhaften Glücks. Sein
Leben zwischen zarten und absurden Dingen verbringen; der Realität fremd;
halb Künstler, halb Vogel und Metaphysikus; ohne Ja und Nein für die
Realität, es sei denn, daß man sie ab und zu in der Art eines guten
Tänzers mit den Fußspitzen anerkennt; immer von irgendeinem Sonnenstrahl
des Glücks gekitzelt; ausgelassen und ermutigt selbst durch Trübsal
denn Trübsal erhält den Glücklichen ; einen
kleinen Schwanz von Posse auch noch dem Heiligsten anhängend: dies,
wie sich von selbst versteht, das Ideal eines schweren, zentnerschweren Geistes,
eines Geistes der Schwere.Ders., Der Wille zur Macht, S. 678 |
Aus
der Kriegsschule der Seele. (Den Tapfern, den Frohgemuten, den Enthaltsamen
geweiht.) Ich möchte die liebenswürdigen Tugenden nicht unterschätzen;
aber die Größe der Seele verträgt sich nicht mit ihnen. Auch in
den Künsten schließt der große Stil das Gefällige aus. In
Zeiten schmerzhafter Spannung und Verwundbarkeit wähle den Krieg: er härtet
ab, er macht Muskel. Die tief Verwundeten haben das olympische Lachen; man hat
nur, was man nötig hat. Es dauert zehn Jahre schon: kein Laut mehr erreicht
mich ein Land ohne Regen. Man muß viel Menschlichkeit übrig
haben, um in der Dürre nicht zu verschmachten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 678-679 |
Mein
neuer Weg zum »Ja«. Philosophie, wie ich sie bisher verstanden
und gelebt habe, ist das freiwillige Aufsuchen auch der verabscheuten und verruchten
Seiten des Daseins. Aus der langen Erfahrung, welche mir eine solche Wanderung
durch Eis und Wüste gab, lernte ich alles, was bisher philosophiert hat,
anders ansehn die verborgene Geschichte der Philosophie, die Psychologie
ihrer großen Namen kam für mich ans Licht. »Wie viel Wahrheit
erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?« dies wurde
für mich der eigentliche Wertmesser. Der Irrtum ist eine Feigheit ..., jede
Errungenschaft der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der Härte gegen sich,
aus der Sauberkeit gegen sich .... Eine solche Experimental-Philosophie,
wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichsten
Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einer
Negation, beim Nein, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr
bis zum Umgekehrten hindurch bis zu einem dionysischen Ja-sagen
zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl , sie will den ewigen
Kreislauf dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Verknotung. Höchster
Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn :
meine Formel dafür ist amor fati. Hierzu gehört, die bisher
verneinten Seiten des Daseins nicht nur als notwendig zu begreifen,
sondern als wünschenswert: und nicht nur als wünschenswert in Hinsicht
auf die bisher bejahten Seiten (etwa als deren Komplemente oder Vorbedingungen),
sondern um ihrer selber willen, als der mächtigeren, fruchtbareren, wahreren
Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht. Insgleichen
gehört hierzu, die bisher allein bejahte Seite des Daseins abzuschätzen;
zu begreifen, woher diese Wertung stammt und wie wenig sie verbindlich für
eine dionysische Wertabmessung des Daseins ist: ich zog heraus und begriff, was
hier eigentlich ja sagt (der Instinkt der Leidenden einmal, der Instinkt der Herde
andrerseits und jener dritte, der Instinkt der meisten gegen die Ausnahmen
). Ich erriet damit, inwiefern eine stärkere Art Mensch notwendig nach
einer anderen Seite hin sich die Erhöhung und Steigerung des Menschen ausdenken
müßte: höhere Wesen, jenseits von Gut und Böse, jenseits
von jenen Werten, die den Ursprung aus der Sphäre des Leidens, der Herde
und der meisten nicht verleugnen können ich suchte nach den Ansätzen
dieser umgekehrten Idealbildung in der Geschichte (die Begriffe »heidnisch«,
»klassisch«, »vornehm« neu entdeckt und hingestellt ).Ders., Der Wille zur Macht, S. 679-680 |
Zu
demonstrieren, inwiefern die griechische Religion die höhere war als
die jüdisch-christliche. Letztere siegte, weil die griechische Religion selber
entartet (zurückgegangen) war.Ders., Der Wille zur Macht, S. 680 |
Es
ist nicht zu verwundern, daß ein paar Jahrtausende nötig sind, um die
Anknüpfung wieder zu finden es liegt wenig an ein paar Jahrtausenden!Ders., Der Wille zur Macht, S. 681 |
Es
muß solche geben, die alle Verrichtungen heiligen, nicht nur Essen und Trinken
und nicht nur im Gedächtnis an sie, oder im Eins-werden mit ihnen,
sondern immer von neuem und auf eine neue Weise soll diese Welt verklärt
werden.Ders., Der Wille zur Macht, S. 681 |
Die
geistigsten Menschen empfinden den Reiz und Zauber der sinnlichen Dinge,
wie es sich die anderen Menschen solche mit den »fleischernen Herzen«
gar nicht vorstellen können, auch nicht vorstellen dürften,
sie sind Sensualisten im besten Glauben, weil sie den Sinnen einen grundsätzlicheren
Wert zugestehen als jenem feinen Siebe, dem Verdünnungs-, Verkleinerungsapparate,
oder wie das heißen mag, was man, in der Sprache des Volkes, »Geist«
nennt. Die Kraft und Macht der Sinne das ist das Wesentlichste an einem
wohlgeratenen und ganzen Menschen: das prachtvolle »Tier« muß
zuerst gegeben sein was liegt sonst an aller »Vermenschlichung«!Ders., Der Wille zur Macht, S. 681 |
1.
Wir wollen unsre Sinne festhalten und den Glauben an sie und sie zu Ende
denken! Die Widersinnlichkeit der bisherigen Philosophie als der größte
Widersinn des Menschen.2. Die vorhandene Welt,
an der alles Irdisch-Lebendige gebaut hat, daß sie so scheint (dauerhaft
und langsam bewegt), wollen wir weiter bauen nicht aber als falsch
wegkritisieren!3. Unsre Wertschätzungen
bauen an ihr; sie betonen und unterstreichen. Welche Bedeutung hat es, wenn ganze
Religionen sagen: »Es ist alles schlecht und falsch und böse!«
Diese Verurteilung des ganzen Prozesses kann nur ein Urteil von Mißratenen
sein!4. Freilich, die Mißratenen könnten
die Leidendsten und Feinsten sein? Die Zufriedenen könnten wenig wert sein?5.
Man muß das künstlerische Grundphänomen verstehen, welches
»Leben« heißt den bauenden Geist, der unter den
ungünstigsten Umständen baut: auf die langsamste Weise
. Der Beweis für alle seine Kombinationen muß erst neu
gegeben werden: es erhält sich.Ders., Der Wille zur Macht, S. 681-682 |
Die
Geschlechtlichkeit, die Herrschsucht, die Lust am Schein und am Betrügen,
die große freudige Dankbarkeit für das Leben und seine typischen Zustände
das ist am heidnischen Kultus wesentlich und hat das gute Gewissen auf
seiner Seite. Die Unnatur (schon im griechischen Altertum) kämpft
gegen das Heidnische an, als Moral, DialektikDers., Der Wille zur Macht, S. 682 |
Eine
antimetaphysische Weltbetrachtung ja, aber eine artistische.Ders., Der Wille zur Macht, S. 682 |
Die
Täuschung Apollos: die Ewigkeit der schönen Form; die
aristokratische Gesetzgebung »so soll es immer sein!«. Dionysos:
Sinnlichkeit und Grausamkeit. Die Vergänglichkeit könnte ausgelegt werden
als Genuß der zeugenden und zerstörenden Kraft, als beständige
Schöpfung.Ders., Der Wille zur Macht, S. 682-683 |
Mit
dem Wort »dionysisch« ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit,
ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, über
den Abgrund des Vergehens: das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen
in dunklere, vollere, schwebendere Zustände; ein verzücktes Jasagen
zum Gesamt-Charakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen,
Gleich-Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit,
welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens
gutheißt und heiligt; der ewige Wille zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur
Wiederkehr; das Einheitsgefühl der Notwendigkeit des Schaffens und Vernichtens..Mit
dem Wort »apollinisch« ist ausgedrückt: der Drang zum
vollkommenen Für-sich-sein, zum typischen »Individuum«, zu allem
was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig, typisch macht: die
Freiheit unter dem Gesetz..An den Antagonismus
dieser beiden Natur-Kunstgewalten ist die Fortentwicklung der Kunst ebenso notwendig
geknüpft, als die Fortentwicklung der Menschheit an den Antagonismus der
Geschlechter. Die Fülle der Macht und die Mäßigung, die höchste
Form der Selbstbejahung in einer kühlen, vornehmen, spröden Schönheit:
der Apollinismus des hellenischen Willens. Diese Gegensätzlichkeit des Dionysischen
und Apollinischen innerhalb der griechischen Seele ist eines der großen
Rätsel, von dem ich mich angesichts des griechischen Wesens angezogen fühlte.
Ich bemühte mich im Grunde um nichts als um zu erraten, warum gerade der
griechische Apollinismus aus einem dionysischen Untergrund herauswachsen mußte,
der dionysische Grieche nötig hatte, apollinisch zu werden: das heißt,
seinen Willen zum Ungeheuren, Vielfachen, Ungewissen, Entsetzlichen zu brechen
an einem Willen zum Maß, zur Einfachheit, zur Einordnung in Regel und Begriff.
Das Maßlose, Wüste, Asiatische liegt auf seinem Grunde: die Tapferkeit
des Griechen besteht im Kampfe mit seinem Asiatismus: die Schönheit ist ihm
nicht geschenkt, so wenig als die Logik, als die Natürlichkeit der Sitte
sie ist erobert, gewollt, erkämpft sie ist sein Sieg.Ders., Der Wille zur Macht, S. 683-684 |
Zu
den höchsten und erlauchtesten Menschen-Freuden, in denen das Dasein seine
eigene Verklärung feiert, kommen, wie billig, nur die Allerseltensten und
Bestgeratenen: und auch diese nur, nachdem sie selber und ihre Vorfahren ein langes
vorbereitendes Leben auf dieses Ziel hin, und nicht einmal im Wissen um dieses
Ziel, gelebt haben. Dann wohnt ein überströmender Reichtum vielfältigster
Kräfte und zugleich die behendeste Macht eines »freien Wollens«
und herrschaftlichen Verfügens in einem Menschen liebreich beieinander; der
Geist ist dann ebenso in den Sinnen heimisch und zu Hause, wie die Sinne in dem
Geiste zu Hause und heimisch sind; und alles, was nur in diesem sich abspielt,
muß auch in jenen ein feines außerordentliches Glück und Spiel
auslösen. Und ebenfalls umgekehrt! Man denke über diese Umkehrung
bei Gelegenheit von Hafis nach; selbst Goethe, wie sehr auch schon im abgeschwächten
Bilde, gibt von diesem Vorgange eine Ahnung. Es ist wahrscheinlich, daß
bei solchen vollkommenen und wohlgeratenen Menschen zuletzt die allersinnlichsten
Verrichtungen von einem Gleichnis-Rausche der höchsten Geistigkeit verklärt
werden; sie empfinden an sich eine Art Vergöttlichung des Leibes und
sind am entferntesten von der Asketen-Philosophie des Satzes »Gott ist ein
Geist«: wobei sich klar herausstellt, daß der Asket der »mißratene
Mensch« ist, welcher nur ein Etwas an sich, und gerade das richtende und
verurteilende Etwas, gut heißt und »Gott« heißt.
Von jener Höhe der Freude, wo der Mensch sich selber und sich ganz und gar
als eine vergöttlichte Form und Selbst-Rechtfertigung der Natur fühlt,
bis hinab zu der Freude gesunder Bauern und gesunder Halbmensch-Tiere: diese ganze
lange ungeheure Licht-und Farbenleiter des Glücks nannte der Grieche,
nicht ohne die dankbaren Schauder dessen, der in ein Geheimnis eingeweiht ist,
nicht ohne viele Vorsicht und fromme Schweigsamkeit mit dem Götternamen:
Dionysos. .Was wissen denn
alle neueren Menschen, die Kinder einer brüchigen, vielfachen, kranken, seltsamen
Zeit, von dem Umfange des griechischen Glücks, was könnten
sie davon wissen! Woher nähmen gar die Sklaven der »modernen Ideen«
ein Recht zu dionysischen Feiern!.Als der griechische
Leib und die griechische Seele »blühte«, und nicht etwa in Zuständen
krankhafter Überschwänglichkeit und Tollheit, entstand jenes geheimnisreiche
Symbol der höchsten bisher auf Erden erreichten Welt-Bejahung und Daseins-Verklärung.
Hier ist ein Maßstab gegeben, an dem alles, was seitdem wuchs, als
zu kurz, zu arm, zu eng befunden wird man spreche nur das Wort »Dionysos«
vor den besten neueren Namen und Dingen aus, vor Goethe etwa oder vor Beethoven
oder vor Shakespeare oder vor Raffael: und auf einmal fühlen wir unsere besten
Dinge und Augenblicke gerichtet. Dionysos ist ein Richter!
Hat man mich verstanden? Es ist kein Zweifel, daß die Griechen die
letzten Geheimnisse »vom Schicksal der Seele« und alles, was sie über
die Erziehung und Läuterung, vor allem über die unverrückbare Rangordnung
und Wert-Ungleichheit von Mensch und Mensch wußten, sich aus ihren dionysischen
Erfahrungen zu deuten suchten: hier ist für alles Griechische die große
Tiefe, das große Schweigen man kennt die Griechen nicht, solange
hier der verborgene unterirdische Zugang noch verschüttet liegt. Zudringliche
Gelehrten-Augen werden niemals etwas in diesen Dingen sehen, soviel Gelehrsamkeit
auch im Dienste jener Ausgrabung noch verwendet werden muß ; selbst
der edle Eifer solcher Freunde des Altertums, wie Goethes und Winckelmanns, hat
gerade hier etwas Unerlaubtes, fast Unbescheidenes. Warten und sich-vorbereiten;
das Aufspringen neuer Quellen abwarten; in der Einsamkeit sich auf fremde Gesichte
und Stimmen vorbereiten; vom Jahrmarkts-Staube und -Lärm dieser Zeit seine
Seele immer reiner waschen; alles Christliche durch ein Überchristliches
überwinden und nicht nur von sich abtun denn die christliche
Lehre war die Gegenlehre gegen die dionysische ; den Süden in
sich wieder entdecken und einen hellen glänzenden geheimnisvollen Himmel
des Südens über sich aufspannen; die südliche Gesundheit und verborgene
Mächtigkeit der Seele sich wieder erobern; Schritt vor Schritt umfänglicher
werden, übernationaler, europäischer, übereuropäischer, morgenländischer,
endlich griechischer denn das Griechische war die erste große
Bindung und Synthesis alles Morgenländischen und eben damit der Anfang der
europäischen Seele, die Entdeckung unsrer »neuen Welt«
: wer unter solchen Imperativen lebt, wer weiß, was dem eines Tages
begegnen kann? Vielleicht eben ein neuer Tag!Ders., Der Wille zur Macht, S. 684-686 |
Die
zwei Typen: Dionysos und der Gekreuzigte. Festzustellen: ob der typische
religiöse Mensch eine décadence-Form ist (die großen Neuerer
sind samt und sonders krankhaft und epileptisch); aber lassen wir nicht da einen
Typus des religiösen Menschen aus, den heidnischen? Ist der heidnische
Kult nicht eine Form der Danksagung und der Bejahung des Lebens? Müßte
nicht sein höchster Repräsentant eine Apologie und Vergöttlichung
des Lebens sein? Typus eines wohlgeratenen und entzückt-überströmenden
Geistes! Typus eines die Widersprüche und Fragwürdigkeiten des
Daseins in sich hineinnehmenden und erlösenden Geistes! Hierher stelle ich
den Dionysos der Griechen: die religiöse Bejahung des Lebens, des
ganzen, nicht verleugneten und halbierten Lebens; (typisch daß der
Geschlechtsakt Tiefe, Geheimnis, Ehrfurcht erweckt). Dionysos gegen den »Gekreuzigten«:
da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums
nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit
und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung.
Im andern Falle gilt das Leiden, der »Gekreuzigte als der Unschuldige«,
als Einwand gegen dieses Leben, als Formel seiner Verurteilung. Man errät:
das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer
Sinn. Im ersten Falle soll es der Weg sein zu einem heiligen Sein; im letzteren
Fall gilt das Sein als heilig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu
rechtfertigen. Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist stark,
voll, vergöttlichend genug dazu; der christliche verneint noch das glücklichste
Los auf Erden: er ist schwach, arm, enterbt genug, um in jeder Form noch am Leben
zu leiden. Der Gott am Kreuz ist ein Fluch auf das Leben, ein Fingerzeig, sich
von ihm zu erlösen; der in Stücke geschnittne Dionysos ist eine
Verheißung des Lebens: es wird ewig wiedergeboren und aus der Zerstörung
heimkommen.Ders., Der Wille zur Macht, S. 687-688 |
Meine
Philosophie bringt den siegreichen Gedanken, an welchem zuletzt jede andere Denkweise
zugrunde geht. Es ist der große züchtende Gedanke: die Rassen,
welche ihn nicht ertragen, sind verurteilt; die, welche ihn als größte
Wohltat empfinden, sind zur Herrschaft ausersehenDers., Der Wille zur Macht, S. 689 |
Der
größte Kampf: dazu braucht es einer neuen Waffe.Der
Hammer: eine furchtbare Entscheidung heraufbeschwören, Europa vor die Konsequenz
stellen, ob sein Wille zum Untergang »will«.Verhütung
der Vermittelmäßigung. Lieber noch Untergang!Ders., Der Wille zur Macht, S. 689 |
Eine
pessimistische Denkweise und Lehre, ein ekstatischer Nihilismus kann unter Umständen
gerade dem Philosophen unentbehrlich sein: als ein mächtiger Druck und Hammer,
mit dem er entartende und absterbende Rassen zerbricht und aus dem Wege schafft,
um für eine neue Ordnung des Lebens Bahn zu machen oder um dem, was entartet
und absterben will, das Verlangen zum Ende einzugeben.Ders., Der Wille zur Macht, S. 689 |
Ich
will den Gedanken lehren, welcher vielen das Recht gibt, sich durchzustreichen
den großen züchtenden Gedanken.Ders., Der Wille zur Macht, S. 690 |
Die
ewige Wiederkunft. Eine Prophezeiung.1. Darstellung
der Lehre und ihrer theoretischen Voraussetzungen und Folgen.2.
Beweis der Lehre.3. Mutmaßliche Folgen
davon, daß sie geglaubt wird (sie bringt alles zum Aufbrechen).a)
Mittel, sie zu ertragen;b) Mittel, sie zu beseitigen.4.
Ihr Platz in der Geschichte, als eine Mitte.Zeit
der höchsten Gefahr. Gründung einer Oligarchie über den Völkern
und ihren Interessen: Erziehung zu einer allmenschlichen Politik. Gegenstück
des Jesuitismus.Ders., Der Wille zur Macht, S. 690 |
Die
beiden größten (von Deutschen gefundenen) philosophischen Gesichtspunkte:a)
der des Werdens, der Entwicklung;b) der
nach dem Werte des Daseins (aber die erbärmliche Form des deutschen
Pessimismus erst zu überwinden!) beide von
mir in entscheidender Weise zusammengebracht.Alles
wird und kehrt ewig wieder entschlüpfen ist nicht möglich!
Gesetzt, wir könnten den Wert beurteilen, was folgt daraus?
Der Gedanke der Wiederkunft als auswählendes Prinzip, im Dienste der
Kraft (und Barbarei!!). Reife der Menschheit für diesen
Gedanken.Ders., Der Wille zur Macht, S. 690-691 |
1.
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft: seine Voraussetzungen, welche wahr sein müßten,
wenn er wahr ist. Was aus ihm folgt.2. Als der
schwerste Gedanke: seine mutmaßliche Wirkung, falls nicht vorgebeugt
wird, d. h. falls nicht alle Werte umgewertet werden.3.
Mittel, ihn zu ertragen: die Umwertung aller Werte. Nicht mehr die Lust
an der Gewißheit, sondern an der Ungewißheit; nicht mehr »Ursache
und Wirkung«, sondern das beständig Schöpferische; nicht mehr
Wille der Erhaltung, sondern der Macht; nicht mehr die demütige Wendung »es
ist alles nur subjektiv«, sondern »es ist auch unser Werk!
Seien wir stolz darauf!«Ders., Der Wille zur Macht, S. 691 |
Um
den Gedanken der Wiederkunft zu ertragen, ist nötig: Freiheit von
der Moral; neue Mittel gegen die Tatsache des Schmerzes (Schmerz
begreifen als Werkzeug, als Vater der Lust; es gibt kein summierendes Bewußtsein
der Unlust); der Genuß an aller Art Ungewißheit, Versuchhaftigkeit,
als Gegengewicht gegen jenen extremen Fatalismus; Beseitigung des Notwendigkeitsbegriffs;
Beseitigung des »Willens«; Beseitigung der »Erkenntnis
an sich«. Größte Erhöhung des Kraft-Bewußtseins
des Menschen, als dessen, der den Übermenschen schafft.Ders., Der Wille zur Macht, S. 691 |
Die
beiden extremsten Denkweisen die mechanistische und die platonische
kommen überein in der ewigen Wiederkunft: beide als Ideale.Ders., Der Wille zur Macht, S. 692 |
Hätte
die Welt ein Ziel, so müßte es erreicht sein. Gäbe es für
sie einen unbeabsichtigten Endzustand, so müßte er ebenfalls erreicht
sein. Wäre sie überhaupt eines Verharrens und Starrwerdens, eines »Seins«
fähig, hätte sie in allem ihrem Werden nur einen Augenblick diese Fähigkeit
des »Seins«, so wäre es wiederum mit allem Werden längst
zu Ende, also auch mit allem Denken, mit allem »Geiste«. Die Tatsache
des »Geistes« als eines Werdens beweist, daß die Welt
kein Ziel, keinen Endzustand hat und des Seins unfähig ist. Die alte
Gewohnheit aber, bei allem Geschehen an Ziele und bei der Welt an einen lenkenden
schöpferischen Gott zu denken, ist so mächtig, daß der Denker
Mühe hat, sich selber die Ziellosigkeit der Welt nicht wieder als Absicht
zu denken. Auf diesen Einfall daß also die Welt absichtlich einem
Ziele ausweiche und sogar das Hineingeraten in einen Kreislauf künstlich
zu verhüten wisse müssen alle die verfallen, welche der Welt
das Vermögen zur ewigen Neuheit aufdekretieren möchten, d.h.
einer endlichen, bestimmten, unveränderlich gleichgroßen Kraft, wie
es »die Welt« ist, die Wunder-Fähigkeit zur unendlichen Neugestaltung
ihrer Formen und Lagen. Die Welt, wenn auch kein Gott mehr, soll doch der göttlichen
Schöpferkraft, der unendlichen Verwandlungs-Kraft fähig sein;
sie soll es sich willkürlich verwehren, in eine ihrer alten Formen
zurückzugeraten; sie soll nicht nur die Absicht, sondern auch die Mittel
haben, sich selber vor jeder Wiederholung zu bewahren; sie soll somit in
jedem Augenblick jede ihrer Bewegungen auf die Vermeidung von Zielen, Endzuständen,
Wiederholungen hin kontrollieren und was alles die Folgen einer
solchen unverzeihlich-verrückten Denk- und Wunschweise sein mögen. Das
ist immer noch die alte religiöse Denk- und Wunschweise, eine Art Sehnsucht,
zu glauben, daß irgendworin doch die Welt dem alten geliebten, unendlichen,
unbegrenzt-schöpferischen Gotte gleich sei daß irgendworin doch
»der alte Gott noch lebe« , jene Sehnsucht Spinozas, die sich
in dem Worte »deus sive natura« (er empfand sogar »natura
sive deus« ) ausdrückt. Welches ist denn aber der Satz und
Glaube, mit welchem sich die entscheidende Wendung, das jetzt erreichte Übergewicht
des wissenschaftlichen Geistes über den religiösen, götter-erdichtenden
Geist am bestimmtesten formuliert? Heißt es nicht: die Welt, als Kraft,
darf nicht unbegrenzt gedacht werden, denn sie kann nicht so gedacht werden
wir verbieten uns den Begriff einer unendlichen Kraft als mit dem Begriff
»Kraft« unverträglich. Also fehlt der Welt
auch das Vermögen zur ewigen Neuheit.Ders., Der Wille zur Macht, S. 692-693 |
Der
Satz vom Bestehen der Energie fordert die ewige Wiederkehr.Ders., Der Wille zur Macht, S. 693 |
Daß
eine Gleichgewichts-Lage nie erreicht ist, beweist, daß sie nicht möglich
ist. Aber in einem unbestimmten Raum müßte sie erreicht sein. Ebenfalls
in einem kugelförmigen Raum. Die Gestalt des Raumes muß die
Ursache der ewigen Bewegung sein und zuletzt aller »Unvollkommenheit«.
Daß »Kraft« und »Ruhe«, »Sich-gleich-bleiben«
sich widerstreiten. Das Maß der Kraft (als Größe) als fest, ihr
Wesen aber flüssig. »Zeitlos« abzuweisen. In einem bestimmten
Augenblick der Kraft ist die absolute Bedingtheit einer neuen Verteilung aller
ihrer Kräfte gegeben: sie kann nicht stillstehn. »Veränderung«
gehört ins Wesen hinein, also auch die Zeitlichkeit: womit aber nur die Notwendigkeit
der Veränderung noch einmal begrifflich gesetzt wird.Ders., Der Wille zur Macht, S. 693-694 |
Jener
Kaiser hielt sich beständig die Vergänglichkeit aller Dinge vor, um
sie nicht zu wichtig zu nehmen und zwischen ihnen ruhig zu bleiben. Mir
scheint umgekehrt alles viel zu viel wert zu sein, als daß es so flüchtig
sein dürfte: ich suche nach einer Ewigkeit für jegliches: dürfte
man die kostbarsten Salben und Weine ins Meer gießen? Mein Trost
ist, daß alles, was war, ewig ist das Meer spült es wieder her.Ders., Der Wille zur Macht, S. 694 |
Die
neue Welt-Konzeption. Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts,
was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen
zu werden und nie aufgehört zu vergehn sie erhält sich in beidem.
Sie lebt von sich selber: ihre Exkremente sind ihre Nahrung.Die
Hypothese einer geschaffenen Welt soll uns nicht einen Augenblick bekümmern.
Der Begriff »schaffen« ist heute vollkommen undefinierbar, unvollziehbar;
bloß ein Wort noch, rudimentär aus Zeiten des Aberglaubens; mit einem
Wort erklärt man nichts. Der letzte Versuch, eine Welt, die anfängt,
zu konzipieren, ist neuerdings mehrfach mit Hilfe einer logischen Prozedur gemacht
worden zumeist, wie zu erraten ist, aus einer theologischen Hinterabsicht.Man
hat neuerdings mehrfach in dem Begriff »Zeit-Unendlichkeit der Welt
nach hinten« (regressus in infinitum) einen Widerspruch finden
wollen: man hat ihn selbst gefunden, um den Preis freilich, dabei den Kopf mit
dem Schwanz zu verwechseln. Nichts kann mich hindern, von diesem Augenblick an
rückwärts rechnend zu sagen »ich werde nie dabei an ein Ende kommen«:
wie ich vom gleichen Augenblick vorwärts rechnen kann, ins Unendliche hinaus.
Erst wenn ich den Fehler machen wollte ich werde mich hüten, es zu
tun , diesen korrekten Begriff eines regressus in infinitum gleichzusetzen
mit einem gar nicht vollziehbaren Begriff eines endlichen progressus
bis jetzt, erst wenn ich die Richtung (vorwärts oder rückwärts)
als logisch indifferent setzte, würde ich den Kopf diesen Augenblick
als Schwanz zu fassen bekommen: das bleibe Ihnen überlassen, mein
Herr Dühring!Ich bin auf diesen Gedanken
bei früheren Denkern gestoßen: jedesmal war er durch andre Hintergedanken
bestimmt ( meistens theologische, zugunsten des creator spiritus). Wenn
die Welt überhaupt erstarren, vertrocknen, absterben, nichts werden
könnte, oder wenn sie einen Gleichgewichtszustand erreichen könnte,
oder wenn sie überhaupt irgendein Ziel hätte, das die Dauer, die Unveränderlichkeit,
das Ein-für-alle-Mal in sich schlösse (kurz, metaphysisch geredet: wenn
das Werden in das Sein oder ins Nichts münden könnte), so müßte
dieser Zustand erreicht sein. Aber er ist nicht erreicht: woraus folgt .... Das
ist unsre einzige Gewißheit, die wir in den Händen halten, um als Korrektiv
gegen eine große Menge an sich möglicher Welt-Hypothesen zu dienen.
Kann z.B. der Mechanismus der Konsequenz eines Finalzustandes nicht entgehen,
welche William Thomson ihm gezogen hat, so ist damit der Mechanismus widerlegt.Wenn
die Welt als bestimmte Größe von Kraft und als bestimmte Zahl von Kraftzentren
gedacht werden darf und jede andre Vorstellung bleibt unbestimmt
und folglich unbrauchbar , so folgt daraus, daß sie eine berechenbare
Zahl von Kombinationen, im großen Würfelspiel ihres Daseins, durchzumachen
hat. In einer unendlichen Zeit würde jede mögliche Kombination irgendwann
einmal erreicht sein; mehr noch: sie würde unendliche Male erreicht sein.
Und da zwischen jeder Kombination und ihrer nächsten Wiederkehr alle überhaupt
noch möglichen Kombinationen abgelaufen sein müßten und jede dieser
Kombinationen die ganze Folge der Kombinationen in derselben Reihe bedingt, so
wäre damit ein Kreislauf von absolut identischen Reihen bewiesen: die Welt
als Kreislauf, der sich unendlich oft bereits wiederholt hat und der sein Spiel
in infinitum spielt. Diese Konzeption ist nicht ohne weiteres eine mechanistische:
denn wäre sie das, so würde sie nicht eine unendliche Wiederkehr identischer
Fälle bedingen, sondern einen Finalzustand. Weil die Welt ihn nicht erreicht
hat, muß der Mechanismus uns als unvollkommne und nur vorläufige Hypothese
gelten.Ders., Der Wille zur Macht, S. 694-696 |
Und
wißt ihr auch, was mir »die Welt« ist? Soll ich sie euch in
meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne
Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer,
nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt, als Ganzes
unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen,
aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom »Nichts« umschlossen
als von seiner Grenze, nichts Verschwimmendes, Verschwendetes, nichts Unendlich-Ausgedehntes,
sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume,
der irgendwo »leer« wäre, vielmehr als Kraft überall, als
Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und Vieles, hier sich häufend
und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und flutender
Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren
der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Flut seiner Gestaltungen, aus den einfachsten
in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten
hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-Widersprechendste, und dann
wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche
zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit
seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß,
als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit
kennt : diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens,
des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimnis-Welt der doppelten Wollüste,
dies mein »Jenseits von Gut und Böse«, ohne Ziel, wenn nicht
im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu
sich selber guten Willen hat wollt ihr einen Namen für diese Welt?
Eine Lösung für alle ihre Rätsel? Ein Licht auch für
euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten?
Diese Welt ist der Wille zur Macht und nichts außerdem!
Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht und nichts außerdem!Ders., Der Wille zur Macht, S. 696-697 |
Wer
darüber nachdenkt, auf welche Weise der Typus Mensch zu seiner größten
Pracht und Mächtigkeit gesteigert werden kann, der wird zuallererst begreifen,
daß er sich außerhalb der Moral stellen muß: denn die Moral
war im wesentlichen auf das Entgegengesetzte aus, jene prachtvolle Entwicklung,
wo sie im Zuge war, zu hemmen oder zu vernichten. Denn in der Tat konsumiert eine
derartige Entwicklung eine solche ungeheure Quantität von Menschen in ihrem
Dienst, daß eine umgekehrte Bewegung nur zu natürlich ist: die schwächeren,
zarteren, mittleren Existenzen haben nötig, Partei zu machen gegen jene Glorie
von Leben und Kraft, und dazu müssen sie von sich eine neue Schätzung
bekommen, vermöge deren sie das Leben in dieser höchsten Fülle
verurteilen und womöglich zerstören. Eine lebensfeindliche Wendung ist
daher der Moral zu eigen, insofern sie die Typen des Lebens überwältigen
will.Ders., Aus dem Nachlaß, S. 194-195 |
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