Die bevölkerungswissenschaftlichen Deutungen von Fruchtbarkeitsunterschieden
und ihre bevölkerungspolitischen Konsequenzen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts
(Peter Marschalck)
Einleitung
Die Entwicklung des Verhältnisses von Bevölkerungswissenschaft
und Bevölkerungspolitik, von Kenntnissen über Bevölkerungsvorgänge
einerseits und politischen Maßnahmen mit dem Ziel der Veränderung von
Stärke oder Richtung der Bevölkerungsbewegung andererseits gehört
zu den interessantesten, aber auch zu den noch immer nicht ausreichend untersuchten
Kapiteln der demographischen »Dogmengeschichte«. Beide, Bevölkerungswissenschaft
und Bevölkerungspolitik, wurden bisher maßgeblich von der jeweiligen
realen Bevölkerungsentwicklung beeinflußt; Bevölkerungspolitiker
scheinen sich im allgemeinen jedoch eher nach nicht-demographischen Begründungen
und häufig auch nicht-demographischen Zielen zu richten, als daß sie
ihren Maßnahmen bewährte Erkenntnisse der Bevölkerungswissenschaft
zugrunde gelegt hätten. Das läßt sich gerade auch an dem Wandel
in der wissenschaftlichen Interpretation differentieller Fruchtbarkeit seit dem
18.Jahrhundert aufzeigen. (Ebd., S. 13).Nationale und regionale
Differenzierungen des Bevölkerungswachstums waren schon früh Gegenstand
wissenschaftlicher Betrachtung und Anlaß für politische Reaktionen
gewesen; es sei hier nur auf die Aussagen der merkantilistischen Schriftsteller
und auf die Peuplierungspolitiken ... hingewiesen. Für regionale und im weitesten
Sinne auch soziale Differenzierungen (nämlich Stadt-Land-Unterschiede) der
Sterblichkeit wurden ebenfalls schon im 18.Jahrhundert Ursachen gesucht und Erklärungen
geliefert: Johann Peter Süßmilch etwa zählt eine ganze Reihe von
Ursachen auf, die für die höhere Sterblichkeit in den Städten verantwortlich
gewesen sein sollten, etwa Liederlichkeit, Ammenwesen, Geschlechtskrankheiten,
völlerei, Trunksucht, Enge der Wohnungen, usw ., eine Liste, die eher von
Stadtkritik (später Großstadtkritik) zeugt als von demographisch relevanten
Verursachungsmechanismen, wenn auch die diesen Merkmalen zugrundeliegenden Beobachtungen
durchaus zutreffend gewesen sein mögen (vgl. Johann Peter Süßmilch,
Die Göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts,
aus der Geburt, Tod und Fortpflanzung desselben erwiesen, 1741, Kapitel II/III).
(Ebd., S. 13-14).Soziale Unterschiede der Fruchtbarkeit wurden
dagegen erst zu Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend Gegenstand bevölkerungswissenschaftlicher
Analyse und geradezu konstituierendes Element bevölkerungstheoretischer Konzeptionen.
Das heißt jedoch nicht, daß solche Unterschiede nicht schon früher
bemerkt worden wären. Für Süßmilch (ebd., Kap. V) zum Beispiel
sind sie noch lediglich statistische Abweichungen vom (Schwankungen um den) als
Ausdruck göttlicher Gesetzmäßigkeit angesehenen Mittelwert der
ehelichen Fruchtbarkeit. Diese naturwissenschaftliche
Interpretation von Fruchtbarkeitsunterschieden (und nichts anderes ist der Rekurs
auf die statistische Regelmäßigkeit) wurde dann durch Thomas Robert
Malthus, der ebenfalls dem naturwissenschaftlichen Denken verpflichtet gewesen
ist, modifiziert: In seinen ausführlichen empirischen Betrachtungen über
die in den verschiedensten Gesellschaften wirksamen Hemmnisse der Bevölkerungsvermehrung
haben die sozialen Aspekte (die vorbeugenden Hemmnisse, preventive checks)
durchaus hervorgehobene Bedeutung neben denen der natürlichen Ressourcen
(der nachwirkenden Hemmnisse, positive checks). (Ebd., S. 14).Malthus
hatte vor allem die sozialen Bedingungen von Fruchtbarkeitsunterschieden (von
Unterschieden im Bevölkerungswachstum) hervorgehoben: der jeweilige Zivilisationsstand
und die vernunftgemäße Einsicht in die von diesen sozioökonomischen
Strukturen vorgegebenen Grenzen der Familiengröße (oder das Fehlen
dieser Einsicht) waren von ihm als Ursachen differentieller Reproduktion beschrieben
worden. Und Malthus' bevölkerungspolitische Empfehlungen (konkret die Ablehnung
der Armenunterstützung) zielten deshalb auch darauf, die von ihm diagnostizierte
fehlende Einsicht (der Armen, ihre Familien klein zu halten oder erst gar nicht
zu heiraten) nicht auch noch zu belohnen, anders ausgedrückt: die Konsequenzen
eines vernunftgernäßen Handelns eben durch Hunger und Not zu erzwingen.
Die frühen englischen und amerikanischen Malthusianer schlugen eine weniger
rigorose Richtung ein; sie bemühten sich besonders darum, den »Uneinsichtigen«
(das heißt vor allem den Arbeitern) die Notwendigkeit zur Kleinhaltung ihrer
Familien und die dafür notwendigen Kenntnisse zu vermitteln. (Ebd.,
S. 14).
Malthusianismus und Biologismus im 19. Jahrhundert
Während
des ganzen 19. Jahrhunderts waren die Diskussionen über Bevölkerung
maßgeblich durch den Malthusianismus bestimmt gewesen, durch einen Malthusianismus
allerdings, der sich von Anfang an, das heißt noch zu Malthus' Lebzeiten,
in zwei Richtungen auseinanderzuentwickeln begann: in den wissenschaftlichen Malthusianismus
mit vorwiegend wirtschaftstheoretischem Ansatz einerseits und einen praktischen
Malthusianismus mit starken sozialpolitischen und sozialreformerischen Komponenten
andererseits. Bevölkerungspolitische Umsetzungen des wissenschaftlichen Malthusianismus
lassen sich in Deutschland allerdings kaum nachweisen, wenn auch verschiedene
Maßnahmen - wie zum Beispiel die Wiedereinführung von Heiratsbeschränkungen
in einigen deutschen Staaten in den 1830er Jahren (den Jahren zunehmender Massenverarmung)
durchaus den Malthusschen Politikempfehlungen entsprochen hätten. Der praktische
Malthusianismus, dessen Ziel vor allem in der Verbreitung von Kenntnissen über
Geburtenbeschränkung bestanden hatte, fand erst im letzten Viertel des 19.
Jahrhunderts die Resonanz, die ihn in der Folgezeit unter dem Namen Neomalthusianismus
zu einer sozialpolitischen Bewegung hatte werden lassen. Bei diesem Übergang
zum Neomalthusianismus war der praktische Malthusianismus nicht unberührt
geblieben von den Fortschritten der Naturwissenschaft, insbesondere der Biologie
im 19. Jahrhundert. Die neuen Erkenntnisse waren zugleich Grundlage und Rechtfertigung
für die Biologisierung gesellschaftlicher Phänomene, wie sie etwa in
der Rassentheorie Gobineaus (1816-1882), in der Eugenik Francis Galtons (1822-1911)
und schließlich im Sozialdarwinismus vorgenommen wurde (vgl. dazu die Beiträge
von Sommer
und Weingart
in diesem Band). Diese theoretischen Konzeptionen hatten außerordentliche
Bedeutung für das Denken über Bevölkerungsprobleme, lieferten sie
doch die Begründung für ein Wachstum der jeweiligen nationalen Bevölkerung
wie für biologisch-soziale Auslesemaßnahmen mit dem Ziel der Höherzüchtung
der menschlichen Population. Dem rigorosen Züchtungsgedanken verschlossen
sind allerdings die deutschen Neomalthusianer, die die Höherentwicklung der
Menschheit durch Geburtenkontrolle voranzutreiben gedachten, durch die Beschränkung
der Nachkommenschaft, die allein es möglich mache, sittliche, kulturelle
und soziale Werte zu pflegen und zu tradieren (zum Beispiel Otto Zacharias, Die
Bevölkerungsfrage in ihrer Beziehung zu den socialen Nothständen der
Gegenwart, 1880, S. 38). (Ebd., S. 15-16)Daß die
neomalthusianischen Bemühungen um die Verbreitung von Kenntnissen der Geburtenbeschränkung,
die sich besonders an die Arbeiterschaft richteten, Argwohn erregten, daß
man ihnen organisatorisch, propagandistisch und mit Hilfe von Rechtsprechung und
Staatsgewalt zu begegnen suchte, darf nicht verwundern, widersprach doch die Verminderung
der Geburtenzahlen, diese als Antinatalismus apostrophierte Haltung, schon von
jeher einem jeden nationalen, politischen und wirtschaftlichen Interesse der betroffenen
Regierungen. Nach Einsetzen des Geburtenrückgangs - der Begriff erscheint
1911 zum erstenmal in der wissenschaftlich-politischen Diskussion (vgl. Karl Oldenberg,
Über den Rückgang der Geburten- und Sterbeziffer, in: Archiv
für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 1911) und weist darauf hin, daß
nun nicht mehr nur, wie schon seit längerem, die Geburtenziffern, sondern
(seit 1909) auch die absoluten Geborenenzahlen im Deutschen Reich sanken -, erst
seit dieser Zeit begann man in Deutschland intensiver die Ursachen dieses Phänomens
zu benennen, die Gefahren einer Verminderung der Bevölkerungszahl zu erörtern
und Maßnahmen zur Abhilfe dieser Gefahren vorzuschlagen: die - publizistische
- Bekämpfung des Geburtenrückgangs hatte begonnen. Während des
Ersten Weltkriegs entstanden dann auch pronatalistische Organisationen wie die
von Julius Wolf initiierte Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungspolitik
in Berlin (1915-18), der Bund für Erhaltung und Mehrung der deutschen Volkskraft
in Halle (1916) oder der Bund für deutsche Familie und Volkskraft in Karlsruhe
(1918) und viele andere mehr. (Ebd., S. 16).
Geburtenrückgang und Überfremdungsängste
Der
Krieg war aber auch Anlaß dafür, einem anderen Phänomen verstärkte
Aufmerksamkeit zu widmen: Schon um die Jahrhundertwende war Deutschland von einem
Auswanderungsland zu einem Einwanderungsland geworden; ausländische Arbeitskräfte
wurden vor allem in der Landwirtschaft, aber auch im Bergbau und in der Industrie
beschäftigt, und sie wurden gerade auch während des Krieges zur Aufrechterhaltung
der Nahrungsmittelproduktion dringend benötigt. Wenn dennoch der Alldeutsche
Verband 1916 - noch im Bewußtsein des unzweifelbar bevorstehenden deutschen
Sieges - die deutschen Regierungen ermahnte, der nach dem Krieg mit Sicherheit
einsetzenden Zuwanderung und besonders den Einbürgerungswünschen jener
Zuwanderer gesetzliche Dämme entgegenzusetzen, so deutet das auf eine weitere
Befürchtung hin: Neben die Furcht vor dem Bevölkerungsrückgang
trat nun auch die Furcht vor der Überfremdung, vor der Umvolkung, vor der
»Minderung des Durchschnittswertes wie der Durchschnittsleistung des ganzen
Volkskörpers« (Denkschrift des Alldeutschen Verbandes an die deutschen
Bundesregierungen vom 12.02.1916 betr. Schluß der Reichsgrebzen gegen unerwünschte
Einwanderer, 1916, S .4). (Ebd., S. 16-17).Es schien
sich also um eine dreifache Bedrohung zu handeln, die zu jener Zeit empfunden
wurde und der zu begegnen geboten schien:1. | um
die der quantitativen Implosion als notwendige Folge des Geburtenrückgangs; | 2. | um
die der qualitativen Implosion als Folge der Degeneration durch negative Auslese,
die durch neomalthusianistische Geburtenbeschränkungsmaßnahmen hervorgerufen
werde; | 3. | um
die des rassischen Untergangs, das Verschwinden von Volkstum und nationaler Identität
durch das Zusammenwirken von Bevölkerungsrückgang, Degeneration und
Überfremdung. | Geburtenfördernde Maßnahmen,
rassenhygienische Maßnahmen und Maßnahmen zur Abwehr unerwünschter
Ernwanderung: das waren dann auch die Forderungen, die zum Teil noch während
des Krieges, verstärkt und deutlicher dann aber in den 1920er und 1930er
Jahren, diskutiert wurden. Die Forderungen nach bevölkerungspolitischen Maßnahmen,
nach staatlichen Eingriffen in das Bevölkerungsgeschehen, waren nur selten-
und wenn überhaupt, dann im allgemeinen nur unzulänglich - an gründlichen
Ursachenanalysen für das in Betracht gezogene Übel (sei es die Gefahr
des Bevölkerungsrückgangs, sei es die der Degeneration) orientiert.
Es scheint im Gegenteil eher die Regel gewesen zu sein, die Ursachen, mit denen
man die vorgeschlagenen Maßnahmen zu begründen versuchte, auf diese
Maßnahmen hin auszuwählen; die Ursachen für das jeweils konstatierte
Übel wurden damit in gewisser Weise beliebig und austauschbar. (Ebd.,
S. 17).Allerdings bestand häufiger Einigkeit über die
anzustrebenden bevölkerungspolitischen Ziele als über die einzuschlagenden
Wege dahin. Eine seltene Übereinstimmung von Zielen und Maßnahmen auf
durchaus unterschiedlicher ideologischer Grundlage gab es zum Beispiel zwischen
dem Sozial-(und Rassen- )hygieniker Alfred Grotjahn (1914, passim) und der wichtigsten
Propagandistin der neomalthusianischen Position in Deutschland Helene Stöcker
(1914, passim). Beide befürworteten 1914 das Ziel der Höherentwicklung
des Menschen, sie waren sich auch einig in der NotWendigkeit, die Vererbung von
»Minderwertigkeit«, letztlich auch die Existenz von »Minderwertigen«
zu verhindern, und beide wollten das Mittel der Geburtenregelung für die
Verfolgung dieser Ziele einsetzen. Grotjahn allerdings lehnte die Regelung des
Neomalthusianismus, die er als Zweikindersystem diagnostizierte, ab und forderte
den moralischen Zwang zur bestandserhaltenden Fortpflanzung. (Ebd., S. 17-18).Ließ
sich das Ziel der Rassenverbesserung und der Rassenveredelung bei den als antinatalistisch
gekennzeichneten Neomalthusianern noch allein durch Geburtenbeschränkung
und damit verbundener besserer familiärer Fürsorge und Pflege in kleineren
Familien erreichen, so war es für die Vertreter des pronatalistischen Katholizismus
allein der Kinderreichtum, durch den die Qualität der Bevölkerung zu
bewahren oder zu verbessern war. Der »Unsittlichkeit« und »Gottlosigkeit«
geburtenbeschränkender Maßnahmen, wie sie von den Neomalthusianern
propagiert worden seien, setzte die katholische Kirche die sittlich reife Ehe
und unverderbte Familie entgegen, mithin ein Familienbild, ein Familienideal,
das schon zur Zeit des Ersten Weltkriegs auch für die Kirche nur noch ein
Wunschtraum gewesen war. Der Verfall der Familie - durch Entkirchlichung und Entsittlichung
herbeigeführt - galt neben der femistischen Frauenbewegung emerseits und
der sozialistischen Arbeiterbewegung andererseits als das grundlegende Übel
jener Zelt, die alle zusammen natürlich auch als die wesentlichen Ursachen
des Geburtenrückgangs angesehen wurden (vgl. M. Fassbender, Des deutschen
Volkes Wille zum Leben, 1917; vgl. Franz Hitze, Geburtenrückgang und
Sozialreform, 1917). (Ebd., S. 18).
Neomalthusianismus und Arbeiterbewegung
Die Stellung der
Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratie zu den Fragen der Geburtenbeschränkung
und der Rassenhygiene war nicht einheitlich gewesen. Waren im Neomalthusianismus
die Geburtenkontrollbewegung und die »neue Ethik« der bürgerlich-radikalen
Frauenbewegung noch eine Synthese eingegangen, die deutlich das Interesse der
Mütter in den Vordergrund ihrer Bemühungen gestellt hatte, so war die
proletarische Frauenbewegung um die Jahrhundertwende sozialistisch -und das heißt
auch antifeministisch- gewesen. Der Sozialismus wies den Frauen die Rolle der
Mutter, Ehefrau und Hausfrau zu, die dem proletarischen Arbeiter die Reproduktion
seiner Arbeitskraft zu ermöglichen habe, der Kraft, die er benötigte;
um im Klassenkampf seinen Mann zu stehen. (Ebd., S. 19).Die
Rolle der Mutter schloß auch den Verzicht auf Geburtenbeschränkung
ein. Das zeigte die Berliner Gebärstreikdebatte von 1913 besonders deutlich.
Namentlich Clara Zetkin und Rosa Luxemburg wiesen in einer öffentlichen Versammlung
der Sozialdemokratischen Partei gegen den Gebärstreik nachdrücklich
darauf hin, daß »nicht die Vermeidung der Kinderzeugung, sondern nur
der organisierte Kampf gegen die Zustände, die das Elend kinderreicher Familien
verschulden, helfen könne«, daß es sich für die proletarische
Frau nicht darum handle, die Zahl der Kinder zu beschränken, sondern »in
der kapitalistischen Gesellschaft alles das zu erringen, was nötig sei in
bezug auf den Haushalt, die Versorgung der Kinder usw.« »Daß
die proletarische Frau überbürdet werde durch die Kinderzahl, daran
sei nicht der Kapitalismus an sich schuld, sondern der Umstand, daß der
Kapitalismus ihr nicht genügend gebe von dem, was die faulenzenden Weiber
der Bourgeoisie verschwenderisch hätten«; um das Ideal des Sozialismus
in die Wirklichkeit umzusetzen, dazu hülfen »keine kleinen Mittelchen,
sondern nur der klare Weg des wirtschaftlichen und politischen Klassenkampfes«;
und wenn die Frauen aufhörten, »Soldaten (für den Krieg) zu zeugen,
dann hören sie auch auf, Soldaten der Revolution zu zeugen«.
(Ebd., S. 19).In dieser Pflicht der Frauen in der sozialistischen
Arbeiterbewegung, mit zahlreicher Nachkommenschaft dafür zu sorgen, daß
es auch in Zukunft ein starkes revolutionäres Potential gebe, in dem Bemühen
der sozialdemokratischen Parteiorganisationen, individuell-emanzipatorische Bestrebungen
der Frauen völlig zu unterdrücken, die Frauen auf ihre familialen Rollen
festzulegen und sie gleichzeitig in die politische Bewegung einzubinden, wird
auch eine sozialdarwinistische Komponente deutlich. (Ebd., S. 19-20).Die
weitere Aufnahme solcher biologisierter sozialtheoretischer Versatzstücke
- der nächste Schritt wäre die Hinwendung zur Rassenhygiene gewesen,
wie ihn etwa schon früh Alfred Grotjahn getan hatte - wurde in der sozialistischen
Arbeiterbewegung nicht zuletzt auch wegen der festen ideologischen Einbindung
in die Milieutheorie vermieden, mit einer Ausnahme allerdings: Karl Kautsky (vgl.
ders., Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft, 1880, S. 263
f.) hatte vermutet, daß es zumindest bis zum Übergang zur sozialistischen
Gesellschaftsordnung, möglicherweise aber auch noch später, unerläßlich
sein würde, rassenhygienische Überlegungen zur Vermeidung von solcher
Entartung, die durch die Zunahme von Krüppeln und Siechen eintreten würde,
nicht zu vernachlässigen: Er empfahl »die Ersetzung der natürlichen
Zuchtwahl, die der Kampf ums Dasein bewirkt, durch eine künstliche Zuchtwahl
in der Weise, daß alle kränklichen Individuen, die kranke Kinder zeugen
könnten, auf die Fortpflanzung verzichten, was bei dem heutigen Stande der
medizinischen Technik, wie wir wissen, nicht mehr den Verzicht auf die Ehe in
sich zu schließen braucht«. (Ebd., S. 20).Mit
dem Ersten Weltkrieg trat auch in der Arbeiterbewegung ein Umschwung in der Einstellung
zur Geburtenkontrolle ein: der Mutterschutz gewann an Bedeutung, und die sozialistischen
(sozialdemokratischen und kommunistischen) örtlichen Organisationen gehörten
bis 1933 dann zu den wichtigsten Verbreitem von Kenntnissen zur Geburtenregelung.
(Ebd., S. 20).
Geburtenrückgangstheorien
Die oben angesprochene Beliebigkeit
und Austauschbarkeit von Geburtenrückgangsursachen hatte ihren Grund nicht
zuletzt in der Tatsache, daß die demographischen Veränderungen, konkret
die mit dem Geburtenrückgang erwartete Tendenz zum Bevölkerungsrückgang,
der Malthusschen Hypothese von der »naturgesetzlichen Tendenz zur Ubervölkerung
und der damit verbundenen« Notwendigkeit von Hemmnissen des Bevölkerungswachsturns
die reale Basis entzogen hatten. Ob als Anhänger oder als Gegner des Malthus
waren die Nationalökonomen bis dahin gewissermaßen Verwalter der Bevölkerungswissenschaft
und der Bevölkerungstheorie gewesen, einer Theorie, die in jedem Fall an
einer starken Vermehrungstendenz der Bevölkerung und, je nachdem, an optimistischer
oder eher pessimistischer Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklungspotentiale
orientiert war. Die gewandelte demographische Situation stellte die Wissenschaft
vor die Aufgabe, ein neues theoretisches Konzept zur Erklärung des Geburtenrückgangs
zu entwerfen, ein Konzept, das - wie es Ende der 1930er Jahre bei Werner Sombart
(vgl. ders., Vom Menschen, 1938, S.323) anklang - die Frage nach den Hemmnissen
für eine von Natur aus sehr starke Bevölkerungsvermehrung ersetzt durch
die Frage nach den Ursachen dafür, daß die reale Bevölkerungsentwicklung
trotz der geringen Neigung der Eltern, viele Kinder in die Welt zu setzen, nicht
zum Aussterben der Menschheit geführt habe. Ging es also in den ersten beiden
Jahrzehnten dieses Jahrhunderts recht eigentlich darum, die Gründe dafür
zu finden, warum die Menschen überhaupt (so viele) Nachkommen haben, so war
die tatsächlich durchgeführte Ursachenforschung immer noch und ganz
im Malthusschen Sinne auf die Hemmnisse gerichtet - nun nicht mehr die Hemmnisse,
die es ermöglichen sollten, ein zu großes Bevölkerungswachstum
zu verlangsamen, sondern auf die Hemmnisse, die es verhinderten, daß eine
erwartete Bevölkerungsvermehrung eintritt. Das Ergebnis war eine Vielfalt
von Geburtenrückgangstheorien, die die unterschiedlichsten Phänomene
zu den jeweils wirksamen Ursachen der verringerten Kinderzahlen erklärten
(vgl. Horst Wagenführ, Klassifikation der Theorien über die Ursachen
des Geburtenrückganges, 1933). (Ebd., S. 20-21).Die
Ursachen des Geburtenrückgangs wurden gefunden in zunehmendem Wohlstand,
in der Verbreitung von Kenntnissen über Geburtenkontrolle, im Sozialismus,
im Kinematographen, in der Frauenemanzipation, in der Kleidermode, in der Entfremdung
von Kirche und Religion, im Liberalismus, im Materialismus, in der Siedlungsdichte,
usw. usw. - die Liste ließe sich fast beliebig verlängern. Diese Vielfalt
der Antworten auf die alte bevölkerungswissenschaftliche Grundfrage belegt
die vorher angesprochene Beliebigkeit und Austauschbarkeit in bezug auf die Begründung
bevölkerungspolitischer Ziele und Maßnahmen. Wichtiger als diese Vielfalt
scheint mir aber das Verbindende aller dieser Erklärungsansätze zu sein;
gemeinsam ist ihnen allen nämlich die Voraussetzung unterschiedlicher Fruchtbarkeit
in freilich jeweils anders definierten sozialen Gruppen. (Ebd., S. 21-22).Neben
den sozialen und kulturellen Gruppendefinitionen spielte die nach biologischen
Gesichtspunkten differentielle Fruchtbarkeit in der gesamten Geburtenrückgangsdiskussion
nur eine untergeordnete Rolle. Früh allerdings schon - vor dem Ersten Weltkrieg
- wurde auf die hohen Kosten hingewiesen, die dem Staat aus der Sorge um die schwachsinnigen
»Minderwertigen« erwüchsen (vgl. Helene Stöcker, »Staatlicher
Gebärzwang« oder »Rassenhygiene«? 1914, a.a.O.,
S. 144); ein Argument, das später dann - 1931 - in der Diskussion um eugenische
Maßnahmen im preußischen Staatsrat erhebliches Gewicht erlangte (vgl.
Verminderung 1933). Wenn auch im allgemeinen biologische Ursachen des Geburtenrückgangs
- etwa verminderte Zeugungsfähigkeit - ausgeschlossen wurden, so wird doch
der Einfluß weniger eugenischer als vielmehr sozialdarwinistischer und rassistischer
Argumente bei dem Versuch, den Geburtenrückgang zu erklären, nur allzu
deutlich, wenn etwa Kriminalität, Alkoholismus, Prostitution usw. als quasi-biologische
Merkmale für höhere Fruchtbarkeit und demzufolge für stärkeres
Wachstum solcher Gruppen verahtwortlich gemacht wurde - oder wenn zum Beispiel
»die stärkere Fruchtbarkeit von Bergarbeitern und landwirtschaftlichen
Arbeitern (z. B. im Grenzgebiet zu Polen) ... in erster Linie auf slawischen Blutanteil
zurückgeführt werden« müsse (vgl. Otto Helmut, Volk in Gefahr,
1933, S. 36). (Ebd., S. 22).Es scheint, als habe das Denken
über Bevölkerungspolitik den demographischen Paradigmenwechsel nicht
mitvollzogen. Zwar hatten sich die bevölkerungspolitischen Ziele verändert:
nicht mehr die Verhinderung eines allzu starken Bevölkerungswachstums, sondern
dessen Förderung schien angezeigt. Zwar hatte auch die Rassenhygiene eigene
Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung entwickelt. Die Maßnahmen der quantitativen
Bevölkerungspolitik allerdings - obwohl natürlich den veränderten
Zielen angepaßt - waren weiterhin einem theoretischen Konzept, einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang
verhaftet, der dem Denken über Bevölkerung vor dem Paradigmenwechsel
entsprach. In der Bevölkerungswissenschaft war Malthus seit der Jahrhundertwende
überwunden, wenn auch nicht ersetzt; aber nicht nur im Neomalthusianismus,
sondern mehr noch bei den pronatalistischen Gegnern der Geburtenkontrollbewegung
war er weiterhin präsent. (Ebd., S. 22).Die in den 1920er
und 1930er Jahren immer stärker werdenden Forderungen nach geburtenfördernden
wie eugenischen Maßnahmen fanden ab 1933 dann ihren Niederschlag in der
nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik, die diesen beiden Komplexen
dann noch den der Rassenvernichtungsmaßnahmen zugliederte. Die Maßnahmen
zur Erhöhung der Fruchtbarkeit sind jedoch nicht nur auf den eigentlichen
quantitativen Aspekt beschränkt gewesen; von Anfang an wurden auch qualitative
Gesichtspunkte zum Beispiel dadurch berücksichtigt, daß die Gewährung
von Ehestandsdarlehen, Kinderbeihilfen usw. auch an rassenhygienische und rassenpolitische
Voraussetzungen gebunden wurde. (Ebd., S. 22-23).
Geburtenrückgang und Ausländerfeindlichkeit im Nachkriegsdeutschland
Mit
Beginn des Geburtenrückgangs der 1960er Jahre setzten erneut Geburtenrückgangsdiskussion,
Analyse der Daten und Ursachenforschung ein, und parallel dazu wurden wieder Forderungen
zu seiner Bekämpfung erhoben. Und auch die alten Befürchtungen, die
vor dem Aussterben und die vor der Überfremdung, wurden wieder geäußert.
(Ebd., S. 23).1974 ... wies zum Beispiel Heinrich Schade darauf
hin, daß »bei den augenblicklichen Geburtenverhältnissen im deutschen
Raum ... es nach ein bis zwei Generationen ein so erhebliches Defizit geben (werde),
daß ein Vakuum in Mitteleuropa entstände. Natürlich würde
es sich mit Ausländern auffüllen« (Heinrich Schade, Völkerflut
und Völkerschwund, 1974, S. 108). Und »Verlust des Bewußtseins
der nationalen Identität mit Volk und Familie« der Deutschen würde
»andere westeuropäische Völker in der kulturellen und biologischen
Selbstaufgabe bald folgen« lassen (vgl. ebd., S. 108 f.). (Ebd., S.
23).Fruchtbarkeitsunterschiede dagegen standen bei dem als Zigeunerforscher
bekannt geworden en Landauer Mediziner H. Arnold im Vordergrund seiner Betrachtungen
zu einer pronatalistischen Bevölkerungspolitik, indem er nachdrücklich
auf die »möglichen qualitativen Auswirkungen« solcher Maßnahmen
hinwies, zum Beispiel eine negative Auslese und damit eine zahlenmäßige
Zunahme sozialer Randgruppen (vgl. Hermann Arnold, Materialien zu qualitativen
Aspekten des Bevölkerungsprozesses, 1978, S. 41 ff.). (Ebd., S.
23).Die Ursachen des Geburtenrückgangs, und zwar sowohl des
säkularen Rückgangs, der um 1900 eingesetzt hatte, als auch des neueren
seit den 1960er Jahren, hatte Theodor Schmidt-Kaler in den jeweils wenige Jahre
zuvor eingetretenen Änderungen des Sozialversicherungssystems gefunden, und
er schlug deshalb eine Steuerung des generativen Verhaltens mit den Mitteln der
Rentenpolitik vor, um »das zeitweilig schrumpfende Volk« vor dem »point
of no return« zu bewahren (und ein ökonomisch tragbares Verhältnis
von Erwerbsbevölkerung zu Rentenempfängern zu bewahren). Einwanderung
als Alternative zur Erhöhung der Geburtenzahlen der deutschen Bevölkerung
biete »keinen Ausweg aus dem Dilemma«, denn bei einem dann notwendigen
Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung von »weit mehr als
einem Drittel« komme es wegen des »Fruchtbarkeitsgefälles«
zwischen ausländischer und deutscher Bevölkerung »in ein bis zwei
Generationen (zu einer) Pseudomorphose im Sinne Oswald Spenglers«
(Theodor Schmidt-Kaler, Rentengesetzgebung als Instrument zur nationalen Steuerung
und Rückkoppelung des Bevölkerungsprozesses, 1978, a.a.O., S. 77ff.).
(Ebd., S. 24).Den Höhepunkt dieser in wechselnder Gewichtung
die Argumente differentieller Fruchtbarkeit mit denen der Einwanderungsfolgen
verquickenden Diskussion bildete zweifellos das sogenannte »Heidelberger
Manifest« einer Gruppe von Hochschullehrern unterschiedlicher Disziplinen
(deren Pressesprecher Theodor Schmidt-Kaler war) vom Januar 1982, das die »Unterwanderung«
und »Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums«
beklagte. Genetische Unterschiede zwischen den Völkern seien der Grund dafür,
daß »die Integration großer Massen nichtdeutscher Ausländer
nicht möglich« sei und »zu den bekannten ethnischen Katastrophen
multikultureller Gesellschaften« führte (vgl. Heidelberger Manifest,
1982, Unterzeichnerfassung, in: Frankfurter Rundschau, 04.03.1982). (Ebd.,
S. 24).
Theorienbildung in der Demographie
Bevölkerungspolitische
Maßnahmen sind gewöhnlich an den verfügbaren Kenntnissen für
die Ursachen der demographischen Zustände und Entwicklungen orientiert, die
man herbeiführen oder vermeiden möchte. Die Erkenntnisse über die
Ursachen des Geburtenrückgangs bestanden aber bis in die 1930er Jahre allein
in der angedeuteten Vielfalt von Geburtenrückgangstheorien. Die in ihnen
angebotene Mischung aus Kulturkritik und auf Fruchtbarkeitsunterschieden beruhenden
statistischen Korrelationen reichte allerdings nicht aus, die Lücke zu füllen,
die der überwundene Malthusianismus (oder die beiseite gelegte naturgesetzliche
Übervölkerungstendenz) hinterlassen hatte. Zudem waren die Geburtenrückgangstheorien
weiterhin der grundlegenden malthusianischen Fragestellung verhaftet, der Frage
nach den jeweiligen Hemmnissen (**),
die man nur aufbauen oder wegräumen müsse, um den gewünschten Erfolg
zu erzielen. (Ebd., S. 24-25).Auch die seit den 1940er J
ahren diskutierte »Theorie des demogrphischen Übergangs« (**)
blieb dieser Fragestellung verhaftet. Erst jüngst wurden mit ihrer Umkehrung
die alten (malthusianischen) Denkmuster obsolet: Die Frage nach den Gründen
dafür, warum Menschen überhaupt Kinder haben (wollen), hat neue Denkanstöße
für die Erklärung des generativen Verhaltens gegeben. (Ebd., S.
25).Differentielle Fruchtbarkeit war seit der Jahrhundertwende
zentrales Thema der demographischen Analyse und Theonebudung gewesen. Sie ist
es noch heute. Und auch heute noch scheinen die Ergebnisse solcher Forschungen
eher in die immer neue Benennung der ... bekannten malthusianischen checks
(**)
einzumünden, als daß ihre Vielfalt und Heterogenität ein einheitliches
Konzept darstellen könnte. Unter Beibehaltung der Annahme einer gewissermaßen
von der Natur vorgegebenen hohen Fruchtbarkeitsnorm scheinen die malthusianischen
checks in ihrer Mischung aus kulturellen, biologischen und ökonomischen
Argumenten durchaus plausible Erklärungsansätze für die Bevölkerungsvorgänge
zu sein. Das Festhalten an diesem hohen »natürlichen« Fortpflanzungsdrang
scheint allerdings auch die demographische Theoriebildung zu behindern. Nur dann,
wenn nicht mehr ausdrücklich nach den Hemmnissen des Fortpflanzungsvorgangs
gesucht wird, dürften neue Bevölkerungstheoretische Konzepte - wie das
von Herwig Birg
in diesem Band vorgestellte biographische Erklärungsmuster - auch in der
öffentlichen Diskussion von Bevölkerungsfragen zunehmend an Bedeutung
gewinnen. Ob allerdings eine solche rationalistischere Betrachtungsweise verhindern
könnte, daß die demographischen Entwicklungen als politische Argumente
in der Auseinandersetzung um Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit (mit den
Hinweisen auf das vermeitlich drohende Aussterben oder die zu erwartende Überfremdung)
weiterhin öffentlich Karriere machen, daran darf füglich gezweifelt
werden. (Ebd., S. 25).
Soziobiologie: Wissenschaftliche Innovation oder ideologischer
Anachronismus? (Volker Sommer)
Herbert
Spencer (1820-1903) wurde zum Hauptvertreter des in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts vorherrschenden, eher gesellschaftswissenschaftlich-philosophisch
orientierten Evolutionismus. In einem zehnbändigen Opus magnum A System
of Synthetic Philosophy prägte er den gemein Darwin zugeschriebenen Begriff
vom »Überleben des Tauglichsten«, dem survival of the fittest
.... Dieser galt Spencer als die differenzierende Kraft in der Entwicklung frühmenschlichen
Lebens bis zu »höheren« Stufen der Zivilisation (Kultur).
Spencer faßte die Auslese als einen individuellen Kampf ums Dasein
auf, der - weil quasi naturrechtlich den Abläufen inhärent - an und
für sich nützlich und wünschenswert sei. Insbesondere dürfe
er nicht durch staatliches - etwa sozialpolitisches - Eingreifen behindert werden.
(Ebd., S. 54-55).Die weitreichende Rezeption solcher Ideen wurde
wohl auch dadurch gefördert, daß sie mit dem Puritanismus kompatibel
waren. Wegbereitend für diese Koexistenz wirkte hier - worauf Max Weber mit
Nachdruck hinwies - im Grunde bereits die Prädestinationslehre des schweizerischen
Reformators Johannes Calvin. Calvins Auffassung von der göttlichen Vorsehung
unterschied sich scharf von der katholischen Lehre der Werkgerechtigkeit und nahm
ethische Grundprinzipien vorweg, wie sie charakteristisch werden sollten für
den englischen Puritanismus und den modernen Kapitalismus westlicher Prägung.
Das Schicksal eines Menschen galt Calvin als schon vor bzw. bei seiner Geburt
durch Gottes unerforschlichen Willen vorherbestimmt: entweder- ohne Verdienst
- als Gnadenwahl zur Seligkeit, oder - ohne Schuld - als Prädamnation zur
Verdammnis. Ihren irdischen Status quo verdankten die Menschen daher allein Gottes
freier Entscheidung. (Ebd., S. 55).Diese Lehre deckt sich
mit Extrempositionen, die sich Spencers Nachfolger zu eigen machen. sollten -
beispielsweise wenn das besitzlose Proletariat als ein Rückstandsprodukt
der »natürlichen Auslese« erscheint und das Zugrundegehen der
Armen als ein Naturgesetz. Insbesondere der (us-)amerikanische
Sozialdarwinismus - wie ihn etwa William Graham Sumner (1840-1910) an der Yale-Universität
und William James (1842-1910) an der Harvard-Universität propagierten - machte
in letzter Konsequenz den gesellschaftlichen Erfolg von Individuen oder den geschichtlichen
Erfolg von Gruppen zum Kriterium der Lebensbewährung und biologischen Wertigkeit,
baute er doch auf folgende Argumentationsstränge: (A) Struggle tor existence
und survival of the fittest sind ein Teil der Gesamtökonomie der Natur.
Da die menschliche Gesellschaft ihrerseits Teil der Natur ist, gelten auch für
sie eben diese Naturgesetze. (B) Die Menschen sind von Natur aus ungleich, weshalb
die soziale Stufenleiter diese Ungleichheit widerspiegelt. (C) Da der soziale
Fortschritt sich nach Naturgesetzen vollzieht, soll man ihn ungehindert vonstatten
gehen lassen. (D) Hieraus resultiert eine streng deterministische Auffassung der
Gesellschaft. Staatliche Interventionen sind in gewissem Sinne gegen die Religion,
da das Walten der Naturgesetze mit dem Willen Gottes zusammenfällt (Wilhelm
E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, 1984, S. 110-115). Auch
dem Lebenswerk von Darwins Vetter Francis Galton (1822-1911) liegen sozialdarwinistische
Ideen zugrunde. Seine auf das Zustandekommen von Hoch- und Höchstbegabungen
ausgerichteten Familienstudien überzeugten Galton davon, die Erblichkeit
habe für schöpferische Leistungen mehr Bedeutung als die Umwelt. Die
Auffassung, nature dominiere über nurture, machte Galton zum
Begründer der Eugenik. (Ebd., S. 55-56).Der Darwinsismus
wurde also in dem Moment zum Steinbruch von Moral und Ideologie, als die Spenceristen
und Sozialdarwinisten aus dem survival of the fittest unbedenklich ein
survival of the best machten. (Ebd., S. 56).Der temporäre
Verzicht ist auf direkte eigene Reproduktion bei gleichzeitiger Unterstützung
der Aufzucht genetisch naher Verwandter mittlerweile von etlichen Tierarten bekannt
- beispielsweise bei einigen Vogelarten, wo die älteren Geschwister - anstelle
selbst ein Nest zu bauen - ihren Eltern bei der Aufzucht jüngerer Geschwister
helfen. Hamiltons Prinzip der kin selection ließ sich ebenfalls bei
taxonomisch so verschiedenen Gruppen wie Hautflüglern, Zwergmungos, Nacktmullen,
Wildhunden oder Krallenaffen nachweisen, bei denen sich einige Individuen unter
Verzicht auf direkte Reproduktion als »Helfer-am-Nest« betätigen.
(Ebd., S. 69).
Die Rolle der Familie im biogenetischen Geschehen (Christian
Vogel)
Die menschliche Famielie ist eine kulturelle Institution
auf biologischer Basis. Biologisch betrachtet, obliegt ihr die Funktion, die Reproduktion
sicherzustellen, das heißt Nachwuchs zu zeugen, ihn aufzuziehen und möglichst
gut ausgerüstet und vorbereitet in die Selbständigkeit zu entlassen,
was in evolutionsbiologischer Perspektive wiederum bedeutet, dem Nachwuchs seinerseits
gute Reproduktionschancen mit auf den Weg zu geben. Die Familie soll für
diesen Prozeß ein in biologischer, ökonomischer und soziokultureller
Hinsicht möglichst optimales Milieu herstellen, und so wird es nicht wundern,
daß die Familienstruktur, den jeweiligen Bedingungen angepaßt, durchaus
unterschiedliche Formen annehmen kann. (Ebd., S. 145).Durch
ihre biologische Hauptfunktion, Fortpflanzung abzusichern, ist die Familie unmittelbar
in den biogenetischen Evolutionsprozeß eingespannt und unterliegt somit
den Bedingungen der natürlichen Selektion. Natürliche Selektion arbeitet
über differentiellen Reproduktionserfolg, und das ist der Grund, weshalb
alle Organismen (Menschen eingeschlossen) via Selektion programmiert sind, mit
ihren benachbarten Artgenossen um jeweils höheren Reproduktionserfolg zu
konkurrieren. Das steckt zwangsläufig in ihren Erbprogrammen und bedarf ebensowenig
einer bewußten Intention, wie es jemals des Wunsches der Giraffe bedurfte,
längere Hälse zu entwickeln. (Ebd., S. 145).Die
Währung der Evolution sind die Nachkommen, und die Gewinne des Konkurrenzkampfes
werden nicht den konkurrierenden Individuen gutgeschrieben, sondern ihren genetischen
Programmen. .... Jene genetischen Programme hatten von jeher die besseren Ausbreitungschancen,
die ihre individuellen Träger dazu veranlaßten, sich auch ohne Rücksicht
auf etwaige eigene Nachteile und Risiken für die optimale Produktion von
Nachwuchs einzusetzen: Wen könnte es da wundern, daß der Drang zur
Fortpflanzung allen Organismen genetisch seit Jahrmilliarden so unauslöschlich
eingepflanzt ist? Und noch etwas ist wichtig, um den auch die Familie betreffenden
Selektionsprozeß zu verstehen: Da es in der Evolution letztlich nicht um
Individuen geht, sondern um die genetischen Programme, werden sich jene genetischen
Programme via natürliche Selektion besonders erfolgreich ausbreiten können,
die ihre Träger dazu veranlassen, andere Träger identischer Erbprogramme
in ihrer Reproduktion intensiv zu unterstützen. Daraus resultiert der im
Organismenreich (wie in allen menschlichen Gesellschaften) so weit verbreitete
Nepotismus, die bevorzugte Verwandten-Unterstützung (kin selection),
sorgfältig abgestuft nach Maßgabe des genetischen Verwandtschaftsgrades
(je näher verwandt, deso höher der Wahrscheinlichkeitsgrad gemeinsamer
identischer Gene), jeweils im Dienste der eigenen Gesamtfitneß (inclusive
fitness), also letztlich genetisch eigennützig. Es ist daher evolutionsbiologisch
geradezu vorhersagbar, daß menschliche Gesellschaften in nepotistische Verwandtschaftssysteme
gegliedert sind und daß Muster abgestufter Verwandtschaft eine zentrale
Rolle für die Art und Intensität des Miteinanders spielen, kurz, daß
sich Familienstrukturen in mehr oder weniger erweiterter Form herausbilden. Die
Familie liefert also zugleich das sozio-ökonomische Milieu für die biogenetische
Reproduktion und das strukturelle Netz nepotistischer Interaktionen. (Ebd.,
S. 145-146).
Differentielle Reproduktion aus der Sicht der biographischen
Theorie der Fertilität (Herwig Birg)
Der
Begriff »differentielle Reproduktion« läßt sich auf der
Grundlage der drei Elemente (1) abhängige Variable, (2) unabhängige
Variable sowie (3) Zusammenhang zwischen beiden auf dreierlei Art definieren.
... Die dritte Definition, die hier verwendet wird, stützt sich auf
die Art des Zusammenhangs zwischen abhängigen und unabhängigen
Variablen. Auf der Grundlage dieser Definition sprechen wir von »differentieller
Reproduktion«, wenn sich das Bündel der Einflußfaktoren auf das
generative Verhalten eines Individuums A aus anderen Gründen zusammensetzt
als bei Individuum B - oder, eine Variante davon, wenn sich die beiden Bündel
zwar aus den gleichen Faktoren zusammensetzen, aber die einzelnen Faktoren in
bezug auf die Richtung oder Intensität ihrer Wirkung verschieden sind.
(Ebd., S. 194-195).Wir nehmen im folgenden an, daß nicht
nur die biologische, sondern auch die kulturelle Evolution Variabilität voraussetzt
und hervorbringt. Das Argument, daß es gerade auf kulturellem Gebiet häufig
zur Ausbildung von Individualität und zu großer Uniformität kommt,
beispielsweise bei politischen oder religiösen Massenphänomenen, ist
kein Gegenargument, sondern stützt die These fortschreitender Variabilität
in der Kulturentwicklung, denn man kann - wie schon gsagt - eine Weltanschauung
oder einen Glauben nur übernehmen. indem man ihm den Sinn gibt, den er hat:
ein Vorgang, der einen individuellen Akt voraussetzt, auch wenn das Ergebnis des
Aktes nicht zu weniger, sondern zu mehr Uniformität führt. (Ebd.,
S. 196).Generatives Verhalten ist also als ein spezifisch menschliches
Verhalten ein Individualitätsverhalten, dessen theoretische Erklärung
auf der Ebene des Individuums, auf der sogenannten Mikroebene, ansetzen muß
(wir nehmen das mal so hin und merken an, daß auch
diese individuellen Entscheidungen immer schon von anderen - zumeist ebenfalls
nicht individuell getroffenen - Entscheidungen vorentschieden sind, also gar nicht
individuell sind und deswegen auch das generative Verhalten als ein spezifisch
menschliches Verhalten kein Individualitätsverhalten
sein kann! HB*).
(Ebd., S. 196).Wir leben in einer Epoche, in der die persönlichkeitsorientierten
Werte über die gruppenorientierten dominieren (dito
! Auch wenn man es sich noch so einbildet, ist dieses Verhalten noch kein
individuelles Verhalten! HB*).
Dieser Umstand ... macht es unabdingbar, bei der Diskussion von Problemen der
differentiellen Reproduktion von der oben dargestellten dritten
Definition des Begriffs »Unterschied« auszugehen, also anzunehmen,
daß es Unterschiede bezüglich der Art und Weise gibt, in der die unabhängigen
Variablen auf die abhängigen einwirken. Ökonomische Variablen wie das
Individualeinkommen einer Frau bzw. das gemeinsam erwirtschaftete Haushaltseinkommen
eines Paares haben ebenso wie andere Verhaltensbedingungen, zum Beispiel die Verfügbarkeit
von Kindergartenplätzen, tendenziell die gleiche Einflußrichtung
auf die Wahrscheinlichkeit von Kindergeburten, aber die Intensität der Wirkung
dieser Variablen wird ebenso wie die Intensität der Wirkung von »Werten«
bei verschiedenen Menschen unterschiedlich sein. (Unterschied
ist - noch - nicht Individualität! Ähnlich
ist es übrigens auch in der Werbung: Einfluß mit gleicher Richtung,
aber unterschiedlicher Intensität, und der Kunde glaubt [glaubt
!], individuell entschieden zu haben, dabei ist längst für
ihn entschieden worden, denn entscheidend ist, daß
er sich wie ein Gruppenmitglied verhält und ansonsten als außen
vor, als unangepaßt, als Aussteiger, als nicht zur
Gruppe gehörig gilt - und übrigens nur dann anerkannt wird, wenn
es ihm gelingt, selbst einen Trend zu setzen [mit anderen Worten: wir sind viel
angepaßter als wir zugeben wollen, besonders seit wir in einer scheinbar
persönlichkeitsorientierten Epoche leben], denn es gilt, den
Schein zu bewa(h)ren, und so ist auch der scheinbar Unangepaßte nicht der
Individualist, für den er ja nur gehalten werden soll, sondern
doch wieder nur der Angepaßte! HB*).
(Ebd., S. 197).In Übereinstimmung mit der mikroökonomischen
Theorie geht die biographische Theorie von der Sichtweise aus, daß der Mensch
unaufhörlich zwischen Alternativen wählt, aber im Unterschied zur mikroökonomischen
Theorie wird in der biographischen Theorie das Faktum in die Betrachtung einbezogen,
daß der Mensch im allgemeinen die Alternativen nicht wählt,
zwischen denen er eine Auswahl trifft. Die biographische Theorie betrachtet die
Alternativen als das Ergebnis kumulativer biographieinterner Verdichtungen von
Handlungen und Ereignisse sowie das Ergebnis von biographieexternen Vorgaben,
die in jedem Lebenslauf eine Rolle spielen. (Ebd., S. 198-199).
Eine generatie Entscheidung ist nicht nur eine Entscheidung für bzw.
gegen ein Kind, sondern für bzw. gegen einen bestimmten Lebenslauf als Ganzes.
Sie ist eine langfristige Festlegung mit irreversiblen Folgen für
den ganzen Lebenslauf: In entwickelten Ländern trifft jede Frau (die
aber in Wirklichkeit nicht allein, nicht selbst, nicht einzeln, nicht individuell
entscheidet; HB*)
mit der Entscheidung (die eben andere Menschen beeinflussen,
also vor- bzw. mit-entscheiden; HB*)
für ein Kind gleichzeitig eine Vorenstscheidung über die Art und Menge
der Entscheidungsalternativen im beruflichen Bereich, und umgekehrt bestimmt das
Ergebnis einer beruflichen Entscheidung, welche Alternativen bei familialen bzw.
generativen Entscheidungen in den Wahlmengen künftiger Entscheidungssituationen
vorkommen können und welche nicht. (Ebd., S. 199).Die
These lautet: Der Industrialisierung- und Modernisierungsprozeß hat zu einer
explosionsartigen Erweiterung des biographischen Entwicklungsspielraums ... geführt.
(Ebd., S. 204).Urbanisierung einerseits und Realeinkommenssteigerungen
andererseits führten zu einem Wandel der Verbrauchs- und Produktionsstrukturen
in Richtung einer Zunahme des tertiären Sektors (Handel,
Verkehr, Dienstleistungen; HB*).
In den Dienstleistungssektoren wurden neue Arbeitsplätze geschaffen, vor
allem in den Städten, die zunehmend von Frauen besetzt werden. (Ebd.,
S. 205).Biologie und Bevölkerungstheorie waren in ihrer geschichtlichen
Entwicklung aufs engste miteinander verknüpft. Charles Darwin stütze
sich beispielsweise auf das »Bevölkerungsgesetz« von Thomas R.
Malthus. Die Zusammenarbeit zwischen Demographie und Biologie könnte sich
auch heute als fruchtbar erweisen. .... Die Expansion des biographischen Universums
im historischen Prozeß der Industrialisierung und Modernisierung erhöhte
sich in den Wirtschaftsgesellschaften, in denen das ... Verhalten auf dem Konkurrenzprinzip
beruht, das Risiko irreversibler biographischer Festlegungen und führte auf
dem Weg der Risikovermeidung zu einer Selbstbeschränkung bei Reproduktionsentscheidungen.
Die reproduktive Selbstbeschränkung ist bei Frauen mit hohem Ausbildungsabschluß
(und/oder im städtischen Raum; HB*)
... größer als bei Frauen mit niedrigem Ausbildungsgrad (und/oder
im ländlichen Raum; HB*)
.... Das Ergebnis reproduktiver Selbstbeschränkung ist die kohorten-, regions-
und lebenslaufspezifische differentielle Reproduktion, die in den hochentwickelten
Konkurrenzwirtschaften zu einem Rückgang des allgemeinen Fertilitätsniveaus
bis zur Unterschreitung des Bestandserhaltungsniveaus geführt hat.
(Ebd., S. 213-214).
Fazit - Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel (Eckart
Voland)
In jüngster Zeit setzt sich zunehmend die
Erkenntnis durch, daß - obwohl die natürliche Selektion an der Variabilität
der Phänotypen ansetzt - die Ebene biologischer Anpassungsvorgänge die
der Gene ist und nicht etwa die der Individuen ... Beim Studium der Evolution
und gerade auch beim Studium biologischer Verhaltensanpassungen ist deshalb deutlich
zu unterscheiden zwischen den Replikationen (Genen), in denen die stammesgeschichtlich
akkumulierte Information gespeichert ist und deren potentielle Unsterblichkeit
die Kontinuität der biologischen Evolution begründet, einerseits und
den vergänglichen Individuen (Phänotypen) andererseits, die als kurzlebige
Vehikel den evolutiv einzigen Zweck verfolgen, ein optimales Medium für maximale
Genreplikation zu liefern. (Ebd., S. 347-348).Interessant
erscheint mir, daß bei aller intrapersonalen Komplexität von Fruchtbarkeitsentscheidungen
sozioökonomische Gesichtspunkte als die letztlich wohl doch bedeutsamsten
Einzelfaktoren zu wirken. Die Entscheidung für oder gegen (weitere) Kinder
ist auf diese Weise eingebunden in die Szenerie gesellschaftlicher Konkurrenz,
in eine Szenerie also, deren Funktionslogik vom fitneßmaximierenden Darwinischen
Prinzip geprägt wurde. Die Entscheidung für Kinder oder sozialen Erfolg
ist deshalb keine Entscheidung für oder gegen den biogenetischen Imperativ,
sondern lediglich eine taktische Entscheidung für oder gegen eine bestimmnte
Strategie, ihm zu gehorchen! (Ebd., S. 354-355).Es
erscheint nicht abwegig, daß während des Pleistozäns, also während
jener 99,7% unserer Geschichte, in der Menschen als Wildbeuter den formenden Einflüssen
der natürlichen Selektion ausgesetzt waren, die individuellen Reproduktionserfolge
nicht durch die Anzahl der Konzeptionen beschränkt waren, sondern von der
Verfügbarkeit der immer irgendwie knappen Ressourcen. Nicht Maximierung der
Fertilität, sondern Maximierung der Aufzuchtleistung wurde genetisch belohnt
.... (Ebd., S. 355).Vielleicht zéigt sich in der bevorzugten
Wahrnehmung ökonomischer Opportunitäten, die für Frauen zu Lasten
reproduktiver Erfolge geht, eine im Pleistozän erworbene und evolutiv fixierte,
an Bedingungen latenter Ressourcenknappheit angepaßte Präferenz, die
unter modernen Bedingungen im Durchschnitt nicht mehr zu fitneßmaximierenden
Resultaten führt. (Ebd., S. 355).Wie dem auch sei, eine
mögliche Diskrepanz zwischen einem theoretisch maximal möglichen und
dem tatsächlichen Reproduktionserfolg ändert nichts an der Tatsache,
daß die Mechanismen der Verhaltnessteuerung aus der Stammesgeschichte resultieren
und Bestandteil unserer adaptiven bilogischen Ausstattung sind. Das ökologische
und soziokulturelle Milieu, in dem sich die Hominisation mit den sie kennzeichnenden
Anpassungsvorgängen abgespielt hat, ist nicht identisch mit den zeitgenössischen
oder historisch noch halbwegs überschaubaren Lebensbedingungen, also mit
jenem überaus kurzen Ausschnitt aus der menschlichen Geschichtlichkeit ....
(Ebd., S. 356).Zu den frühesten Ergebnissen verhaltensökologischer
Theoriebildung gehört die Einsicht, daß Organismen in ihrem Leben entweder
viele Nachkommen zeugen, in die sie dann allerdings vergleichsweise wenig investieren,
oder aber im reproduktionsgeschäft auf weniger, dafür aber gut ausgestattetet
Nachkommen setzen. Dieser Quantität/Qualität-Abgleich ist zwangsläufig
notwendig, weil elterliche Investmentmöglichkeiten immer irgendwie begrenzt
sind. Je nach Art der Selektionsfaktoren favorisiert die natürliche Selektion
eher die eine oder die andere Strategie. (Ebd., S. 356).Im
Verlauf ihrer Stammesgeschichte haben Menschen generell eher die zweite Option
verfolgt und damit einen Evolutionstrend innerhalb der Primatenreihe fortgesetzt.
(Ebd., S. 357).Aber auch innerhalb der Kollektive kommt es je nach
sozialer Schichtzugehörigkeit der Eltern zu unterschiedlichen Justierungen
in der Quantität/Qualität-Koordinate. Dabei zeigt sich interessanterweise,
daß genau die Gruppen, die aufgrund ihrer sozialen Potenz besser als andere
das zukünftige Schicksal ihrer Kinder beeinflussen konnten, auch tatsächlich
diejenigen waren, die historisch damit begonnen haben, auf Kosten der Kinderzahl
vermehrt in die soziale Konkurrenzfähigkeit ihrer Nachkommen zu investieren.
(Demographisch-ökonomisches
Paradoxon: Je mehr Kinder die Menschen sich leisten könnten, desto weniger
haben sie!). Der mit dem demographischen Übergang (**)
verbundene Rückgang der durchschnittlichen Kinderzahl pro Familie ist aus
biologischer Sicht eine durchaus angepaßte reproduktionsstrategische Antwort
auf veränderte Investitionsmöglichkeiten .... (Ebd., S. 358).Die
auf Kosten/Nutzen-Abwägungen beruhende »Quasi-Rationalität«
menschlicher Reproduktion manifestiert sich freilich nicht allein in Fruchtbarkeitsentscheidungen,
sondern umfaßt auch das postnatale Fürsorgeverhalten. .... Das menschliche
Brutpflegesystem ist von der natürlichen Selektion so modelliert worden,
daß es - unter gegebenen Umständen - je nach Geschlecht der Kinder,
ihrem Geburtstag und der genetischen Verwandtschaft zu ihnen (um nur einige der
wichtigsten Merkmale zu nennen) zu unterschiedlichen Fürsorgeverhalten motiviert.
(Ebd., S. 358-359). |