Einleitung (S. 3-5):
Diese kleine Schrift ist aus Aufzeichnungen hervorgegangen, die
für den »Untergang des Abendlandes« ( ),
namentlich den zweiten Band bestimmt ( ),
die teilweise sogar der Kern waren, aus dem diese ganze Philosophie sich
entwickelt hat. (Vgl. Der Untergang des Abendlandes,
S. 65 ff. [ ].)
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 3 ).
Ist Sozialismus ein Instinkt oder ein System? Das Endziel
der Menschheit oder ein Zustand von heute und morgen? Oder ist er
nur die Forderung einer einzelnen Klasse? Ist er mit dem Marxismus
identisch? (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 3 ).
Der Fehler aller Wollenden ist, daß sie das, was sein sollte,
mit dem verwechseln, was sein wird. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 3 ).
Und nur das Blut entscheidet über die Zukunft. (Oswald
Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 3 ).
Wenn
aber der Sozialismus nicht Marxismus ist - was ist er dann? Hier steht die Antwort.
Heute schon ahnt man sie, aber den Kopf voller Pläne, Standpunkte, Ziele
wagt man nicht, sie zu wissen. Man flüchtet vor Entscheidungen von der ehemaligen
energischen Haltung zu mittleren, veralteten, milderen Auffassungen, selbst zu
Rousseau, zu Adam Smith, zu irgend etwas. Schon ist jeder Schritt gegen Marx gerichtet,
aber bei jedem ruft man ihn an. Indessen ist die Zeit der Programmpolitik vorbei.
Wir späten Menschen des Abendlandes sind Skeptiker geworden. Ideologische
Systeme werden uns nicht mehr den Kopf verwirren. Programme gehören in das
vorige Jahrhundert. Wir wollen keine Sätze mehr, wir wollen uns selbst.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 4 ).Und
damit ist die Aufgabe gestellt: es gilt, den deutschen Sozialismus von Marx zu
befreien. Den deutschen, denn es gibt keinen andern. Auch das gehört zu den
Einsichten, die nicht länger verborgen bleiben. Wir Deutsche sind Sozialisten,
auch wenn niemals davon geredet worden wäre. Die andern können es gar
nicht sein. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919,
S. 4 ).Ich
zeichne hier nicht eine jener »Versöhnungen«, kein Zurück
oder Beiseite, sondern ein Schicksal. Man entgeht ihm nicht, wenn man die Augen
schließt, es verleugnet, bekämpft, vor ihm flüchtet. Das sind
nur andere Arten es zu erfüllen. Ducunt fata volentem, nolentem trahunt
( ).
Altpreußischer Geist und sozialistische Gesinnung, die sich heute mit dem
Hasse von Brüdern hassen, sind ein und dasselbe. Das lehrt nicht die Literatur,
sondern die unerbittliche Wirklichkeit der Geschichte, in der das Blut, die durch
nie ausgesprochne Ideen gezüchtete Rasse, der zur einheitlichen Haltung von
Leib und Seele gewordne Gedanke über bloße Ideale, über Sätze
und Schlüsse hinwegschreitet. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 4 ).Ich
zähle damit auf den Teil unserer Jugend, der tief genug ist, um hinter dem
gemeinen Tun, dem platten Reden, dem wertlosen Plänemachen das Starke und
Unbesiegte zu fühlen, das seinen Weg vorwärts geht, trotz allem; die
Jugend, in welcher der Geist der Väter sich zu lebendigen Formen gesammelt
hat, die sie fähig machen, auch in Armut und Entsagung, römisch im Stolz
des Dienens, in der Demut des Befehlens, nicht Rechte von andern, sondern Pflichten
von sich selbst fordernd, alle ohne Ausnahme, ohne Unterschied, ein Schicksal
zu erfüllen, das sie in sich fühlen, das sie sind. Ein wortloses Bewußtsein,
das den einzelnen in ein Ganzes fügt, unser Heiligstes und Tiefstes, ein
Erbe harter Jahrhunderte, das uns vor allen andern Völkern auszeichnet, uns,
das jüngste und letzte unsrer Kultur. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 4-5 ).An
diese Jugend wende ich mich. Möge sie verstehen, was damit ihrer Zukunft
auferlegt wird; möge sie stolz darauf sein, daß man es darf.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 5 ).
Die Revolution (S. 5-22):
Die Geschichte kennt kein Volk, dessen Weg tragischer gestaltet
wäre. In den großen Krisen kämpften alle andern um Sieg
oder Verlust; wir haben immer um Sieg oder Vernichtung gekämpft;
von Kolin und Hochkirch über Jena und die Freiheitskriege, wo noch
auf französischem Boden versucht wurde, durch eine Aufteilung Preußens
die Verständigung zwischen dessen Verbündeten und Napoleon zu
erreichen, über jene verzweifelte Stunde von Nikolsburg, in der Bismarck
an Selbstmord dachte, und Sedan, das die Kriegserklärung Italiens
und damit eine allgemeine Offensive der Grenzmächte eben noch abwandte,
bis zu dem Gewitter furchtbarer Kriege über den ganzen Planeten hin,
dessen erste Schläge eben verhallt sind. Nur der Staat Friedrichs
des Großen und Bismarcks durfte es wagen, an Widerstand überhaupt
zu denken. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 5 ).
In all diesen Katastrophen haben Deutsche gegen Deustsche gestanden.
Es gehört nur der Oberfläche der Geschichte an, daß es
oft Stamm gegen Stamm oder Fürst gegen Fürst war; in der Tiefe
ruhte jener Zwiespalt, den jede deutsche Seele birgt und der schon in
gotischer Zeit, in den Gestalten Barbarossas und Heinrich des Löwen
zur Zeit von Legnano groß und düster hervortrat. Wer hat das
verstanden? Und wer durchschaut jene Wiederkehr des Herzogs Widukind
in Luther? Welcher dunkle Drang ließ all jene Deutschen für
Napoleon kämpfen und fühlen, als er mit französischem Blute
die englische Idee überd en Kontinent trug? Was verbindet in
der tiefsten Tiefe das Rätsel von Legnano (29.05.1176)
mit dem von Leipzig (16.-19.10.1813)?
Weshalb empfand Napoleon die Vernichtung der kleinen friderizianiscehn
Welt als seine ernsteste aufgabe - und im Grunde seines Geistes als eine
unlösbare? (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 5-6 ).
Der Weltkrieg ist, am Abend der westlichen Kultur, die große
Auseinandersetzung zwischen den beiden germanischen Ideen, Ideen, die
wie alle echten nicht gesprochen, sondern gelebt werden. Er trug seit
seinem wirklichen Ausbruch, dem Vorpostengefecht auf dem Balkan 1912,
zunächst die äußere Form des Kampfes zweier Großmächte,
von denen die eine beinahe niemand, die andre alle auf ihrer Seite hatte.
Er endete zunächst im Stadium der Schützengräben und verrotteten
Millionenheere. Aber schon in diesem wurde eine neue Formel des ungemilderten
Gegensatzes gefunden, die augenblicklich mit den Schlagworten Sozialismus
und Kapitalismus in einem sehr flachen Sinne und mit der vom vorigen Jahrhundert
ererbten Überschätzung rein wirtschaftlicher Einzelheiten bezeichnet
wird. Hinter ihnen tritt die letzte große Seelenfrage des faustischen
Menschen zutage. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 6 ).
In diesem Augenblick tauchte, den Deutschen selbst nicht bewußt,
das napoleonische Rätsel wieder auf. Gegen dieses Meisterstück
von Staat, unsre echteste und eigenste Schöpfung, so eigen, daß
kein anderes Volk es zu verstehen und nachzuahmen vermochte, daß
man haßte wie alles Dämonisch-Unergründliche, rannte das
englische Heer Deutschland an. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 6 ).
Denn das gibt es. Was hier zum tödlichen Streich ausholte,
war nicht notwendig ein Verrat aus weltbürgerlichen Hange oder schlimmen
Gründen; es war ein beinahe metaphysisches Wollen, zäh und selbstlos,
oft einfältig genug, oft begeistert und ehrlich patriotisch, aber
in seinem bloßen Dasein eine stets bereite Waffe für jeden
äußeren Feind von der praktischen Tiefe des Engländers;
ein verhängnisvoller Inbegriff von politischen Wünschen, Gedanken,
Formen, die in Wirklichkeit nur ein Engländer ausfüllen, meistern,
nutzen kann, für Deutsche trotz aller schweren Leidenschaft und ernsten
Opferwilligkeit nur ein Anlaß dilettantischer Betätigung, in
seiner staatsfeindlichen Wirkung vernichtend, vergiftend, selbstmörderisch.
Es war die unsichtbare englische Armee, die Napoleon seit Jena auf deutschem
Boden zurückgelassen hatte. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 6-7 ).
Das, der bis zur Wucht eines Schicksals
herausgebildete Mangel an Tatsachensinn ist es, was von der Höhe
der Stauferzeit an, wo diese prachtvollen Menschen sich über die
Forderung des Tages erhaben fühlten, bis herab zur provinzialen Biedermännerei
des 19. Jahrhunderts, die man auf den Namen des deutschen Michel getauft
hat, jenem andern Instinkt entgegenarbeitete und ihm eine Entfaltung aufzwang,
die seine äußere Geschichte zu einer dichten Folge verzweifelter
Katastrophen gestaltet hat. Das Micheltum ist die Summe unserer Unfähigkeiten,
das grundsätzliche Mißvergnügen an überlegnen Wirklichkeiten,
die Dienst und Achtung fordern, Kritik zur unrechten Zeit, Ruhebedürfnis
zur unrechten Zeit, Jagd nach Idealen statt rascher Taten, rasche Taten
statt vorsichtigen Abwägens, das »Volk« als Haufe von
Nörglern, die Volksvertretung als Biertisch höherer Ordnung.
Alles das ist englisches Wesen, aber in deutscher Karikatur. Und vor allem
das Stückchen privater Freiheit und verbriefter Unabhängigkeit,
das man genau dann aus der Tasche zieht, wenn John Bull es mit sicherm
Instinkt beiseitelegen würde. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 7 ).
Der 19. Juli 1917 ist der erste Akt der deutschen Revolution. Das war
kein bloßer Wechsel der Führung, sondern, wie die brutale Form
namentlich dem Gegner verriet, der Staatsstreich des englischen Elements,
das seine Gelegenheit wahrnahm. Es war die Auflehnung nicht gegen die
Macht eines Unfähigen, sondern gegen die Macht überhaupt. Unfähigkeit
der Staatsleitung ? Hatten diese Gruppen, in denen nicht ein Staatsmann
saß, nur den Splitter im Auge der Verantwortlichen gesehen?
Hatten sie statt der Fähigkeiten, die sie nicht bieten konnten, in
dieser Stunde etwas andres einzusetzen als ein Prinzip? Es war kein
Aufstand des Volkes, das zusah, ängstlich, zweifelnd, obwohl nicht
ohne jene michelhafte Sympathie mit allem, was gegen die da oben ging,
es war eine Revolution in den Fraktionszimmern. Mehrheitspartei ist bei
uns ein Name für einen Verein von zweihundert Mitgliedern, nicht
für den größeren Teil des Volkes. Erzberger als der taktisch
begabteste Demagog unter ihnen, groß in Hinterhalten, Überfällen,
Skandalen, ein Virtuose im Kinderspiel des Ministerstürzens, ohne
die geringste staatsmännische Begabung englischer Parlamentarier,
deren Kniffe er nur beherrschte, zog den Schwarm der Namenlosen nach sich,
die auf eine öffentliche Rolle, gleichviel welche, erpicht waren.
Es waren die Epigonen der Biedermeierrevolution von 1848, die Opposition
als Weltanschauung betrachteten, und die Epigonen der Sozialdemokratie,
denen die eiserne Hand Bebels fehlte, der mit seinem starken Wirklichkeitssinn
dies schamlose Schauspiel nicht geduldet, der eine Diktatur, von rechts
oder links, gefordert und erreicht hätte. Er hätte dies Parlament
zum Teufel gejagt und die Pazifisten und Völkerbundsschwärmer
erschießen lassen. (Oswald Spengler, Preußentum und
Sozialismus, 1919, S. 7-8 ).
Dem Handstreich der englischen Staatsgegner folgte mit Notwendigkeit
im November 1918 der Aufstand des marxistischen Proletariats. Der Schauplatz
wurde aus dem Sitzungssaal auf die Straße verlegt. Gedeckt durch
die Meuterei der »Heimatarmee« brachen die Leser der radikalen
Presse los, von den klügeren Führern verlassen, die nur noch
halb von ihrer Sache überzeugt waren. Auf die Revolution der Dummheit
folgte die der Gemeinheit. Es war wieder nicht das Volk, nicht einmal
die sozialistisch geschulte Masse; es war das Pack mit dem Literatengeschmeiß
an der Spitze, das in Aktion trat. Der echte Sozialismus stand im letzten
Ringen an der Front oder lag in den Massengräbern von halb Europa,
der, welcher im August 1914 aufgestanden war und den man hier verriet.
Es war die sinnloseste Tat der deutschen Geschichte. Es wird schwer sein,
in der Geschichte andrer Völker Ähnliches zu finden. .... Wie
flach, wie flau, wie wenig überzeugt war das alles! Wo man Helden
erwartete, fand man befreite Sträflinge, Literaten, Deserteure, die
brüllend und stehlend, von ihrer Wichtigkeit und dem Mangel an Gefahr
trunken, umherzogen, absetzten, regierten, prügelten, dichteten.
.... Die unbeschreibliche Häßlichkeit der Novembertage ist
ohne Beispiel. kein mächtiger Augenblick, nichts Begeisterndes; kein
großer Mann, kein bleibendes Wirt, kein küner Frevel, nur Kleinliches,
Ekel, Albernheiten. .... Keine Not, keine Presse, keine Partei kann einen
ordnungswidrigen Sturm mit der Gewalt von 1813, 1870, 1914 hervorrufen.
Von ein paar Narren und Strebern abgesehen, wirkte die Revolution auf
jeden wie ein einstürzendes Haus, am tiefsten vielleicht auf die
Sozialistenführer selbst. Es ist ohne Beispiel: sie hatten plötzlich,
was sie seit 40 Jahren erstrebten, die volle Gewalt, und empfanden sie
als Unglück. Dieselben Soldaten, die unter der schwarz-weiß-roten
Fahne vier Jahre lang als Helden gefochten hatten, haben unter der roten
nichts gewollt, nichts gewagt, nichts geleistet. Diese Revolution hat
ihren Anhängern den echten Mut nicht gegeben, sondern genommen.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 9-11 ).
Antike Revolutionen stellen lediglich den Versuch dar, eine Lebenslage
zu erreichen, in der ein in sich ruhendes Dasein überhaupt möglich
und erträglich ist. Trotz der Leidenschaftlichkeit des äußeren
Bildes sind sie sämtlich defensiver Natur. Von Kleon bis herab zu
Spartacus hat niemand daran gedacht, über die eigne Not des Augenblicks
hinaus sich für eine allgemeine Neuordnung der antiken Daseinsbedingungen
einzusetzen. Die drei großen Revolutionen des Abendlandes aber entrollen
eine Machtfrage: Ist der Wille des einzelnen dem Gesamtwillen zu unterwerfen
oder umgekehrt? Und man ist entschlossen, die eigne Entscheidung der
ganzen Welt aufzuzwingen. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 14-15 ).
Der englische Instinkt entschied: die Macht gehört dem einzelnen.
Freier Kampf des einen gegen den andern; Triumph des Stärkeren: Liberalismus,
Ungleichheit. Kein Staat mehr. Wenn jeder für sich kämpft, kommt
es in letzter Linie allen zugute. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 15 ).
Der französische Instinkt: die Macht gehört niemand.
Keine Unterordnung, also keine Ordnung. Kein Staat, sondern nichts: Gleichheit
aller, idealer Anarchismus, in der Praxis immer wieder (1799, 1851, 1871,
1918) durch den Despotismus von Generalen oder Präsidenten lebensfähig
erhalten. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 15 ).
Beides heißt Demokratie, aber in sehr verschiedener Bedeutung.
.... Die englische Revolution, die den Typus des unabhängigen, nur
sich selbst verantwortlichen Privatmannes hervorbrachte, bezog
sich überhaupt nicht auf Stände, sondern auf den Staat. Der
Staat wurde, weltlich wie geistlich, abgeschafft und durch den Vorzug
der Insellage ersetzt. Die Stände bestehen noch heute, allgemein
geachtet, instinktiv auch Von der Arbeiterschaft anerkannt. Die französische
Revolution allein ist ein »Klassenkampf«, aber von Rang-,
nicht von Wirtschaftsklassen. Die wenig zahlreichen Privilegierten werden
der gleichförmigen Volksmasse, der Bourgeoisie, einverleibt.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 15 ).
Die deutsche Revolution aber ist aus einer Theorie hervorgegangen.
Der deutsche, genauer preußische Instinkt war: die Macht
gehört dem Ganzen. Der einzelne dient ihm. Das Ganze ist souverän.
Der König ist nur der erste Diener seines Staates (Friedrich der
Große). Jeder erhält seinen Platz. Es wird befohlen und gehorcht.
Dies ist, seit dem 18. Jahrhundert, autoritativer Sozialismus,
dem Wesen nach illiberal und antidemokratisch, soweit es sich um englischen
Liberalismus und französische Demokratie handelt. Es ist aber auch
klar, daß der preußische Instinkt antirevolutionär
ist. Den Organismus aus dem Geiste des 18. Jahrhunderts in den des 20.
zu überführen was man in einem ganz andern, spezifisch
preußischen Sinne liberal und demokratisch nennen kann war
eine Aufgabe für Organisatoren. Die radikale Theorie aber
machte aus einem Teil des Volkes einen vierten Stand zurecht sinnlos
in einem Lande der Bauern und Beamten. Sie gab dem überwiegenden,
in zahllose Berufsstände gegliederten Teil den Namen »dritter
Stand« und bezeichnete ihn damit als Objekt eines Klassenkampfes.
Sie machte den sozialistischen Gedanken endlich zum Privilegium
des vierten Standes. Im Banne dieser Konstruktionen zog man denn im November
aus, um das zu erreichen, was im Grunde längst da war. Und da man
es im Nebel der Schlagworte nicht erkannte, zerschlug man es. Nicht nur
der Staat, auch die Partei Bebels, das Meisterwerk eines echt sozialistischen
Tatsachenmenschen, durch und durch militärisch und autoritativ und
eben damit die unvergleichliche Waffe der Arbeiterschaft, wenn sie dem
Staat den Geist des neuen Jahrhunderts einimpfen wollte, ging in Trümmer.
Das macht diese Revolution so verzweifelt lächerlich: sie brach auf,
um ihr eignes Haus anzuzünden. Was 1914 das deutsche Volk sich selbst
versprochen, was es bereits langsam, ohne Pathos zu verwirklichen begonnen
hatte, wofür zwei Millionen Männer gefallen waren, wurde verleugnet
und vernichtet. Und dann stand man ratlos, ohne zu wissen, was nun veranstaltet
werden sollte, um sich selbst das Vorhandensein einer fortschreitenden
Revolution zu beweisen. Es war sehr nötig, denn der Arbeiter, der
etwas ganz andres erwartet hatte, schaute mißtrauisch auf, aber
mit dem täglichen Ausrufen der Schlagworte in die leere Luft hinein
war es nicht getan. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 15 ).
Diese Episode ist der tiefsten Verachtung der Zukunft gewiß.
1919 ist der Tiefpunkt deutscher Würde. In der Paulskirche saßen
ehrliche Narren und Doktrinäre, weltfremd bis zum Komischen, Jean-Paul-Naturen;
hier aber fühlte man verschmitzte Interessen dahinter. Es macht keinen
Unterschied, ob es sich um Düpierte oder Einverstandene handelt.
Diese Parteien verwechselten das Vaterland allzuoft mit dem Vorteil. Wir
erleben eine Direktorialzeit vor dem Thermidor. Wehe, wenn wir das übersprungene
Stück nachholen müssen! Daß dies verlogene Schauspiel
einer nicht geglückten und nicht beendeten Revolution ein Ende nimmt,
ist sicher. Draußen bereitet sich ein neuer Akt des Weltkrieges
vor. Man lebt heute schnell. Während die Nationalversammlung, ein
verschlechterter Reichstag, aus den Trümmern des zerstörten
Staates eine Hütte zusammenflickt, in der Schiebertum und Wucher
mit Löhnen, mit Waren, mit Ämtern bald die einzige Beschäftigung
sein werden, beginnen andre über das letzte Jahr anders zu denken.
Sie vergleichen, was da gebaut wird, mit dem, was einmal da war. Sie ahnen,
daß ein Volk in Wirklichkeit niemals zwischen verschiedenen Staatsformen
zu wählen hat. Wählen läßt sich nur die Verkleidung,
nicht der Geist, das Wesentliche, obwohl die öffentliche Meinung
beständig beide verwechselt. Was man in eine Verfassung hineinschreibt,
ist immer unwesentlich. Was der Gesamtinstinkt allmählich daraus
macht, darauf kommt es an. Das englische Parlament regiert nach ungeschriebenen,
aus einer alten Praxis entwickelten und oft sehr wenig demokratischen
Gesetzen und eben deshalb mit so großem Erfolg. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 18 ).
Aber man täusche sich nicht: die Revolution ist nicht zu
Ende. Ob sinnlos oder nicht, ob gescheitert oder verheißungsvoll
begonnen, ob der Auftakt einer Weltrevolution oder eine bloße Auflehnung
des Mob in einem einzelnen Lande, es ist eine Krise im Gange, die wie
alles Organische, wie eine Krankheit, einen mehr oder weniger typischen
Verlauf nimmt, der sinnwidrige Eingriffe nicht duldet. Ethische Worte,
wie gerechte Sache oder Verrat, sind der Tatsache selbst gegenüber
wertlos. Man muß, als Revolutionär wie als Gegenrevolutionär,
Menschenkenner sein, eiskalt und überlegen alle Faktoren des Augenblicks
berechnen, das psychologische Feingefühl der alten Diplomatie statt
auf Diplomaten- und Fürstenseelen auf die viel schwerer zu durchschauende,
auf einen Taktfehler viel gereizter antwortende Massenseele anwenden.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 18-19 ).
Die Versailler Beschlüsse lassen den Kriegszustand fortdauern
.... (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919,
S. 20 ).
Und endlich beachte man den rasch nahenden, jede Revolution innerlich
abschließenden Zeitpunkt, wo das eigentliche Volk Ruhe und Ordnung
um jeden Preis haben will und auch durch den stärksten Druck der
revolutionären Minderheit nicht mehr zu bewegen ist, zu prinzipiellen
Fragen Stellung zu nehmen. Diesen Zeitpunkt hinauszuschieben oder aufzuheben
steht in niemandes Macht. Man vergleiche die in sozialistischen Schriften
gern unterschlagenen Ziffern der Wählerbeteiligung bei den Jakobinerabstimmungen
mit denen bei Einsetzung des Konsuls Bonaparte und man begreift:[20] selbst
das französische Volk hatte den revolutionären Zustand endlich
satt. Die Geduld des deutschen Volkes wird schneller zu Ende sein.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 20-21 ).
Aber andrerseits: nicht nur die grundsätzlichen Anhänger,
auch die grundsätzlichen Gegner jedes Umsturzes sind in Gefahr, sich
zu irren. Eine tiefe, aber unbestimmte Enttäuschung ist von dem Entschluß
der Verzichtleistung weit entfernt. Das Gefühl einer gescheiterten
Erhebung, wie es heute in weiten Schichten besteht, ist wie eine offene
Wunde, die keine Berührung ertragt. Was keine Anstrengung der Radikalen
mehr vermag, würde der geringste Versuch der Gegengruppe, die Revolution
gewaltsam zu beenden, sofort herbeiführen: eine wilde Erbitterung
von ansteckender Kraft, die von entschlossenen Führern zu weittragenden
Handlungen ausgenutzt werden kann. Der Gang der Ereignisse würde
sich damit nicht dem Sinne und der Dauer, aber der Form und Starke nach
entscheidend andern. Er konnte sehr blutig werden. Wir befinden uns heute
in der Mitte der Bewegung mit jener unergründlichen Haltung der Massenseele,
die auch in den andern großen Revolutionen den klügsten Kennern
jähe Überraschungen bereitet hat. Verbirgt die gespannte Ruhe
einen ungeschwächten Willen oder verrät der gereizte Lärm
die Ahnung des endgültigen Mißerfolgs? Ist es für eine
Aktion der Anhänger zu spät? Für eine Aktion der Gegner
zu früh? Man weiß, daß Dinge, die zu einer gewissen Zeit
nicht einmal berührt werden dürfen, zwei Jahre darauf von selbst
fallen. Das galt 1918, das wird im umgekehrten Sinne aber auch in naher
Zukunft gelten. Die Höflinge von gestern sind die Königsmörder
von heute und die Königsmörder von heute die Herzöge von
morgen. Niemand kann in solchen Zeiten für die Dauer seiner Überzeugung
einstehen. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 21 ).
Aber mit welchen Zeiträumen ist hier zu rechnen? Sind es
Monate oder Jahre? Der Kreislauf der deutschen Revolution steht, nachdem
und wie sie einmal in Erscheinung getreten ist, in Hinsicht auf Tempo
und Dauer fest. Mag niemand sie kennen, diese Faktoren sind trotzdem vorhanden
in ihrer schicksalhaften Bestimmtheit. Wer sich in ihnen vergreift, ]
geht zugrunde. Die Girondisten sind so zugrunde gegangen, weil sie den
Gipfel der Revolution hinter sich, aber auch Babeuf, weil er ihn vor sich
glaubte. Auch das Eingreifen neuer Kriege, auch das Erscheinen einer großen
Persönlichkeit würde nichts ändern. Sie würden die
welthistorische Erscheinung plötzlich und vollkommen umwandeln können
was für gewöhnliche Betrachter ja allerdings alles bedeutet
, den tiefern Sinn der deutschen Revolution würden sie in seiner
Wesenheit nur bestätigen. Ein großer Mann ist derjenige, der
den Geist seiner Zeit begreift, in dem dieser Geist lebendige Gestalt
geworden ist. Er kommt, nicht um ihn aufzulösen, sondern zu erfüllen.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 21-22 ).
Woher dieser Geist des deutschen Sozialismus stammt, soll nun
entwickelt werden. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 22 ).
Sozialismus als Lebensform (S. 22-26):
Sechstausend Jahre höherer Menschengeschichte liegen vor
uns. Aus der Masse, die sich über den ganzen Planeten verbreitet
hat, sondert sich, Geschichte im tieferen Sinne, das Schauspiel und Schicksal
der großen Kulturen ab. ( ).
Sie liegen vor dem Auge des Betrachters als Formenwelten von gleichartigem
Bau, mächtiges Seelentum, das sichtbare Gestalt gewinnt, innerstes
Geheimnis, das sich in lebendig fortschreitender Wirklichkeit ausdrückt.
Ein unveränderliches Ethos wirkt in ihnen. Es prägt nicht nur
je eine ganz bestimmte Art von Glauben, Denken, Fühlen, Tun, von
Staat, Kunst und Lebensordnung, sondern auch einen antiken, indischen,
chinesischen, abendländischen Typus »Mensch« von vollkommen
eigener Haltung des Leibes und der Seele, einheitlich in Instinkt und
Bewußtsein, Rasse in geistigem Sinne, aus. (Oswald
Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 22 ).
Jedes dieser Gebilde ist in sich selbst vollendet und unabhängig.
Historische Einwirkungen, über deren dichtem Gewebe die landläufige
Geschichtsschreibung alles andre vergißt, haften am Äußerlichsten;
innerlich bleiben Kulturen, was sie sind. So blühen sie am Nil und
Euphrat, Ganges, Hoangho und Ägäischen Meer, in der semitischen
Wüste und der nordischen stromreichen Ebene auf, die Menschen ihrer
Landschaft zu Völkern heranzüchtend, die nicht Schöpfer,
sondern Schöpfungen dieser Kulturen sind, untereinander an Geist
und Sinn verschieden und sich leidenschaftlich widerstrebend: Dorer und
Jonier, Hellenen und Etrusko-Römer die Völker der altchinesischen
Welt Germanen und Romanen, Deutsche und Engländer; nach außen
aber und einer fremden Kultur gegenüber sofort als Einheit wirkend:
der antike, der chinesische, der abendländische
Mensch. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919,
S. 22-23 ).
Eine Idee ruht in der Tiefe jeder Kultur, die sich in bedeutungsschweren
Urworten ankündet: das Tao und Li der Chinesen, der Logos und das
»Seiende« (to on) der apollinischen
Griechen, Wille, Kraft, Raum in den Sprachen des faustischen Menschen,
der sich vor allen andern durch seinen unersättlichen Willen nach
Unendlichkeit auszeichnet, der mit dem Fernrohr die Dimensionen des Weltraums,
mit Schienen und Drähten die der Erdoberfläche besiegt, mit
seinen Maschinen die Natur, mit seinem historischen Denken die Vergangenheit,
die er seinem eignen Dasein als »Weltgeschichte« einordnet,
mit seinen Fernwaffen den ganzen Planeten samt den Resten aller älteren
Kulturen unterwirft, denen er heute seine eignen Daseinsformen aufzwingt
wie lange? (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 23 ).
Denn zuletzt, nach einer abgemessenen Reihe von Jahrhunderten,
verwandelt sich jede Kultur in Zivilisation. Was lebendig war, wird starr
und kalt. Innere Weiten, Seelenräume werden ersetzt durch Ausdehnung
im körperhaft Wirklichen, das Leben im Sinne des Meisters Eckart
wird zum Leben im Sinne der Nationalökonomie, Gewalt der Ideen wird
Imperialismus. Letzte, sehr irdische Ideale breiten sich aus, reife Stimmungen
mit der vollen Erfahrung des Alters: von Sokrates, Laotse, Rousseau, Buddha
an wendet der Weg sich jedesmal abwärts. Sie sind alle innerlich
verwandt, ohne echte Metaphysik, Wortführer praktischer abschließender
Weltanschauung und Lebenshaltung, für die wir umfassende Namen wie
Buddhismus, Stoizismus, Sozialismus besitzen. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 23-24 ).
Und so bezeichnet
Sozialismus in diesem späten Sinne, nicht als dunkler Urtrieb, wie
er sich im Stil gotischer Dome, im Herrscherwillen großer Kaiser
und Päpste, ... in ... Gründung von Reichen auspricht, in denen
die Sonne nicht untergeht, sondern als politischer, sozialer, wirtschaftlicher
Instinkt realistisch angelegter Völker eine Stufe unserer Zivilisation,
nicht mehr unsrer Kultur, die um 1800 zu Ende ging. - Aber in diesem nun
ganz nach außen gewandten Instinkt lebt der alte faustische Wille
zur Macht, zum Unendlichen weiter in dem furchtbaren Willen zur unbedingten
Weltherrschaft im militärischen, wirtschaftlichen, intellektuellen
Sinne, in der Tatsache des Weltkrieges und der Idee der Weltrevolution,
in der Entschlossenheit, durch die Mittel faustischer Technik und Erfindung
das Gewimmel der Menschheit zu einem Ganzen zu schweißen. Und so
ist der moderne Imperialismus auf den ganzen Planeten gerichtet.
Der babylonische hatte sich auf Vorderasien, der indische auf Indien beschränkt,
der antike fand seine Grenzen in Britannien, Mesopotamien und der Sahara,
der chinesische am Kaspischen Meer. Wir kennen keine Grenze. Wir haben
Amerika durch eine neue Völkerwanderung zu einem Teil Westeuropas
gemacht; wir haben alle Erdteile mit Städten unsres Typus besetzt,
unsrem Denken, unsren Lebensformen unterworfen. Es ist der höchste
überhaupt erreichbare Ausdruck unsres dynamischen Weltgefühls.
Was wir glauben, sollen alle glauben. Was wir wollen, sollen alle wollen.
Und da Leben für uns äußeres Leben, politisches, soziales,
wirtschaftliches Leben geworden ist, sollen alle sich unserm politischen,
sozialen, wirtschaftlichen Ideal fügen oder zugrunde gehen. - Dies
immer klarer werdende Bewußtsein habe ich modernen Sozialismus genannt.
Es ist das Gemeinsame in uns. Es wirkt in jedem Menschen von Warschau
bis San Franzisko, es zwingt jedes unsrer Völker in den Bann seiner
Gestaltungskraft. - Aber auch nur uns. Antiken, chinesischen, russischen
Sozialismus gibt es nicht. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 24-25 ).
Im Innern dieses mächtigen Gesamtbewußtseins aber herrschen
Feindschaft und Widerspruch. Denn die Seele jeder einzelnen Kultur leidet
an einem einzigen, aber unheilbaren Zwiespalt. Die Geschichte
jeder Kultur ist ein nie beendeter Kampf zwischen Völkern, zwischen
Klassen, zwischen einzelnen, zwischen den Eigenschaften eines einzelnen
immer um ein und dieselbe schwere Frage. Ein Gegensinn regt sich,
sobald eine Schöpfung ans Licht tritt. Seit Nietzsche kennen wir
den großen, in immer neuer Gestalt fortwirkenden Gegensatz im antiken
Dasein: Apollo und Dionysos, Stoa und Epikur, Sparta und Athen, Senat
und Plebs, Tribunat und Patriziat. Bei Cannae stand in Hannibal der epikuräische
Hellenismus dem stoisch-senatorischen Rom gegenüber. Bei Philippi
erlag dies spartanische Element Roms dem athenischen der Cäsaren.
Und noch im Muttermorde Neros triumphierte der dionysische Geist des »panem
et circenses« über die apollinische Strenge der römischen
Matrone. In der chinesischen Welt knüpfen sich die Gegensätze
aller Epochen, in Leben und Denken, Schlachten und Büchern an die
Namen Konfuzius und Laotse und die unübersetzbaren Begriffe des Li
und Tao. Und ebenso ist es ein und derselbe Zwist in der faustischen Seele,
der in Gotik und Renaissance, Potsdam und Versailles, Kant und Rousseau,
Sozialismus und Anarchismus unser Schicksal bestimmt und bis in die letzten
Zeiten bestimmen wird. (Oswald Spengler, Preußentum und
Sozialismus, 1919, S. 25 ).
Trotzdem ist dies Schicksal eine Einheit. Der Widerspruch und
Gegensatz dient einer höheren Wirklichkeit. Epikur ist eine andere
Form der Stoa, Äschylus hat Apollo und Dionysos, Cäsar hat Senat
und Plebs zusammengeführt. Der Taoismus des Laotse hat das konfuzianische
China mitgeschaffen. Die abendländischen Völker mit anarchischem
Instinkt sind sozialistisch im größeren Sinne des Faustisch-Wirklichen.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 25 ).
Engländer und Preußen (S. 26-71):
Drei
Völker des Abendlandes haben den Sozialismus in einem großen Sinne
verkörpert: Spanier, Engländer, Preußen (nicht
zufällig die »östlichsten«
[»jüngsten«, »frischesten«] der Deutschen! HB).
Von Florenz und Paris aus formte sich der anarchische Gegensinn in zwei andern:
Italienern und Franzosen. Der Kampf beider Weltgefühle ist das Grundgerüst
dessen, was wir als neuere Weltgeschichte bezeichnen. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 26 ).
Don Quijote, der spanische Faust! , die
Jesuiten sind die einzige und letzte große Gründung seit jenen Ritterorden,
die im Kampf gegen die Ungläubigen entstanden waren. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 27 ).
Der Spanier fühlt eine große
Mission in sich, kein »Ich«, sondern ein »Es«.
Er ist Soldat oder Priester. Er dient Gott oder dem König. Erst der
preußische Stil hat ein Ideal von solcher Strenge und Entsagung
wieder ins Dasein gerufen. Im Herzog Alba, dem Mann der großen Pflichterfüllung,
hätten wir verwandte Züge finden sollen. Das spanische und preußische
Volk allein sind gegen Napoleon aufgestanden. Und hier, im Escorial,
ist der moderne Staat geschaffen worden. Die große Interessenpolitik
der Dynastien und Nationen, die Kabinettsdiplomatie, der Krieg als planmäßig
herbeigeführter und berechneter Schachzug inmitten weitreichender
politischer Kombinationen das alles stammt von Madrid. Bismarck
war der letzte Staatsmann spanischen Stils. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 27 ).
Das politische Machtgefühl von Florenz und Paris wird im
Grenzhader befriedigt. Leibniz hat Ludwig XIV. vergebens die Eroberung
Ägyptens vorgeschlagen, Kolumbus an beiden Orten vergebens angeklopft.
Pisa unterwerfen, die Rheingrenze gewinnen, den Nachbar verkleinern, den
Feind demütigen in dieser Bahn läuft seitdem das politische
Denken. Der spanische Geist will sich den Planeten erobern, ein Reich,
in dem die Sonne nicht untergeht. Kolumbus trat in seinen Dienst; man
vergleiche die spanischen Konquistadoren mit den italienischen Kondottieri.
Die Spanier waren es, welche die ganze Erdoberfläche zum Objekt westeuropäischer
Politik gemacht haben. Italien selbst wurde eine spanische Provinz. Und
man verstehe den mächtigen Gegensatz wohl, der den Sturm auf Rom
herbeiführte: der Renaissancekirche wurde da ein Ende gemacht. Ihr
und den wesensverwandten Reformationskirchen trat der spanisch-gotische
Stil entgegen, der bis heute den Vatikan beherrscht: die Idee der Weltherrschaft
ist seitdem nicht wieder erloschen. Von diesem Augenblick an steht der
italienische und französische Volksgeist der Kirche feindselig gegenüber,
nicht insoweit sie die Religion, sondern soweit sie den spanischen Gedanken
der Universalherrschaft darstellt. Die gallikanische Kirchenpolitik der
französischen Könige, der Revolution, Napoleons, die antiklerikale
Haltung des Königreichs Italien sind so zu erklären. Die Kirche
aber stützte sich auf Madrid und Wien. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 27-28 ).
Nur spanischer, englischer, preußischer Geist haben der
europäischen Zivilisation Universalideen gegeben: Ultramontanismus,
Kapitalismus, Sozialismus in einem bedeutsameren Sinne, als er heute mit
diesen Worten verbunden ist. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 29 ).
Ich möchte über den Begriff Preußentum nicht mißverstanden
werden. Obwohl der Name auf die Landschaft hinweist, in der es eine mächtige
Form gefunden und eine große Entwicklung begonnen hat, so gilt doch
dies: Preußentum ist ein Lebensgefühl, ein Instinkt,
ein Nichtanderskönnen; es ist ein Inbegriff von seelischen,
geistigen und deshalb zuletzt doch auch leiblichen Eigenschaften, die
längst[29] Merkmale einer Rasse geworden sind, und zwar der besten
und bezeichnendsten Exemplare dieser Rasse. Es ist längst nicht jeder
Engländer von Geburt ein »Engländer« im Sinne einer
Rasse, nicht jeder Preuße ein »Preuße«. In diesem
Worte liegt alles, was wir Deutsche nicht an vagen Ideen, Wünschen,
Einfällen, sondern an schicksalhaftem Wollen, Müssen, Können
besitzen. Es gibt echt preußische Naturen überall in Deutschland
ich denke da an Friedrich List, an Hegel, an manchen großen
Ingenieur, Organisator, Erfinder, Gelehrten, vor allem auch an einen Typus
des deutschen Arbeiters und es gibt seit Roßbach und Leuthen
unzählige Deutsche, die tief in ihrer Seele ein Stückchen Preußentum
besitzen, eine stets bereite Möglichkeit, die sich in großen
Augenblicken der Geschichte plötzlich meldet. Aber echt preußische
Wirklichkeiten sind bis jetzt nur die Schöpfungen Friedrich
Wilhelms I. und Friedrichs des Großen: der preußische Staat
und das preußische Volk. Indessen jede überlegene Wirklichkeit
ist fruchtbar. Im heutigen Begriff des Deutschen, im heutigen Typus des
Deutschen ist das preußische Element verjährten Ideologien
gegenüber bereits stark investiert. Die wertvollsten Deutschen wissen
es gar nicht. Es ist mit seiner Summe von Tatsachensinn, Disziplin, Korpsgeist,
Energie ein Versprechen der Zukunft, noch immer aber nicht nur im Volke,
sondern in jedem einzelnen von jenem Wirrwarr absterbender, der abendländischen
Zivilisation gegenüber nichtssagender und gefährlicher, obwohl
oft sympathischer Züge bedroht, für die das Wort »Deutscher
Michel« längst bezeichnend geworden ist. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 29-30 ).
Die organisierte
Besiedlung der slawischen Ostmark erfolgte durch Deutsche aller Stämme.
Beherrscht aber wurde sie durch Niedersachsen, und so ist der Kern des
preußischen Volkes am nächsten dem englischen verwandt. Es
sind dieselben Sachsen, Friesen, Angeln, die ... die keltischen Briten
unterwarfen. .... Aber es waren zwei sittliche Imperative gegensätzlicher
Art, die sich aus dem Wikingergeist und dem Ordensgeist der Deutschritter
langsam entwickelten. Die einen trugen die germanische Idee in sich, die
andern fühlten sie über sich: persönliche Unabhängigkeit
und überpersönliche Gemeinschaft. Heute nennt man sie Individualismus
und Sozialismus. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 31-32 ).
In England ersetzte die Insel den organisierten Staat.
Ein Land ohne Staat war nur unter dieser Bedingung möglich; sie ist
die Voraussetzung der modernen englischen Seele, die im 17. Jahrhundert
zum Selbstbewußtsein erwachte, als der Engländer auf der britischen
Insel unbestritten Herr wurde. In diesem Sinne ist die Landschaft
schöpferisch: das englische Volk bildete sich selbst, das
preußische wurde im 18. Jahrhundert durch die Hohenzollern herangebildet,
die, aus dem Süden stammend, selbst den Geist der märkischen
Landschaft empfangen hatten, selbst Diener der Ordensidee des Staates
geworden waren. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 33 ).
England setzte an Stelle des Staates den Begriff des freien Privatmannes,
der, staatsfremd und ordnungsfeindlich, den rücksichtslosen Kampf
ums Dasein verlangt, weil er nur in ihm seine besten, seine alten Wikingerinstinkte
zur Geltung bringen kann. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 34 ).
Jeder für sich: das ist englisch;
alle für alle ( ):
das ist preußisch. Liberalismus aber heißt: Der Staat für
sich, jeder für sich. Das ist eine Formel, nach der sich nicht
leben läßt, sofern man nicht in liberaler Weise das eine sagt
und das andre zwar nicht will und tut, aber schließlich geschehen
läßt. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 35 ).
Man muß Bismarck, den Bruno Bauer schon 1880 als sozialistischen
Imperialisten bezeichnet hatte, über diese Gebildeten hören,
welche die Welt mit ihrer Lektüre verwechselten. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 36 ).
Abgeschlossen auf seiner Insel, hat der Engländer
eine Einheit der äußern und innern Haltung erlangt wie kein
anderes Volk Westeuropas: es entstand die vornehme Gesellschaft, ladies
and gentlemen, verbunden durch ein starkes Gemeingefühl, ein
durchaus gleichartiges Denken, Fühlen, Sichverhalten. .... Es war
ein Gemeingefühl des Erfolges, des Glücks, nicht der Aufgabe
wie das preußische. Es waren Olympier des Geschäfts, heimgekehrte
Wikinger beim Mahle, nicht Ritter im Felde: Reichtum war neben altem Adel
die Bedingung der Zugehörigkeit und der Stellung innerhalb dieser
Gesellschaft, Kennzeichen, Ziel, Ideal und Tugend. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 36-37 ).
Dies Gemeingefühl von Jahrhunderten hat in beiden Fällen
eine großartige Einheit der Haltung von Körper und Geist, eine
Rasse hier von Erfolgreichen und dort von Arbeitenden herausgebildet.
Als äußerer und doch nicht nebensächlicher Ausdruck ist
die englische Herrentracht entstanden Zivilkleidung im eigentlichsten
Sinne, die Uniform des Privatmannes die ohne Einwand den
Bereich der westeuropäischen Zivilisation beherrscht, in der England
der Welt seine Uniform, den Ausdruck der Freihandelslehre, der Ethik des
Habens, des cant angelegt hat. Das Gegenstück ist die preußische
Uniform, Ausdruck nicht des privaten Daseins, sondern des öffentlichen
Dienstes, nicht des Erfolges der Lebenstätigkeit, sondern
der Tätigkeit selbst. »Ich bin der erste Diener meines
Staates« sagte der preußische König, dessen Vater das
Tragen der Uniform unter Fürsten üblich gemacht hat. Hat man
wohl verstanden, was alles in der Bezeichnung »des Königs Rock«
liegt? Die englische Gesellschaftskleidung ist ein Zwang, strenger noch
als der preußische Uniformzwang. Wer zur Gesellschaft gehört,
wird dieser Tracht seines Standes gegenüber nie »in Zivil«,
das heißt unter Verletzung von Sitte und Mode unvorschriftsmäßig
gekleidet gehen. Aus der englischen Tracht des gentleman aber,
in der sich nur ein Engländer vollkommen zu bewegen weiß, wird
der »Bratenrock« des deutschen Provinzlers und Biedermannes,
unter dem das Herz für Freiheit und Menschenwürde unentwegt
schlägt; der Bratenrock als Symbol der Ideale von 1848, den die liberal
gewordenen Sozialisten heute mit Stolz einhertragen. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 38-39 ).
Zur preußischen Art gehört es, daß der Einzelwille
im Gesamtwillen aufgeht. Das Offizierkorps, das Beamtentum, die Arbeiterschaft
Bebels, endlich »das« Volk von 1813, 1870, 1914 fühlen,
wollen, handeln als überpersönliche Einheit. Das ist nicht Herdengefühl;
es ist etwas unendlich Starkes und Freies darin, das kein nicht Zugehöriger
versteht. Das Preußentum ist exklusiv. Es weist selbst in seiner
proletarischen Fassung die Arbeiter andrer Länder samt ihrem egoistischen
Scheinsozialismus ab. Bedientenseele, Untertanenverstand, Kastengeist
das sind Worte für etwas, das man nur in seiner Ausartung
versteht und dann verachtet. Das echte Preußentum verachtet niemand;
man fürchtet es. (Oswald Spengler, Preußentum und
Sozialismus, 1919, S. 38-39 ).
Nie wird ein Engländer begreifen
die ganze Welt begreift es nicht , daß mit dem preußischen
Stil eine tiefe innere Unabhängigkeit verbunden ist. Ein System sozialer
Pflichten verbürgt dem großdenkenden Menschen eine Souveränität
der inneren Welt, die mit einem System sozialer Rechte, und das ist das
individualistische Ideal, unvereinbar ist. Eine Gemütsverfassung
wie die Moltkes ist in England nicht denkbar. Die englische praktische
Freiheit bezahlt sich mit der andern: der Engländer ist innerlich
Sklave, als Puritaner, als Rationalist und Sensualist, als Materialist.
Er ist seit zweihundert Jahren der Schöpfer aller Lehren, die mit
der inneren Unabhängigkeit aufräumen, zuletzt des Darwinismus,
der den gesamten seelischen Zustand von der Einwirkung materieller Faktoren
kausal abhängig macht und der in der ganz besonders platten Fassung
Büchners und Haeckels die Weltanschauung des deutschen Spießbürgers
geworden ist. Der Engländer gehört auch geistig zur »society«.
Seine Zivilkleidung drückt auch eine Uniformierung der Gewissen
aus. Es gibt für ihn ein privates Handeln, aber kein privates Denken.
Eine gleichförmige, theologisch gefärbte Weltanschauung von
geringem Gehalt verteilt sich über alle. Sie gehört zum guten
Ton wie Gehrock und Handschuh. Wenn irgendwo, so ist der Ausdruck Herdengefühl
hier am Platze. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 39-40 ).
Im 17. Jahrhundert setzen ... die ... Völker
des Nordens zur Bildung einer eigenen Religiosität aus den unerschöpflichen
Möglichkeiten des Christentums an. Gemeinsam ist ihnen die strenge
Tatgesinnung, sehr im Gegensatz zu der müßigen Kultur von Florenz
und der unfruchtbaren selbstquälerischen Dialektik Pascals und der
französischen Jansenisten. Es entstanden der revolutionäre Independentismus[40]
in England und unter seinem Eindruck in Schwaben und Preußen jener
Pietismus, dessen stille Wirkung gerade in dem aufsteigenden preußischen
Menschen gewaltig war. Nach außen dienend, gehorsam, entsagend,
in der Seele von den Einschränkungen des Weltlebens frei, von jener
zarten, tiefen Fülle des Gefühls und echten Herzenseinfalt,
wie wir sie an der Königin Luise, Wilhelm L, Bismarck, Moltke, Hindenburg,
dem Typus des altpreußischen Offiziers überhaupt kennen, so
besaß der einzelne eine fast dogmenlose, vor andern schamhaft verhüllte
Frömmigkeit, die sich nach außen im pflichtgemäßen
Tun, nicht im Bekennen bewähren mußte. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 40-41 ).
Der englische Independent aber ist nach außen
frei, normannenhaft frei. Er prägte sich eine reine Laienreligion
mit der Bibel als Grundlage, zu deren souveräner Deutung sich jeder
einzelne das Recht nahm. Was er tat, war also stets das sittlich Richtige.
Ein Zweifel daran liegt dem Engländer vollkommen fern. Der Erfolg
war der Ausdruck göttlicher Gnade. Die Verantwortung für die
Moralität der Handlungen stand Gott zu, während der Pietist
sie sich selber anrechnete. Dergleichen Überzeugungen zu ändern
steht in keines Menschen Macht. Was man wollen muß, findet man überall
bestätigt. Führt dieses Wollenmüssen zum Untergang, so
ist das unabänderliches Schicksal. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 41 ).
Es ist bewunderungswürdig, mit welcher Sicherheit der englische
Instinkt aus der ... ganz doktrinären und kahlen Lehre Kalvins sein
eignes religiöses Bewußtsein formte. Das Volk als Gemeinschaft
der Heiligen, das englische insbesondere als das auserwählte Volk,
jede Tat schon dadurch gerechtfertigt, daß man sie überhaupt
tun konnte, jede Schuld, jede Brutalität, selbst das Verbrechen auf
dem Wege zum Erfolg ein von Gott verhängtes und von ihm zu verantwortendes
Schicksal - so nahm sich die Prädestination im Geiste Cromwells und
seiner Soldaten aus. Mit dieser unbedingten Selbstsicherheit und Gewissenlosigkeit
des Handelns ist das englische Volk emporgestiegen. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 41 ).
Pietismus .... In kleinen Zirkeln herrschte ein inniger Geist
der Gemeinsamkeit; das ganze Leben war ein Dienst; dieses karge Stückchen
Erdendasein inmitten von Jammer und Mühe hat seinen Sinn nur im Banne
einer größeren Aufgabe. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 41-42 ).
Aber diese Aufgabe mußte gestellt werden und hier liegt
das Gewaltige im kaum bewußten Wirken der großen Hohenzollern,
den Erben der ostmärkischen Ritteridee; unter allen Flecken eines
hartstirnigen adligen und städtischen Egoismus und hinter allen königlichen
Schwächen leuchtet der Gedanke des Altpreußentums auf, der
einzige große Gedanke, der seitdem auf deutschem Boden gewachsen
ist und der in den besten Deutschen, auch wenn sie ihm von Herzen feind
waren, doch irgendeine Gegend der Seele erobert hat. Während der
schwäbische Pietismus sich in Bürgerlichkeit und Sentimentalität
verlor oder seine besten Köpfe wie Hegel an den Norden
abgab, wuchs hier ein neuer Mensch als starkgeistiger Träger dieser
Religiosität empor. Eine tiefe Verachtung des bloßen Reichseins,
des Luxus, der Bequemlichkeit, des Genusses, des »Glücks«
durchzieht das Preußentum dieser Jahrhunderte, ein Kern des Militär-
und Beamtengeistes. All diese Dinge sind dem Imperativ der ritterlichen
Pflicht gegenüber ohne Würde. Dem Engländer aber sind sie
Geschenke Gottes; »comfort« ist ein ehrfürchtig
hingenommener Beweis der himmlischen Gnade. Tiefere Gegensätze sind
kaum denkbar. Arbeit gilt dem frommen Independenten als Folge des Sündenfalls,
dem Preußen als Gebot Gottes. Geschäft und Beruf als
die zwei Auffassungen der Arbeit stehen sich hier unvereinbar gegenüber.
Man denke sich tief in Sinn und Klang dieser Worte hinein: Beruf, von
Gott berufen sein die Arbeit selbst ist da das sittlich
Wertvolle. Dem Engländer und Amerikaner ist es der Zweck der Arbeit:
der Erfolg, das Geld, der Reichtum. Die Arbeit ist nur der Weg, den man
so bequem und sicher als möglich wählen darf. Es ist klar, daß
ein Kampf um den Erfolg unvermeidlich ist, aber das puritanische Gewissen
rechtfertigt jedes Mittel. Wer im Wege steht, wird beseitigt, einzelne,
ganze Klassen und Völker. Gott hat es so gewollt. Man begreift, wie
solche Ideen, wenn sie Leben, Blut geworden sind, ein Volk zu den höchsten
Leistungen emporsteigern können. Um die angeborne menschliche Trägheit
zu überwinden, sagt die preußische, die sozialistische Ethik:
es handelt sich im Leben nicht um das Glück. Tu deine Pflicht, indem
du arbeitest. Die englische, kapitalistische Ethik sagt: werde reich,
dann brauchst du nicht mehr zu arbeiten. Ohne Zweifel liegt in dem letzten
Spruch etwas Verführerisches. Er reizt, er wendet sich an sehr volkstümliche
Instinkte. Er ist von den Arbeitermassen unternehmungslustiger Völker
recht gern verstanden worden. Noch im 19. Jahrhundert hat er den Typus
des Yankee mit seinem unwiderstehlichen praktischen Optimismus hervorgebracht.
Der andre schreckt ab. Er ist für die wenigen, die ihn dem Gemeinwesen
einimpfen und durch dies der Menge aufzwingen mögen. Der eine ist
für ein Land ohne Staat, für Egoisten und Wikingernaturen mit
dem Bedürfnis ständiger persönlicher Kampfbereitschaft,
wie sie sich auch im englischen Sport ausspricht; er enthält das
Prinzip der äußern Selbstbestimmung, das Recht, auf Kosten
aller andren glücklich zu werden, sobald man die Kraft dazu hat,
den wirtschaftlichen Darwinismus. Der andre ist gleichwohl die Idee
des Sozialismus in seiner tiefsten Bedeutung: Wille zur Macht, Kampf
um das Glück nicht des einzelnen, sondern des Ganzen. Friedrich
Wilhelm I. und nicht Marx ist in diesem Sinne der erste bewußte
Sozialist gewesen. Von ihm geht als von einer vorbildlichen Persönlichkeit
diese Weltbewegung aus. Kant hat sie mit seinem kategorischen Imperativ
in eine Formel gebracht. (Oswald Spengler, Preußentum und
Sozialismus, 1919, S. 42-43 ).
Daher also sind am Ausgang der Kultur Westeuropas zwei große
philosophische Schulen entstanden, die englische des Egoismus und Sensualismus
um 1700, die preußische (deutsche)
des Idealismus um 1800. Sie sprechen aus, was diese Völker sind,
als ethische, als religiöse, politische, wirtschaftliche Einheiten.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 43 ).
Philosophie
... ist die Sprache des Lebens in einem großen Kopfe. Für den Engländer
ist Hobbes wahr, wenn er das »selfish system« des Egoismus
und die optimistische Whigphilosophie des gemeinen Nutzens »das größte
Glück der größten Zahl« aufstellt, und andrerseits
der vornehme Shaftesbury mit seiner Zeichnung des gentleman, des Tory,
der sich geschmackvoll auslebenden souveränen Persönlichkeit. Aber ebenso
wahr ist für uns Kant mit seiner Verachtung des »Glückes«
und Nutzens und seinem kategorischen Imperativ der Pflicht, und Hegel mit seinem
mächtigen Wirklichkeitssinn, der die harten Schicksale der Staaten und nicht
das Wohlergehen »der menschlichen Gesellschaft« in die Mitte seines
historischen Denkens stellt. Mandeville erklärt in seiner Bienenfabel, daß
der Egoismus des einzelnen, und Fichte, daß die Pflicht zur Arbeit das Triebrad
des Staates sei. Ist die Unabhängigkeit durch den Reichtum oder vom Reichtum
das letzte Ziel? Soll man dem kategorischen Imperativ Kants: Handle so, als ob
die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz werden sollte, den Benthams
vorziehen: Handle so, daß du Erfolg hast? (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 43-44 ).
Es sind wieder der Wikinger und der Ordensritter,
die im Unterschiede englischer und preußischer Moral weiterleben.
Was aus beiden Welten des Gefühls an Systemen hervorgewachsen ist,
die Familien der Philosophen beider Völker, unterscheidet
sich immer in dieser einen Weise. Der Engländer ist Utilitarist;
er ist sogar der einzige Westeuropas; es steht ihm nicht frei, anders
zu sein, und wenn er vor sich selbst diesen stärksten Antrieb seines
Wesens zu verleugnen sucht, so entsteht das, was seit langer Zeit als
cant berühmt geworden ist und dessen hohe Schule man in den Briefen
Lord Chesterfields findet. Die Engländer sind ein Volk von Theologen,
eine Folge davon, daß ihre große Revolution sich in vorwiegend
religiösen Formen vollzog und daß nach Beseitigung des Staates
das Gemeingefühl keine andre als die religiöse Sprache zurückbehielt.
Und die Theologie legte es nahe, schon mit Rücksicht auf den Erfolg
im persönlichen Daseinskampfe und aus dem sehr richtigen Gefühl,
daß ein durch die biblische Auslegung oft recht zweideutiger Handlungen
beruhigtes Gewissen eine starke Vermehrung von Tatkraft und Zielsicherheit
bedeutet, das eigentliche Ziel, nämlich den Reichtum, nicht unmittelbar
bei Namen zu nennen. Wenn es innerhalb der preußischen Atmosphäre
einen ähnlichen Kampf gibt, so gilt er der Stellung, dem Range;
in vielen Fällen mag man es als Strebertum bezeichnen, der Idee nach
liegt darin der Wille, eine höhere Verantwortlichkeit im Organismus
des Ganzen auf sich zu nehmen, weil man sich ihr gewachsen fühlt.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 44-45 ).
Unter allen Völkern Westeuropas zeichnen sich allein diese
beiden durch eine straffe soziale Gliederung aus. Das ist der Ausdruck
ihres Bedürfnisses nach höchster Aktivität, die jeden einzelnen
Menschen an dem Platze sehen will, wo man ihn braucht. Eine solche Ordnung,
der eine ganz unbewußte und unwillkürliche Ökonomie der
Kräfte zugrunde liegt, ist durch eine noch so geniale Persönlichkeit
oder den noch so starken Willen, fremde Formen nachzuahmen, nicht zu erreichen;
sie ist einem Volke und diesem allein natürlich und selbstverständlich
und von keinem andern wirklich nachzuahmen. Das ganze sittliche Grundgefühl
tritt hier in Erscheinung; Jahrhunderte sind nötig, um den Sinn für
Distanzen von einer bestimmten Art in dieser Klarheit auszubilden und
zugleich zu verwirklichen. Wikingergeist und Ordensgeist treten wieder
hervor: das Ethos des Erfolges und das der Pflicht. Das englische Volk
ist nach dem Unterschied von reich und arm, das preußische nach
dem von Befehl und Gehorsam aufgebaut. Die Bedeutung des Klassenunterschiedes
ist demnach in beiden Ländern eine ganz verschiedene. Die Unterklasse
findet sich in der Gesellschaft unabhängiger Privatleute im Gemeingefühl
derer zusammen, die nichts haben, im Staate als die Schicht derer, die
nichts zu sagen haben. Demokratie bedeutet in England die Möglichkeit
für jedermann, reich zu werden, in Preußen die Möglichkeit,
jeden vorhandenen Rang zu erreichen: damit wird der einzelne in die ein
für allemal gegebene Schichtung durch seine Fähigkeiten und
nicht durch eine Tradition eingereiht. Frankreich (und also auch Florenz)
hat niemals eine natürliche und dem nationalen Instinkt notwendige
Klassenbildung dieser Art gekannt, auch nicht vor 1789. Die soziale Anarchie
war die Regel: es gab willkürliche Gruppen von Bevorrechteten jeder
Art und jedes Umfangs ohne irgendein sozial feststehendes Verhältnis
untereinander. Man denke an den Gerichtsadel neben dem Hofadel, an den
Typus des Abbé, an die Generalpächter, an die Unterschiede
im städtischen Großbürgertum. Der echt französische
Sinn für Gleichheit prägt sich in dieser Unfähigkeit zu
abgestufter Ordnung von Urzeiten her deutlich aus. In England ist der
Adel allmählich zum Adel auch aus Reichtum, in Preußen zum
Militäradel geworden. Der französische Adel hat eine solche
Einheit der sozialen Bedeutung nie erlangt. Die englische Revolution richtete
sich gegen den Staat, also gegen die »preußische« Ordnung
in Kirche und öffentlichem Dasein, die deutsche Revolution gegen
die »englische« Ordnung nach reich und arm, die im 19. Jahrhundert
mit Industrie und Handel eingedrungen und Mittelpunkt der antipreußischen,
antisozialistischen Tendenzen geworden war. Die französische allein
richtete sich nicht gegen eine fremde und darum unsittliche, sondern gegen
eine Ordnung überhaupt: das ist Demokratie im französischen
Sinne. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919,
S. 45-46 ).
Hier endlich tritt der tiefethische Sinn der Schlagworte Kapitalismus
und Sozialismus zutage. Es sind die menschlichen Ordnungen, die sich auf
dem Reichtum und auf der Autorität aufbauen, die, welche
durch den ungehemmten Kampf um Erfolge, und die, welche durch Gesetzgebung
erzielt wird. Daß der echte Engländer sich Befehle von jemand
erteilen lassen sollte, der nichts hat, ist ihm ebenso unerträglich
wie dem echten Preußen die Verbeugung vor dem bloßen Reichtum.
Aber selbst der klassenbewußte Arbeiter der ehemaligen Bebelpartei
gehorchte dem Parteihaupte aus derselben Sicherheit des Instinkts wie
ein englischer Arbeiter einen Millionär als glücklicheres und
von Gott sichtbar ausgezeichnetes Wesen respektiert. So tief im Seelischen
wurzelnde Unterschiede vermag der proletarische Klassenkampf gar nicht
anzutasten. Die ganze englische Arbeiterbewegung ist auf den Unterschied
von wohlhabend und bettelhaft innerhalb der Arbeiterschaft selbst aufgebaut.
An die eiserne Disziplin einer Millionenpartei in preußischem Stil
würde hier gar nicht zu denken sein. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 46-47 ).
»Ungleiche
Verteilung des Reichtums« ist die echt englische Proletarierformel, die
Shaw immer im Munde führt; so sinnlos sie uns klingt, so wahr ist sie für
ein Lebensideal, das dem zivilisierten Wikinger allein lebenswert ist. Man sollte
also, auch mit Rücksicht auf die großartige Ausbildung dieses Ideals
im Typus des Yankee, von Milliardärsozialismus und Beamtensozialismus
reden. Zum ersten gehört ein Mann wie Carnegie, der zuerst einen großen
Teil des gesamten Volksvermögens in Privatvermögen verwandelt und ihn
dann in glänzender Weise ganz souverän für öffentliche Zwecke
ausgibt. Sein Ausspruch »Wer reich stirbt, stirbt ehrlos« enthält
eine hohe Auffassung des Willens zur Macht über die Gesamtheit. Aber man
verkenne ja nicht die tiefe Beziehung dieses Privatsozialismus, der in
den äußersten Fällen nichts ist als die diktatorische Verwaltung
von Volkseigentum, zum Sozialismus des Beamten und Organisators (der sehr arm
sein kann), wie er in Bismarck und Bebel gleichmäßig zur Erscheinung
kommt. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919,
S. 47 ).
Shaw ist heute der Gipfel des »kapitalistischen« Sozialismus,
für den reich und arm nach wie vor gestaltende Gegensätze des
wirtschaftlichen Organismus sind. »Armut ist das größte
der Übel und das schlimmste der Verbrechen« (Major Barbara).
Er predigt gegen die »feige Masse, die an dem kümmerlichen
Vorurteil festhält, daß man lieber gut sein soll als reich«.
Der Arbeiter soll versuchen, reich zu werden, das war von Anfang an auch
die Politik der englischen Gewerkschaften, der Trade Unions. Deshalb hat
es scheinbar zwischen Owen und Shaw in England keinen Sozialismus im proletarischen
Sinn gegeben er war vom Kapitalismus der Unterklasse der Art nach
nicht zu unterscheiden. Für uns ist der gestaltende Gegensatz aber
immer wieder Befehlen und Gehorchen in einer streng disziplinierten Gemeinschaft,
heiße [48] sie nun Staat, Partei, Arbeiterschaft, Offizierkorps
oder Beamtentum, deren Diener jeder Zugehörige ohne Ausnahme ist.
Travailler pour le roi de Prusse das heißt doch auch
seine Pflicht tun ohne das schmutzige Schielen nach Profit. Die Bezahlung
der Offiziere und Beamten seit Friedrich Wilhelm I. war lächerlich
im Verhältnis zu den Summen, mit denen man in England auch nur zur
Mittelklasse gehörte. Trotzdem wurde fleißiger, selbstloser,
ehrlicher gearbeitet. Der Rang war zuletzt die Belohnung. Und so
war es auch unter Bebel. Dieser Arbeiterstaat im Staate wollte nicht reich
werden, sondern herrschen. Diese Arbeiter haben bei ihren anbefohlenen
Streiks oft genug gedarbt nicht für eine Lohn-, sondern für
eine Machtfrage, für eine Weltanschauung, die der ihrer Brotgeber
vermeintlich oder tatsächlich entgegengesetzt war, für ein sittliches
Prinzip, wobei die verlorene Schlacht im Grunde noch ein moralischer Sieg
war. Englischen Arbeitern ist dergleichen ganz unverständlich. Sie
waren nicht arm und nahmen bei ihren Streiks noch die Hunderttausende
in Empfang, die der arme deutsche Arbeiter sich entzog in der Meinung,
daß es sich drüben um die gleiche Sache handle. Die Novemberrevolution
war demnach eine Gehorsamsverweigerung im Heere und zugleich in
der Arbeiterpartei. Die plötzliche Verwandlung der disziplinierten
Arbeiterbewegung in eine wilde Lohnpolitik einzelner Gruppen ohne gegenseitige
Rücksicht war ein Sieg des englischen Prinzips. Das Mißlingen
äußerte sich in der Tatsache, daß in der Reichswehr ein
neuer Organismus von innerer Disziplin entstand. Der einzig fähige
Mann, der erschien, war ein Soldat. In solchen militärischautoritativen
Erfolgen und Mißerfolgen wird die deutsche Revolution fortgehen.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 47-48 ).
Derselbe Gegensatz beherrscht aber auch die Wirtschaftsgesinnung
beider Völker. Es ist ein verhängnisvoller Fehler der Nationalökonomie,
daß sie ganz materialistisch und ohne den geringsten Blick für
die Vielheit wirtschaftlicher Instinkte und ihre Ausdrucksgewalt von den
Wirtschaftsstufen »der« Menschheit, »der« Neuzeit,
»der« Gegenwart schlechthin redet. Sie trägt da alle
Schwächen ihrer englischen Herkunft an sich, denn sie ist als Wissenschaft
ein Produkt des modernen Engländers mit seinem ganzen Selbstgefühl
und Mangel an Psychologie, seine einzige »philosophy«,
die seinem Sinn für Kampf, Erfolg und Besitz entspricht und mit der
er seine rein englische Anschauung der wirtschaftlichen Praxis seit dem
18. Jahrhundert in alle Köpfe des Kontinents gepflanzt hat.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 48-49 ).
Aus dem Weltgefühl des echten Siedlers der Grenzmark, des
kolonisierenden Ordens (vgl. Deutsch-Ritter-Orden )
ergab sich als notwendiges Prinzip die Wirtschaftsautorität des
Staates. Der einzelne erhält seine wirtschaftliche Aufgabe
vom Schicksal, von Gott, vom Staate, von seinem eigenen Talent
das alles sind Worte für dieselbe Tatsache. Rechte und Pflichten
der Gütererzeugung und -nutzung sind gleichmäßig verteilt.
Das Ziel ist nicht die Bereicherung von einzelnen oder jedes einzelnen,
sondern die Blüte des Ganzen. So haben Friedrich Wilhelm I. und seine
Nachfolger in den Sumpfgebieten des Ostens kolonisiert. Sie betrachteten
das als eine Mission. Gott hatte ihnen eine Aufgabe erteilt. In diesen
Bahnen bewegte sich der Wirklichkeitssinn des deutschen Arbeiters mit
voller Entschiedenheit. Lediglich die Theorien von Marx hinderten ihn,
die nahe Verwandtschaft zwischen seinem und dem altpreußischen Wollen
zu erkennen. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 49 ).
Der Seeräuberinstinkt des Inselvolkes versteht das Wirtschaftsleben
ganz anders. Es handelt sich da um Kampf und Beute, und zwar um den Beuteanteil
einzelner. Der Normannenstaat mit seiner raffinierten Technik des Geldeintreibens
beruhte vollkommen auf dem Beuteprinzip. Das Feudalsystem wurde ihm in
einer großartigen Weise als Mittel eingefügt. Die Barone hatten
das ihnen zugeteilte Stück Land auszubeuten, der Herzog forderte
seinen Anteil von ihnen. Der Endzweck war Reichtum. Gott hatte ihn den
Wagemutigen gespendet. Von der Praxis dieser seßhaft gewordenen
Piraten geht das moderne Rechnungswesen aus. Aus der Rechnungskammer Roberts
des Teufels von der Normandie (gest. 1035) stammen die Worte Scheck, Konto,
Kontrolle, Quittung, Rekord und der heutige Name des englischen Schatzamtes
(Exchequer).1 Als England 1066 von hier aus erobert wurde, wurden die
stammverwandten Sachsen genau so von den normannischen Baronen ausgebeutet.
Niemals haben ihre Nachkommen die Welt anders zu betrachten gelernt. Diesen
Stil trägt heute noch jede englische Handelskompanie und jeder amerikanische
Trust. Erzeugung von Einzelvermögen, von privatem Reichtum,
Niederkämpfen der privaten Konkurrenz, Ausbeutung des Publikums durch
Reklame, durch Preispolitik, durch Bedürfniserregung, durch Beherrschung
des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage ist das Ziel, nicht die
planmäßige Hebung des Volkswohlstandes als einer Einheit. Wenn
ein Engländer von Nationalreichtum spricht, so meint er die Zahl
der Millionäre. »Nichts ist dem englischen Empfinden fremder
als Solidarität« (Fr. Engels). Selbst in der Erholung sieht
der Engländer noch eine Betätigung ganz persönlicher,
vor allem körperlicher Überlegenheit. Er treibt Sport um
des Rekords willen und hat einen Sinn für den seinen wirtschaftlichen
Gewohnheiten verwandten Boxkampf, der deutschen Turnern innerlich ganz
fremd ist. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 49-50 ).
Daraus
ergibt sich, daß englisches Wirtschaftsdasein mit Handel tatsächlich
identisch ist, Handel insofern er die kultivierte Form des Raubens darstellt.
Diesem Instinkt gegenüber wird alles zur Beute, zur Ware, an der man sich
bereichert. Die ganze englische Maschinenindustrie ist im Handelsinteresse geschaffen
worden. Sie diente der Beschaffung von billiger Ware. Als die englische Landwirtschaft
durch ihre Preise den Lohnkürzungen eine Grenze setzte, wurde sie dem Handel
geopfert. Der ganze Kampf zwischen Unternehmer und Arbeiter in der englischen
Industrie von 1850 geht um die Ware »Arbeit«, die der eine billig
erbeuten, der andre teuer verhandeln will. Alles, was Marx mit zorniger Bewunderung
von den Leistungen der »kapitalistischen Gesellschaft« sagt, gilt
vom englischen und nicht von einem allgemein menschlichen Wirtschaftsinstinkt
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 50 ).Das
souveräne Wort Freihandel gehört in eine Wikingerwirtschaft.
Das preußische und also sozialistische Wort wäre staatliche Regelung
des Güteraustausches. Damit ist der Handel im Ganzen der Volkswirtschaft
aus der herrschenden in eine dienende Rolle verwiesen. Man begreift Adam Smith
mit seinem Haß gegen den Staat und die »hinterlistigen Tiere, die
man Staatsmänner nennt«. In der Tat, auf den echten Händler müssen
sie wirken wie der Polizist auf den Einbrecher oder ein Kreuzer auf ein Korsarenschiff.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 51 ).Bezeichnend
ist aber auch die Überschätzung der Kapitalsmenge für das wirtschaftliche
Gedeihen, die sich bei ihm findet. Daß psychologisch und ebendeshalb auch
praktisch denn das praktische Leben ist Ausdruck seelischer Bedingungen
der englische Kapitalsbegriff vom Händlerstandpunkt aus etwas ganz
andres ist als der französische Rentner- und der preußische Verwaltungsbegriff,
das sieht ein Materialist nicht. Psychologen sind die Engländer nie gewesen.
Was sie dachten, hielten sie für Denknotwendigkeiten der »Menschheit«.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 51 ).Die
ganze moderne Nationalökonomie beruht auf dem Grundfehler, den Sinn des Wirtschaftslebens
überall in der Welt mit dem Händlerinteresse nach englischen Begriffen
gleichzusetzen, auch wo man dem Wortlaut nach die Manchesterlehre verwirft: der
Marxismus hat sich als reine Verneinung dieser Lehre ihr Schema vollständig
zu eigen gemacht. Dies erklärt das ungeheure Fiasko aller Voraussagen für
den Ausbruch des Weltkrieges, dem einstimmig der Zusammenbruch der Weltwirtschaft
während weniger Monate prophezeit worden war. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 51 ).Nur
der Kapitalismus englischen Stils ist das Gegenstück zum Sozialismus
marxistischen Stils. Der preußische Gedanke der Verwaltung des Wirtschaftslebens
aus einem überpersönlichen Gesichtspunkt hatte den deutschen Kapitalismus
seit der Schutzzollgesetzgebung von 1879 unwillkürlich in sozialistische
Formen im Sinne einer Staatsordnung übergeführt. Die großen
Syndikate waren wirtschaftliche Staaten im Statsganzen, »der erste systematische
und großzügig durchgeführte und dabei ganz unbewußt entstandene
praktische Versuch der kapitalistischen Gesellschaft, hinter die Geheimnisse ihrer
eignen Produktion zu kommen und die gesellschaftlichen Gesetze, deren unbekannter
naturhafter Gewalt man sich bis dahin blind hatte fügen müssen, zu meistern«
(Paul Lensch, Drei Jahre Weltrevolution, 1917). (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 51-52 ).
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Der deutsche Liberalismus, das deutsche Engländertum aber
huldigt außer der freien Menschenwürde auch noch dem Freihandel.
Hier erreicht die Komik seiner Erscheinung den Gipfel. Solange er zugunsten
unverstandener Wikingertriebe den autoritativen Staat, das überpersönliche
Wollen, die Stellung des Einzel-Ich unter das Gesamt-Ich »unentwegt«
ablehnte, war er metaphysisch. Das war die Haltung des deutschen »Gebildeten«
ohne praktische Begabung, des Professors, des Denkers und Dichters, aller,
die schreiben statt zu handeln. Den andern Liberalismus hätten sie
weder verstanden noch als sittlich anerkannt: das Räuberprinzip des
freien Handels, zu dem eine Philosophie des Kampfes aller gegen alle gehört.
Der Zusammenhang zwischen dem autonomen Ich in ihren abstrakten Systemen
und dem in den Kontoren der großen Handelshäuser lag außerhalb
ihres Gesichtskreises. Und so hat der deutsche Börsenliberalismus
in aller Stille den deutschen Professor vor sei nen Wagen gespannt. Er
schickt ihn in die Versammlungen zum Reden und Hören, er setzt ihn
in die Redaktionen, wo er mit philosophischem Geist die gründlichsten
Artikel schreibt, um dem Volk der Leser, das seine unbegrenzte Gläubigkeit
von der Bibel längst auf die Zeitung übertragen hat, die geschäftlich
wünschenswerten politischen Überzeugungen einzuflößen,
er schickt ihn ins Parlament und läßt ihn dort Nein und Ja
sagen, um dem wirtschaftlichen Leben allen Theorien und Verfassungen zum
Trotz immer neue Möglichkeiten des Schiebertums abzulocken. Er hat
die heute überhaupt in Betracht kommende Presse Deutschlands fast
ohne Ausnahme, die ganze Masse der Gebildeten, die ganze liberale Partei
zu seinen Geschäftsorganen gemacht. Der Professor merkt es nicht.
In England ist der Liberale aus einem Guß, ethisch und deshalb
geschäftlich frei und sich des Zusammenhanges wohl bewußt.
In Deutschland sind es immer zwei, die sittlich liberale und die geschäftlich
liberale Persönlichkeit, von denen die eine denkt und die andre lenkt
und nur die zweite sich des beiderseitigen Verhältnisses lächelnd
bewußt ist ( ).
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 52-53 ).
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So stehen sich heute zwei große Wirtschaftsprinzipien
gegenüber. Aus dem Wikinger ist der Freihändler, aus dem Ritter
der Verwaltungsbeamte geworden. Eine Versöhnung zwischen beiden gibt
es nicht, und da sie beide, als Germanen und faustische Menschen höchsten
Ranges, für ihr Wollen keine Grenze anerkennen und sich erst dann
am Ziele glauben werden, wenn die ganze Welt ihrer Idee unterworfen ist,
so wird es Krieg geben, bis eine von ihnen endgültig gesiegt hat.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 53
).
Soll
die Weltwirtschaft eine Weltausbeutung oder eine Weltorganisation sein? Sollen
die Cäsaren dieses künftigen Imperiums Milliardäre oder Weltbeamte,
soll die Bevölkerung der Erde, solange dieses Imperium der faustischen Zivilisation
zusammenhält, Objekt der Politik von Trusts oder von Menschen sein, wie sie
am Ende des zweiten Faust angedeutet werden? (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 53 ).Denn
es handelt sich um das Schicksal der Welt. Die Wirtschaftsgedanken der Franzosen
waren ebenso territorial beschränkt wie die des Renaissancemenschen. Darin
unterscheiden sich das Merkantilsystem unter Ludwig XIV. und die Physiokratenschule
Turgots zur Aufklärungszeit in keiner Weise von den sozialistischen Plänen
Fouriers, der die »Gesellschaft« in die kleinen Wirtschaftskörper
seiner Phalansterien zerlegen wollte, wie man sie noch in Zolas letzten Romanen
wiederfindet. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919,
S. 53 ).Eine
Weltwirtschaft gehört zu den innersten Notwendigkeiten nur der drei echt
faustischen Völker. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 53 ).Die
ritterlichen Spanier strebten sie an, indem sie die neue Welt ihrem Reiche einverleibten.
Sie haben als echte Soldaten über die Theorie ihrer wirtschaftlichen Expansion
nicht nachgedacht, aber sie haben durch die geographische und politische Erweiterung
des Gesichtskreises auch dem wirtschaftlichen Horizont des abendländischen
Menschen die Abmessungen gegeben, die solche Gedanken überhaupt ermöglichten.
Die Engländer haben als erste unter dem Namen Nationalökonomie die Theorie
ihrer, der ausbeutenden Weltwirtschaft geschrieben. Als Händler waren
sie klug genug, um die Macht der Feder über die Menschen der büchergläubigsten
aller Kulturen zu kennen. Sie redeten ihnen ein, daß die Interessen ihres
Piratenvolkes die der Menschheit seien. Sie wickelten die Idee des Freihandels
in die der Freiheit ein. Diese praktische Klugheit fehlte dem dritten und letzten,
wieder einem echt soldatischen Volke. Was Preußen in seinem Kreise verwirklichte,
wurde durch Vermittlung der weltfremden deutschen Philosophie zum Sozialismus
erhoben. Aber die wahren Schöpfer erkannten ihr Geschöpf in dieser Form
nicht wieder und es entstand ein erbitterter Kampf zwischen zwei vermeinten Gegnern,
von denen der eine die Praxis, der andre die Theorie besaß. Heute endlich
ist es Zeit, sich und die gemeinsame Aufgabe zu erkennen. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 53-54 ).
Soll die Welt sozialistisch oder kapitalistisch
regiert werden? Diese Frage kann nicht zwischen zwei Völkern
entschieden werden. Sie ist heute in das Innere jedes einzelnen Volkes
gedrungen. Wenn die Waffen zwischen den Staaten ruhen, wird man sie im
Bürgerkrieg erheben. Heute gibt es in jedem Land eine englische und
eine preußische Wirtschaftspartei. Und wenn die Klassen und Schichten
des Krieges müde geworden sind, werden einzelne Herrenmenschen ihn
im Namen der Idee weiter führen. In den großen Entscheidungen
der antiken Welt zwischen der apollinischen und der dionysischen Idee
ging der peloponnesische Krieg aus dem Kriege zwischen Sparta und Athen
in das Ringen zwischen Oligarchie und Demos aller einzelnen Städte
über. Was bei Philippi und Aktium ausgetragen wurde, hat in der Gracchenzeit
das Forum von Rom mit Blut überschwemmt. In der chinesischen Welt
dauerte der entsprechende Krieg zwischen den reichen Tsin und Tsu, zwischen
den Weltanschauungen des Tao und des Li ein Jahrhundert lang. In der ägyptischen
Welt verbergen sich ungeheure Ereignisse derselben Art hinter dem Rätsel
der Hyksoszeit, der Herrschaft östlicher Barbaren. Hatte man sie
gerufen oder kamen sie, weil die Ägypter sich in innern Kriegen bis
zur Ohnmacht erschöpft hatten? Wird das Abendland den Russen
die gleiche Rolle übertragen? Mögen unsre trivialen Friedensschwärmer
von Völkerversöhnung reden: die Ideen werden sie nicht
versöhnen; der Wikingergeist und der Ordensgeist ( )
werden den Kampf zu Ende führen, mag auch die Welt müde und
gebrochen aus den Blutströmen dieses Jahrhunderts hervorgehen.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 54-55 ).
Damit
aber tritt der englisch-preußische Gegensatz in den Bereich der politischen
Formen ein. Es sind die höchsten und mächtigsten des historischen Daseins
überhaupt. Weltgeschichte ist Staatengeschichte. Staatengeschichte ist
die Geschichte von Kriegen. Ideen, wenn sie zur Entscheidung drängen,
verkleiden sich in politische Einheiten, in Staaten, in Völker, in Parteien.
Sie wollen mit Waffen, nicht mit Worten ausgefochten werden. Wirtschaftskämpfe
werden zu Kämpfen zwischen Staaten oder innerhalb von Staaten. Religionen
konstituieren sich als Staaten, wie Judentum und Islam, Hugenotten und Mormonen,
wenn es sich um ihr Dasein oder ihren Sieg handelt. Alles was aus innerstern Seelentum
Mensch und menschliche Schöpfung geworden ist, opfert den Menschen. Ideen,
die Blut geworden sind, fordern Blut. Krieg ist die ewige Form höhern menschlichen
Daseins, und Staaten sind um des Krieges willen da; sie sind Ausdruck der Bereitschaft
zum Kriege. Und selbst wenn eine müde und entseelte Menschheit auf Kriege
und Staaten verzichten wollte, wie der antikt Mensch der spätesten Jahrhunderte,
der Inder und Chinese von heute, so würde er nur aus dem Führer von
Kriegen der Gegenstand werden, um den und mit dem von andern Kriege geführt
werden. Wäre selbst der faustische Weltfriedc erreicht, so würden Herrenmenschen
vom Schlage spätrömischer, spätchinesischer, spätägyptischer
Cäsaren sich um dies Imperium schlagen als Beute, wenn seine endgültige
Form eine kapitalistische, und um den ersten Rang in ihm, wenn sie eine sozialistische
geworden sein sollte. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 55-56 ).Zu
einer politischen Form aber gehört das Volk, das sie geschaffen hat, das
sie im Blute trägt, das sie allein zu verwirklichen vermag. Politische
Formen an sich sind leere Begriffe. Nachsprechen kann sie jeder. Nachleben, mit
echter Wirklichkeit erfüllen kann sie niemand. Auch im Politischen gibt es
keine Wahl; jede Kultur und jedes einzelne Volk einer Kultur führt seine
Geschäfte und erfüllt sein Schicksal in Formen, die mit ihm geboren
und die dem Wesen nach unveränderlich sind. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 56 ).Ein
philosophischer Streit um »Monarchie« oder »Republik«
ist ein Gezänk um Worte. Die monarchische Regierungsform an sich das
gibt es so wenig wie die Wolkenform an sich. Eine antike und eine westeuropäische
»Republik« sind unvergleichbare Dinge. Wenn in einer großen
Krise, deren letzter Sinn immer ein ganz andrer ist als die Änderung der
Regierungsform, die Republik oder Monarchie ausgerufen wird, so ist das eben ein
Ruf, ein Name, das Stichwort einer melodramatischen Szene, das einzige allerdings,
was die meisten von einer Epoche verstehen und woran sie sich zu begeistern vermögen.
In Wirklichkeit kehrt ein Volk nach solchen Ekstasen doch wieder zu der Form zurück,
nämlich zu der eignen, für deren Wesentliches es beinahe nie eine volkstümliche
Bezeichnung gibt. Der Instinkt einer unverbrauchten Rasse ist so stark, daß
er mit jeder Regierungsform, die ihm der historische Zufall in den Weg wirft,
sehr bald in seiner ureignen Weise arbeitet, ohne daß es irgend jemand zum
Bewußtsein kommt, daß von der Form nur der Name übriggeblieben
ist. Es sind nie die Verfassungen in ihrem Wortlaut, sondern die ungeschriebenen
und unbewußten Regeln, nach denen sie verwendet werden, die man als die
eigentliche Regierungsform bezeichnen darf. Ohne die Beziehung auf ein ganz bestimmtes
Volk sind »Republik«, »Parlamentarismus«, »Demokratie«
bloße Redensarten. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 56 ).So
ist die »parlamentarische Regierungsform« ein spezifisch englisches
Gewächs und ohne die gesamten Voraussetzungen des englischen Wikingercharakters,
ohne die Insellage und eine mehrhundertjährige Entwicklung, die den ethischen
Stil dieses Volkes mit diesem Stil der Geschäftsführung vollkommen verschweißt
hat, weder nachzuleben noch mit irgendwelcher Aussicht auf auch nur annähernd
gleiche Erfolge in ihren Methoden nachzuahmen. Parlamentarismus in Deutschland
ist Unsinn oder Verrat. England hat alle Staaten ohnmächtig gemacht, denen
es das Gift seiner eignen Form als Arznei reichte. Umgekehrt würde England
die Fähigkeit zu einer erfolgreichen Politik verlieren, sobald die Endentwicklung
der abendländischen, heute also den Erdball beherrschenden Zivilisation dahin
führen sollte, daß diese Regierungsform überhaupt unmöglich
wird. Der englische Sozialismus würde Verrat an England üben, wenn er
sie abschaffte. Es handelt sich um eine freie Gesellschaft von Privatleuten, denen,
wie gesagt, die Insellage die Möglichkeit gegeben hat, den eigentlichen Staat
abzuschaffen und diese formale Voraussetzung ihres politischen Daseins durch eine
Flotte mit gemieteter Mannschaft und eine endlose Reihe von Kriegen, die man gegen
Bezahlung durch fremde Staaten und Völker führen ließ, bis 1916
aufrechtzuerhalten. Dieser staatlose Parlamentarismus setzt ein festes System
von zwei Parteien voraus, deren Verhältnis zueinander, deren Organisation,
Praxis, Interessen, deren Stimmung, Sitte, Geist genau diese und keine andern
sind. Was wir englische Parteien nennen das Wort bedeutet in jedem Lande
etwas andres , sind ursprünglich Gruppen des altenglischen Adels, die
sich in den Revolutionen von 1642 und besonders 1688 durch das anglikanische und
puritanische Bekenntnis, in der Tiefe also durch eine gewisse Verschiedenheit
ihrer ethischen Imperative absonderten. Von den Eigenschaften jener altnordischen
Seefahrerrasse, von denen die isländischen Sagas Zeugnis geben, herrschten
unter den Tories der Stolz auf das edle Blut, der vornehme Sinn für alles
Ererbte und Legitime, für Landbesitz, für kriegerische Wagnisse und
blutige Entscheidungen [58] vor, unter den Whigs die Freude an Raub und Plünderung,
an leichtem Erfolg und reicher beweglicher Beute, an List und Kühnheit mehr
als an körperlicher Kraft. Die Typen des englischen Imperialisten und Freihändlers
sind durch immer schärfere Ausprägung dieser Lebensgefühle, durch
immer reinere Züchtung der tatsächlich herrschenden Klasse bis zu ihrer
heutigen Form emporgeführt worden. Daß die Demokratisierung Englands
im 19. Jahrhundert nur eine scheinbare war, und das Volk tatsächlich wie
in Preußen von einer hochwertigen, durch die Ganzheit und Ungebrochenheit
ihrer praktischen Eigenschaften ausgezeichneten Minderheit geführt wurde,
hat die Höhe nicht nur des Wollens, sondern des Könnens bis zum Ausgang
des letzten Krieges aufrechterhalten. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 57-58 ).
Denn zum innersten Wesen dieser Politik gehört es, daß
sie eine reine Geschäftspolitik im Piratensinne ist, ob nun die Tories
oder die Whigs gerade die Führung haben. Daß beide in erster
Linie Gentlemen sind, Mitglieder derselben vornehmen Gesellschaft mit
ihrer bewunderungswürdigen Einheit der Lebenshaltung, macht es erst
möglich, daß trotz der zeitweise erbitterten Gegnerschaft die
großen Angelegenheiten im Privatgespräch und privaten Briefwechsel
erledigt werden, so daß vieles geschieht, was erst zugestanden werden
darf, wenn der Erfolg die Mittel rechtfertigte, und was in jedem andern
Lande der Welt im Lärm verständnisloser und prinzipienfester
Volksvertretungen verdorben werden würde. Der englische Parteiführer
betreibt auch die Geschäfte des Landes als Privatmann. Wenn seine
politischen Unternehmungen glücken, so war es »England«,
das diese Politik einschlug. Führen sie, obwohl erfolgreich, zu praktisch
oder moralisch peinlichen Folgen, so tritt er zurück und das Land
tadelt ihn mit puritanischer Strenge seiner privaten Handlungsweise wegen,
deren Folgen man durch den Rücktritt ablehnt; aber man dankt Gott
für die Gnade, die er England durch die erfolgreiche Handlung selbst
erwiesen hat. Das ist nur möglich, wenn beide Parteien in wesentlichen
Interessen ohne Meinungsverschiedenheit sind. Wohl haben die Tories Napoleon
gestürzt und nach St. Helena gebracht, nachdem er die Ideen der Whigs
über den Kontinent verbreitet hatte, aber Fox war doch durchaus kein
unbedingter Gegner des Krieges mit ihm. Und als Robert Peel 1851 das Freihandelssystem
von Cobden endgültig zum Siege führte und damit die wirtschaftliche
Unterwerfung der Welt ihrer Verwandlung in ein militärisches Protektorat
vorzog, haben die Tories einen Teil ihrer Grundsätze in dem System
der Whigs durchaus wiedergefunden und anerkannt. Die torystische Politik
unter Eduard VII. hat den Weltkrieg veranlaßt, aber die Whigs, Gegner
des Krieges, haben durch die Aufnahme »liberaler Imperialisten«
sich stillschweigend auf diese Möglichkeit vorbereitet. Dies alles
ist »Parlamentarismus«, und nicht jene wert- und wirkungslosen
Äußerlichkeiten, die man heute in Deutschland dafür hält,
wie die Verteilung von Ministerportefeuilles unter Parteiführer oder
die Bloßlegung der parlamentarischen Technik vor der breitesten
Öffentlichkeit. Die letzten Entschließungen der Parteiführer
sind selbst der Mehrheit der Parlamentsmitglieder Geheimnis. Die sichtbaren
Vorgänge sind fable convenue, und der mustergültige Takt
beider Parteien sorgt dafür, daß der Schein einer Selbstregierung
des Volkes um so peinlicher aufrechterhalten wird, je weniger dieser Begriff
tatsächlich bedeutet. Daß Parteien, vor allem englische Parteien,
Teile des Volkes sind, ist dilettantischer Unsinn. In Wirklichkeit kann
es, außer in Staaten vom Umfang weniger Dörfer, etwas wie Volksregierung,
Regierung durch das Volk, gar nicht geben. Nur hoffnungslos liberale Deutsche
glauben daran. Die Regierung liegt überall, wohin englische Regierungsformen
gedrungen sind, in den Händen sehr weniger Männer, die innerhalb
einer Partei durch ihre Erfahrung, ihren überlegenen Willen und ihre
taktische Gewandtheit herrschen, und zwar mit diktatorischer Machtvollkommenheit.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 58-59 ).
Damit erhebt sich die Frage, welches das Verhältnis zwischen
Volk und Partei ist oder was Wahlen in der heutigen Staatenwelt des Abendlandes
eigentlich bedeuten. Wer wählt und was wählt er? Der Sinn des
englischen Systems besteht[ darin, daß das Volk die Partei und
nicht einen Beauftragten seines mehr oder weniger von der Parteileitung
selbst suggerierten Willens wählt. Die Parteien sind festgefügte,
sehr alte Gesellschaften, welche sich damit beschäftigen, die politischen
Angelegenheiten der Gesellschaft des englischen Volkes überhaupt
zu führen. Der einzelne Engländer, der das Zweckmäßige
dieser Einrichtung wohl empfindet, unterstützt von Wahl zu Wahl diejenige,
deren Absichten für die nächsten Jahre seinen eignen Meinungen
und Interessen am meisten entsprechen. Wie gleichgültig dabei die
Person des Abgeordneten ist, den die Partei ganz souverän ernennt,
weiß er genau (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 59-60 ).
Das Wort Stimmvieh paßt auf den Durchschnitt der Abgeordneten
sicherlich besser als auf deren Wähler. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 60 ).
Es ist bezeichnend, daß die Arbeiter sehr oft statt für
den Arbeiterkandidaten für einen Unternehmer gestimmt haben, den
eine der alten Parteien aufgestellt hatte. Das war nach ihrer nüchternen
Beurteilung der Lage eben für den Augenblick vorteilhafter. In Amerika,
wo bereits nicht mehr der echte Engländer hinter dem System steht,
hat sich der Brauch ausgebildet, daß die Parteien den Wählern
ein Programm und den Trusts, die sie bezahlen, ein andres vorlegen, von
denen das eine bestimmt ist, veröffentlicht, und das andre, gehalten
zu werden. Damit ist endlich die entscheidende Frage berührt, in
welcher Form in parlamentarisch regierten Ländern die politische
Arbeit bezahlt wird. Daß davon heute, wo alle Völker mit
oder ohne Wissen und Willen durch eine Interessenpolitik geleitet werden,
nicht der Geist der Verfassungen, sondern der viel wichtigere Geist ihrer
tatsächlichen Anwendung abhängt, das bemerken die naiven Schwärmer
für demokratische Zustände nicht. Sie denken in ihrer Harmlosigkeit
womöglich an die Höhe der Abgeordnetendiäten. Aber die
Frage liegt anders. Die Monarchen der Barockzeit verfügten nach Gutdünken
über die Staatseinnahmen. Die modernen Parteien verwalten sie nur.
Und da ist es lediglich eine Frage der Zweckmäßigkeit, ob die
Vertreter der großen wirtschaftlichen Interessen die Wähler,
die Abgeordneten oder die Parteileitungen selbst sich sichern. Das erste
entspricht den Formen des englischen Parlamentarismus und wurde im 18.
Jahrhundert im großen Stile als Stimmenkauf betrieben. Heute, wo
Tories und Whigs aus vornehmen Klassen mit scharf ausgeprägter Weltanschauung
rein geschäftliche Vertretungen geworden sind, die sich von Fall
zu Fall eigentlich nur noch durch ihre Ansicht über die vorteilhafteste
Form und die moralische Begründung eines Unternehmens unterscheiden,
ist dies Mittel überflüssig geworden: die Interessen haben sich
mit den demokratisierten Parteien vereinigt. Im anarchischen Frankreich,
wo unter dem Namen von Parteien Klubs und persönliche Gruppen von
rasch wechselnder Zahl und Stärke auftreten, ist die Bezahlung der
Abgeordneten in feinerer oder unmittelbarer Form die Regel. Das sozialistische
Abgeordnetenmaterial steht der Plutokratie ebenso zur Verfügung wie
das übrige, und die Laufbahn eines französischen Parlamentariers
wird oft genug in der Gewißheit, eingeschlagen, daß man sich
nach ein paar Jahren ein Schloß kaufen kann. In Deutschland, wo
die Parteien mit ideologischen Programmen sich dem Volke präsentieren,
hat die Börse den Liberalismus und die Schwerindustrie den Nationalliberalismus
in ihren Dienst gestellt. Sie bezahlen die Agitation und teilweise
in der Form der Versorgung mit Geschäftsanzeigen die Presse.
Wenn die Verfassung von Weimar auch nur wenige Jahre in Kraft bleiben
sollte, würden Abgeordnetensitze im Interesse bestimmter Parteien
zu einem festen Preise zu haben sein. Die Ansätze dazu waren schon
bei den ersten Wahlen deutlich vorhanden. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 60-61 ).
Daß Demokratie und allgemeines Stimmrecht
erprobte Methoden des Kapitalismus sind, haben alle Länder bewiesen,
die diese Formen von England übernommen haben. Wenn der liberale
Professor die Verfassung von Weimar als Erfüllung seiner Träume
begrüßt, so begrüßt sie der Geschäftsliberalismus
als die bequemste und vielleicht billigste Methode, die Politik dem Kantor,
den Staat dem Schiebertum zu unterstellen. Dies alles kennzeichnet die
Herrschaft des Wikingergeistes über die abendländische Zivilisation,
die bis jetzt durchaus englische Zivilisation gewesen ist. Die Form, in
welcher der unübertragbare englische Parlamentarismus sich
dem Festlande und schließlich der ganzen Welt aufdrängte, ist
die »Konstitution«, durch welche die Kritik an den bestehenden
Regierungen zu einem organischen Bestandteil der Regierung selbst gemacht
wird. Aber der staatlose Charakter der Regierung, welcher die englische
Gesellschaft aus sich selbst entwickelte, ging hier in den staatsfeindlichen
Charakter aller Verfassungen über, in denen ein fremdes, das englische
Prinzip, enthalten war. Damit wurden überall Parteisurrogate notwendig,
welche den englischen Stil, der die ausführende Gewalt zu einem Bestandteil
der Parteihoheit gemacht hatte, ohne seinen Gehalt nachahmten, und eine
Opposition, die bei fortwährender Reibung zwischen der höchsten
Gewalt und dem Parteiprinzip oder zwischen den Parteien wegen ihrer sehr
verschiedenen Auffassung der Parteihoheit nicht organisch fördernd,
sondern zerstörend wirkte. Mirabeau, der klügste Kopf Frankreichs
in dem Augenblick, wo es den Wikingerideen erlag, wäre bei längerem
Leben sicherlich zum Absolutismus zurückgekehrt, um sein Land vor
dem Pseudoparlamentarismus der souveränen Klubs zu retten. Das Wort
Intrige gibt erschöpfend den Geist wieder, den der anarchische Franzose
an Stelle der planmäßigen Taktik des Engländers in jede
Art von Regierung einführt, um sie seinem Lebensstil anzugleichen.
Infolgedessen ist es immer wieder ein zufälliger Despotismus als
die praktisch brauchbarste Form dieser Anarchie, in welcher die französische
Geschichte von Zeit zu Zeit überraschende, aber flüchtige Höhepunkte
des Erfolges erreicht hat. Das gilt bereits von Mazarin und Richelieu,
das ist seit 1789 das geheime Endziel jedes noch so kleinen politischen
Klubs, das hat endlich seinen klassischen Ausdruck in der Diktatur eines
landfremden Soldaten, Napoleons, gefunden. Etwas ganz Ähnliches hatte
Macchiavelli für den Wirrwarr der Renaissancepolitik von Cesare Borgia
erhofft. Frankreich und Italien allein haben, keine politische Idee hervorgebracht.
Der Staat Ludwigs XIV. ist ein Einzelfall wie das Reich Napoleons, kein
System der Dauer, und die absolute Monarchie des Barock als organische
und entwicklungsfähige Form ist habsburgischen, nicht bourbonischen
Ursprungs. Habsburg ist von Philipp II. bis Metternich für die Regierungsweise
fast aller Höfe und Kabinette vorbildlich gewesen; der Hof des Sonnenkönigs
wirkte nur auf Zeremoniell und Kostüm. Gerade die renaissancemäßige
Erscheinung Napoleons ist beweisend. Nur in Florenz und Paris konnte ein
erfolgreicher Truppenführer eine so untraditionelle Rolle spielen
und einen Staat von so phantastischen und vergänglichen Formen aufrichten.
Es gab hier keine typische Staatsform. Rousseau, der Theoretiker der politischen
Anarchie, hat aus der Tatsache der fest in sich begründeten und politisch
mit voller Instinktsicherheit arbeitenden englischen society den
Begriff seines Gesellschaftsvertrages gezogen, der zuletzt doch die Diktatur
als gelegentliche und zufällige Rettung aus dem Kunterbunt aller
Einzelwillen forderte. In England hätte Napoleon im Falle einer Revolution
Premierminister, in Preußen Feldmarschall, in Spanien beides werden
können, und zwar mit unbeschränkter Vollmacht. Im Kostüm
Karls des Großen ist er nur in Frankreich und Italien denkbar.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 61-63 ).
In Preußen war nun ein wirklicher Staat
in der anspruchsvollsten Bedeutung des Wortes vorhanden. Hier gab es streng
genommen keinen Privatmann. Jeder, der innerhalb des mit der Exaktheit
einer guten Maschine arbeitenden Systems lebte, gehörte ihm irgendwie
als Glied an. Die Geschäftsführung konnte demnach auch nicht
in der Hand von Privatleuten liegen, wie es der Parlamentarismus voraussetzt.
Sie war ein Amt und der verantwortliche Politiker war Beamter, Diener
des Ganzen. In England fielen Politik und Geschäftsinteresse zusammen;
in Frankreich wurde der Schwarm von Berufspolitikern, der sich mit der
Konstitution alsbald einstellte, von den Interessengruppen angeworben.
In Preußen ist der reine Berufspolitiker immer eine anrüchige
Erscheinung gewesen. Wenn also mit dem 19. Jahrhundert eine Demokratisierung
des Staates unerläßlich wurde, so durfte sie nicht in englischen
Formen erfolgen, die dem genau entgegengesetzten System entsprachen. Demokratie
konnte hier nicht private Freiheit bedeuten, die mit geschäftlicher
Ungebundenheit zusammenfiel und notwendig zu einer Privatpolitik führen
mußte, welcher der Staat als Werkzeug diente. Wenn der Ordensgedanke
»Alle für alle« ( )
eine moderne Fassung erhielt, so war es nicht die Bildung von Parteien,
die nach unten auf dem Wege der Wahlen alle paar Jahre einmal dem Volk
das Recht gaben, für den von der Partei ernannten Kandidaten oder
überhaupt nicht zu stimmen, während sie nach oben als Opposition
in die Regierungsarbeit eingriffen, sondern es war das Prinzip, jedem
einzelnen nach Maßgabe seiner praktischen, sittlichen, geistigen
Fähigkeiten ein bestimmtes Maß von Befehl und Gehorsam anzuweisen,
einen ganz persönlichen Grad und Rang von Verantwortung also, der
jederzeit, wie ein Amt, widerruflich war. Dies ist das »Rätesystem«,
wie es vor hundert Jahren der Freiherr von Stein geplant hatte, ein echt
preußischer Gedanke, der auf den Grundsätzen der Auslese, der
Mitverantwortung, der Kollegialität beruhte. Heute ist es, ganz marxistisch,
in den Schmutz des Klassenegoismus gezogen worden, eine bloße Umkehr
des Bildes, das Marx von der Räuberklasse der Kapitalisten englischen
Stils, der Wikinger ohne Staatskontrolle gezeichnet hatte, ein Freihandelssystem
von unten mit der Arbeiterschaft als society und also englisch
durch und durch. Das ist Bentham, nicht Kant. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 63-64 ).
Stein und seine von Kant geschulten Berater dachten an eine Organisation
der Berufsstände. In einem Lande, wo Arbeit die allgemeine Pflicht
und der Inhalt des Lebens sein sollte, unterscheiden sich die Menschen
nach ihrer Leistung, nicht nach ihrem Besitz. Also örtliche berufsständische
Körperschaften nach Maßgabe der Bedeutung dieser Berufe im
Volksganzen; höhere Vertretungen bis hinauf zu einem obersten Staatsrat;
jederzeit widerrufliche Mandate; also keine organisierten Parteien, keine
Berufspolitiker, keine periodischen Wahlen. Diese Gedanken hat Stein zwar
nicht ausgesprochen, er würde sie in dieser Fassung vielleicht bestritten
haben, aber sie lagen als Keim in den Reformen, die er vorschlug, und
sie wären geeignet gewesen, eine planmäßige Demokratisierung
des preußischen Systems durchzuführen, wie sie den eignen,
nicht den englischen und französischen Instinkten entsprach und wie
sie eine Auslese der gerade für dies System begabten Persönlichkeiten
verbürgt hätte. Zu einem Staat gehört ein Staatsrat. Es
ist das Verhältnis der Maschine zum gelernten Ingenieur. Zu einem
Nichtstaat gehört der genau ebenso konstituierte geheime Rat der
Einzelparteien, von denen jede jederzeit in der Lage sein muß, ihren
Apparat als Regierung des Landes arbeiten zu lassen. England besitzt in
der Tat zwei »Arbeiterräte« oder Kronräte
statt eines, und das ist der Sinn des Parlamentarismus. (Die
Wähler haben auf die Zusammensetzung der beiden Räte nicht den
geringsten Einfluß. Sie entscheiden nur, welcher von ihnen regieren
soll.) Das preußische System hätte eines einzigen von
stabiler Zusammensetzung bedurft. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 64-65 ).
Statt dessen ist nun unter dem Eindruck der napoleonischen Ereignisse
die Bewunderung englischer Einrichtungen herrschend geworden. Hardenberg,
Humboldt und die andern waren »Engländer«. Statt Kant
kamen Shaftesbury und Hume zu Worte. Wo eine Neuordnung von innen heraus
notwendig und möglich gewesen wäre, wurde sie von außen
her vollzogen. Die ganze politische Verbitterung des 19. Jahrhunderts,
die grenzenlose Unfruchtbarkeit unsres Parlamentarismus an Männern,
Gedanken und Leistungen, das beständige Ringen zwischen grundsätzlich
feindseliger Opposition und gewaltsamem Durchdrücken rühren
daher, daß eine strenge und menschlich tiefe Ordnung einem Volke
auferlegt wurde, das für eine ganz andre, ebenso strenge und tiefe
Ordnung begabt war. Überall, wo die altpreußische Gestaltungskraft
sich an großen Gegenständen frei erproben konnte, wie in der
Organisation der Syndikate und Kartelle, der Gewerkschaften, in der Sozialpolitik,
hat sie gezeigt, was sie zu leisten imstande war. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 65 ).
In England waren die beiden Parteien absolute Leiter der Politik
gewesen. Hier aber war ein Staat vorhanden, und die Parteien, die
nun der parlamentarischen Methode wegen gegründet wurden, während
sich in England die Methode aus der tatsächlichen Konstitution des
handeltreibenden Volkes herausgebildet hatte, traten ihm lediglich kritisch
gegenüber. Es ergab sich von vornherein ein Mißverhältnis
zwischen dem System, das man einführen wollte, und dem, welches vorhanden
war, zwischen Absicht und Wirkung der Methode, zwischen dem Begriff und
dem Wesen der Parteien. Die englische Opposition ist ein notwendiger Bestandteil
der Regierung; sie arbeitet ergänzend mit. Unsre Opposition ist wirkliche
Verneinung nicht nur der Gegenparteien, sondern der Regierung selbst.
Das ist mit der Beseitigung der Monarchie durchaus nicht anders geworde
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 66 ).
Es ist bezeichnend und verrät die Stärke des nationalen
Instinkts, daß die beiden Parteien, welche man als spezifisch preußische
bezeichnen darf, die konservative und die sozialistische, eine illiberale
und antiparlamentarische Tendenz nie verloren haben. Sie sind beide
in einem höheren Sinne sozialistisch und entsprechen damit durchaus
den beiden kapitalistischen Parteien Englands. Sie erkennen eine
private und parteigeschäftliche Leitung der Regierung nicht an, sondern
weisen dem Ganzen die unbedingte Autorität zu, die Lebensführung
des einzelnen im allgemeinen Interesse zu regeln. Es ist bezeichnend und
verrät die Stärke des nationalen Instinkts, daß die beiden
Parteien, welche man als spezifisch preußische bezeichnen darf,
die konservative und die sozialistische, eine illiberale und antiparlamentarische
Tendenz nie verloren haben. Sie sind beide in einem höheren Sinne
sozialistisch und entsprechen damit durchaus den beiden kapitalistischen
Parteien Englands. Sie erkennen eine private und parteigeschäftliche
Leitung der Regierung nicht an, sondern weisen dem Ganzen die unbedingte
Autorität zu, die Lebensführung des einzelnen im allgemeinen
Interesse zu regeln. Daß dabei die einen vom monarchischen Staat,
die andern vom arbeitenden Volk sprechen, ist ein Unterschied in Worten
angesichts der Tatsache, daß hier jeder arbeitet und daß
der Einzelwille jedesmal dem Gesamtwillen unterworfen ist. Diese
beiden Parteien waren, unter dem Druck des englischen Systems, Staaten
im Staate; sie waren ihrer Überzeugung nach der Staat und erkannten
deshalb die Existenzberechtigung andrer Parteien als der eignen überhaupt
nicht an. Schon das schließt parlamentarisches Regieren aus. Sie
verleugneten den soldatischen Geist nicht; sie organisierten geschlossene,
gut disziplinierte Wählerbataillone, in denen die Konservativen bessere
Offiziere, die Sozialisten bessere Mannschaften waren. Sie waren auf Befehl
und Gehorsam aufgebaut und faßten ihren Staat, den Hohenzollernstaat
und den Zukunftsstaat ebenso auf. Freiheit war in dem einen sowenig wie
indem andern »englische« Freiheit. Eine tiefe Verachtung des
englisch-parlamentarischen Wesens, der Rangbestimmung durch Reichtum und
Armut, durchzieht ihre nichts weniger als parlamentarische Wirksamkeit.
Sie haben beide das preußische Wahlrecht mit seiner erbitternden
Abstufung nach reich und arm verachtet, die Konservativen, indem sie es
als Mittel gerade für gut genug hielten; aber sie verachteten im
Grunde jedes Wahlsystem nach englischem Muster, weil sie wußten,
daß es mit Notwendigkeit zu einer Plutokratie führt. Wer solche
Systeme bezahlen kann, erntet ihre Früchte. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 66-67 ).
Der Sozialismus hat in der deutschen Revolution seine schwerste
Niederlage erlitten, der Gegner hat ihn dahin gebracht, seine Waffe gegen
sich selbst zu kehren. (Oswald Spengler, Preußentum und
Sozialismus, 1919, S. 69 ).
Trotz alledem stehen die beiden großen Weltgedanken sich
weiterhin gegenüber: Diktatur des Geldes oder der Organisation, die
Welt als Beute oder als Staat, Reichtum oder Autorität, Erfolg oder
Beruf. Die beiden sozialistischen Parteien Deutschlands müssen
sich zusammenfinden gegen den Feind der gemeinsamen Idee, gegen das innere
England, den kapitalistisch-parlamentarischen Liberalismus. Eine sozialistische
Monarchie (Lassalle war es, der 1862 in seiner Schrift
»Was nun?« die Verbindung des preußischen Königtums
mit der Arbeiterschaft zum Kampfe gegen den Liberalismus und die englische
»Nachtwächtertheorie« des schwachen Staates verlangt
hat) denn der autoritative Sozialismus ist monarchisch;
die verantwortungsreichste Stelle in dem ungeheuren Organismus, der Platz
des ersten Dieners dieses Staates nach dem Worte Friedrichs des
Großen darf dem privaten Strebertum nicht ausgeliefert werden
eine Einheit, in der jeder nach seinem sozialistischen Range, seinem
Talent zur freiwilligen Disziplin aus innerer Überlegenheit, seinem
organisatorischen Können, seiner Arbeitskraft, Gewissenhaftigkeit
und Energie, seinem intelligenten Gemeingefühl den ihm zukommenden
Platz erhält; die allgemeine Arbeitspflicht und daraufhin eine berufsständische
Gliederung, die zugleich Verwaltung ist und einen obersten Verwaltungsrat
statt des Parlaments besitzt wo alle arbeiten, Offiziere, Beamte,
Bauern, Bergleute, möge man ihn Arbeiterrat nennen das ist
ein Gedanke, der in der faustischen Menschenwelt langsam gereift ist und
sich seinem Menschentypus längst gezüchtet hat. (Oswald
Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 69-70 ).
Parlamentarismus ... hat seine beste Zeit vor Bismarck gehabt.
Es war eine alte, reife, vornehme, unendlich verfeinerte Form, die den
ganzen Takt ... von guter Herkunft erforderte, um in Vollendung beherrscht
zu werden. Die Voraussetzung war eine selbstverständliche Übereinstimmung
in so vielen Fragen, daß Differenzen die Höflichkeit nicht
in Gefahr brachten. Der parlamentarische Kampf hatte etwas von den guten
Formen eines Duells unter Aristokraten an sich. Es ist wie mit der alten
Musik von Bach bis Beethoven: sie beruhte auf einer vollkommenen musikalischen
Kultur bis in die Fingerspitzen. Sobald die Strenge dieser Kultur nachließ,
wurde die Musik barbarisch. Niemand kann heute mehr eine Fuge alten Stils
mit der alten Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit der Beherrschung
aller Regeln in einem Zuge hinschreiben. Und so ist es mit dem fugierten
Stil der parlamentarischen Taktik. Gröbere Menschen, gröbere
Fragen - und alles ist zu Ende. Aus dem Duell wird eine Schlägerei.
Mit den Menschen alter Zucht gehen auch die Institutionen, die gefühlten
Formen, der Takt zu Ende. Der neue Parlamentarismus wird den Kampf ums
Dasein in sehr wenig gezügelten Formen und mit sehr viel schlechterem
Erfolge darstellen. Das Verhältnis der Parteihäupter zur Partei,
der Partei zu den Massen wird roher, durchsichtiger, ungeschminkter sein.
Das ist der Anfang des Cäsarismus ( ).
In den englischen Wahlen von 1918 ist er bereits angedeutet. Wir werden
ihm ebensowenig entgehen. Er ist unser Schicksal so gut wie das römische,
das chinesische, das aller reifgewordnen Zivilisationen. Aber Milliardäre
oder Generale, Bankiers oder Beamte von größtem Format - das
ist die ewige Frage. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 70-71 ).
Marx (S. 71-86):
Dieser gewaltige Endkampf der beiden
germanischen Ideen wird nun von einem ganz anderen Faktor durchkreuzt: der Arbeiterfrage.
... Das Problem des »vierten Standes« taucht in jeder Kultur bei ihrem
Übergang zur Zivilisisation auf. .... Aber eine Lösung der Arbeiterfrage
für den Arbeiter allein und durch ihn allein gibt es nicht. Der vierte Stand
an sich ist eine bloße Tatsache, keine Idee. Einer Tatsache gegenüber
gibt es nur materielle Kompromisse, nicht als Wirkung und Verwirklichung irgendwelcher
Ideale, sondern als strategische Resultate eines langen Ringens um den Vorteil
auf Kosten andrer, das endlich zu einer Art Stillstand führt, in dem man
die Lage, wie sie sich nach allen Zufälligkeiten des Kampfes endlich eingestellt
hat, resigniert hinnimmt, um in ihr ein kleines Glück der Gewöhnung
zu finden, ein Cinesenglück, das Glück der römischen Kaiserzeit:
panem et circenses. Heute ist das schwer begreiflich, weil wir auf dem Höhepunkt
der großstädtischen Massenerregung stehen und der nahe Beobachter infolge
des Lärms der Schlagworte die einseitigen Aussichten des Klassenegoismus
überschätzt, aber in ein, zwei Jahrhunderten wird alles vorüber
sein, wenn nicht die Arbeiterbewegung in den Dienst einer allgemeinen Idee tritt.
Was war von den Leidenschaften der Gracchenzeit unter Augustus noch übrig
? Das Problem war nicht gelöst worden; es war zerfallen. (Oswald
Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 71-73 ).
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1. Stand |
2. Stand |
3. Stand |
4. Stand |
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Urstände |
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Adel |
Geistlichkeit |
Bürgertum |
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Oberschicht |
Mittelschicht |
Unterschicht |
Englisch: |
Oberklasse |
Mittelklasse |
Unterklasse |
Marxistisch: |
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Bourgeoisie |
Proletariat |
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Hier setzt nun Marx ein. Er hat durch eine glänzende, mehr
verblüffende als richtige Konstruktion versucht, die Tatsache zum
Rang einer Idee zu erheben. Über den mächtigen Gegensatz von
Wikingertum und Ordensgeist spannt er eine dünne, aber festgefügte
Theorie und schafft damit ein volkstümliches Bild der Geschichte,
das in der Tat die Anschauungen der Gegenwart in weitgehendem Maße
beherrscht. Er stammte aus der preußischen Atmosphäre und siedelte
sich in der englischen an, der Seele beider Völker aber ist er gleichmäßig
fremd geblieben. Als Mensch des naturwissenschaftlichen 19. Jahrhunderts
war er ein guter Materialist und ein schlechter Psychologe. Und so hat
er schließlich nicht die großen Realitäten mit dem Gehalt
einer Idee erfüllt, sondern die Ideen zu Begriffen, zu Interessen
herabgedrückt. Statt des englischen Blutes, das er nicht in sich
fühlte, erblickte er nur englische Dinge und Begriffe, und von Hegel,
der ein gutes Stück preußischen Staatsdenkens repräsentierte,
war ihm nur die Methode zugänglich gewesen. Und so übertrug
er durch eine wahrhaft groteske Kombination den Instinktgegensatz der
beiden germanischen Rassen auf den materiellen Gegensatz zweier Schichten.
Er schrieb dem »Proletariat«, dem »vierten Stande«,
den preußischen Gedanken des Sozialismus, und der »Bourgeoisie«,
dem dritten Stande, den englischen des Kapitalismus zu. Aus diesem
System erst ergab sich die feste Bedeutung der vier Begriffe, wie sie
heute jedermann geläufig ist. Durch diese in ihrer Einfachheit unwiderstehlichen
Schlagworte ist es ihm gelungen, die Arbeiterschaft fast aller Länder
zu einer Klasse mit ausgeprägtem Klassenbewußtsein zu konsolidieren.
In seiner Sprache redet, in seinen Begriffen denkt heute der vierte Stand.
Proletariat war nicht mehr ein Name, sondern eine Aufgabe. Die Zukunft
wurde von nun an durch ein Stück Literatur betrachtet. In der Oberflächlichkeit
des Systems liegt seine Stärke. Obwohl es nach wie vor einen spanisch-kirchlichen,
einen englisch-kapitalistischen und einen preußisch-autoritativen
Sozialismus, und proletarische Bewegungen von anarchischem, kapitalistischem
und echt sozialistischem Charakter gibt, so weiß man es doch nicht.
Der Glaube an die Einheit des Ziels ist stärker als die Wirklichkeit
und er haftet wie immer im Abendland an einem Buche, an dessen absoluter
Wahrheit zu zweifeln ein Verbrechen ist. Das gedruckte Wort erst verbürgt
dem faustischen Geiste die Wirkung in alle Fernen von Raum und Zeit. In
der englischen Revolution war es die Bibel, in der französischen
Rousseaus Contrat social, in der deutschen das kommunistische Manifest.
Aus der Umdeutung des Gegensatzes von Rassen in den von Klassen und alter
germanischer Instinkte in sehr junge Bedürfnisse großstädtischer
Bevölkerungen ergibt sich nun der entscheidende Begriff des Klassenkampfes.
Die horizontale Richtung der historischen Kräfte wird zur vertikalen:
das ist der Sinn der materialistischen Geschichtsauffassung. Das naturwissenschaftliche
Denken dieser Zeit fordert den Gegensatz von Kraft und Stoff: die Stoffe
politischer Kräfte heißen Völker, die Stoffe wirtschaftlicher
Kräfte heißen Klassen. Der Marxismus vertauscht den Rang der
beiden Kräfte und damit auch den der beiden Stoffe. Damit erhält
das Wort Klasse aber eine durchaus neue Bedeutung. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 73-74 ).
Mit der ganzen psychologischen Verständnislosigkeit eines
naturwissenschaftlich geschulten Kopfes von 1850 weiß Marx mit dem
Unterschied von Stand und Klasse nichts anzufangen. Ein Stand ist ein
ethischer Begriff, Ausdruck einer Idee. Die Privilegierten von
1789 standen dem Bürgertum als Stand gegenüber, der ein Formideal,
die grandeur, die courtoisie, die innere und äußere
Vornehmheit verkörperte, gleichviel was der Verfall davon übriggelassen
hatte. Das Bürgertum bestritt die ethische Überlegenheit der
alten vornehmen Sitte, und erst daraus folgte die Ablehnung der sozialen
Vorrechte. Der englisch geschulte Verstand der Pariser setzte ihr ein
andres Ideal entgegen und der französische Instinkt schuf daraus
das Prinzip der Gleichheit im ethischen Sinne. Das war die neue
Bedeutung des Ausdrucks »menschliche Gesellschaft«, nämlich
Gleichheit und allgemeine Verbindlichkeit des sittlichen Ideals,
das auf Vernunft und Natur und nicht auf Blut und Tradition beruhte.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 74-75 ).
Klasse ist demgegenüber aber ein
rein wirtschaftlicher Begriff und von ihm aus wird der ethisch-politische
Begriff des Bürgertums von 1789 in den wirtschaftlichen von
1850 umgekehrt. Das Standesideal ist zum Klasseninteresse geworden. Nur
in England waren die Klassen schon längst nach dem Reichtum abgestuft.
Die Mittelklasse umfaßte die, welche von ihrer Arbeit lebten, ohne
arm zu sein. Die Oberklasse war reich, ohne zu arbeiten. Die Unterklasse
arbeitete und war arm. In Preußen aber war es die Stellung, ein
Mehr oder Weniger von Befehl und Gehorsam, das die Klassen schied. Hier
gab es neben dem Bauernstand eine Beamtenklasse, also überhaupt keine
wirtschaftliche, sondern eine Einheit der Funktion. Zum Wesen des modernen
Frankreich dagegen gehört das Nichtvorhandensein wirklicher Klassen.
Die Nation ist eine ungeordnete Masse, aus der sich Reiche und Arme abheben,
aber ohne eine Klasse zu bilden. Die ganze Nation ist eine Klasse, nicht
von der Strenge germanischer Schichtungen, aber doch eine einzige.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 75 ).
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1. Stand |
2. Stand |
3. Stand |
4. Stand |
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Urstände |
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Adel |
Geistlichkeit |
Bürgertum |
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Oberschicht |
Mittelschicht |
Unterschicht |
Englisch: |
Oberklasse |
Mittelklasse |
Unterklasse |
Marxistisch: |
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Bourgeoisie |
Proletariat |
|
Marx denkt also rein englisch. Sein Zweiklassensystem
ist aus der Lage eines Händlervolkes gezogen, das seine Landwirtschaft
eben dem Handel aufopferte und das nie eine staatliche Beamtenschaft mit
ausgeprägtem - preußischen - Standesbewußtsein besessen
hatte. Es gibt hier nur noch »Bourgeois« und »Proletarier«,
Subjekte und Objekte des Geschäfts, Räuber und Beraubte,
ganz wikingermäßig. Auf den Bereich des preußischen Staatsgedankens
angewendet, sind diese Begriffe Unsinn. Marx wäre nicht fähig
gewesen, den aus dem Prinzip »Alle für alle« ( )
folgenden Gedanken, daß jeder einzelne ohne Unterschied der Stellung
Diener des Ganzen, des Staates ist, von der Tatsache der englischen Industriesklaverei
zu unterscheiden. Er nahm das bloße Außenbild des Preußentums:
Organisation, Disziplin, Gemeinsamkeit, etwas, das von einer Einzelklasse
ganz unabhängig ist, eine technische Form, den Sozialismus, um ihn
als Ziel und Waffe der Arbeiterschaft in einer englisch geordneten society
zu überreichen, damit sie, wiederum ganz wikingermäßig,
die Rollen der Räuber und Beraubten umtauschen könne - Expropriation
der Expropriateure - noch dazu mit einem sehr egoistischen Programm der
Beuteteilung nach dem Siege. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 75-76 ).
Eine Verlegenheit ist immer noch die genaue Definition der beiden
Klassen. Bürgertum bedeutet innerhalb des marxistischen Gedankenkreises
etwas ganz andres als in dem Rousseaus. Es ist ein großer Unterschied,
ob man es im Gegensatz zu den Privilegierten der Feudalzeit oder vom Standpunkt
der städtischen Arbeitermassen aus gebraucht. Zu den drei Ständen
von 1789 gibt es dem Sinne nach keinen vierten mehr, zu dem vierten von
heute keinen ersten und zweiten. Sieyès hatte die Geistlichkeit
auf 80000, den Adel auf 120000, den dritten Stand auf 25 Millionen Köpfe
berechnet. Demnach sei der letzte das Volk. Bourgeoisie bedeutet »alle«.
Auch der französische Bauer ist Bourgeois. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 76 ).
Der vierte Stand aber ist eine Minderheit und nicht einmal scharf
abtrennbar, denn je nach der Bezeichnung Handarbeiter, Industriearbeiter,
Proletarier, Masse liegen die Grenzen anders. Er wird manchmal
so definiert und noch öfters so empfunden, daß er sich von
Bourgeoisie recht wenig unterscheidet es sind wieder »alle«
mit Ausnahme der Unternehmer. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 76 ).
Der dritte Stand war ganz eigentlich eine Negation. Er will sagen,
daß es keine Stände mehr geben soll. Der vierte Stand aber
hebt diese Gleichheit wieder auf. Er stellt eine einzelne Berufsklasse
als maßgebend in das soziale Leben; er greift über 1789 zurück
und präsentiert sich wieder als ein privilegierter Stand. Das liegt
in dem Begriff Diktatur des Proletariats,[76] Herrschaft einer Klasse,
die ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit durchaus nicht gewiß
ist. Damit ist das Klassenziel in eine Karikatur des alten Standesideals
zurückverwandelt. Es ist nur Literatur, nicht Blut und Erziehung,
was aus diesen Konstruktionen spricht, aber die Lächerlichkeiten
der deutschen Revolution, die Arbeiterräte als neues Oberhaus, die
Erhebung des Arbeiters zum englischen Gentleman durch den Streik bei fortlaufender
Lohnzahlung haben, wie zur Zeit Cromwells und Robespierres, gezeigt, daß
aus Literatur vorübergehend groteske Wirklichkeit werden kann.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 76-77 ).
Aber auch die Moral
von Marx ist englischen Ursprungs. Der Marxismus verrät in jedem
Satze, daß er aus einer theologischen und nicht aus einer politischen
Denkweise stammt. ( ).
Seine ökonomische Theorie ist erst die Folge eines ethischen Grundgefühls
und die materialistische Geschichtsauffassung bildet nur das Schlußkapitel
einer Philosophie, deren Wurzeln bis zur englischen Revolution mit ihrer
seitdem für das englische Denken verbindlich gebliebenen Bibelstimmung
zurückreichen. So kommt es, daß seine Grundbegriffe als moralische
Gegensätze gefühlt sind. Die Worte Sozialismus und Kapitalismus
bezeichnen das Gute und Böse dieser irreligiösen Religion. Der
Bourgeois ist der Teufel, der Lohnarbeiter der Engel einer neuen Mythologie,
und man braucht sich nur ein wenig in das vulgäre Pathos des kommunistischen
Manifests zu vertiefen, um das independentische Christentum hinter der
Maske zu erkennen. Die soziale Evolution ist der »Wille Gottes«.
Das »Endziel« hieß früher die ewige Seligkeit,
der »Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft« das
jüngste Gericht. Damit lehrt Marx die Verachtung der Arbeit. Vielleicht
hat er das nicht einmal gefühlt. Arbeit, harte, lange, ermüdende
Arbeit ist ein Unglück, müheloser Erwerb ist ein Glück.
Hinter der echt englischen Geringschätzung des Mannes, der nur seine
Hände hat, um leben zu können, steht der Instinkt des Wikingers,
dessen Beruf es ist, Beute zu machen und nicht - seine Segel zu flicken.
Deshalb ist in England der Handarbeiter mehr Sklave als irgendwo. Er ist
es moralisch; er fühlt, daß sein Erwerb ihn vom Namen
eines Gentleman ausschließt. In den Begriffen Bourgeoisie und Proletariat
stehen die rein englischen Wertungen von Händlergewinn und Handarbeit
(*) sich gegenüber. (*
Und nicht von Handarbeit und Kopfarbeit. Wie zu Tories und Whigs, hat
der »Kopfarbeiter« auch zu diesen Wirtschaftsparteien Stellung
zu nehmen, und im damaligen England optierte er als Gentleman
für das Händlertum.) Das eine ist Glück, das andre
Unglück, das eine vornehm, das andre gemein. Der Haß des Unglücklichen
aber sagt: das erste ist der Beruf des Bösen, das zweite der des
Guten. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919,
S. 77-78 ).
Und so erklärt sich die Geistesverfassung von Marx, aus der
seine Gesellschaftskritik hervorgegangen ist und die ihn für den
echten Sozialismus so verhängnisvoll gemacht hat. Er kannte das Wesen
der Arbeit nur in englischer Auffassung, als das Mittel reich zu werden,
als ein Mittel ohne sittliche Tiefe, denn nur der Erfolg, das Geld, die
sichtbar gewordene Gnade Gottes war von ethischer Bedeutung. Dem Engländer
fehlt der Sinn für die Würde der strengen Arbeit. Sie
entadelt, sie ist eine häßliche Notwendigkeit wehe dem,
der nichts hat als sie, der nichts besitzt ohne immer neue Arbeit und
vor allem, der nie etwas besitzen wird. Hätte Marx den Sinn der preußischen
Arbeit verstanden, der Tätigkeit um ihrer selbst willen, als Dienst
im Namen der Gesamtheit, für »alle« und nicht für
sich, als Pflicht, die adelt ohne Rücksicht auf die Art der Arbeit,
so wäre sein Manifest vermutlich nie geschrieben worden. Aber hier
unterstützt ihn sein jüdischer Instinkt, den er selbst in seiner
Schrift über die Judenfrage gekennzeichnet hat. Der Fluch der körperlichen
Arbeit am Anfang der Genesis, das Verbot, den Sonntag durch Arbeit zu
schänden, das machte ihm das alttestamentliche Pathos des englischen
Empfindens zugänglich. Und deshalb sein Haß gegen die, welche
nicht zu arbeiten brauchen. Der Sozialismus Fichtes würde sie als
Faulenzer verachten, als Überflüssige. Pflichtvergessene, Schmarotzer
des Lebens, der Instinkt von Marx aber beneidet sie. Sie haben es gut,
und deshalb soll man sich gegen sie auflehnen. Er hat dem Proletariat
die Mißachtung der Arbeit eingeimpft. Seine fanatischen Jünger
wollen die Vernichtuzng der ganzen Kultur, um die Menge der unentbehrlichen
Arbeit möglichst herabzusetzen. Luther hat die schlichteste Werktätigkeit
als gottgefällig gerühmt, Goethe die »Forderung des Tages«;
vor den Augen von Marx aber schwebt das Ideal des proletarischen Phäaken,
der alles mühelos besitzt - das ist der Endsinn jener Expropriation
der Glückseligen. Und er hat recht dem englsicehn Instinkt gegenüber.
Was der Engländer Glück nennt, der geschäfliche Erfolg,
der körperliche Arbeit erspart, der den Menschen damit zum Gentleman
macht, sollte allen Engländern zukommen. Für uns ist
das gemein, der Geschmack von Mob und Snob. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 78-79 ).
Diese Ethik beherrscht seine ökonomischen Vorstellungen.
Sein Denken ist durchaus manchesterlich; es gleicht vollkommen dem Cobdens,
der gerade damals die Freihandelslehre der Whigs zum Siege führte.
Marx bekämpft den Kapitalismus, der seine Rechtfertigung aus Bentham
und Shaftesbury holt und sie von Adam Smith formulieren läßt;
da er aber nur Kritiker ist, verneinend und unschöpferisch, so empfängt
er sein Prinzip von eben der Sache, die er verneint. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 79 ).
Arbeit ist ihm eine Ware, keine »Pflicht«:
das ist der Kern seiner Nationalökonomie. Seine Moral wird zur Geschäftsmoral.
Nicht daß das Geschäft unsittlich ist, sondern daß der
Arbeiter ein Narr war, es nicht zu machen, liest man zwischen den Zeilen.
Und der Arbeiter hat es verstanden. der Lohkampf wird Spekulation, der
Arbeiter wird Händler mit seiner Ware »Arbeit«. Das Geheimnis
der berühmten Phrase vom Mehrwert ist es, daß man ihn als Beute
empfindet, die der Händler der Gegenpartei davonträgt. Man gönnt
sie ihm nicht. Der Klasseneogoismus ist zum Prinzip erhoben. Der Handarbeiter
will nicht nur handeln, sondern er will den Markt beherrschen.
Der echte Marxist ist dem Staat aus genau demselben Grunde feindlich gesinnt
wie der Whig: er hindert ihn in der rücksichtslosen Verfechtung seiner
privaten Geschäftsinteressen. Marxismus ist der Kapitalismus der
Arbeiterschaft. Man denke an Darwin, der Marx geistig ebenso nahe steht
wie Malthus und Cobden. Der Handel ist stets als Kampf ums Dasein gedacht.
In der Industrie handelt der Unternehmer mit der Ware »Geld«,
der Handarbeiter mit der Ware »Arbeit«. Marx möchte dem
Kapital das Recht auf Privatinteressen entziehen, aber er weiß es
nur durch das Recht der Arbeiter auf Privatinteressen zu ersetzen. Das
ist unsozialistisch, aber echt englisch. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 79-80 ).
Denn Marx ist auch
darin Engländer geworden: In seinem Denken kommt der Staat nicht
vor. Er denkt im Bilde der society, staatlos. Es gibt wie im
politisch-parlamentarischen Dasein Englands, so im wirtschaftlichen Leben
seiner Welt nur ein System zweier souveräner Parteien, nichts was
über den Parteien steht. Es ist also nur Kampf, kein Schiedsgericht,
nur Sieg oder Niederlage, nur die Diktatur einer der beiden Parteien denkbar.
Die Diktatur der kapitalistischen, der bösen Partei, will das Manifest
durch die der proletarischen, der guten, ersetzen. Andre Möglichkeiten
sieht Marx nicht. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 80 ).
Aber der preußisch-sozialistische Staat steht jenseits von
diesem gut und böse. Er ist das ganze Volk, und seiner unbedingten
Souveränität gegenüber sind beide Parteien nur Parteien,
Minderheiten, die beide der Allgemeinheit dienen. Sozialismus ist, rein
technisch gesprochen, das Beamtenprinzip. Jeder Arbeiter erhält letzten
Endes den Charakter eines Beamten statt eines Händlers, jeder Unternehmer
ebenso. Es gibt Industriebeamte und Handelsbeamte so gut wie militärische
und Verkehrsbeamte. Das ist im größten Stile in der ägyptischen
Kultur und wieder ganz anders in der chinesischen durchgeführt worden.
Es ist die innere Form der politischen Zivilisation des Abendlandes
und schon in den gotischen Städten mit ihren Zünften und Gilden,
schon im System gotischer Dome symbolisch ausgedrückt, wo jedes kleine
Glied notwendiger Teil eines dynamischen Ganzen ist. Das hat Marx nicht
verstanden. Sein Horizont und seine geistige Gestaltungskraft reichten
nur so weit, um eine private Händlergesellschaft in eine private
Arbeitergesellschaft umzustülpen. Als Kritiker von erstem
Range, ist er als Schöpfer ohnmächtig. Sein beständiges
Ausweichen vor der Frage, wie er sich denn die Regierungsform dieses riesenhaften
Weltmechanismus denke, sein dilettantisches Lob des aus den besonderen
Verhältnissen einer belagerten Großstadt entstandenen und auch
so nicht lebensfähigen »Rätesystems« der Pariser
Kommune von 1871 beweisen es. Das Schöpferische lernt man nicht.
Man hat es oder hat es nicht. Die gesamte Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts
hat nur einen Schöpfer großen Stils hervorgebracht, einen Politiker,
der nicht zu schreiben, sondern zu regieren wußte: Bebel, sicher
nicht die erste Intelligenz seiner Partei, aber ihr erster und einziger
Organisator. Für einen Herrscher kommen ganz andre Talente in Betracht
als Intelligenz im Literatensinne. Napoleon duldete keine »Bücherschreiber«
um sich.. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 80-81 ).
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1. Stand |
2. Stand |
3. Stand |
4. Stand |
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Urstände |
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Adel |
Geistlichkeit |
Bürgertum |
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Oberschicht |
Mittelschicht |
Unterschicht |
Englisch: |
Oberklasse |
Mittelklasse |
Unterklasse |
Marxistisch: |
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Bourgeoisie |
Proletariat |
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Aus dem wirtschaftlichen Darwinismus des Engländers und dem
Zweiklassensystem von Marx ergibt sich nun die natürliche Waffe im
Kampf zwischen Händlertum und handelnder Arbeiterschaft: der Streik.
Durch den Streik wird dem Käufer die Ware »Arbeit« verweigert.
Durch den Streik der Gegnpartei, die Aussperrung, wird dem Käufer
die Ware wird dem »Geld« verweigert. Eine Reservearmee von
Arbeitern sichert den Käufern von Arbeit ihren Absatz. der Streik
ist das unsozialistische Kennzeichen des Marxismus, das klassische
Merkmal seiner Herkunft aus einer Händlerphilosophie, der Marx aus
Instinkt und Gewöhnung angehörte. Im Staate ist dagegen
Arbeit keine Ware, sondern eine Pflicht der Allgemeinheit gegenüber,
und es gibt - das ist preußische Demokratisierung - keinen
Unterschied in der sittlichen Würde der Arbeit: der Richter und Gelehrte
»arbeiten« so gut wie der Bergmann und Eisendreher. Es war
deswegen englisch gedacht, daß in der deutschen Revolution der Handarbeiter
das übrige Volk ausbeutete, indem er für möglichst wenig
Arbeit möglichst viel Geld erpreßte und seine »Ware«
an Bedeutung über jede andre erheben wollte. Im Kampfmittel des Streiks
liegt die Voraussetzung, daß es kein Volk als Staat, sondern nur
Parteien gibt. Marxistisch, also englisch ist der Gedanke des freien Lohnkampfes
und nach dem Siege der proletarischen Partei die einseitig souveräne
Festsetzung der Löhne. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 81-82 ).
Der preußische Gedanke ist die unparteiische staatliche
Festsetzung des Lohnes für jede Art von Arbeit, nach Maßgabe
der wirtschaftlichen Gesamtlage planmäßig abgestuft, im Interesse
des Gesamtvolkes und nicht einer einzelnen Berufsklasse. Das ist das Prinzip
der Beamtengehaltsordnung, auf alle Arbeitenden angewandt. Es schließt
das Verbot des Streiks als eines antistaatlichen und händlerischen
Privatmittels ein. Die Festsetzung der Löhne muß Arbeitgebern
und Arbeitern entzogen und einem allgemeinen Wirtschaftsrat übertragen
werden, so daß beide mit einer festen Größe zu rechnen
haben, wie das bei andern Größen der Betriebsführung und
Lebenshaltung längst der Fall ist. (Dabei wäre
an ein System zu denken, wonach jeder Arbeitende, der Offizier und Verwaltungsbeamte
so gut wie der »Handarbeiter«, ein Konto bei einer Art Staats-
und Sparbank hat, welcher die Einheitsbeträge von den zur
Zahlung Verpflichteten im Ganzen zu überweisen, sind. Dem einzelnen
wird dann nach einem bestimmten Verteilungsmodus ein nach Dienstalter
und Zahl der Familienglieder abgestufter Betrag gutgeschrieben.)
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 82 ).
Der Marxismus ist gegenüber den angebornen Formen
des preußisch-sozialistischen Menschen sinnlos. Er kann sie verneinen
und abschwächen, aber sie werden sich endlich wie alles Lebendige
und Natürliche dem Theoretischen gegenüber als stärker
erweisen. Im Bereich des englischen Wesens aber ist er zu Hause; hier
wird er besser verstanden als der echte Sozialismus und hier ist mit der
ernsthaften Eröffnung des Zweikampfes der wirtschaftlichen
Parteien der Parlamentarismus alten Stils zu Ende. Die beiden von der
Oberklasse gebildeten Parteien des Reichtums waren politisch konstituiert
und in wirtschaftlichen Fragen im letzten Grunde einig. Selbst der Kampf
um das Freihandelssystem, in welchem um 1850, der letzten Zeit des klassischen
Parlamentarismus, die Whigs siegten, wurde in vollendeten Formen ausgetragen.
Tories und Whigs unterschieden sich nur, indem sie Krieg und Unterwerfung
oder kaufmännische Durchdringung, den Mut oder die List des Piraten
vorzogen.. Jetzt aber bildet ein wirtschaftlicher Gegensatz zwei neue
Parteien des Geldes und der Arbeit und dieser Kampf läßt
sich nicht mehr mit parlamentarischen Mitteln führen. Hier ist nicht
mehr die Form, sondern die Sache bestritten, und da gibt es, wenn man
sich nicht einem fremden Prinzip, dem des Staates als einer parteilosen
Autorität unterwerfen will, nur die endgültige Unterdrückung
der einen Wirtschaftspartei durch die andre. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 82-83 ).
Marx hat nun das ohnehin stark schematische
und von einem sehr fragwürdigen Blickpunkt aus aufgenommene Bild
des industriellen England durch einfache Verlängerung der Perspektive
über die gesamte Geschichte ausgedehnt. Er behauptet die Gültigkeit
seiner wirtschaftlichen Konstruktionen für die ganze »menschliche
Gesellschaft«, und zwar mit dem Zusatz, daß sie das einzig
Wesenhafte im Lauf der Geschichte seien. Er gleicht darin Darwin, der
ebenfalls von Malthus ausging und sein System für »alle Organismen«
als gültig behauptete ( ),
während es in der Tat nur auf die menschenähnlicheren Tiere
paßt und absurd wird, wenn man Einzelheiten wie Zuchtwahl, Mimikry
und Vererbung auf Spaltpilze und Korallentiere ernstlich anwendet.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 83 ).
Die
materialistische Geschichtsauffassung, welche die ökonomische Lage als Ursache
(in der physikalischen Bedeutung des Wortes), und Religion, Recht, Sitte, Kunst,
Wissenschaft als Wirkungen ansetzt, hat in diesem späten Stadium ohne Zweifel
etwas Überzeugendes, weil sie sich an das Denken irreligiöser und traditionsloser
Großstadtmenschen wendet: Nicht etwa, daß die wirtschaftliche Situation
wirklich »Ursache«, sondern daß Kunst und Religion kraftlos,
leer, äußerlich geworden sind und nun in der Tat als Schatten der einzigen
kräftig entwickelten Ausdrucksform der Zeit wirken. Gerade das aber ist vor
allem englisch: die Religion als »cant«, die Kunst als »comfort«
der Oberklasse und als Almosen der Unterklasse (»die Kunst dem Volke«)
sind mit dem englischen Lebensstil in die andern Länder gedrungen.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 83-84 ).
Aber Hegel steht über, sein Schüler Marx unter der Ebene
historischer Tatsächlichkeit. Wenn man Hegels Metaphysik beseitigt,
so erscheint ein Staatsdenker von so starkem Wirklichkeitssinn, wie die
neuere Philosophie keinen zweiten aufweist. Er stellt als »Preuße«
aus geistiger Wahlverwandtschaft den Staat mit derselben Sicherheit in
den Mittelpunkt seiner sehr tief, beinahe goethisch gefaßten
Entwicklung, wie Marx als Wahlengländer die Wirtschaft in den Mittelpunkt
seiner mechanisch-darwinistischen »Evolution« (zu deutsch
»Fortschritt«). Der Staat ist bei Hegel der Geschichtsbildner;
Politik ist Geschichte. »Menschliche Gesellschaft« ist
nicht sein Wort. Die hohen Beamten der Generation Bismarcks waren zum
großen Teil strenge Hegelianer. Marx aber denkt die Geschichte
ohne Staat, Geschichte als Arena von Parteien, Geschichte als Widerstreit
wirtschaftlicher Privatinteressen. Materialistische Geschichtsauffassung
ist englische Geschichtsauffassung, der Aspekt eines ungebundenen Wikinger-
und Händlervolkes. (Oswald Spengler, Preußentum und
Sozialismus, 1919, S. 84 ).
Aber die geistigen Voraussetzungen dieser Denkweise sind heute
nicht mehr vorhanden. Das 19. Jahrhundert war das der Naturwissenschaft;
das 20. gehört der Psychologie. Wir glauben nicht mehr an die Macht
der Vernunft über das Leben. Wir fühlen, daß das Leben
die Vernunft beherrscht. Menschenkenntnis ist uns wichtiger als abstrakte
und allgemeine Ideale; aus Optimisten sind wir Skeptiker geworden: nicht
was kommen sollte, sondern was kommen wird, geht uns an; und Herr der
Tatsachen bleiben ist uns wichtiger als Sklave von Idealen werden. Die
Logik des Naturbildes, die Verkettung von Ursache und Wirkung scheint
uns oberflächlich; nur die Logik des Organischen, das Schicksal,
der Instinkt, den man fühlt, dessen Allmacht man im Wechsel der Dinge
schaut, zeugt von der Tiefe des Werdens. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 84-85 ).
Der Marxismus ist eine Ideologie. Er trägt die Zeichen davon auch in
seiner Geschichtseinteilung, die der Materialist vom Christentum übrig behielt,
nachdem die Macht des Glaubens erloschen war. Vom Altertum über das Mittelalter
zur Neuzeit führt der Weg der Evolution, an dessen Ende der verwirklichte
Marxismus, das irdische Paradies steht. Es ist wertlos, dies Bild zu widerlegen.
Dem mordernen Menschen einen neuen Blick zu geben, aus dem von selbst, mit Notwendigkeit
ein neues Bild folgt, darauf kommt es an. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 85 ).
Das Leben hat kein »Ziel«. (     ).
Die Menschheit hat kein »Ziel«. Das Dasein der Welt, in welcher
wir auf unserm kleinen Gestirn eine kleine Episode abspinnen, ist etwas
viel zu Erhabenes, als daß Erbärmlichkeiten wie »das
Glück der meisten« Ziel und Zweck sein könnten. In der
Zwecklosigkeit liegt die Größe des Schauspiels. So empfand
es Goethe. Aber dieses Leben, das uns geschenkt ist, diese Wirklichkeit
um uns, in die wir vom Schicksal gestellt sind, mit dem höchstmöglichen
Gehalt erfüllen, so leben, daß wir vor uns selbst stolz sein
dürfen, so handeln, daß von uns irgend etwas in dieser sich
vollendenden Wirklichkeit fortlebt, das ist die Aufgabe. Wir sind nicht
»Menschen an sich«. Das gehört zur vergangenen Ideologie,
Weltbürgertum ist eine elende Phrase. Wir sind Menschen eines Jahrhunderts,
einer Nation, eines Kreises, eines Typus. Das sind die notwendigen Bedingungen,
unter denen wir dem Dasein Sinn und Tiefe verleihen können, Täter,
auch durch das Wort Täter sein können. Je mehr wir diese gegebenen
Grenzen füllen, desto weiter ist unsre Wirkung. Plato war Athener,
Cäsar war Römer, Goethe war Deutscher: daß sie das ganz
und zuerst waren, war die Voraussetzung ihrer welthistorischen
Wirkung. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 85 ).
Von diesem Standpunkt aus stellen wir heute, mitten in der deutschen
Revolution, Marxismus und Sozialismus gegenüber. Der Sozialismus,
das noch immer unverstandene Preußentum (vgl.
Deutscher Ritter-Orden )
ist ein Stück Wirklichkeit höchsten Ranges, Marx ist
Literatur. Eine Literatur veraltet, eine Wirklichkeit siegt oder stirbt.
Man vergleiche die sozialistische Kritik auf den internationalen Kongressen
mit einer sozialistischen Tatsache, der Bebelpartei. Die Redensart, daß
Ideen die Weltgeschichte machen, ist so, wie sie verstanden sein sollte,
interessiertes Literatengeschwätz. Ideen spricht man nicht aus. Der
Künstler schaut, der Denker fühlt, der Staatsmann und Soldat
verwirklichen sie. Ideen werden nur durch das Blut, triebhaft, nicht durch
abstraktes Nachdenken bewußt. Sie bezeugen ihr Dasein durch den
Stil von Völkern, den Typus von Menschen, die Symbolik von Taten
und Werken, und ob diese Menschen überhaupt von ihnen wissen, ob
sie darüber sprechen und schreiben oder nicht, richtig oder falsch,
das ist wenig wichtig. Das Leben ist das erste und letzte und das
Leben hat kein System, kein Programm, keine Vernunft; es ist für
sich selbst und durch sich selbst da, und die tiefe Ordnung, in der es
sich verwirklicht, läßt sich nur schauen und fühlen
und dann vielleicht beschreiben, aber nicht nach gut und böse, richtig
oder falsch, nützlich und wünschenswert zerlegen. (Oswald
Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 85-86 ).
Deshalb ist der Marxismus keine Idee. In ihm sind sichtbare Zeichen
und Formen zweier Ideen verstandesmäßig und also willkürlich
zusammengestellt. Diese Denkweise ist vorübergehend. Sie war wirksam,
weil jedes Volk diese Begriffe als Waffe benutzt hat. Wiederum ist es
gleichgültig, ob man sie verstanden hat oder nicht. Sie wirkten,
weil man bei dem Klang der Worte und der Wucht der Sätze an irgend
etwas glaubte. An was das war wiederum die unveränderliche
Idee des eignen Lebens, das eigne Blut. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 86 ).
Der Marxismus bricht mit der schallenden Orgie seines Versuchs
zur Wirklichkeit heute zusammen. Das kommunistische Manifest tritt mit
dem Jahre 1918 genau so in das Dasein einer bloßen literarischen
Merkwürdigkeit wie der Contrat social mit dem Jahre 1793.
Der wirkliche, instinktive Sozialismus als Ausdruck altpreußischen
Wesens, literarisch nach England verirrt u d zu einer antienglischen Rheorie
ausgedörrt, kehrt heute zum Bewußtsein seines Ursprungs zurück.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 86 ).
Die Internationale (S. 87-105):
Später einmal wird man auch das mit Ironie betrachten, was
heute als internationaler Sozialismus das politische Bild der Welt beherrscht.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 87 ).
Im Weltkriege war es nicht nur die Entente, die sich gegen Deutschland,
sondern auch der Pseudosozialismus der Ententeländer, der
sich gegen den wirklichen, den preußischen, in Deutschland richtete.
In der Person des Kaisers hat der echte Sozialismus sich selbst verraten,
seine Herkunft, seinen Sinn, seine Stellung in der sozialistischen Welt.
Bebel hätte das gefühlt und verhindert. Seine Epigonen verstanden
es nicht. Heute gehen sie auf die Lügenkongresse und unterzeichnen
den Versailler Vertrag im Reich der Phrase noch einmal. Der preußisch-deutsche
Sozialismus hat seinen gefährlichsten Gegner nicht in dem deutschen
Kapitalismus, der starke sozialistische Züge in sich trug und den
er selbst erst seit 1917 in englische Formen gedrängt hat, am stärksten
vielleicht durch die Lockerung der meisterhaft organisierten Gewerkschaften
und die Einführung der lokalen Betriebsräte, hinter deren Zugeständnis
die Mehrheitssozialisten ihren liberal-parlamentarischen Hang vor den
Massen zu verbergen suchen, sondern in dem, was in der Heimat des Kapitalismus
unter dem Namen Sozialismus getrieben wird. Was Engels mit seinen scharfen
Augen sah, daß es nur deutschen Sozialismus gibt, das haben die
heutigen Wortführer des deutschen Sozialismus vergessen und sie suchen
es durch michelhafte Unterwürfigkeit den Ententesozialisten zu beweisen.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 88 ).
In der Tat ist der französische Sozialismus der Putsche und
Sabotagen ein bloßes Gefühl der sozialen Revanche, das schon
im Pariser Kommuneaufstand seine Clémenceaus gefunden hat, der
englische ein Reformkapitalismus, der deutsche allein eine Weltanschauung.
Der Franzose bleibt Anarchist, der Engländer liberal und vor allem
ist der französische und englische Arbeiter zuerst Franzose
und Engländer und erst dann, vielleicht, theoretisch, Anhänger
der Internationale. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 88 ).
Eine echte Internationale ist nur durch den Sieg der Idee
einer Rasse über alle andern möglich und nicht durch
die Auflösung aller Meinungen in eine farblose Masse. Seien wir endlich
Skeptiker und werfen wir die alte Ideologie fort. Es gibt keine Versöhnungen
in der wirklichen Geschichte. Wer an sie glaubt, muß ein ewiges
Grauen vor dem Narrentanz der Ereignisse empfinden, und er flüchtet
sich nur in eine Selbsttäuschung, wenn er meint, ihn je durch Verträge
beschwören zu können. Es gibt nur ein Ende des ewigen Kämpfens,
den Tod. Den Tod des einzelnen, den Völkertod, den Tod einer Kultur.
Der unsrige liegt noch weit vor uns im ungewissen Dunkel des nächsten
Jahrtausends. Wir Deutsche, die wir in dieses Jahrhundert gestellt sind,
eingeflochten mit unserm Dasein in das der faustischen Zivilisation, haben
reiche, unverbrauchte Möglichkeiten in uns und ungeheure Aufgaben
vor uns. Zu der Internationale, die sich unwiderruflich vorbereitet,
haben wir die Idee der Weltorganisation, des Weltstaates, die Engländer
die der Welttruste und Weltausbeutung, die Franzosen nichts zu geben.
Wir stehen dafür nicht mit unsern Reden, sondern mit unserrn Dasein
ein. Mit dem Preußentum steht und fällt der Ordensgedanke des
echten Sozialismus. Nur die Kirche trägt noch den alten spanischen
Universalgedanken in sich, die Hütung und Pflege aller Völker
im Schatten des Katholizismus. Aus den Tagen der Stauferzeit droht das
Bild eines riesenhaften Kampfes zwischen einem politischen und einem religiösen
Weltgedanken herüber. In diesem Augenblick aber triumphiert in dem
britischen Löwen der dritte, der Wikingergedanke: die Welt-nicht
als Staat, nicht als Kirche, sondern als Beute. (Oswald Spengler,
Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 89 ).
Die echte Internationale ist Imperialismus, Beherrschung
der faustischen Zivilisation, also der ganzen Erde, durch ein einziges
gestaltendes Prinzip, nicht durch Ausgleich und Zugeständnis, sondern
durch Sieg und Vernichtung. Der Sozialismus hat den Kapitalismus und den
Ultramontanismus neben und gegen sich, drei Arten sozialistischen
Willens zur Macht: durch den Staat, das Geld, die Kirche. Sie haben ihre
Kräfte in der politischen, wirtschaftlichen und religiösen Bewußtseinswelt,
von denen jede die beiden andern sich einzuordnen sucht: das sind die
schöpferischen Instinkte des preußischen, des englischen und
des spanischen Menschen und sie reichen von der geistigen Kälte und
Höhe der modernen Zivilisation zurück bis zu jenen frühen
triebhaften Menschen ..., die sich mit Schwert und Pflug die märkischen
Sümpfe unterwarfen, in ihren zerbrechlichen Kähnen das Nordmeer
kreuzten und den Glaubenskampf gegen die Mauren südlich der Pyrenäen
führten. Märkische, englische und spanische Gotik zeugen von
einer andern Seele als die französische. Diese Instinkte sind mächtiger
als alles andere und können sogar die Völker überleben,
in denen sie sich sichtbare Symbole geschaffen haben. Es gab einen römischen
Geist noch zu einer Zeit, wo es echte Römer nicht mehr gab. Der spanische
Geist als Volk ist ohnmächtig, aber als Kirche steht er in ungebrochner
Kraft da. Das sind die Wirklichkeiten, welche die Internationale der Kongresse
mit den Schlagworten von Marx glaubt einebnen zu können. (Oswald
Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 89-90 ).
Das schlimmste dieser Worte heißt Kommunismus. Mit seiner
Kritik wird die Kardinalfrage des Eigentums berührt. Es ist hier
nicht der Ort, eine so schwierige Frage auch nur im Umriß darzulegen
und die tiefen Zusammenhänge zwischen Eigentum und Ehe, Eigentum
und politischem Ideal, Eigentum und Weltanschauung in ihrer ganzen symbolischen
Wucht zu beleuchten. Jede der großen Kulturen hat auch hier ihre
eigne Sprache. Der abendländische Gedanke des Eigentums ist von dem
antiken, indischen, chinesischen weit entfernt: Eigentum ist Macht.
Was nicht dynamisch wirkt, aller tote Besitz, das »Haben«
an sich gilt dem echt faustischen Menschen wenig. Darin liegt das Geheimnis
des produktiven Eigentums vor allem andern, der bloßen »Habe«.
Die sinnliche antike Freude an angehäuften Schätzen ist unter
uns selten. Der Stolz des Eroberers, des Kaufmanns und Spielers, selbst
des Sammlers von Kunstwerken ruht auf dem Bewußtsein, mit seiner
Beute Macht erworben zu haben. Der spanische Golddurst, der englische
Landhunger richten sich auf werbenden Besitz. Gegen diesen energischen
Begriff des Eigentums erhebt sich in der Renaissance und in Paris ein
andrer: das Rentnerideal. Nicht Wirkung, sondern Genuß, nicht
»alles«, sondern »genug«, nicht »Tat«,
sondern »Leben« war das Endziel dieser Habsucht. Die Kondottieri
(Anm.: die Borgias waren Spanier!) wollten ihre Fürstentümer
und Schätze haben, um die müßige Kultur ihres Jahrhunderts
in vollen Zügen zu genießen. Das Bankhaus der Medici, eines
der ersten Europas, war weit von dem Ehrgeiz entfernt, den Weltmarkt beherrschen
zu wollen. Ludwig XIV. sandte seine Generäle und Steuerpächter
aus, um eine gesicherte Unterlage für das olympische Dasein eines
Sonnenkönigtums zu schaffen. Der französische Adel von Versailles
war durchaus von Renaissancegefühlen beherrscht. Seine Kultur war
nichts weniger als dynamischer Art. Reisende Engländer wie Young
waren kurz vor der Revolution erstaunt, wie schlecht er seine Güter
bewirtschaftete. Es genügte ihm, wenn er sie »hatte«
und wenn der Intendant die Summen für das Leben in Paris zusammenbrachte.
Diese Aristokratie des 18. Jahrhunderts bildete den strengsten Gegensatz
zu der tätigen, erwerbenden und erobernden englischen und preußischen.
Der bloße Selbsterhaltungstrieb des französischen Reichtums
hat ihn zur Beherrschung des Weltmarktes und zu echter Kolonisation selbst
in den großen Augenblicken der französischen Geschichte unfähig
gemacht. Aber der Grandseigneur von 1750 ist als Typus durchaus der Vorgänger
des Bourgeois von 1850, jenes harmlosen Rentners, den nur nationale Eitelkeit
von Zeit zu Zeit gefährlich machte und dessen Namen Marx wirklich
nicht zur Bezeichnung der kapitalistischen Gesellschaft hätte verwenden
sollen. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919,
S. 90-92 ).
Denn Kapital ist das große Wort, in dem die englische Auffassung
vom Eigentum liegt. Kapital bedeutet wirtschaftliche Energie; es ist die
Rüstung, in der man den Kampf um den Erfolg aufnimmt. Dem französischen
Kavalier und Rentner stehen hier die Börsen-, Petroleum- und Stahlkönige
gegenüber, deren Genuß im Bewußtsein wirtschaftlicher
Allmacht besteht. Daß eine Erkältung überall in der Welt
die Kurse fallen läßt, daß ein Telegramm von drei Worten
Katastrophen auf der andern Seite des Erdballs hervorruft, daß Handel
und Industrie ganzer Länder im Bereich ihres persönlichen Kredits
liegen, das ist ihr Begriff vom Eigentum, und zwar vom Privateigentum.
Man muß das ganze Pathos des Wortes zu würdigen wissen. Der
Milliardär fordert die unumschränkte Freiheit, durch seine privaten
Entschlüsse mit der Weltlage nach Gefallen zu schalten, ohne einen
ethischen Maßstab als den des Erfolges. Er kämpft mit allen
Mitteln des Kredits und der Spekulation den Gegner auf seinem Felde nieder.
Der Trust ist sein Staat, seine Armee, und der politische Staat ist nicht
viel mehr als sein Agent, den er mit Kriegen, wie dem spanischen und südafrikanischen,
mit Verträgen und Friedensschlüssen beauftragt. Die Vertrustung
der ganzen Welt ist das Endziel dieser echten Herrenmenschen: Mag das
nominelle Eigentumsrecht des Durchschnittsmenschen unangetastet bleiben,
mag er sein Hab und Gut als Rentnerkapital in voller Freiheit vererben,
verkaufen, verteilen, die wirtschaftliche Kraft dieser Habe als Händlerkapital
wird doch von einem Zentrum aus unsichtbar in bestimmte Richtung geleitet;
damit ist der Geldmagnat Eigentümer in einem höheren Sinne und
ganze Völker und Staaten arbeiten unter seinem schweigenden Befehl
und nach seinem allgegenwärtigen Willen. Und diesem Eigentumsbegriff,
in den sich der Liberalismus des Geschäfts verkleidet hat, tritt
nun der preußische entgegen: Eigentum nicht als private Beute, sondern
als Auftrag der Allgemeinheit, nicht als Ausdruck und Mittel persönlicher
Macht, sondern als anvertrautes Gut, für dessen Verwaltung der Eigentümer
dem Staate Rechenschaft schuldig ist; der nationale Wohlstand nicht als
Summe individueller Einzelvermögen, sondern die Einzelvermögen
als Funktionen der wirtschaftlichen Gesamtmacht. Das große
Wort Friedrichs II. muß immer wiederholt werden: Ich bin der erste
Diener meines Staates. Wenn jeder einzelne diese Anschauung zu seiner
eignen macht, ist der Sozialismus eine Tatsache geworden. Es gibt keinen
stärkeren Gegensatz als Ludwig XIV. mit der Tatsache: Der
Staat bin ich. Preußentum und Jakobinismus, sozialistischer und
anarchistischher Instinkt sind, ob auf dem Thron oder in den Gassen, der
stärkste überhaupt denkbare Gegensatz innerhalb des Abendlandes,
und auf ihm beruht die unauslöschliche Feindschaft zwischen beiden
Völkern. Napoleon hat auf St. Helena bemerkt: »Preußen
war ein Hindernis für Frankreich seit den Tagen Friedrichs und wird
es auch bleiben; es war das größte Hindernis in bezug auf meine
Absichten für Frankreich.« (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 92-93 ).
Denn in der Tat, die Form, in welcher das Revanchebedürfnis
der französischen Arbeiterschaft den Besitzenden entgegentritt, ist das Gegenteil
von Sozialismus: der Kommunismus im eigentlichen Sinne. Auch der Arbeiter will
Rentner sein. Er haßt die Muße der andern, die er selbst auf keine
Weise erreichen kann. Gleichheit des Genusses, gleiche Möglichkeit des Rentnerdaseins
für jedermann ist das Ziel, das auch der berühmten, echt französischen
Formel Proudhons zugrunde liegt: Eigentum ist Diebstahl. Denn hier bedeutet Eigentum
nicht Macht, sondern die erworbene Möglichkeit des Genusses. Gütergemeinschaft
und nicht Vergesellschaftung der Produktionsmittel, Verteilung des Reichtums (»Alles
soll allen gehören«) und nicht Vertrustung der wertschaffenden Kräfte
- das ist ein französisches Ideal gegen ein englisches. Und dem entspricht
die sozialistische Utopie Fouriers: Auflösung der Staaten in kleine Gesellschaften,
Kommunen, »Phalansterien«, die sich zusammentun, um bei möglichst
geringer Arbeit einen möglichst reichen Lebensgenuß zu erzielen.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 92-93 ).
Was die englische Unterklasse will, um das Eigentumsideal der herrschenden
Oberklasse sich zugänglich zu machen, hat Owen in einer Art von Kapitalreform
zu zeichnen versucht. Aber man kennt die Macht jener Wikingerinstinkte schlecht,
wenn man glaubt, daß das englisch-amerikanische Kapital auch nur einen Schritt
auf dem Wege der absoluten wirtschaftlichen Weltherrschaft zurückweichen
werde. Die unbedingte persönliche Freiheit und die natürliche Ungleichheit,
die aus ihr auf Grund persönlicher Fähigkeiten folgt, ist die Voraussetzung.
An Stelle des autoritativen Sozialismus setzt der angelsächsische Milliardär
einen allerdings großartigen Privatsozialismus, eine Wohltätigkeit
und Fürsorge großen Stils, in der die eigne Macht noch einmal zum Genuß
und in der das empfangende Volk auch moralisch besiegt wird. Über der glänzenden
Art, in welcher diese Millionen ausgegeben werden, vergißt man, wie sie
erworben sind: es ist die Haltung jener alten Korsaren, die beim Festmahl in eroberter
Burg den Gefangenen die Brocken ihrer Tafel zuwarfen. Diese freiwillige Preisgabe
von Eigentum verstärkt die Kraft des übrigen. Und ob dieser freie Willensakt
zur gesetzlichen Pflicht gemacht wird oder nicht, ist im Grunde der prinzipielle
Streitpunkt zwischen den wirtschaftlichen Zukunftsparteien in England und Amerika.
Man ist heute bereit, weite wirtschaftliche Gebiete, die sich nicht zur Spekulation
eignen, wie Bergbau und Eisenbahn, der Regierung eines Scheinstaates zu überweisen,
aber man behält die stille Macht, diese Regierung selbst durch die demokratischen
Formen des Parlamentarismus, das heißt durch Bezahlung der Wahlen und Zeitungen
und also durch die Anwerbung der Wähler und Leser, zu einem ausführenden
Organ der eignen Geschäfte zu machen. Das ist die furchtbare Gefahr einer
Versklavung der Welt durch das Händlertum. Ihr Mittel ist heute der Völkerbund,
das heißt ein System von Völkern, die »Selbstregierung«
nach englischer Art besitzen, das heißt in Wirklichkeit ein System von Provinzen,
deren Bevölkerung von einer Händleroligarchie mit Hilfe erkaufter Parlamente
und Gesetze ausgebeutet wird, wie die römische Welt durch Bestechung der
Senatoren, Prokonsuln und Volkstribunen. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 93-94 ).
Dies werdende System hat Marx durchschaut, und dagegen richtet
sich der ganze Haß seiner Gesellschaftskritik. Er will diesen englischen
Begriff des allmächtigen Privateigentums stürzen, aber er weiß
wiederum nichts zu formulieren als eine Verneinung: Expropriation der Expropriateure,
Beraubung der Räuber. Und trotzdem ist in diesem antienglischen Prinzip das
preußische enthalten: mit der vollen germanischen Achtung vor dem Eigentum
doch die in ihm ruhende Macht nicht dem einzelnen, sondern der Gesamtheit, dem
Staate zuzuweisen. Das heißt Sozialisierung. Sie ist mit dem sicheren Instinkt
einer nicht durch Theorien verwirrten Regierung von Friedrich Wilhelm I. bis auf
Bismarck, von den Kriegs- und Domänenkammern des ersten bis auf die Sozialpolitik
des letzten fortschreitend entwickelt worden, bis die strenggläubigen und
die abtrünnigen Marxisten der deutschen Revolution den Gedanken um die Wette
verdarben. Sozialisierung heißt nicht Verstaatlichung auf dem Enteignungs-
oder Diebstahlswege. Sie ist überhaupt keine Frage des nominellen Beitzes,
sondern der Verwaltungstechnik. Dem Schlagwort zuliebe ohne Maß und und
Ziel Betriebe aufzukaufen und sie statt der Initiative und Verantwortung ihrer
Besitzer einer Verwaltung überliefern, die zuletzt alle Übersicht verlieren
muß, das heißt den Sozialismus zugrunde richten. Der altpreußische
Gedanke war, unter sorgfältiger Schonung des Eignetums- und Erbrechtes die
gesamte Produktivkraft in ihrer Form der Gesetzgebung zu unterstellen, die persönliche
Unternehmungslust, das Talent, die Energie wie den Geist eines geübten Schachspielers
unter Regeln und mit der Freiheit, welche gerade die Beherrschung der Regeln gewährt,
arbeiten zu lassen. Das war in weitgehendem Maße schon in den alten Kartellen
und Syndikaten der Fall und das müßte sich planmäßig auf
die Arbeitsweise, Arbeitswertung, Gewinnverteilung und die dienstlichen Beziehungen
zwischen dem anordnenden und dem ausführenden Element ausdehnen lassen. Sozialisierung
bedeutet die langsame, in Jahrzehnten erst sich vollendende Verwandlung des Arbeiters
in einen Wirtschaftsbeamten, des Unternehmers in einen Verwaltungsbeamten mit
sehr weitgehender Vollmacht, des Eigentums in eine Art erblichen Lehens im Sinne
der alten Zeit, das mit einer gewissen Summe von Rechten und Pflichten verbunden
ist. Der Wirtschaftswille bleibt frei wie der Wille des Schachspielers: nur die
Wirkung nimmt einen geregelten Verlauf. Den preußischen Beamtentypus, den
ersten der Welt, haben die Hohenzollern gezüchtet. Er bürgt für
die Möglichkeiten einer Sozialisierung durch seine ererbten sozialistischen
Fähigkeiten. Er ist seit 200 Jahren (Spengler schrieb
dies 1919! HB) als Methode das, was der Sozialismus als Aufgabe ist.
In diesen Typus muß der Arbeiter hineinwachsen, wenn er aufhört Marxist
zu sein und dadurch beginnt Sozialist zu werden. Der »Zukunftsstaat«
ist ein Beamtenstaat. Das gehört zu den unausweichlichen Endzuständen,
die aus den Voraussetzungen unsrer in ihrer Richtung festgelegten Zivilisation
folgen. Auch der Milliardärsozialismus würde ein Volk unvermerkt in
ein Heer von Privatbeamten verwandeln. Die großen Trusts sind heute schon
Privatstaaten, welche ein Protektorat über den offiziellen Staat ausüben.
Preußischer Sozialismus bedeutet aber die Einordnung dieser Wirtschaftsstaaten
der einzelnen Berufszweige in den Gesamtstaat. Die Streitfrage zwischen Konservativen
und Proletariern ist im Grunde gar nicht die Notwendigkeit dieses autoritativ-sozialistischen
Systems, dem man nur durch die Annahme des amerikanischen entgehen könnte
(der Wunsch des deutschen Liberalismus), sondern die Frage des Oberbefehls. Es
gibt heute scheinbar die Möglichkeiten eines Sozialismus von oben und von
unten, beide in diktatorischer Form. In Wirklichkeit würden beide allmählich
in dieselbe Endform auslaufen. Im Augenblick wird dies noch in dem Grade verkannt,
daß beide Parteien in der Verfassung das Entscheidende sehen. Es kommt aber
nicht auf Sätze, sondern auf Persönlichkeiten an. Gelingt es den Arbeiterführern
nicht, in kurzer Zeit die von ihnen erforderten hohen staatsmännischen Fähigkeiten
zum Vorschein zu bringen, so werden andre sie ablösen. In einer Organisation,
die den Unterschied von Arbeitern und Beamten grundsätzlich aufhebt, indem
sie jeden Befähigten eine geregelte Laufbahn von der Handarbeit untersten
Ranges über Aufsichtsämter bis zur Leitung eines Wirtschaftskörpers
eröffnet, werden unter der Hand eines gebornen Staatsmannes konservative
und proletarische Endziele: die vollkommene Verstaatlichung des Witrtschaftslebens
nicht durch Enteignung, sondern durch Gesetzgebung, schließlich doch zusammenfallen.
Die oberste Leitung aber kann nicht republikanisch sein. Republik bedeutet heute,
wenn man alle Illusionen beiseite setzt, die Käuflichkeit der ausübenden
Gewalt durch das Privatkapital. Ein Fürst gehorcht der Tradition seines Hauses
und der Weltanschauung seines Berufs. Mag man davon denken, wie man will: das
enthebt ihn der Interessenpolitik der Parteien heutigen Schlages. Er ist ihr Schiedsrichter,
und wenn in einem sozialistisch gedachten Staat die Berufsräte bis zum obersten
Staatsrat eine Auslese nach praktischen Fähigkeiten sind, so kann er eine
engere Auswahl nach sittlichen Eigenschaften treffen. Ein Präsident oder
Premierminister oder Volksbeauftragter aber ist die Kreatur einer Partei, und
eine Partei ist die Kreatur derer, die sie bezahlen. Ein Fürst ist heute
der einzige Schutz einer Regierung vor dem Händlertum. Die Macht des Privatkapitals
führt sozialistische und monarchistische Prinzipien zusammen. Das individualistische
Eigentumsideal bedeutet Unterwerfung des Staates unter die freien Wirtschaftsmächte,
das heißt Demokratie, das heißt Käuflichkeit der Regierung durch
den privaten Reichtum. In einer modernen Demokratie stehen die Massenführer
nicht den Führern des Kapitals, sondern dem Gelde selbst und dessen anonymer
Macht gegenüber. Die Frage ist, wie viele der Führer dieser Macht widerstehen
können. Wenn man wissen will, wie sich eine nicht mehr junge und deshalb
von ihrer eignen Vortrefflichkeit begeisterte Demokratie in Wirklichkeit von der
in ideologischen Köpfen vorhandenen unterscheidet, so lese man Sallust über
Catilina und Jugurtha. Es ist kein Zweifel, daß uns Römerzustände
bevorstehen, aber eine monarchisch-sozialistische Ordnung kann sie unwirksam machen.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 94-97 ).
Das sind die drei Eigentumsideale, die heute im Kampfe stehen: das kommunistische,
das individualistische und das sozialistische mit den Endzielen der Verteilung,
Vertrustung und Verwaltung des gesamten produktiven Eigentums der Welt.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 97 ).Ich
habe bis jetzt von Rußland geschwiegen; mit Absicht, denn hier trennen sich
nicht zwei Völker, sondern zwei Welten. Die Russen sind überhaupt kein
Volk wie das deutsche und englische, sie enthalten die Möglichkeit vieler
Völker der Zukunft in sich wie die Germanen der Karolingerzeit. Das Russentum
ist das Versprechen einer kommenden Kultur, während die Abendschatten über
dem Westen länger und länger werden. Die Scheidung zwischen russischem
und abendländischem Geist kann nicht scharf genug vollzogen werden. Mag der
seelische und also der religiöse, politische, wirtschaftliche Gegensatz zwischen
Engländern, Deutschen, Amerikanern, Franzosen noch so tief sein, im Vergleich
zum Russentum rücken sie sofort zu einer geschlossenen Welt zusammen. Wir
lassen uns durch manche westlich gefärbte Bewohner russischer Städte
täuschen. Der echte Russe ist uns innerlich so fremd wie ein Römer der
Königszeit oder ein Chinese lange vor Konfuzius, wenn sie plötzlich
unter uns erschienen. Er selbst hat das immer gewußt, wenn er zwischen dem
»Mütterchen Rußland« und »Europa« eine Grenze
zog. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S.
98 ).
Für uns ist die russische Urseele, hinter Schmutz, Musik,
Branntwein, Demut und seltsamer Trauer, etwas Unergründliches. Unsre Urteile,
die von späten, städtischen und geistig zur Höhe gereiften Menschen
einer ganz anders gearteten Kultur, sind von uns aus geformt. Was wir da »erkennen«,
ist nicht diese eben erst aufdämmernde Seele, von der selbst Dostojewski
nur in hilflosen Lauten redet, sondern unser geistiges Bild von ihr, das vom Oberflächen
bilde russischen Lebens und russischer Geschichte bestimmt und durch unsre aus
eigner innerer Erfahrung geschöpften Beziehungsworte wie Wille, Vernunft,
Gemüt gefälscht ist. Dennoch ist einigen unter uns ein kaum in Worte
zu fassender Eindruck von ihr vielleicht möglich, der wenigstens über
die unermeßliche Kluft keinen Zweifel läßt, die zwischen ihr
und uns liegt. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919,
S. 98 ).
Dies kindlich dumpfe und ahnungsschwere Russentum ist nun von »Europa«
aus durch die aufgezwungenen Formen einer bereits männlich vollendeten, fremden
und herrischen Kultur gequält, verstört, verwundet, vergiftet worden.
Städte von unsrer Art, mit dem Anspruch unsrer geistigen Haltung wurden in
das Fleisch dieses Volkstums gebohrt, überreife Denkweisen, Lebensansichten,
Staatsideen, Wissenschaften dem unentwickelten Bewußtsein eingeimpft. Um
1700 drängt Peter der Große dem Volk den politischen Barockstil mit
Kabinettsdiplomatie, Hausmachtpolitik, Verwaltung und Heer nach westlichem Muster
auf; um 1800 kommen die diesen Menschen ganz unverständlichen englischen
Ideen in der Fassung französischer Schriftsteller herüber, um die Köpfe
der dünnen Oberschicht zu verwirren; noch vor 1900 führen die Büchernarren
der russischen Intelligenz den Marxismus, ein äußerst kompliziertes
Produkt westeuropäischer Dialektik ein, von dessen Hintergründen sie
nicht den geringsten Begriff haben. Peter der Große hat das echt russische
Zarentum zu einer Großmacht im westlichen Staatensystem umgeformt und damit
seine natürliche Entwicklung verdorben, und die »Intelligenz«,
selbst ein Stück des in diesen fremdartigen Städten verdorbenen echt
russischen Geistes, verzerrte das primitive Denken des Landes mit seiner dunklen
Sehnsucht nach eignen, in ferner Zukunft liegenden Gestaltungen wie dem Gemeinbesitz
von Grund und Boden des »Mütterchen Rußland« zu kindischen
und leeren Theorien im Geschmack französischer Berufsrevolutionäre.
Petrinismus und Bolschewismus haben gleich sinnlos und verhängnisvoll mißverstandene
Schöpfungen des Westens, wie den Hof von Versailles und die Kommune von Paris,
dank der unendlichen russischen Demut und Opferfreude in starke Wirklichkeiten
umgesetzt. Dennoch haften ihre Einrichtungen an der Oberfläche russischen
Seins und die eine wie die andre ist der beständigen Möglichkeit plötzlichen
Verschwindens und ebenso plötzlicher Wiederkehr ausgesetzt. Das Russentum
selbst hat bis jetzt nur religiöse Erlebnisse gehabt, keine wirklich sozialen
und politischen. Man verkennt Dostojewski, einen Heiligen in der vom Westen her
erzwungenen widersinnigen und lächerlichen Gestalt eines Romanschriftstellers,
wenn man seine sozialen »Probleme« anders auffaßt als seine
Romanform. Sein Wirklichstes steht mehr zwischen als in den Zeilen .... Die revolutionäre
Politik aber stammt lediglich von einer kleinen, nicht mehr sicher russisch empfindenden
und auch der Abkunft nach kaum russischen Schicht der großen Städte
und bewegt sich deshalb in den Formen von doktrinärem Zwang einerseits und
instinktiver Abwehr andrerseits. (Oswald Spengler, Preußentum und
Sozialismus, 1919, S. 99-100 ).
Und daher jener furchtbare, tiefe, urrussische Haß gegen
den Westen, das Gift im eigenen Leibe, der aus dem innerlichen Leiden Dostojewskis
und den lauten Ausbrüchen Tolstois in derselben Stärke spricht wie aus
dem wortlosen Empfinden des kleinen Mannes; der oft unbewußte, oft hinter
einer aufrichtigen Liebe verborgene unstillbare Haß gegen alle Symbole faustischen
Willens, gegen die Städte, Petersburg voran, die sich als Stützpunkte
dieses Willens in das Bauerntum dieser endlosen Ebenen genistet haben, gegen Wissenschaften
und Künste, das Denken, das Fühlen, den Staat, das Recht, die Verwaltung,
gegen Geld, Industrie, Bildung, Gesellschaft, gegen alles. Es ist der Urhaß
der Apokalypse gegen die antike Kultur, und etwas von der finsteren Erbitterung
der Makkabäerzeit und viel später noch jenes Aufstandes, der zur Zerstörung
von Jerusalem führte, liegt sicherlich allem Bolschewismus zugrunde. Seine
doktrinären Konstruktionen würden die Wucht nicht erzeugt haben, mit
welcher die Bewegung heute noch fortdauert. Er selbst wird von den Instinkten
des unterirdischen Rußland gegen den Westen gedrängt, der sich zunächst
in dem Petrinismus darstellte, und er wird zuletzt, als Erzeugnis dieses Petrinismus,
auch noch vernichtet werden, um die innere Befreiung von »Europa«
zu vollenden. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919,
S. 100 ).
Der echte Russe ist ohne Unterschied Bauer, auch als Gelehrter,
auch als Beamter. .... Diese Stufe haben wir vor einem Jahrtausend (Spengler
schrieb dies 1919! HB) durchlebt. Wir verstehen einander nicht.
Wir Westeuropäer können gar nicht mehr in Verbundenheit mit
dem Urboden leben. Wenn wir aufs Land gehen, so tragen wir die Stadt mit
uns samt allen ihren seelischen Bedingungen, und zwar im Blute .... Der
Russe aber trägt innerlich sein Dorf in diese russischen Städte.
.... Der russische Arbeiter ist trotz aller Industrieschlagworte von Mehrwert
und Expropriation kein Großstadtarbeiter, kein Massenmensch wie
der in Manchester, Essen und Pittsburg, sondern ein entlaufener Pflüger
und Mäher mit einem Haß gegen die fremde ferne Macht, die ihn
für seinen Beruf, von dem die Seele sich nicht lösen kann, verdorben
hat. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919,
S. 101 ).
Aber der Bolschewismus ... hat als gefährliches Gift für
raffinierte Geister im Westen eine größere Zukunft als im Osten.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 102 ).
Wir Menschen des Westens sind religiös fertig. In unsren Stadtseelen
hat die frühe Religiosität sich längst zu »Problemen«
intellektualisiert. Die Kirche ist mit dem Tridentinum vollendet. Aus dem Puritanismus
ist der Kapitalismus, aus dem Pietismus der Sozialismus geworden. Die anglo-amerikanischen
Sekten repräsentieren nur das Bedürfnis nervöser Geschäftsmenschen
nach einer Beschäftigung des Gemüts mit theologischen Fragen. Nichts
kann jämmerlicher sein als die Versuche eines gewissen Protestantismus, seinen
Leichnam mit bolschewistischem Kot wieder lebendig zu reiben. Anderswo ist dasselbe
mit Okkultismus und Theosophie versucht worden. Und nichts ist trügerischer
als die Hoffnung, die russische Religion der Zukunft werde die westliche befruchten.
Darüber sollte heute schon kein Zweifel bestehen: der russische Nihilismus
richtet sich mit seinem Haß gegen Staat, Wissen, Kunst auch gegen Rom und
Wittenberg, deren Geist sich in allen Formen westlicher Kultur ausgesprochen hat
und in ihnen getroffen werden soll. Das Russentum wird diese Entwicklung beiseite
schieben und über Byzanz wieder unmittelbar an Jerusalem anknüpfen.
(Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 102-103 ).
Damit aber ist noch einmal gesagt, wie bedeutungslos der Bolschewismus,
diese blutige Karikatur westlicher Probleme, die ihrerseis einst aus westlicher
Religiosität hervorgegangen sind, für die große Weltfrag
ist, die der Westen heute zur Entscheidung stellt und die nur das Oberflächenrußland
mit gestellt ist: die Wahl zwischen preußischer oder englischer
Idee, Sozialismus oder Kapitalismus, Staat oder Parlament. (Oswald
Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 103 ).
Ich fasse zusammen. Was in diesen kurzen Ausführungen zur
Sprache gekommen ist, sollte demjenigen Teil unsres Volkes, der durch Tatkraft,
Selbstzucht und geistige Überlegenheit zur Führung der nächsten
Generation berufen ist, ein Bild der Zeit geben, in der wir stehen, und der Richtung,
in welche unsre Bestimmung uns weist. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 103 ).Wir
wissen jetzt, was auf dem Spiele steht: nicht das deutsche Schicksal allein, sondern
das Schicksal der gesamten Zivilisation. Es ist die entscheidende Feage nicht
nur für Deutschland, sondern für die Welt, und sie muß in Deutschland
für die Welt gelöst werden: soll in Zukunft der Handel den Staat oder
der Staat den Handel regieren? (Oswald Spengler, Preußentum und
Sozialismus, 1919, S. 103 ).
Ihr gegenüber sind Preußentum und Sozialismus dasselbe.
Bis jetzt haben wir das nicht eingesehen. Wir sehen es auch heute noch
nicht. Die Lehre von Marx und die Klassenselbstsucht haben es verschuldet,
daß beide, die sozialistische Arbeiterschaft und das konservative
Element, sich wechselseitig und damit den Sozialismus mißverstanden
haben. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919,
S. 103 ).
Heute aber ist die Gleichheit des Ziels nicht länger zu verkennen.
Preußentum und Sozialismus stehen gemeinsam gegen das innere
England, gegen die Weltanschauung, welche unser ganzes Leben als Volk
durchdringt, lähmt und entseelt. Die Gefahr ist ungeheuer. Wehe denen,
die in dieser Stunde aus Eigennutz und Unverstand fehlen! Sie werden andre
und sich selbst verderben. Die Vereinigung bedeutet die Erfüllung
des Hohenzollerngedankens und zugleich die Erlösung der Arbeiterschaft.
Es gibt eine Rettung nur für beide oder keinen. (Oswald
Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 104 ).
Die Arbeiterschaft muß sich von den Illusionen des Marxismus
befreien. Marx ist tot. Der Sozialismus als Daseinsform steht an seinem
Anfang, der Sozialismus als Sonderbewegung des deutschen Proletariats
aber ist zu Ende. Es gibt für den Arbeiter nur den preußischen
Sozialismus oder nichts. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 104 ).
Die
Konservativen müssen sich von der Selbstsucht befreien, um deren willen schon
der Große Kurfürst dem Hauptmann v. Kalckstein den Kopf vor die Füße
legte. Demokratie, mag man sie schätzen wie man will, ist die Form dieses
Jahrhunderts, die sich durchsetzen wird. Es gibt für den Staat nur Demokratisierung
oder nichts. Es gibt für die Konservativen nur bewußten Sozialismus
oder Vernichtung. Aber wir brauchen die Befreiung von den Formen der englisch-französischen
Demokratie. Wir haben eine eigne. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 104 ).
Der Sinn des Sozialismus ist, daß nicht der Gegensatz von
reich und arm, sondern der Rang, den Leistung und Fähigkeit geben,
das Leben beherrscht. Das ist unsre Freiheit, Freiheit von der
wirtschaftlichen Willkür des einzelnen. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 104 ).
Was ich erhoffe, ist, daß niemand in der Tiefe bleibt, der
durch seine Fähigkeiten zum Befehlen geboren ist, daß niemand
befiehlt, der durch seine Begabung nicht dazu berufen war. Sozialismus
bedeutet Können, nicht Wollen. Nicht der Rang der Absichten, sondern
der Rang der Leistungen ist entscheidend. Ich wende mich an die Jugend.
Ich rufe alle die auf, die Mark in den Knochen und Blut in den Adern haben.
Erzieht euch selbst! Werdet Männer! Wir brauchen keine Ideologen
mehr, kein Gerede von Bildung und Weltbürgertum und geistiger Mission
der Deutschen. Wir brauchen Härte, wir brauchen eine tapfere Skepsis,
wir brauchen eine Klasse von sozialistischen Herrennaturen. Noch einmal:
der Sozialismus bedeutet Macht, Macht und immer wieder Macht. Pläne
und Gedanken sind nichts ohne Macht. Der Weg zur Macht ist vorgezeichnet:
der wertvolle Teil der deutschen Arbeiterschaft in Verbindung mit den
besten Trägern des altpreußischen Staatsgefühls, beide
entschlossen zur Gründung eines streng sozialistischen Staates, zu
einer Demokratisierung im preußischen Sinne, beide zusammengeschmiedet
durch eine Einheit des Pflichtgefühls, durch das Bewußtsein
einer großen Aufgabe, durch den Willen zu gehorchen, um zu herrschen,
zu sterben um zu siegen, durch die Kraft, ungeheure Opfer zu bringen,
um das durchzusetzen, wozu wir geboren sind, was wir sind, was
ohne uns nicht da sein würde. (Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 104-105 ).
Wir sind Sozialisten. Wir wollen es nicht umsonst gewesen
sein. (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus,
1919, S. 105 ).
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