
Max
Weber (1864-1920) |
Kulturgeschichte, Herrschafts-, Religions-, Wirtschaftssoziologie,
Idealtypus
|
Max Weber, der Begründer der Religionssoziologie, betonte in seinem berühmt
gewordenen Buch Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
(1904 )
die Bedeutung des religiösen Rationalismus, d.h. der reformatorischen Weltauslegung,
die das Diesseits entzauberte oder entsakralisierte und die mit dem Berufsgedanken
das alltägliche Leben mit dem Jenseitsschicksal verband, für die Entstehung
des modernen Betriebskapitalismus: im Berufserfolg und Gelderwerb bewährt
sich der je eigene Gnadenstand.
1. Stadium (Winter) | 2.
Stadium (Frühling) | 3.
Stadium (Sommer) | 4.
Stadium (Herbst) | Vor-/Urdenken:
Webers Vor-/Urphilosophie | Frühdenken:
Webers Frühphilosophie | Hochdenken:
Webers Hochphilosophie | Spätdenken:
Webers Spätphilosophie | (Dauer:
18 Jahre) | (Dauer: 22 Jahre) | (Dauer:
14 Jahre) |
(Dauer: 2 Jahre) |
1864
bis 1882 | 1882 bis 1904 | 1904
bis 1918 | 1918 bis 1920 |
Geburt (21.04.) | DIE
PROTESTANTISCHE ETHIK UND DER GEIST DES KAPITALISMUS | Tod
(04.06.) |
Übergang Schule /
Studium | | | Ende
des 1. Weltkrieges |
Frühe Kindheit | Grund- schule | Gym- nasium
| 1882 - 1886 |
1886 - 1893 | 1893 - 1904 | 1904 -
1909 | 1909 - 1914 | 1914 -
1918 | 1918 - 1919 | 1919 -
1920 | 1920 | |
Zur Zeit seiner größten
Schaffenskraft und auch noch danach galt Max Weber, laut Karl Jaspers der
größte Deutsche unseres Zeitalters, als der Diagnostiker
der Moderne. Weber suchte die Sozialwissenschaften zum Range strenger Wissenschaftlichkeit
zu erheben, indem er ihre Methoden prüfte und sie als rein beschreibende
auffaßte; er suchte scharf zu trennen: Erfahrungswissenschaft und wertende
Beurteilung, einseitige partikulare Erekenntnis und Ergreifen des Totalen, empirische
Wirklichkeit und Wesen des Seins. Entgegen der intuitiven Verstehens-Theorie Diltheys
muß nach Weber die verstehende Soziologie, als eine Wissenschaft,
welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen
Wirkungen ursächlich erklären will, rational hauptsächlich
nach Zweck und Mitteln fragen, weil allein dadurch das Verstehen eine besonders
hohe Evidenz erreicht. Als Hauptbegriff entwickelte Weber den des Idealtypus.
Durch diesen Terminus wurde eine für die sozialwissenschaftliche Begriffs-
und Theoriebildung zentrale Konstruktionsmethode bezeichnet. Der Idealtypus wird
durch gedanklich einseitige Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit
gewonnen, die dann zu einem in sich widerspruchslosen Idealbilde zusammengefügt
werden. Der Idealtyp ist ein »Gedankenbild«, welches nicht die
historischen Wirklichkeit oder gar die eigentliche Wirklichkeit ist, ... sondern
die Bedeutung des eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchenm die Wirklichkeit
zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes
gemessen, mit dem sie verglichen wird. (Max Weber). Die Bildung des Idealtypus
ist ein heuristischer Schritt der Begriffs- und Theoriebildung, der deutlich von
der überprüften Theorie zu unterscheiden ist.  Der
Puritanismus ( )
ging aus der Reformation, insbesondere aus dem Calvinismus hervor. Der Calvinismus,
anfangs ein antischolastischer Humanismus, machte die Prädestination zu seinem
Inhalt und Mittelpunkt. Diese Prädestination, die man auch Prädetermination
nennt, meint die Vorbestimmung des Menschen schon vor bzw. bei seiner Geburt durch
Gottes unerforschbaren Willen, und zwar entweder als Gnadenwahl zur Seligkeit
ohne Verdienst oder als Prädamnation zur Verdammnis ohne Schuld. Sie wurde
schon von Augustinus (354-430) gelehrt und nach ihm von Luther (1483-1546), Zwingli
(1484-1531), Calvin (1509-1564) und dem Jansenismus (nach Cornelius Jansen, 1585-1638).
Auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Calvinismus, besonders aber dem aus
ihm entwickelten Puritanismus, und dem modernen Kapitalismus der abendländischen
Kultur hat vor allem Max Weber hingewiesen. Die Puritaner (die Reinen)
sind die Vertreter einer Reformbewegung, die besonders in England seit etwa 1570
die Reinigung der englischen Kirche von katholisierenden Elementen in Verfassung,
Kultus und Lehre betrieben. Strenger Biblizismus, eine Gewissenstheologie und
die konsequente Sonntagsheiligung beeinflußten das englische Geistesleben
bis in die Gegenwart. Die Puritaner brachten eine ausgedehnte Erbauungs- und Predigtliteratur
hervor. 1604 wurden sie durch die Ablehnung ihrer Millenary Petition
enttäuscht, wandten sich der politischen Opposition zu oder emigrierten in
großer Zahl nach Nord-Amerika. Mit dem Sieg Oliver Cromwells (1599-1658)
1648 zur Herrschaft gelangt, beseitigten die Puritaner das Common Prayer
Book und das Bischofsamt, vertrieben anglikanische Pfarrer, entfernten die
Orgeln aus den Kirchen u.a.. Nach der Restauration der Stuarts wurden die Puritaner
ihrerseits rigoros aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt -
bis zur Toleranzakte von 1689. Die englischen Puritaner waren und sind also Vertreter
eines speziellen Puritanismus. Diesen Insel-Puritanismus der Engländer
kann man auch Angelsachsen-Puritanismus ( )
nennen. Für den Puritaner ist das genaue Gegenteil der Weltfreude
charakteristisch. Die Weltfremdheit gehört zu den wichtigsten
Charakterzügen des Puritanismus. Max Webers Beispiele zeigen
alle das eine: »der Geist der Arbeit«, des »Fortschritts«
oder wie er sonst bezeichnet wird, dessen Weckung man dem Protestantismus zuzuschreiben
neigt, darf nicht, wie es heute zu geschehen pflegt, als »Weltfreude«
oder irgendwie sonst im »aufklärerischen« Sinn verstanden werden.
Der alte Protestantismus der Luther, Calvin, Knox, Voët hatte mit dem, was
man heute »Fortschritt« nennt, herzlich wenig zu schaffen. Zu ganzen
Seiten des modernen Lebens, die heute der extremste Konfessionelle nicht mehr
entbehren möchte, stand er direkt feindlich. Soll also überhaupt eine
innere Verwandtschaft bestimmter Ausprägungen des altprotestantischen Geistes
und moderner kapitalistischer Kultur gefunden werden, so müssen wir
wohl oder übel versuchen, sie ... in seinen rein religiösen Zügen
zu suchen. (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus,
1904, S. 37-38). Laut Weber ist im Abendland nämlich vor allem die Frömmigkeit
(der Pietismus) das rein religiöse Glied - als Berufung
(Beruf )
- zwischen dem alten Protestantismus bzw. Puritanismus und dem modernen
Kapitalismus: Abendländischer Kapitalismus ist laut Weber nämlich
eigentümlich, hat ein eigentümliches Ethos. Allgemein ist Kapitalismus
kein Charakteristikum einzelner (Historien-)Kulturen, sondern der Menschen-Kultur
überhaupt ( ):
Aber eben jenes eigentümliche Ethos fehlte ihm .... In der Tat: jener
eigentümliche, uns heute so geläufige und in Wahrheit doch so wenig
selbstverständliche Gedanke der Berufspflicht: einer Verpflichtung, die der
Einzelne empfinden soll und empfindet gegenüber dem Inhalt seiner »beruflichen«
Tätigkeit, gleichviel, worin sie besteht, gleichviel insbesondere, ob sie
dem unbefangenen Empfinden als reine Verwertung seiner Arbeitskraft oder gar nur
seines Sachgüterbesitzes (als »Kapital«) erscheinen muß:
- dieser Gedanke ist es, welcher der »Sozialethik« der kapitalistischen
Kultur charakteristisch, ja in gewissem Sinne für sie von konstitutiver Bedeutung
ist. - .... - Arbeit als Selbstzweck, als »Beruf«, wie sie der Kapitalismus
fordert .... Die kapitalistische Wirtschaftsordnung braucht diese Hingabe an den
»Beruf« des Geldverdienens: sie ist eine Art des Sichverhaltens zu
den äußeren Gütern, welche jener Struktur so sehr ädaquat,
so sehr mit den Bedingungen des Sieges im ökonomischen Daseinskampfe verknüpft
ist .... (Max Weber, ebd., 1904, S. 43, 45, 53, 61). Innerweltliche
Askese bedeutet bei Max Weber die Verwendung der durch Ablehnung der religiösen
Askese frei gewordenen Energie in der Berufsarbeit, wie eben besonders gefordert
und gefördert durch den Puritanismus.  Die
Lebensphilosophie bildet übrigens den philosophischen Rahmen, in dem Max
Weber wie sein Bruder Alfred ( )
zu finden ist. Die Richtung ist kulturphilosophisch, kultursoziologisch, geschichtsphilosophisch,
universalhistorisch, historisch, sozialökonomisch zu nennen. Der Kultur wird
im Rahmen der geschichtlichen Welt eine Sonderstellung eingeräumt, der Mensch
wird als geschichtliches Wesen, die gesellschaftlichen Phänomene werden als
kulturelle Erscheinungen betrachtet, Wirtschaft und Gesellschaft werden in ihrer
wechselseitigen Bedingtheit zu einem bedeutenden Thema, bilden eine Einheit, wobei
der soziale Prozeß in seiner historischen Entfaltung und dessen Bewertung
im Rahmen der geschichtlichen Betrachtung im MIttelpunkt des Interesses bleiben.
Wie Norbert Bolz
über Max Weber denkt
Unter Soziologen ist seit Max Weber
unstrittig, daß sich das spezifisch Moderne unserer Gesellschaft darin zeigt,
daß die einzelnen »Wertsphären« (wie
etwa Wirtschaft, Technik, Kunst; aber eben auch Religion! HB)
»ausdifferenziert« sind, das heißt, daß sie autonom operieren
und einer je eigenen Logik folgen. Das ist nicht für jedes System ein Glück.
Ausdifferenzierung heißt nämlich für die Religion Säkularisierung.
Säkularisierung bewirkt aber kein Erlöschen der Religion, sondern ihre
Vervielfältigung. Man könnte hier von einer List der Unvernunft sprechen,
die darin besteht, daß gerade die Säkularisierung theologische Gehalte
im Profanen rettet. Deshalb müßte man, um die Religion zu neutralisieren,
auch die Säkularisierung säkularisieren. (Norbert Bolz, Das
konsumistische Manifest, 2002, S. 26).Max Webers berühmte
These über den Geist des Kapitalismus besagt im Kern, daß eine asketische
Form des Protestantismus eine alltagsbestimmende Lebensmethodik geschaffen habe,
die das kapitalistische Wirtschaften nicht nur wie ein Korsett stütze, sondern
zugleich auch mit Heilsprämien versehe. Kurz: Der Kapitalismus ist religiös
bedingt. (Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, 2002,
S. 63). Manneswürde
Ein
Sozialphilosoph könnte definieren: Männlichkeit ist die soziale Negation
der antisozialen Negation. Ein Mann verweigert also die Auswege des Eskapismus
und des Infantilismus. »Face it!« Diese Ultrakurzformel
aller Männlichkeit markiert genau den Gegenpol zur Bergpredigt. »Widerstehe
nicht dem Übel«, die Max Weber zu Recht als »Ethik der Würdelosigkeit«
bezeichnet hat. Seine Antithese konnte vor neunzig Jahre noch »Manneswürde«
heißen. (Vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 1917, S. 28).
(Norbert Bolz, Die Helden der Familie, 2006, S. 88).Was
erwachsen sein bedeutet, hat man früher an Charakteren der Männlichkeit
abgelesen. Aber schon bei Max Weber wird der Begriff der »Manneswürde«
nur noch trotzig dem Zeitgeist entgegengeschleudert. Männlich heißt
hier trostunbedürftig. Das geht auf eine Tradition zurück, in der Weisheit
und Männlichkeit zusammengehörten - Philosophie war nicht erbaulich.
Diese Tradition endet aber schon mit Nietzsche, der für die Männlichkeit
ein letztes Asyl in der Redlichkeit fand. (Norbert Bolz, Das Wissen der
Religion, 2008, S. 59-60).Jede Lebensführung setzt eine
Führungsidee voraus. Und das markiert den polemischen Index dieses Begriffs
- nämlich gegen den des bloßen Lebensstandards. Max Weber hat daran
seine Forderung der Männlichkeit geknüpft: weder einen Ausweg aus der
Welt noch sein Selbst zu suchen. Das gibt seiner Stilisierung der bürgerlichen
Lebensführung durch die Begriffe Beruf und Pflicht ihr unnachahmliches Pathos.
Für Weber war ja das Suchen nach Lebenssinn selbst der Grund für das
Nichtfinden - so hat es später dann auch der Therapeut Paul Watzlawick gesehen.
(Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 115).
Abendländische Kultur: Glaube, Religion, Theologie, Philosophie/Wissenschaft
Religion
ist anti-ökonomisch, denn Heil und Verdammnis sind nicht knapp. Im Glauben
gibt es weder Knappheit noch Konkurrenz; daran ändert übrigens auch
der Prädestinationsglaube nichts. Daß, wie ja Jesus selbst sagt, nur
wenige auserwählt sind, bedeutet nämlich nicht Knappheit des Heils,
sondern nur den Ausschluß einer »Verkündigung für Jedermann«
(Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1920, S. 380). Religion ist anti-soziologisch,
denn im Leben des Gläubigen gibt es kein »taking-the-role-of-the-other«.
Religion ist anti-ethisch, denn das jüngste Gericht ist nicht gerecht; es
wird nicht moralisch geurteilt. Vor allem aber: Religion ist anti-biologisch.
Die Lebensführung des Gläubigen eröffnet eine Anti-Darwin-Welt,
in der Mitleid die Herrschaft der Selektion bricht. (Norbert Bolz, Das
Wissen der Religion, 2008, S. 12).»Wir guten Europäer«
(Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Band V, S. 813) können
die Frage nach der Weltgesellschaft nur als Frage nach der Eigenart des Westens
stellen - das ist nicht nur unvermeidlich, sondern auch berechtigt. (Vgl. Max
Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1919, Band I,
S. 1). Die Selbstbehauptung des christlichen Abendlandes kann nicht im Anspruch
auf universale Gültigkeit, sondern nur in seiner Einzigartigkeit gelingen.
Außerhalb des Westens erscheint der Universalismus nämlich als Imperialismus
- und wir verstehen das! Gerade auch darin sind wir einzigartig: Nur
der Westen ist selbstkritisch. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion,
2008, S. 13).Wir schließen ... an die ursprüngliche
Fragestellung Max Webers an, der Kultur in ihrer Eigenart und Bedeutsamkeit für
uns analysiert hat, d.h. im Bewußtsein der unbewußten Auslese durch
Wertideen. Werte steuern die »unbewußt erfolgende Auswahl« (Max
Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Band I, S. 1).
Sie färben die graue Faktizität einer Lebenswirklichkeit zur Eigenart.
Die Frage: Was ist »für uns« wichtig, wissenswert und bedeutsam?
führt letztlich zu der einfachen Formel: Kultur = Wirklichkeit + Wertidee.
Und für uns guten Europäer geht es konkret um 2000 Jahre Christentum
als Leitkultur, die wir nicht äquivalent ersetzen können. Es geht um
die objektive Religion, wie sie sich in den Traditionen und Institutionen der
europäischen Kultur manifestiert. (Norbert Bolz, Das Wissen der
Religion, 2008, S. 14).Der Begriff des »religiös
Unmusikalischen« stammt von Max Weber. (»Ich
bin zwar religiös unmusikalisch und habe weder Bedürfnis noch Fähigkeit,
irgendwelche seelischen Bauwerke religiösen Caharakters in mir zu errichten.
Aber ich bin nach genauer Selbstprüfung weder antireligiös noch irreligiös«
[Max Weber, zitiert in: Marianne Weber, Max Weber, S. 339]).
Er erhellt nicht nur sehr schön die Darstellungsperspektive seiner religionssoziologischen
Aufsätze, sondern auch die der fast gleichzeitigen Freudschen Psychoanalyse.
Für Weber wie für Freud geht es nicht nur um die wissenschaftliche Analyse,
sondern auch ums Erwachsenwerden: die Erziehung zur Realität. Sie kennen
zwar beide nicht den Gott der Liebe, wohl aber den Teufel und die Dämonen
der Gewalt. Das Resultat dieser Erziehung zur Realität wäre Männlichkeit.
Und das hieß für Max Weber konkret, nicht auf den Heiland zu warten,
sondern den eigenen Dämon zu finden, in einer letzten Stellungnahme zum Leben
(Wertidee!) das eigene Schicksal zu wählen. (Norbert Bolz, Das
Wissen der Religion, 2008, S. 15).Höchstwerte sind ...
keine Alternativen, sondern Todfeinde. Deshalb hat Max Weber, der dieses Problem
am tiefsten durchdacht hat, von einer »Wertkollision« gesprochen.
(Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 308).
Es gibt hier keine Kompromisse und keinen Relativismus mehr. Eben diese Wertkollision
meint auch Samuel Huntingtons berühmte Formel vom »clash of civilizations«;
und davon sollte sich der deutsche Leser nicht durch die Frage ablenken lassen,
ob »Kampf der Kulturen« eine angemessene Übersetzung sei.
(Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 23-24).Wenn
es heute überhaupt eine Gemeinsamkeit in den Lebensformen der westlichen
Welt gibt, dann ist es der Konsumismus, also eine Welthaltung, die sich an der
Logik des Marktes orientiert und der die kapitalistische Wirtschaftsform zur zweiten
Natur geworden ist. ( ).
Diese Welthaltung zeigt deutlich kultische, ja fetischistische Züge - und
weckt damit das Interesse des Theologen. Könnte es sein, daß wir im
Herzen des »Warencharakters« auf eine neue Religiosität treffen?
Diese Frage hat sich der Marxist und Theologe Walter Benjamin schon in den 1930er
Jahren gestellt und ein Forschungsprojekt skizziert, das in den letzten Jahren
immer größere Aufmerksamkeit gefunden hat: »Kapitalismus als
Religion«. Zu Recht denkt man hier zunächst an Karl Marx und seine
Enthüllung des religiösen Geheimnisses der Ware, aber vor allem
natürlich auch an Max Weber und dessen These von der Geburt des Kapitalismus
aus dem Geist des Protestantismus. Doch Weber selbst hatte schon erkannt,
welche Erkenntnisbarrieren sich hier auftürmen, weil jener Geist eben schon
längst aus unserem Alltag entschwunden ist und nur noch seine Hüllen
übrig geblieben sind. Der kapitalistische Geist entstand in einer Zeit, »in
welcher das Jenseits alles war« (Max Weber, Gesammelte Aufsätze
zur Religionssoziologie, Band I, 1919, S. 163) und eben das können wir
nicht mehr nachfühlen. Um aber zu verstehen, wie sich der kapitalistische
Geist zu der reinen Diesseitsreligion des Konsumismus depotenzieren konnte, brauchen
wir doch eine einfache Hintergrundskizze jener Geburtsphase - »damals, als
die Sorge für das Jenseits den Menschen das Realste von allem
war, was es gab.« (Max Weber, Soziologie, S. 395). (Norbert
Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 31).Max Webers These
über den Geist des Kapitalismus besagt im Kern, daß eine asketische
Form des Protestantismus eine alltagsbestimmende Lebensmethodik geschaffen hat.
Diese Lebensmethodik stützt das kapitalistische Wirtschaften wie ein Korsett
und versieht es zugleich auch mit Heilsprämien. Formelhaft gesagt: Der Kapitalismus
ist religiös bedingt. Das war von Max Weber natürlich als Konkurrenzthese
zu jener marxistischen Grundformel, nach der das gesellschaftliche Sein die Gestalten
des Bewußtseins bestimme, gemeint. (Norbert Bolz, Das Wissen der
Religion, 2008, S. 31).Diese Religionssoziologie des Kapitalismus
entwirft das grandiose Bild vom innerweltlichen Asketen des Puritanismus, der
sich die Lebenssorge kapitalistischen Wirtschaftens wie einen dünnen Mantel
umwirft - aber dieser Mantel erstarrt zum Panzer, »zum stahlharten Gehäuse«
(Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I, 1919,
S. 203). Die Askese baut die Welt um, und gerade durch ihren strahlenden Erfolg
gewinnen die Güter eine ungeheure Macht über die Menschen. Seither funktioniert
der Kapitalismus als perfekte Maschine - auch ohne Geist. Für die Menschen
heißt das: Sie haben keinen Beruf mehr, sondern einen Job. (Norbert
Bolz, Das Wissen der Religion, S. 32).Der heute wieder laut
werdende Ruf nach einer »Wirtschaftsethik« klingt vor diesem Hintergrund
wie die verzweifelte Suche nach dem verlorenen Geist des Kapitalismus. Max Weber
hat aber nicht nur das Schwinden des Geistes christlicher Askese diagnostiziert,
sondern auch die Folgeerscheinungen benannt. Weil uns das religiöse Fundament
des Kapitalismus entzogen ist, haben wir den reinen Agon des Sports, aber auch
der Workaholics. Und deshalb kehren auch die alten Götter des Heidentums
wieder - man ist grün und vergöttert die Natur; man gewinnt das Design
des neuen Mikrochips in buddhistischer Meditation; man ist Holist und glaubt an
die schöpferische Macht des Chaos. Der Aberglaube erweist sich hier als die
Wahl der Eigenformel. Heute wird tatsächlich jeder nach seiner eigenen Fasson
selig. Und deshalb leben wir in einem Polytheismus der Marken und Moden.
(Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 32).Max
Weber hatte in seiner Rede über den Beruf zur Wissenschaft über
die religiöse Innenausstattung der modernen Seele gespottet, gerade Intellektuelle
seien versucht, sich eine »spielerisch mit Heiligenbildchen aus aller Herrn
Länder möblierte Hauskapelle« einzurichten. (Vgl. Max Weber, Wissenschaft
als Beruf, 1917, S. 35). Entscheidend ist hier für unseren Zusammenhang,
daß man auch religiös sein kann, ohne an etwas Bestimmtes zu glauben.
Gerade für die Boutique-Religion gilt also Nietzsches Formel: »der
religiöse Instinkt« wächst, aber er lehnt »die theistische
Befriedigung« ab. (Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke,
Band V, S. 73). Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die vielleicht »gottunfähig«
(Alfred Delp), aber nicht irreligiös sind. (Norbert Bolz, Das Wissen
der Religion, 2008, S. 35).Heilsversprechen
verwandeln Unglück und Elend in revolutionäre Energie. Das Urmodell
dafür ist wohl die theologische Denkfigur der Felix Culpa: Der Sündenfall
im Paradies wird als Glücksfall für die Welt gedeutet. Jetzt kann Gott
uns erlösen und wir können uns bewähren. Gerade indem eine Prophetie
Strafgerichte ansagt, produziert sie eine »einheitliche sinnhafte Stellungnahme«
zum Leben. Und so wird »Lebensführung qua Formung des Lebens in
der Welt« möglich - Max Webers großes Thema. (Vgl. Max Weber,
Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I, 1919, S. 262).
Die jeder Prophetie implizite Gesinnungsethik bezieht das ganze Leben auf das
Heilsziel, das nicht von dieser Welt sein darf. (Norbert Bolz, Das Wissen
der Religion, 2008, S. 38).Als Max Weber den Gesinnungsethikern
seiner Zeit eine Verantwortungsethik entgegenstellte, war dieser Begriff der Verantwortung
ein Ausdruck des politischen Augenmaßes und einer gereiften Männlichkeit,
die weiß, daß man mit jeder wertorientierten Lebensentscheidung in
Teufels Küche gerät. Seither hat sich die Bedeutung des Begriffs Verantwortung
geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Terroristen übernehmen weltöffentlich
»Verantwortung« für ihre wahnsinnigen Mordtaten, und große
Unternehmen blähen sich mit Konzepten wie »Corporate Responsibility«
als Große Bürger der Weltgesellschaft auf. Dem entspricht auf der Ebene
intellektueller Empfindsamkeit der Anspruch der »Gutmenschen«, von
den Ereignissen der ganzen Welt »betroffen« zu sein. (Norbert
Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 41).Die Öko-Religion
hat durchaus ihre Priester, ihre Pilgerfahrten und ihren Heiligen Gral. Nur daß
die jungen Glaubenshelden heute Ölplattformen besetzen und die Rainbow-Warrior
gegen finstere Atommächte in See sticht. Greenpeace - das sind die Kreuzritter
der heilen Welt. Sie stehen deutlicher als andere Nicht-Regierungs-Organisationen
für eine neue Religiosität, die auf den Namen »Umweltbewußtsein«
getauft ist. Umwelt heißt der erniedrigte Gott, dem die Sorge und die Heilserwartung
gelten. Die Heilssorge unserer Zeit artikuliert sich als Sorge um das ökologische
Gleichgewicht. Und das bedeutet im Klartext: Für die fundamentalistischen
Grünen ist Natur selbst die Übernatur. So funktioniert das Umweltbewußtsein
als Quelle einer neuen Religiosität. Dieses grüne Glaubenssystem ist
natürlich viel stabiler als das rote, das es ablöst. Die Natur ersetzt
das Proletariat - unterdrückt, beleidigt, ausgebeutet. Die Enttäuschung
des linken Heilsversprechens hat apokalyptische Visionen provoziert, nämlich
solche vom Untergang der Umwelt. Für eine funktionalistische Betrachtung
liegt der Zusammenhang auf der Hand: Weil die Hoffnung auf Erlösung enttäuscht
wurde, interessiert man sich wieder für Schöpfung - unter dem Namen
Umwelt. Und dabei muß man nicht einmal auf den Rausch der Revolution verzichten.
Denn man kann auch die Revolution als innerweltliche Askese verklären - in
exakter Gegenführung zu Max Webers puritanischem Kapitalisten. Kämpfen
»draußen« heißt dann nichts anderes als: der Weltablehnung
in der Welt selbst Nachdruck zu verleihen. (Norbert Bolz, Das Wissen
der Religion, 2008, S. 44-45).In der Grunddiagnose herrscht
eine verblüffend große Einigkeit unter den Denkern. Der berühmte
Buchtitel Francis Fukuyamas - Das Ende der Geschichte und der Letzte Mensch
- faßt ja ganz einfach die Positionen Hegels und Nietzsches zusammen. Diese
Welt hat dann Max Weber als »Gehäuse der Hörigkeit« definiert.
»Verwaltete Welt« (Theodor W. Adorno), »technischer Staat«
(Helmut Schelsky) und das »Gestell« (Martin Heidegger) sind nur verschiedene
Namen für das Endprodukt eines spezifisch modernen Prozesses, den Arnold
Gehlen auf den Begriff der »kulturellen Kristallisation« gebracht
hat. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 54-55).Seit
die Prädestinationslehre die Auserwählten von den Verdammten unterschied,
hat wohl kaum eine Unterscheidung so stark skandalisiert wie die zwischen Freund
und Feind. Daß sich in Saddam Hussein Hitler reinkarnierte und die Tyrannen
der Jetztzeit eine »Achse des Bösen« bilden, klingt in aufgeklärten
Ohren unerträglich obskurantistisch. Denn der Humanitarismus der Intellektuellen
kennt prinzipiell keine Feinde. Hier verpuppt sich die Angst vor dem Feind in
der Angst vor dem Begriff des Feindes. Aber Feindvergessenheit ist der Sieg des
Teufels. Deshalb muß der Kampf gegen den Teufel mit der Bestimmung des Feindes
beginnen. Der katholische Staatsrechtier Carl Schmitt hat genau in diesem Sinne
vom »ganz konkret erscheinenden Teufel von heute« gesprochen. (Vgl.
Carl Schmitt, Glosarium, 162). Man muß ihn je und je beim Namen nennen.
Der schon von Max Weber beschworene Kampf der Wert-Götter verwandelt sich
nämlich für den, der sich entschieden hat, in einen Kampf zwischen Gott
und Teufel. Und dieser Kampf zwischen Gott und Teufel impliziert, daß es
keine Wertalternativen gibt: im Jargon unserer Zeit: »commitment«
ist nicht »choice«! (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion,
2008, S. S. 65-66). Nicht erst für René Girard,
sondern schon für Max Weber und Freud ist der Teufel die Gewalt. Er zeigt
sich in der Aggression und ist vor allem in der Politik zu Hause. Politik ist
Gewalt, also diabolisch. Die Frage ist nur, ob man ihr entkommen kann oder sich
mit ihr arrangieren muß. Politik als Beruf ist Max Webers Antwort: das rationale
und zugleich männliche Arrangement mit der alles gesellschaftliche Leben
durchdringenden Gewalt. Und auch Freuds Antwort ist klar: die Anerkennung des
Bösen im Menschen als Aggressionstrieb - wovon die politischen Kinder aber
nichts hören wollen. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion,
2008, S. 66).
Die Rache Gottes besteht darin, daß er die Aufklärer,
die das Geheimnis der Religion entlarven wollen, mit Verständnislosigkeit
schlägt. Die Dialektik der Aufklärung besteht heute darin, daß
Aufklärung, die einmal Europa vom religiösen Fundamentalismus
befreite, selbst fundamentalistisch geworden ist; man denke nur an Richard
Dawkins und seinen Kreuzzug gegen die Religion. Wie vor zweitausend Jahren
weckt die Offenbarung Glauben oder Wut. Während Kenneth Burke Gott
noch als »Term« neutralisierte, naturalisiert Dawkins Gott
zum »Mem«, also einer Art Gen des Geistes. Gott erscheint
hier als kultureller Virus, der das Gehirn parasitiert, d.h. als ein sich
selbst reproduzierendes Informationsmuster. Das ist der ironische Gottesbeweis
der Gen- und Hirnforschung. Ihr Naturalismus entlastet von Freiheit und
Schuld. In diesem Lichte betrachtet erscheinen nicht nur die islamistischen
Terroristen als Opfer einer Gottesinfektion. Nun können sich alle
Delinquenten wissenschaftlich dagegen wehren, für ihre Untaten zur
Verantwortung gezogen zu werden. Und genau das dürfte der entscheidende
Grund für die Popularität dieser Forschungen sein. Sie bieten
in der Sprache modernster Wissenschaft ein funktionales Äquivalent
zur religiösen Erlösung von der Schuld. Hier scheint sich wieder
Max Webers Einschätzung zu bestätigen, Wissenschaft sei die
spezifisch gottfremde Macht« (Max Weber, Wissenschaft als Beruf,
1917, S. 322). Er hat ja die Aufklärung als unaufhaltsamen Prozeß
des okzidentalen Rationalismus beschrieben und dafür die poetische
Formel von der Entzauberung der Welt gefunden. Diese Formel bekommt ihr
Profil erst im Gesamtkontext von Webers religionssoziologischen Analysen.
Die okzidentale Entzauberung der Welt wird nämlich gemessen an der
asiatischen Religion der Welt als »Zaubergarten« (Max Weber,
Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band II, 1919-1920,
S. 371). Am Ende des Modernisierungsprozesses, also der Entzauberung der
Welt durch Wissenschaft, kommt es dann zur Konfrontation von Gott und
Maschine. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S.
77).
Max
Weber hat sehr schön gezeigt, wie die wissenschaftliche Entzauberung der
Welt zum bedeutungslosen Sein die Intellektuellen zur »Konzeption der Welt
als eines Sinn-Problems« provoziert hat. (Vgl. Max Weber, Wirtschaft
und Gesellschaft, 1920, S. 308). So, nämlich in der Zurückweisung
der Zumutung einer sinnwidrigen Welt, entsteht Metaphysik. Doch in jedem Menschen
steckt offenbar ein Metaphysiker. Das Streben nach Sinn gehört konstitutiv
zum Menschsein dazu. Das können Psychologen heute mit den »noncontingent
reward experiments« sehr schön zeigen: Wer erst einmal Sinn in eine
Unordnung hineinkonstruiert hat, ist kaum mehr bereit, seine Konstruktion aufzugeben.
(Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 86-87).Die
Entzauberung der Welt zum Inbegriff von sinnfremden Tatsachen läßt
sich nicht widerrufen; das haben Max Weber und Ludwig Wittgenstein deutlich gesehen.
Je wissenschaftlicher und technischer unsere Welt wird, desto unmöglicher
ist es, sie als »sinnvoll« zu erfahren. Das war natürlich schon
das zentrale Motiv der Romantik. So heißt es bei Novalis: »Der Sinn
der Welt ist verlorengegangen. Wir sind beim Buchstaben stehn geblieben. Wir
haben das Erscheinende über der Erscheinung verloren. Formularwesen.«
(Novalis [Friedrich von Hardenberg], Schriften, Band II, S. 594). Das ist
durchaus wörtlich zu nehmen. Denn die mathematische Formalisierung produziert
Signifikanz - im Gegensatz zum Sinn. Insofern könnte man sagen, daß
die Formel der Mathematik im größtmöglichen Gegensatz zum Sinn
der Religion steht. Nichts ist der sinnhaften Erlebnisverarbeitung des Romantikers
fremder als die maschinelle Datenverarbeitung des Mathematikers. (Norbert
Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 87).Wer sich ...
nicht mit den Setzungen einer philosophischen Anthropologie der Philosophie begnügen
möchte, wird die Soziologie befragen, wie jene großen Ideen entstehen,
die den Rahmen menschlicher Handlungsinteressen vorgeben. In der Einleitung zu
seinem Aufsatz über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen hat Max Weber
die Entstehung des »metaphysischen Bedürfnisses« als intellektuelle
Reaktionsbildung auf die Erfahrung einer sinnlosen Welt beschrieben. (Vgl. Max
Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1919, Band I,
S. 253). Als sinnlos wird die Welt erfahren, wenn objektive Ungewißheit
auf Dauer gestellt ist und Wissenschaft nur noch Relativismen und Pluralismen
anzubieten hat. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S.
89).Für den gläubigen Christen genügt es ..., in
Gott die Transzendenz als Person zu erfahren. Und das hat einen faszinierenden
dialektischen Umkehreffekt. Denn seither setzt Persönlichkeit einen Bezug
auf Transzendenz voraus. Wie sehr sich unsere Idee der Persönlichkeit einer
Lebensführung verdankt, die aus der jüdisch-christlichen Tradition herauswächst,
hat Max Weber im Vergleich mit dem konfuzianischen Gentleman deutlich gemacht.
Man kann die Lebensführung so rationalisieren, daß der Mensch in optimaler
Weise seiner Umwelt angepaßt ist. Er hat dann zwar Haltung, aber kein Eigengewicht
gegenüber der Welt. Persönlichkeit dagegen setzt Transzendenz voraus;
ein »Hinausgreifen über die Welt« ( Max Weber, Gesammelte
Aufsätze zur Religionssoziologie, 1919, Band I, S. 521). (Norbert
Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 97).Eine der berühmtesten
Figuren aus Nietzsches Drama des abendländischen Nihilismus ist der tolle
Mensch. Was er uns klar machen will, ist, daß das Wort »Gott ist tot«
etwas ganz anderes meint als »nicht an Gott glauben«. Nur wenige haben
das verstanden, aber immerhin die wichtigsten der Nietzscheaner: Max Weber und
Sigmund Freud. Nietzsche, Weber und Freud verkünden eine Botschaft, die niemand
hören will. Diese These klingt zunächst unverständlich, wenn man
etwa an den weltweiten Publikumserfolg Nietzsches, die beherrschende Stellung
Webers in der Soziologie, v.a. in der us-amerikanischen, und an die Allgegenwart
psychoanalytischer Slogans denkt. Doch alle drei waren davon überzeugt, daß
man den Menschen erst die Ohren zerschlagen müßte, damit sie jene Botschaft
erreicht. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 103).Das
ist die eine heroische Möglichkeit, sich in einer gottfernen Zeit zu behaupten,
nämlich selbst einen neuen Gott zu schaffen, oder doch zumindest zu verkündigen
- Nietzsche als neuer Prophet. Sein Schüler Max Weber hat die Bedingungen
der zweiten Möglichkeit benannt, männlich in einer gottfernen Zeit leben
- Politik als Beruf. Und die Weber-Formel für die dritte Möglichkeit,
nämlich Wissenschaft als Beruf, paßt auf niemanden besser als auf Freud,
den Begründer der Psychoanalyse, der sein ganzes Leben in den Dienst des
Durcharbeitens zur historischen Wahrheit gestellt hat. (Norbert Bolz, Das
Wissen der Religion, 2008, S. 104).Max Weber hat Nietzsches
Forderung, aus dem Tod Gottes eine großartige Entsagung zu machen, ernst
genommen. Das kann man seinen religionssoziologischen Untersuchungen genau so
entnehmen wie den großen Reden über Wissenschaft und Politik als Beruf.
Für den ernsten Menschen ist der Sinn des Lebens im Dienst an einer Sache
zu finden, also im rational und methodisch ausgeübten Beruf, dessen asketische
Bedeutung der Calvinismus so großartig herausgearbeitet hat. Die polemische
Stoßrichtung des Lebensprogramms, das Heil der Seele im Beruf zu suchen,
wird aus der Gegenstellung zur Kontemplation der Intellektuellen besonders deutlich.
(Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 104).Max
Weber übersetzt Luthers Zwei-Reiche-Lehre in die Antithese von Gesinnungs-
und Verantwortungsethik. Obwohl es sich hier nicht um eine bündige Disjunktion
handelt, sondern beide Ethiken sich in der konkreten Lebenswirklichkeit durchdringen
können, arbeitet Weber doch ein großes Entweder / Oder heraus. Man
muß zwischen einem Leben in religiöse Würde und Manneswürde
unterscheiden. Und aus der Perspektive der Manneswürde muß das Leben
in religiöser Würde geradezu als Würdelosigkeit erscheinen. Hier
gibt es keine Kompromisse, und es ist eine unterhintergehbare Frage der eigenen
letzten Stellungnahme, welche der Lebensformen als Gott wohlgefällig oder
als des Teufels erscheint. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion,
2008, S. 104).Dem religiös Unmusikalischen ist die Lebensform
der religiösen Würde unvollziehbar. Er läßt sich auf »diese
Welt« und ihre durchschnittlichen Defekte ein. Max Weber verwandelt Nietzsches
Pathos der Distanz in die politische Tugend des Augenmaßes, die allein »dem
Ethos der Politik als Sache« entspricht. Mit der Wendung zum
Beruf der Politik ist die religiöse Frage aber nicht erledigt, sondern stellt
sich mit neuer Dringlichkeit. Denn die Sache der Politik ist zuletzt Glaubenssache.
(Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 105).Doch
dieser Glaubenssache der Politik kann man nicht durch ein Opfer des Intellekts
entsprechen, sondern nur durch entschlossenes politisches Handeln, das unvermeidlich
in Schuld verstrickt. Die Tragik des politischen Handeins fordert eine männliche
und herbe Haltung, nämlich »Sachlichkeit und Ritterlichkeit«
(Max Weber, Politik als Beruf, S. 53ff.). Diese stolzen Vokabeln machen
deutlich, wie schwer die Aufgabe ist, den modernen Alltag auszuhalten. Und die
Polarnacht, die Weber für Europa ankündigt, bestätigt noch einmal
den tollen Menschen Nietzsches: »Ist es nicht kälter geworden?
Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht
Laternen am Vormittage angezündet werden?« (Friedrich Nietzsche,
Sämtliche Werke, Band III, S. 481). (Norbert Bolz, Das Wissen
der Religion, 2008, S. 105).Nietzsches Metaphysik des Willens
zur Macht, Max Webers Begriff von Politik als Dämonie der Gewalt und Freuds
Enthüllung der triebhaften menschlichen Aggressivität sind drei Varianten
derselben unerhörten Botschaft. Daß politische Aufgaben nur mit Gewalt
zu lösen sind; daß Politik als Gewaltpragma unvereinbar mit dem Leben
des Heiligen ist; daß Politik als Pakt mit dem Teufel begriffen werden muß,
weil sie sich unweigerlich in Gewaltsamkeit verstrickt - all das wollen die politischen
Kinder der modernen Gesellschaft nicht wahrhaben. Nicht Männlichkeit, sondern
Kindlichkeit ist die Signatur unserer Zeit. Und die Kindlein hören es nicht
gern, wenn man ihnen vom Bösen im Menschen erzählt. Man hat Ohren, um
nicht zu hören. Und deshalb dringt durch die Schriften dieser großen
Denker immer wieder der Verzweiflungsruf: Habt ihr mich verstanden?
(Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 105).Durchaus
nicht! Und was Freud über Nietzsches Wahnsinn und Webers Resignation
hinausträgt, ist allein die Tatsache, daß er dieses Nichthörenwollen
selbst in seine Theorie integrieren konnte, nämlich als »Widerstand«
in der und gegen die Psychoanalyse. Den toten Gott ins Register des Unbewußten
einzutragen, war seine genialste Intuition. Gott ist tot, aber gerade dadurch
mächtiger denn je, nämlich im Unbewußten. Die Religion verdankt
ihre Macht dem Schicksal der Verdrängung. Wer Freuds Analysen ernst nimmt,
kann Religion also nicht mehr einfach nur als Tradition begreifen, sondern muß
sie als zwanghafte Erinnerung verstehen - als Wiederkehr des Verdrängten.
(Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 105).Das
zentrale Paradox des Glaubens besteht eben darin, daß das Ewige das Geschichtliche
ist. Im Christ-Sein ist das Reich Gottes da. Das gibt ja auch der Gerichtsszene
des Jesus vor Pilatus ihre Gewalt: Die Wahrheit bricht in die Realität ein
und forden sie heraus. Doch von nun an bleibt die Wahrheit an das Opfer des Intellekts
gebunden. Es geht um Pistis, nicht um Gnosis. Und man versteht das Evangelium
durchaus richtig, wenn man es, wie Max Weber, als »Verkündigung eines
Nichtintellektuellen nur an Nichtintellektuelle« liest. (Vgl. Max Weber,
Wirtschaft und Gesellschaft, 1920, S. 379). Gott gibt den Glauben den Kindern,
nicht den Intellektuellen; es geht nicht um das Wissen der Dogmen, sondern um
Vertrauen in die Verheißung. (Ebd., S. 108).Nichtintellektuelle,
Ungebildete, Kinder - das kann man leicht mißverstehen. Jesus sagt zwar:
Liebe Gott wie ich ihn liebe, nämlich als sein Sohn. Doch dieses »Gotteskindschaftsbewußtsein«
steigerte in der modernen Welt die Sentimentalität bis in pietistische Gefühlshöhen,
deren »winselnder Tonfall ... kraftvolle Männer so oft aus der Kirche
gescheucht hat.« (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1920, S.
345). Deshalb hat Max Weber die evangelische Kirche immer wieder daran erinnert,
daß auch der Vater des Gottessohns kein zärtlicher moderner Papa ist,
sondern, ganz kafkaesk, strenger Hausvater. (Ebd., S. 108-109).Der
Begriff der christlichen Liebe mit ihrem Gebot der Feindesliebe und der Begriff
des Politischen mit seiner Grundunterscheidung von Freund und Feind stehen sich
unversöhnlich gegenüber. Daran ändern auch Carl Schmitts raffinierte
Differenzierungsbemühungen nichts, die in die Unterscheidung von persönlichem
und öffentlichem Feind, also inimicus und hostis, die Möglichkeit
hineindeuten, die christliche Feindesliebe mit Realpolitik zu vereinbaren. Max
Weber war hier konsequenter und hat der christlichen Liebe ohne Distanz das Nietzschesche
Pathos der Distanz entgegengestellt. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion,
2008, S. 111).Am Thema der Feindesliebe kann man sich besonders
gut vergegenwärtigen, wie schlüssig die Theoriebemühungen von Nietzsche,
Freud und Weber ineinander greifen. So entwickelt der Soziologe Weber seinen Begriff
der religiösen Rationalisierung aus dem Ressentimentbegriff des Philosophen
Nietzsche («Geist der Rache«) und dem Sublimationsbegriff des Psychologen
Freud. Feindesliebe ist demnach jene Sublimierung, die dem Feinde schrankenlos
verzeiht, um ihn vor andern oder und vor allem vor sich selbst beschämen
und verachten zu können. Man kann den Feind nur lieben und darauf verzichten,
dem Übel mit Gewalt zu widerstehen, wenn man sicher sein kann, daß
Gott dereinst vergelten wird. Es gibt also keine Kommunikation zwischen dem Gott
der Liebe und dem Dämon der Politik. Und genau das markiert die wundeste
Stelle der Kultur. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008,
S. 111).Max Weber hat einmal gesagt, die Sekte liege im »Kriege
gegen die Theologie« (Max Weber, Soziologie - Weltgeschichtliche Analysen
- Politik, S. 396). Theologie ist nämlich die Rationalisierung des Heilsbesitzes;
sie geht vom Faktum der Offenbarung aus: Es gibt Sinn. Und die Kirche versteht
sich als Anstalt des Heils, die die Gnadengaben monopolartig verwaltet. Das gibt
dem Priester seine unvergleichliche Stellung; er steht für das Heil von Amts
wegen. Und gerade dem religiös unmusikalischen Menschen verhilft das von
der Kirche verwaltete Dogma zum Glauben. Deshalb könnte man heute (heute!)
sagen: Die Kirche ist das transzendentale Obdach der religiös Unmusikalischen.
Denn religiös unmusikalisch heißt eben nicht irreligiös. Die Kirche
überlebt gerade weil und wo die religiösen Motive schwach sind. Starke
religiöse Motive führen ja zur Sektenbildung. Das stößt uns
auf eine erstaunliche Paradoxie: Die Stärke der Kirche liegt in der Schwäche
der religiösen Motivation. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion,
2008, S. 116).Am Anfang war die große Unvereinbarkeit von
Griechentum und Christentum. Ihr verdanken die guten Europäer alles, was
sie zukunftsfähig macht, vor allem auch eine unvergleichliche Eigenart der
westlichen Kultur: die Fähigkeit zur Selbstkritik. Entweder entscheidet man
sich zwischen Athen und Jerusalem und wird Christ wie Kierkegaard bzw. Antichrist
wie Nietzsche. Oder man hält die große Unvereinbarkeit aus und kultiviert,
wie Max Weber es forderte, eine gereifte Männlichkeit. Mit den Gutmenschen
des heutigen Westens, die weder Altgriechisch können, noch Paulus kennen,
hat das natürlich nichts zu tun; sie sind nicht selbstkritisch, sondern Kultgänger
eines Bußrituals, das an die Stelle von historischer Erkennrnis getreten
ist. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 135).Wir
konstruieren die christliche Religion als Ellipse. Ihre beiden Brennpunkte sind
die europäische Identität und die Glaubensrüstung des Ich. Denn
obwohl unser Thema ja die neue Weltreligiosität ist, folgt unsere Darstellung
- und wie wir gleich sehen werden: unvermeidlicherweise - einem Vorurteil für
das Christentum. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S.
136).Fast 2000 Jahre lang haben fast alle intelligenten
und gebildeten Menschen unserer europäischen Kultur die Frage nach dem christlichen
Gott durchdacht und durchlitten; ob apologetisch, ob kritisch gleichviel. Jeder
ernst zu nehmende Gedanke ist Metaphysik, und jede Metaphysik ist säkularisierte
Theologie. Sich aus diesem Traditionszusammenhang herausreflektieren zu wollen,
ist geistiger Selbstmord. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion,
2008, S. 136).Das ist der erste Brennpunkt unserer Ellipse:
europäische Identität. Den zweiten Brennpunkt haben wir Glaubensrüstung
des Ich genannt. Gemeint ist die unerschüttetliche Sicherheit einer Lebensführung,
die durch und durch von einem Glauben an Gott geprägt ist. Das unüberbietbare
Muster hat uns Max Weber im Puritaner gezeigt. Seine Religion ist die Reaktionsbildung
auf die »irrationale Welt des unverdienten Leidens, des ungestraften Unrechts
und der unverbesserlichen Dummheit.« (Max Weber, Politik als Beruf,
S. 60). Gerade die ökonomische Rationalität stößt den Menschen
auf die ethische Irrationalität der Welt. Wer aber einen Beruf im Sinne innerweltlicher
Askese hat, ist »von glücklicher Borniertheit für jede Frage nach
einem Sinn der Welt geschlagen.« (Max Weber, Wirtschaft und
Gesellschaft, 1920, S. 332). Die Welt ist zwar irrational, aber sein Handeln
in ihr rational. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S.
137).Das ist die große religiöse Antithese zur Weltflucht.
Der Puritaner ist eine Figur der Weltzugewandtheit, die aber nicht weltbejahend
ist wie der antike Grieche und der Ja-und-Amen sagende Nietzsche, sondern weltablehnend.
Ich wende mich der Welt zu - und lehne sie ab. Das macht die einzigartige Bedeutung
des Berufs aus; er ist das Medium der Bewährung vor Gott als Bewährung
vor sich selbst. Der Puritaner schließt sich gegen die Welt ab, um sie zu
rationalisieren. So macht der Glaube in höchstem Maße realitätstüchtig.
(Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 137).Aber
es gibt noch eine zweite Figur des glaubensgerüsteten Ich, die sehr viel
aktueller ist: Don Quijote. Gott verläßt die Welt, und da wird der
Glaube zum Wahnsinn; ein Wahnsinn aber, der sich als ästhetische Strategie
eines Dichters der eigenen Handlungen erweist und den Glaubensritter immun macht
gegen die Täuschungen der Welt. Don Quijote führt sein Leben durch einen
Glauben, den er als Fiktion durchschaut und an den er als Fiktion glaubt. Sein
Heldentum erscheint grotesk und sein Glaube wahnsinnig, weil er sich nicht damit
abfindet, daß ewige Inhalte und ewige Haltungen ihren Sinn verlieren, wenn
ihre Zeit vorbei ist; daß die Zeit über ein Ewiges hinweggehen kann.
Doch was könnte daran aktuell sein? (Norbert Bolz, Das Wissen
der Religion, 2008, S. 137-138).Jeder moderne Mensch, der heute
sein Leben am christlichen Glauben orientiert, ist ein Don Quijote. Die Ritterrüstung
des Christentums panzert ihn gegen die Kontingenzen des Alltags, die gottfremde
Macht der Wissenschaft und die eigene kreatürliche Hinfälligkeit. Als
religiös unmusikalischer Betrachter kann man das nur bewundern; wer einen
Gott hat, ist beneidenswert. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion,
2008, S. 138). Ungleichheit
John
Rawls' Vorstellung eines gesellschaftlichen Pooling der Intelligenz und Geschicklichkeit
der Individuen als kollektivem Gut entspricht exakt der von Max Weber dem Kommunisten
Babeuf und seiner »Verschwörung der Gleichen« zugeschriebenen
Forderung, daß man »die Ungerechtigkeit der ungleichen Verteilung
der geistigen Gaben auszugleichen habe durch strenge Vorsorge dafür, daß
das Talent, dessen bloßer Besitz ja schon ein beglückendes Prestigegefühl
geben könne, nicht auch noch seine besseren Chancen in der Welt für
sich ausnützen könne.« (Max Weber, Soziologie, S. 269).
(Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, 2009, S. 122).Die
Rangordnung der Autorität als strikt asymmetrische Sozialstruktur. Es handelt
sich hier um eine anerkannte Beziehung der Ungleichheit, in der Differenzen von
Status und Prestige, Prominenz und sozialer Bedeutsamkeit zum Ausdruck kommen.
Im Gegensatz zum Zwang der Macht ist die Rangordnung der Autorität in der
Verehrung durch die Untergeordneten fundiert. Wie in Max Webers Begriff des Charisma
angedeutet, wird der hohe Rang gleichsam als Extension des Selbst erlebt. Entsprechend
asymmetrisch ist die Aufmerksamkeitsverteilung - der Ranghöhere ist prominent.
Und heute geht es in Fragen der Rangordnung auch gar nicht mehr um Befehl und
Gehorsam. Denn je mehr die materiellen Lebensbedingungen sich angleichen, desto
deutlicher treten die Motivationskräfte Status, Prestige, Anerkennung und
Ehre hervor. Genauso wie bei der Liebe und dem Neid geht es hier um nicht-ökonomische
Motive, die der metaphysische Individualismus der klassischen Wirtschaftswissenschaften
unterschätzt. ( (Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit,
2009, S. 136).Max Weber hat einmal gesagt: »Bildungs- und
Geschmackskultur-Schranken sind die innerlichsten und unübersteigbarsten
aller ständischen Unterschiede.« (Max Weber, Soziologie, S.
477). Das ist für die moderne demokratische Gesellschaft natürlich ein
permanenter Skandal, gegen den sie mit einer Flut reformpädagogischer Programme
verzweifelt ankämpft. Doch Erfolg ist eine Funktion von Begabung, Fleiß
und Bildung. Zwar kann man den Zugang zu den Bildungsanstalten für alle garantieren,
also formal Chancengleichheit sichern, aber wie soll man Leistungsmotivation und
Übung steuern? Und vollends machtlos ist der Staat ja gegenüber
IQ und genetischer Mitgift. Auch die Herstellung gleicher Startchancen kann deshalb
nichts daran ändern, daß Chancen unterschiedlich wahrgenommen werden.
Wenn der Schüler sich nicht meldet, kann der Lehrer nichts machen. Manche
sind stark genug, sich als »Streber« gegen das Mobbing der Verwöhnten
und Faulen zu behaupten. Die meisten aber suchen ihr Heil in der Anpassung an
eine Coolneß, die darin besteht, sich nicht für den Unterricht zu interessieren.
Familien haben darauf einen gewissen, staatlich nicht steuerbaren Einfluß,
die Lehrer dagegen sind ohnmächtig. ( (Norbert Bolz, Diskurs über
die Ungleichheit, 2009, S. 141).Ist die moderne Gesellschaft
vor einem ihrer Teilsysteme, nämlich der Wirtschaft, in die Knie gegangen?
Regiert das Geld die Welt? Gerade Leute, die nicht genug Geld haben,
also die Armen, und Leute, die meinen, nicht genug Geld zu bekommen, also die
Intellektuellen, neigen zu dem Glauben, die Wirtschaft beherrsche die ganze Welt.
Und genau das hat der Sentimentalismus der Entfremdungskritiker dem Kapitalismus
seither zum Vorwurf gemacht. Geld fließt dorthin, wo es sich vermehren kann,
nicht dorthin, wo es gebraucht wird. Selbst der nüchterne Max Weber hat die
vollkommen durchmonetarisierte Wirtschaft deshalb als den eigentlichen Träger
der Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit bezeichnet. Besonders einschlägig
sind hier natürlich die Formulierungen des »Kommunistischen Manifests«
von Karl Marx, das Marktsystem habe »die persönliche Würde in
den Tauschwert aufgelöst ... und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch
übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose bare
Zahlung« (Karl Marx, Manifest der Kommunistischen Partei, 1848,
S. 528). ( (Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, 2009,
S. 154).Die Frage nach den religiösen Grundlagen des Kapitalismus
zielt nicht auf theologische Dogmen, sondern auf die vom Glauben bestimmte Lebensführung.
In diesem Sinne hat Max Weber in seinen Kapitalismusstudien Religion als System
der Lebensregulierung interpretiert. Denn so wie der Rechtsstaat auf Voraussetzungen
beruht, die er nicht selbst garantieren kann - das ist das große Thema der
Verfassungsrechtler Böckenförde und Forsthoff -, so beruht auch der
liberale Kapitalismus auf Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann.
Das ist heute die zentrale Einsicht der Kommunitaristen, die schon Vilfredo Paretos
Begriff der »Residuen«, Ferdinand Tönnies' Soziologie der »Gemeinschaft«
und dem Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre zu Grunde liegt.
Wirtschaftsethik ist die verzweifelte Suche nach dem verlorenen Geist des Kapitalismus.
Was kann an die Stelle der innerweltlichen Askese treten? ( (Norbert
Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, 2009, S. 157).Eine
poetische Antwort gibt Diotimas Traum in Musils »Mann ohne Eigenschaften«:
die »Vereinigung von Wirtschaft und Seele« (Robert Musil, Der Mann
ohne Eigenschaften, 1930-'42, S. 108). Die Prosa der Ökonomen kennt diese
Sehnsucht als das Adam-Smith-Problem. Wie kann man die Tatsache erklären,
daß der Autor des Grundbuchs der Nationalökonomie, »The Wealth
of Nations« (1776), auch der Autor einer » Theory of Moral Sentiments«
(1759) ist? Was haben moralische Gefühle mit Wettbewerb und Gewinnstreben
zu tun? Welche Beziehung gibt es zwischen den Leidenschaften und den
Interessen, zwischen der Seele und der Wirtschaft? ( (Norbert Bolz,
Diskurs über die Ungleichheit, 2009, S. 157).Albert
Hirschman hat sehr schön gezeigt, wie der Kapitalismus die großartige
Kulturleistung erbrachte, die Leidenschaften und ihre Ungewißheiten in den
Griff zu bekommen. Im System des kapitalistischen Wirtschaftens wurden die Menschen
leidenschaftsloser, trockener und berechenbarer - man könnte sagen: sie wurden
auf Zivilisationstemperatur gebracht. Das Profitmotiv ersetzte den Thymos, zu
Deutsch: Herz, Mut und Gesinnung. »Mehr Geld« statt Ehre. Der Geist
des Kapitalismus entstand also durch rationale Temperierung im Gegensatz zur Gier
des kapitalistischen Abenteurers. Man kann diese großartige Kulturleistung
des Kapitalismus in der Definition resümieren, die Max Weber für den
Begriff Verantwortung gefunden hat. Verantwortung verankert Leidenschaft in deren
scheinbarem Gegenbegriff: Sachlichkeit. ( (Norbert Bolz, Diskurs über
die Ungleichheit, 2009, S. 157).Im Profitmotiv »mehr
Geld« liegt der Akzent nicht auf »Geld«, sondern auf »mehr«.
Natürlich wollen wir bekommen, was wir uns wünschen, aber mehr noch
wollen wir herausfinden, was wir wirklich wollen. So können wir das Leben
heute als Erforschung eines Wertefeldes betrachten. Mit dem Sieg des Kapitalismus
wurde nämlich der Blick wieder frei auf die nicht-ökonomischen Kräfte
- also die sozialen und moralischen Werte, das Begehren nach Anerkennung - und
auf die andere Seite der Vernunft -, also Gefühle, Geschichten. ( (Norbert
Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, 2009, S. 157-158).Um
die Grenzen der möglichen Gerechtigkeit zu erkennen, braucht man die Tapferkeit
der Bürgerlichkeit. Sie besteht darin, auf ein Konzept von Glück als
Wunscherfüllung zu verzichten. Niemand war hier konsequenter als Kant, der
in seiner Ethik das Glück/Unglück-Problem systematisch ausschaltete
- im Namen der Pflicht. Max Weber hat dieses Thema dann großartig orchestriert,
indem er die Tapferkeit der Bürgerlichkeit als Quintessenz der Lebensweisheit
von Platon bis Goethe herauspräpariert hat. Sein Vortrag über den Beruf
zur Wissenschaft endet bekanntlich mit der Ermahnung, wir alle sollten nicht auf
das Heil warten, sondern »an unsere Arbeit gehen und der Forderung
des Tages gerecht werden - menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist
schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines
Lebens Fäden hält.« (Max Weber, Soziologie, S. 339).
( (Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, 2009, S. 177).Diese
Ermutigung zur Bürgerlichkeit stützt sich auf den Mythos von der Spindel
der Norwendigkeit, den Platon auf den letzten Seiten seines Buches über den
Staat etzählt. Jeder wählt sich seinen Dämon und verharrt dann
in der gewählten Lebensbahn. Jeder wählt sein Los, nimmt das ihm Zufallende
auf und ist alleine schuld an der Wahl. Gerade weil es keine Taxis der Psychen,
keine Rangordnung der Seelen gibt, kommt alles darauf an, gute und schlechte Lebensweisen
unterscheiden zu können. Denn die besseren Lebensweisen machen eine gerechte
Seele. Max Weber übersetzt nun diese Wahl des eigenen Dämons durch bürgerliche
Pflichterfüllung, so wie Goethe sie in seiner berühmten Betrachtung
über die Grenzen der Betrachtung definiert hat: »Wie kann man sich
selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche,
deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist. Was aber ist
deine Pflicht? Die Forderung des Tages.«, (Johann Wolfgang von
Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 442f.). ( (Norbert Bolz, Diskurs
über die Ungleichheit, 2009, S. 177). |