Wir hatten Hörsäle, Schulbänke
und Werktische verlassen und waren in den kurzen Ausbildungswochen zu
einem großen, begeisterten Körper zusammengeschmolzen. Aufgewachsen
in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht
nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 7 |
Es wäre nicht nett von mir, wenn ich in diesem Buche, das
soviel Blutiges bringt, ein Abenteuer verschweigen wollte, in dem ich
eine etwas komische Rolle spielte. Damals im Winter, als unser Bataillon
beim König von Queant zu Gaste gewesen war, hatte ich zum ersten
Mal als junger Offizier die Wache zu revidieren gehabt. Am Ortsausgange
hatte ich mich verirrt und war, um nach dem Wege zu einer kleinen Bahnhofswache
zu fragen, in ein winziges alleinstehendes Häuschen getreten. Ich
fand als einzigen Bewohner ein siebzehnjähriges Mädchen namens
Jeanne vor, dessen Vater kurz vorher gestorben war und das nun allein
dort wirtschaftete. Als es mir Auskunft gab, lachte es und meinte, als
ich nach dem Grunde fragte: »Vous etes bien jeune, je voudrais avoir
votre devenir.« Wegen des kriegerischen Geistes, der aus diesen
Worten sprach, hatte ich ihm damals den Namen Jeanne d'Arc gegeben und
hatte in der folgenden Zeit des Grabenkampfes manchmal an das einsame
Häuschen zurückgedacht. An einem Abend in
Croisilles spürte ich plötzlich den Wunsch, einmal hinüberzureiten.
Ich ließ satteln und hatte bald das Städtchen im Rücken.
Es war ein Maiabend, wie geschaffen für einen solchen Ritt. Der Klee
lag in schweren dunkelroten Polstern auf den von Weißdornhecken
gesäumten Wiesen, und vor den Dorfeingängen brannten die Riesenkandelaber
blühender Kastanienbäume in der Dämmerung. Ich ritt durch
Bullecourt und Ecoust, ohne zu ahnen, daß ich zwei Jahre später
inmitten einer gänzlich veränderten Landschaft gegen die schauerlichen
Trümmer dieser Dörfer, die jetzt so friedlich zwischen Weihern
und Hügeln im Abend lagen, zum Sturm vorgehen sollte. (Vgl.
ebd., S. 286; HB.) An der kleinen Station, die ich damals revidiert
hatte, luden Zivilisten noch Gasflaschen aus. Ich begrüßte
sie und sah ihnen zu. Dann tauchte bald das Häuschen mit seinem braunroten
und von runden Moosflecken gesprenkelten Dache vor mir auf. Ich klopfte
an die Läden, die schon geschlossen waren. »Qui
est la ?« »Bon soir, Jeanne d'Arc!«
»Ah, bon soir, mon petit officier Gibraltar!«
Ich wurde so freundlich aufgenommen, wie ich gehofft
hatte. Nachdem ich mein Pferd angebunden hatte, trat ich ein und mußte
am Abendessen teilnehmen: Eier, Weißbrot und Butter, die appetitlich
auf einem Kohlblatt lag. Unter solchen Umständen läßt
man sich nicht lange einladen, sondern greift zu.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 76-77 |
Wir wurden in Bohain ausgeladen und in Brancourt untergebracht.
Diese Gegend, die wir später noch oft berÜhrten, wird von Ackerbauern
bewohnt, doch ist fast in jedem Hause ein Webstuhl aufgestellt. Ich war
bei einem Ehepaar einquartiert, das eine recht hübsche Tochter besaß.
Wir teilten die beiden Räume, aus denen das Häuschen bestand,
und ich mußte abends durch das Familienschlafzimmer hindurch. Der
Vater bat mich gleich am ersten Tage, ihm eine Anklageschrift an den Ortskommandanten
aufzusetzen, da ihn ein Nachbar an der Kehle gepackt, geprügelt und
unter dem Rufe »Dernande pardon!« mit dem Tode bedroht hätte.
Als ich eines Morgens mein Zimmer verlassen wollte,
um zum Dienst zu gehen, drückte die Tochter von außen die Türe
zu. Ich hielt das für einen ihrer Scherze und stemmte mich auch von
meiner Seite kräftig gegen die Tür, die sich unter unserem gemeinsamen
Druck aus den Angeln hob, so daß wir mit ihr im Zimmer umherwanderten.
Plötzlich fiel die Scheidewand, und die Schöne stand zu unser
beider Verlegenheit und zur großen Heiterkeit ihrer Mutter irn Evakostüm
da. Niemals habe ich jemand mit so großer
Zungengeläufigkeit schimpfen hören wie diese Rose von Brancourt
auf die Anschuldigung einer Nachbarin hin, in einer gewissen Straße
von Saint-Quentin Pensionärin gewesen zu sein. »Ah, cette plure,
cette pomme de terre pourrie, jetee sur un furnier, c'est la creme de
la creme pourrie«, sprudelte sie hervor, während sie mit krallenartig
vorgestreckten Händen durch das Zimmer raste, ohne ein Opfer für
ihre Wut finden zu können.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 126 |
Es ging in diesem Nest überhaupt recht landsknechtsmäßig
zu. Eines Abends wollte ich noch einen Kameraden aufsuchen, der bei dieser
besagten Nachbarin, einer der flämischen Schönheit, Madame Louise
genannt, einquartiert war. Ich ging gleich durch die Gärten und sah
durch ein kleines Fenster Madame Louise am Tische sitzen und sich noch
an einer großen Kanne Kaffee gütlich tun. Plötzlich öffnete
sich die Tür, und der Inhaber dieses gemütlichen Quartiers trat
wie ein Nachtwandler und zu meinem Erstaunen auch nicht reichlicher bekleidet
als ein solcher ins Zimmer herein. Ohne ein Wort zu sprechen, ergriff
er die Kanne und goß sich zielsicher durch die Tülle eine gehörige
Portion Kaffee in den Mund. Dann schritt er ebenso wortlos wieder hinaus.
Da ich fühlte, daß ich ein solches Idyll nur stören könnte,
schlich ich mich leise wieder davon.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 126-127 |
Nun war es wohl gleichgültig, ob wir liegen blieben, nach hinten
ausrissen oder nach vorn. Ich befahl also, mir zu folgen, und sprang mitten
ins Feuer hinein. Schon nach ein paar Sätzen überschüttete mich
eine Granate mit Erde und schleuderte mich in den nächsten Trichter zurück.
Es war kaum erklärlich, daß ich nicht getroffen wurde, denn die Einschläge
standen so dicht, daß sie den Helm und die Schultern zu berühren
schienen, und sie wühlten wie große Tiere den Boden unter den Füßen
auf. Daß ich sie durcheilte, ohne gestreift zu werden, lag wohl nur daran,
daß der vielfach aufgepflügte Boden die Geschosse tief einschluckte,
ehe sein Widerstand sie zündete. So fuhren ihre Kegel nicht wie breite
Gebüsche, sondern steil wie lanzenförmige Pappeln hoch. Andere warfen
nur eine Glocke auf. Auch merkte ich bald, daß die Wut des Feuers weiter
vorn sich verringerte. Nachdem ich mich aus dem Schlimmsten herausgearbeitet
hatte, sah ich mich um. Das Gelände war menschenleer.
Endlich tauchten zwei Mann aus Rauch- und Staubwolken auf, dann noch einer,
dann wieder zwei. Mit diesen Fünfen erreichte ich glücklich mein Ziel.
In einem halb zerschmetterten Betonklotz saßen
Leutnant Sandvoß, Führer der dritten Kompanie, und der kleine Schultz
mit drei schweren Maschinengewehren. Ich wurde mit lautem Hallo und einem Schluck
Kognak empfangen, dann erklärten sie mir die Lage, die sehr wenig angenehm
war. Dicht vor uns saß der: Engländer, rechts und links war kein
Anschluß mehr. Wir stellten fest, daß diese Ecke nur für ganz
alte, irn Pulverdampf ergraute Krieger sei. Unvermittelt
fragte mich Sandvoß, ob ich etwas von meinem Bruder gehört hätte.
Man wird sich meine Sorge vorstellen können, als ich erfuhr, daß
er den nächtlichen Sturm mitgemacht hatte und vermißt wurde. Er war
meinem Herzen der Nächste; das Gefühl eines unersetzlichen Verlustes
tat sich vor mir auf.
Ernst Jünger,
In Stahlgewittern, 1920, S. 184-185 |
Gleich darauf kam ein Mann und teilte mir mit, daß mein Bruder
verwundet in einem nahen Unterstand liege. Er zeigte dabei auf ein wüstes,
von entwurzelten Bäumen bedecktes Blockhaus, das bereits von den Verteidigern
verlassen war. Ich eilte über eine Lichtung, die unter gezieltern Gewehrfeuer
lag, und trat ein. Welch ein Wiedersehen! Mein Bruder lag in einem von Leichengeruch
erfüllten Raum inmitten einer Menge ächzender Schwerverwundeter. Ich
fand ihn in einer traurigen Verfassung vor. Beim Sturm hatten ihn zwei Schrapnellkugeln
getroffen, die eine hatte die Lunge durchschlagen, die andere das rechte Oberarmgelenk
zerschmettert. Das Fieber glänzte ihm aus den Augen; eine geöffnete
Gasmaske hing auf seiner Brust. Er konnte nur mit Mühe sich bewegen, sprechen
und atmen. Wir drückten uns die Hand und berichteten.
Es war mir klar, daß er nicht an diesem Ort bleiben durfte, denn jeden
Augenblick konnte der Engländer stürmen oder eine Granate dem schwerbeschädigten
Betonklotz den Rest geben. Der beste Bruderdienst war, ihn sofort zurückzuschaffen.
Obwohl Sandvoß sich gegen jede Schwächung unserer Kampfkraft sträubte,
gab ich den fünf mit mir gekommenen Leuten den Auftrag, Fritz zum Sanitätsunterstand
»Kolumbusei« zu tragen und von dort Leute zur Bergung der anderen
Verwundeten mitzubringen. Wir knüpften ihn in eine Zeltbahn und steckten
eine lange Stange hindurch, dann nahmen ihn zwei Mann auf die Schulter. Noch
ein Händedruck, und der traurige Zug setzte sich in Bewegung.
Ich verfolgte mit meinen Blicken die schwankende Last, die sich durch einen
Wald von kirchturmhohen Granatsäulen wand. Bei jedem Einschlag zuckte ich
zusammen, bis der kleine Zug im Dunst des Gefechtes verschwunden war. Ich fühlte
mich zugleich als Vertreter der Mutter und ihr für das Schicksal des Bruders
verantwortlich. Nachdem ich aus den Trichtern am vorderen
Waldrande noch etwas mit den langsam vordringenden Engländern geplänkelt
hatte, verbrachte ich die Nacht mit meiner Mannschaft, die sich inzwischen vermehrt
hatte, und einer Maschinengewehrbedienung zwischen den Trümmern des Betonklotzes.
Unaufhörlich schlugen in die Nähe Brisanzgranaten von ganz außergewöhnlicher
Wucht, von denen mich am Abend eine um ein Haar getötet hätte.
Gegen Morgen ratterte plötzlich der Maschinengewehrschütze los, da
sich dunkle Gestalten näherten. Es war eine Verbindungspatrouille des Infanterieregiments
76, von der er einen Mann niederstreckte. Derartige Irrtümer kamen in diesen
Tagen häufig vor, ohne daß man lange darüber grübelte.
Um sechs Uhr morgens wurden wir durch Teile der Neunten abgelöst,
die mir den Befehl überbrachten, in der Rattenburg Kampfstellung zu beziehen.
Auf dem Wege dorthin wurde mir noch ein Fahnenjunker durch Schrapnellschuß
kampfunfähig gemacht. Die Rattenburg enthüllte
sich uns als ein zerschossenes, mit Betonquadern ausgemauertes Haus hart an
dem sumpfigen Bett des Steenbaches. Der Name war gut gewählt. Ziemlich
zermürbt hielten wir unseren Einzug und warfen uns auf die strohbedeckten
Pritschen, bis uns ein reichliches Mittagessen und die ermunternde Pfeife Tabak
hinterher wieder etwas auf die Beine brachten. In den frühen
Nachmittagsstunden setzte eine Beschießung mit schweren und schwersten
Kalibern ein. Von sechs bis acht Uhr jagte eine Explosion die andere; oft wurde
der Bau durch die ekelhaften Stöße in der Nähe einschlagender
Blindgänger erschüttert und drohte einzustürzen. Während
dieser Zeit wurden die üblichen Gespräche über die Sicherheit
unserer Unterkunft geführt. Wir hielten die Betondecke für ziemlich
zuverlässig; da die Burg aber hart am steilen Bachufer stand, hegten wir
die Befürchtung, durch ein schweres Flachbahngeschoß unterminiert
und mit den Betonblöcken zusammen in den Bachgrund geworfen zu werden.
Als das Feuer gegen Abend verebbte, pirschte ich mich über
eine Höhe, die von einem schwirrenden Netz von Schrapnellkugeln überzogen
war, zum Sanitätsunterstand »Kolumbusei«, um mich bei dem Arzt,
der gerade das grauenhaft zugerichtete Bein eines Sterbenden untersuchte, nach
meinem Bruder zu erkundigen. Voll Freude hörte ich, daß er in verhältnismäßig
guter Verfassung zurückgeschafft worden sei.
Ernst Jünger,
In Stahlgewittern, 1920, S. 185-187 |
Nach einigen Tagen erhielt ich aus einem Gelsenkirchener Lazarett einen
Brief von Fritz. Er schrieb, daß er wohl einen steifen Arm und eine klapprige
Lunge behalten würde. Ich entnehme seinen Aufzeichnungen folgenden Abschnitt,
der meinen Bericht ergänzt und die Eindrücke eines in das Tosen der
Materialschlacht geworfenen Neulings anschaulich wiedergibt:
»Antreten zum Sturm! Das Gesicht meines Zugführers beugte
sich über die kleine Höhle. Die drei Leute neben mir beendeten ihr
Gespräch und rafften sich fluchend auf. Ich erhob mich, rückte den
Stahlhelm fest und trat in die Dämmerung hinaus. Es
war neblig und kühl; das Bild hatte sich inzwischen geändert. Das
Granatfeuer hatte sich verzogen und lagerte dumpf donnernd auf anderen Teilen
des riesigen Schlachtfeldes. Flugzeuge durchknatterten die Luft und beruhigten
das ängstlich spähende Auge durch die großen eisernen Kreuze,
die auf die Unterseite der Tragflächen gemalt waren.
Ich lief noch einmal zu einem Brunnen, der sich zwischen Trümmern und Schutt
merkwürdig klar erhalten hatte, und füllte meine Feldflasche.
Die Leute der Kompanie traten in Zügen an. Eilig hakte ich mir vier Handgranaten
ins Koppel und begab mich zu meiner Gruppe, von der zwei Mann nicht zur Stelle
waren. Kaum war noch Zeit, ihre Namen aufzuschreiben, als alles sich in Bewegung
setzte. In Reihen zu einem bewegten sich die Züge durch das Trichtergelände,
umbogen Balken, preßten sich an Hecken und wanden sich klirrend und polternd
auf den Feind zu. Der Angriff wurde von zwei Bataillonen
ausgeführt; ein Bataillon des Nachbarregiments wurde zugleich mit uns eingesetzt.
Der Befehl war kurz und bündig. Englische Abteilungen, die über den
Kanal gedrungen waren, sollten zurückgeworfen werden. Mir war bei diesem
Unternehmen zugedacht, mit meiner Gruppe vorn in der erreichten Stellung liegenzubleiben
und den Gegenstoß aufzufangen. Wir kamen vor den Trümmern eines Dorfes
an. Aus der schrecklich zernarbten Ebene Flanderns ragten schwarz und zersplittert
die Stümpfe einzelner Bäume, Überreste eines großen Waldes.
Ungeheure Rauchschwaden zogen durch die Luft und verhängten den Abendhimmel
mit düsterem, schwerem Gewölk. Über der kahlen Erde, die so unbarmherzig
zerrissen und wieder zerrissen war, schwebten stickige Gase, die, gelb und braun,
träge umherwanderten. Es wurde Gasbereitschaft befohlen.
In diesem Augenblick setzte ein ungeheures Feuer ein -der Angriff war von den
Engländern erkannt. Die Erde sprang in fauchenden Fontänen auf, und
ein Hagel von Splittern fegte wie ein Regenschauer über das Land. Einen
Augenblick stand jeder wie erstarrt, dann stürzten alle auseinander. Noch
einmal hörte ich die Stimme unseres Bataillonskommandeurs, des Rittmeisters
Böckelmann, der mit dem Aufgebot äußerster Stimmkraft einen
Befehl rief, der mir unverständlich blieb. Meine Leute
waren verschwunden. Ich befand mich in einem fremden Zug und drängte mich
mit den anderen nach den Trümmern eines Dorfes, das die unerbittlichen
Granaten bis auf den Grund rasiert hatten. Wir rissen die Gasmasken heraus.
Alles warf sich nieder. Links neben mir kniete der Leutnant
Ehlert, ein Offizier, den ich schon von der Somme her kannte. Neben ihm lag
spähend ein Unteroffizier. Die Wucht des Sperrfeuers war fürchterlich;
ich gestehe, daß sie selbst meine kühnsten Erwartungen übertraf.
Vor uns flatterte gelb eine Feuerwand; ein Schauer von Erdklumpen, Ziegelstücken
und Eisensplittern hagelte auf uns herab und schlug helle Funken aus den Stahlhelmen.
Ich hatte die Empfindung, als ob das Atmen jetzt schwerer geworden wäre
und die Luft in einer von massivem Eisen gesättigten Atmosphäre für
die Lungen nicht mehr ganz zureichte. Lange starrte ich in
den glühenden Hexenkessel hinein, dessen sichtbare Grenze das stechende
Mündungsfeuer der englischen Maschinengewehre bildete. Der tausendköpfige
Bienenschwarm dieser Geschosse, der sich über uns ergoß, war für
das Ohr unhörbar. Es kam mir zum Bewußtsein, daß unser Angriff,
den ein halbstündiges Trommelfeuer vorbereitet hatte, durch dieses mächtige
Abwehrfeuer schon im Ansatz zerschlagen war. Zweimal verschlang ein ungeheuerlicher
Krach in kurzen Zwischenräumen das Toben. Minen von allerschwerstem Kaliber
zerbarsten. Ganze Schuttfelder flogen in die Luft, wirbelten durcheinander und
stürzten mit höllischem Prasseln nieder. Auf eine schreiende
Aufforderung Ehlerts schaute ich nach rechts. Er erhob die linke Hand, winkte
nach hinten und sprang vor. Ich stand schwerfällig auf und folgte laufend.
Meine Füße brannten immer noch wie Feuer, doch hatte der stechende
Schmerz nachgelassen. Ich hatte kaum zwanzig Schritte getan, da blendete mich,
als ich aus einem Trichter wieder auftauchte, das brennende Licht eines Schrapnells,
das keine zehn Schritt vor mir in drei Meter Höhe auseinandersprang. Ich
fühlte zwei dumpfe Schläge gegen Brust und Schulter. Automatisch fiel
mir das Gewehr aus der Hand, den Kopf nach hinten brach ich zusammen und kollerte
in den Trichter zurück. Verschwommen hörte ich noch die Stimme Ehlerts,
der im Vorbeilaufen rief: »Den hats erwischt!«Er sollte den nächsten
Tag nicht beenden. Der VorstoB mißlang, und beim Zurückgehen wurde
er mit allen seinen Begleitern getötet. Ein SchuB durch den Hinterkopf
setzte dem Leben dieses tapferen Offiziers ein Ende. Als
ich nach einer langen Ohnmacht erwachte, war es ruhiger geworden. Ich versuchte
mich aufzurichten, da ich mit dem Kopf nach unten lag, empfand jedoch heftigen
Schmerz in der Schulter, den jede Bewegung verstärkte. Der Atem ging kurz
und stoBweise, die Lungen konnten nicht genug Luft schaffen. PrellschuB an Lunge
und schulter, dachte ich, indem ich mich der beiden dumpfen, schmerzlosen Schläge
entsann, die ich erhalten hatte. Ich warf Sturmgepäck und Koppel und in
einem Zustande völliger Gleichgültigkeit auch die Gasmaske fort. Den
Stahlhelm behielt ich auf und hängte die Feldflasche an den Taillenhaken
des Rockes. Es gelang mir, aus dem Trichter herauszukommen.
Nach etwa fünf Schritten aber, die ich, mühsam kriechend, zurücklegte,
blieb ich in einem Nebentrichter regungslos liegen. Eine Stunde darauf versuchte
ich zum zweiten Male fortzukriechen, da das Feld schon wieder von leichten Trommelfeuern
überschauert wurde. Auch dieser Versuch mißlang. Ich verlor meine
mit kostbarem Wasser gefüllte Feldflasche und versank in eine unendliche
Erschöpfung, aus der mich nach langer Zeit das Gefühl brennenden Durstes
erweckte. Es begann leise zu regnen. Mit dem Stahlhelm gelang
es mir, ein wenig schmutziges Wasser zu sammeln. Ich hatte allen Richtungssinn
verloren und konnte mir vom Verlauf der Front keinen deutlichen Begriff machen.
Trichter reihte sich hier an Trichter, einer mächtiger als der andere,
und vom Boden dieser tiefen Gruben aus konnte man nur Lehmwände und den
grauen Himmel sehen. Ein Gewitter zog auf, seine Donnerschläge wurden übertönt
vom einsetzenden Lärm eines neuen Trommelfeuers. Ich drückte mich
eng an die Trichterwand. Ein Lehmklumpen traf meine Schulter; schwere Splitter
fegten über meinen Kopf dahin. Allmählich verlor ich auch den Sinn
für die Zeit; ich wußte nicht, ob es Morgen oder Abend war.
Einmal tauchten zwei Leute auf, die in langen Sprüngen über das Feld
setzten. Ich rief sie auf deutsch und englisch an; sie verschwanden wie Schatten
im Nebel, ohne auf mich zu hören. Endlich kamen drei andere Leute auf mich
zu. Ich erkannte in dem einen von ihnen den Unteroffizier, der am Tage zuvor
neben mir gelegen hatte. Sie nahmen mich mit zu einer kleinen Hütte, die
in der Nähe stand vollgestopft mit Verwundeten, die von zwei Sanitätern
gepflegt wurden. Ich hatte dreizehn Stunden im Trichter gelegen.
Das gewaltige Feuer der Schlacht arbeitete wie ein riesenhaftes Hammer- und
Walzwerk fort. Granate um Granate schlug neben uns ein, häufig das Dach
mit Sand und Erde überschüttend. Man verband mich, gab mir eine neue
Gasmaske, ein Brot mit grober roter Marmelade und ein wenig Wasser. Der Sanitäter
sorgte für mich wie ein Vater. Schon begannen die Engländer
vorzudringen. Sprungweise näherten sie sich und verschwanden in den Trichtern.
Schreie und Zurufe schallten von draußen herein. Plötzlich stürzte,
von den Schuhen bis zum Stahlhelm mit Lehm bespritzt, ein junger Offizier herein.
Es war mein Bruder Ernst, der beim Regimentsstab schon den Tag zuvor totgesagt
war. Wir begrüßten uns, ein wenig seltsam und gerührt lächelnd.
Er blickte sich um und sah mich voll Angst an. Die Tränen traten ihm in
die Augen. Wenn wir auch zu dem gleichen Regiment gehörten, so hatte doch
dieses Wiedersehen auf dem unermeßlichen Schlachtfeld etwas Wunderbares,
Erschütterndes, und die Erinnerung daran blieb mir für immer kostbar
und verehrungswürdig. Nach wenigen Minuten verließ er mich und brachte
die fünf letzten Leute seiner Kompanie herbei. Ich wurde auf eine Zeltbahn
gelegt, durch deren Schnüre man einen jungen Baum steckte, und vom Schlachtfelde
getragen. je zwei und zwei der Träger lösten sich ab. Der kleine Transport
eilte bald nach rechts, bald nach links und wich im Zickzack den massenhaft
einschlagenden Granaten aus. Gezwungen, schnelle Deckung zu nehmen, warfen sie
mich einige Male ab, so daß ich hart in die Trichter schlug. Wir langten
endlich bei einem mit Beton und Blech verkleideten Unterstand an, der den wunderlichen
Namen »Kolumbusei« führte. Man schleppte mich hinunter und
legte mich auf eine Holzpritsche. In diesem Raum saßen schweigend zwei
mir unbekannte Offiziere und lauschten dem orkanischen Konzert der Artillerie.
Der eine war, wie ich später erfuhr, der Leutnant Bartmer, der andere ein
Feldhilfsarzt namens Helms. Nie mundete ein Trunk mir besser als das Gemisch
von Regenwasser und Rotwein, das er mir einflößte. Wie ein Feuer
ergriff mich das Fieber. Ich rang in schwerer Atemnot nach Luft, und gleich
einem Alb lastete die Vorstellung auf mir, daß die Betondecke des Unterstandes
auf meiner Brust liege und daß ich sie mit jedem Atemzug emporstemmen
müsse. Der Assistenzarzt Köppen trat atemlos ein.
Er war, verfolgt von Granaten, über das Schlachtfeld gelaufen. Er erkannte
mich, beugte sich über mich, und ich sah, wie sich sein Gesicht zu einer
beruhigend lächelnden Grimasse verzerrte. Ihm folgte mein Bataillonskommandeur,
und da er, ein strenger Mann, mir sanft auf die Schulter klopfte, mußte
ich lächeln, denn es kam mir der Gedanke, daß nun gleich der Kaiser
selbst eintreten und sich nach mir erkundigen werde. Die
vier Männer setzten sich zusammen, tranken aus Feldbechern und flüsterten.
Ich merkte, daß sie einen Augenblick von mir sprachen, und vernahm abgerissene
Worte wie Brüder, Lunge, Verwundung,
über deren Zusammenhang ich dann nachdachte. Laut fingen sie an, über
den Stand der Schlacht zu reden. m In die tödliche Ermattung,
in der ich mich befand, drang jetzt ein Bewußtsein des Glückes ein,
das sich mehr und mehr verstärkte und das sich Wochen hindurch bei mir
erhielt. Ich dachte an den Tod, ohne daß der Gedanke mich beunruhigte.
Alle meine Verhältnisse schienen mir bis ins Erstaunliche einfach, und
mit dem Bewußtsein Du bist in Ordnung glitt ich in den Schlaf
hinüber.«
Ernst Jünger,
In Stahlgewittern, 1920, S. 197-203 |
Regniéville Am 4. August 1917 verließen
wir in dem berühmten Mars-la-Tour den Zug. Die siebente und achte
Kompanie kamen in Doncourt unter, wo wir einige Tage lang ein ganz beschauliches
Leben führten. Nur brachten mich die knappen Verpflegungssätze
in manche Verlegenheit. Es war streng verboten, in den Feldern zu furagieren;
trotzdem meldeten mir fast jeden Morgen die Feldgendarmen einige Leute,
die sie beim nächtlichen Kartoffelroden angetroffen hatten und deren
Bestrafung ich nicht umgehen konnte »weil sie sich hatten fassen
lassen«, wie meine, allerdings nicht offizielle, Begründung
lautete.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 203 |
Als ich Freiwillige rief, traten
zu meiner Überraschung - es war immerhin bereits Ende 1917 - aus
allen Kompanien des Bataillions fast drei Viertel der Mannschaft vor.
Ich traf die Auswahl der Teilnehmer nach meiner Gewohnheit, idem ich an
der Front entlang ging und die »guten« Gesichter aussuchte.
Einige Überzählige weinten fast, als sie zurückgewiesen
wurden.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 208 |
Ich hatte eine dem Handwerk, das wir auszuüben gedachten,
angemessene Arbeitstracht angelegt: cor der Brust zwei Sandsäcke
mit je vier Stielhandgranaten, links mit Aufschlag-, rechts mit Brennzünder,
in der rechten Rocktasche eine Pistole 08 am langen Bande, in der rechten
Hosentasche eine kleine Mauserpistole, in der linken Rocktasche fünf
Eierhandgranaten, in der linek Hosentasche Leuchtkompaß un d Trillerpfeife,
am Koppel Karabinerhaken zum Abreißen der handgranaten, Dolch und
Drahtschere. In der inneren Brusttasche steckte eine gefüllte Brieftasche
und meine Heimatanschrift, in der hinteren Hosentasche eine platte Flasche
von Cherry-Brandy. Achselklappen und Gibraltarband jatten wir abgelegt,
um dem Gegner keinen Aufschluß über unsere Herkunft zu geben.
Als Erkennungszeichen trugen wir an jedem Arm eine weiße Bide.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 209-210 |
Am nächsten tage besichtigte Oberst von Oppen die Patrouille
noch einmal, verteilte Eiserne Kreuze und gab jedem Teilnehmer vierzehn
Tage Urlaub. Am Nachmittag wurden die Gefallenen, deren Zurückschaffung
gelungen war, auf dem Soldatenfriedhof Thiaucourt begraben. Zwischen den
Opfern dieses Krieges ruhten dort auch Kämpfer von 1870/71. Eins
dieser Gräber schmückte ein bemooster Stein mit der Inschrift:
»Dem Auge fern, dem Herzen ewig nah!« In eine große
Steintafel war gemeißelt: Heldentaten, Heldergräber // reihen
neu sich an die alten, // künden, wie das reich erstanden, // künden,
wie das reich erhalten.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 215 |
Der Handgranatenwechsel erinnert an das Florettfechten; man muß
dabei Sprünge machen wie beim Ballett. Er ist der tödlichste
der Zweikämpfe, dere nur dadurch, daß einer der beiden Gegner
in die Luft fliegt, beendet wird. Auch daß beide fallen, kann vorkommen.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 241-242 |
Ich behelligte wegen meiner fünften Doppelverwundung nicht
erst die Lazarette, sondern ließ sie während eines Weihnachtsurlaubs
zuheilen. Der Riß am Hinterkopf schloß sich schnell, der Splitter
an der Stirn wuchs ein, um zwei anderer, die noch von Regniéville
her in der linken hand und im Ohrläppchen saßen, Gesellschaft
zu leisten. Während dieser Zeit wurde ich durch das Ritterkreuz des
hausordens von Hohenzollern überrascht, das man mir von draußen
nachsandte.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 245-246 |
Am 24. Janiar veravschiedete sich Oberst von Oppen, um in Palästina
eine Brigade zu übernehmen. Er hatte das Regiment, dessen Kriegsgeschichte
eng mit seinem Namen verflochten ist, ununterbrochen seit dem Herbst 1914
geführt. Oberst von Oppen war ein lebendiges Beispiel dafür,
daß es Menschen gibt, die zum Befehlen geboren sind. Stets umgab
ihn eine Sphäre der Ordnung und der Zuversicht. Das Regiment ist
der letzte Verband, in dem man sich noch persönlich kennt; es ist
gewissermaßen die größte soldatische Familie, und die
Prägung eines solchen Mannes wirkt unsichtbar in Tausenden nach.
Leider sollten seine Abschiedsworte: »Auf Wiedersehen in Hannover!«
nicht in Erfüllung gehen; er starb bald an der asiatischen Cholera.
Als ich die Nachricht von seinem Tode bereits vernommen hatte, erhielt
ich noch einen Brief von seiner hand. ich verdanke ihm viel.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 249 |
Kurz vor Beginn (der Großen Schlacht
[Beginn: 21.03.1918]; HB) wurde folgender Funkspruch bekanntgegeben:
»S.M. der Kaiser und Hindenburg haben sich an den Schauplatz der
Operation begeben.« Er wurde mit Beifall begrüßt.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 256 |
Beim Anblick dieser aufgestauten Massen schien mir der Durchbruch
gewiß. Ob aber auch die Kraft in uns steckte, die feindlichen Reserven
zu zersplittern und vernichtend auseinanderzureißen? Ich erwartete
es bestimmt. Der Endkampf, der letzte Anlauf schien gekommen. Hier wurde
das Schicksal von Völkern zum Austrag gebracht, es ging um die Zukunft
der Welt. ich empfand die Bedeutung der Stunde, und ich glaube, daß
jeder damals das Persönliche sich auflösen fühlte und daß
die Furcht ihn verließ.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 259-260 |
Inzwischen waren die anderen an uns vorbeigeschritten. Wir stürzten
ihnen nach, den Verwundeten seinem Schicksal überlassend, nachdem
wir ein Stück Holz mit einem weißen Mullfetzen neben ihm in
den Boden gesteckt hatten als Zeichen für die den Stürmern folgende
Welle von Krankenträgern. Halb links vor uns tauchte der mächtige
Eisenbahndamm Ecoust-Croisilles, den wir überschreiten mußten,
aus dem Dunst. Aus eingebauten Schießscharten und Stollenfenstern
prasselte Gewehr- und Maschinengewehrfeuer so dicht, als ob ein Sack voll
Erbsen ausgeschüttet würde. Es war gezielt.
Auch Vinke war abhanden gekommen. Ich folgte einem Hohlweg, aus dessen
Böschung eingedrückte Unterstände gähnten. Wütend
schritt ich voran, über den schwarzen, aufgerissenen Boden, dem noch
die stickigen Gase unserer Granaten entschwelten. Ich war ganz allein.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 261-262 |
Da erblickte ich den ersten Feind. Eine Gestalt in brauner Uniform,
anscheinend verwundet, kauerte zwanzig Schritt voraus in der Mitte der
zertrommelten Mulde, die Hände auf den Boden gestützt. Wir nahmen
uns wahr, als ich um eine Windung bog. Ich sah sie bei meinem Erscheinen
zusammenfahren und mich mit weitgeöffneten Augen anstarren, während
ich, das Gesicht hinter der Pistole verborgen, mich langsam und bösartig
näherte. Ein blutiger Auftritt ohne Zeugen bereitete sich vor. Es
war eine Erlösung, den Widersacher endlich greifbar zu sehen. Ich
setzte die Mündung an die Schläfe des vor Angst Gelähmten,
die andere Faust in seinen Uniformrock krallend, der Orden und Rangabzeichen
trug. Ein Offizier; er mußte in diesen Gräben kommandiert haben.
Mit einem Klagelaut griff er in seine Tasche, aber er zog keine Waffe,
sondern ein Lichtbild aus ihr hervor, das er mir vor die Augen hielt.
Ich sah ihn darauf, von einer vielköpfigen Familie umgeben, auf einer
Terrasse stehen. Das war eine Beschwörung aus
einer versunkenen, unglaublich fernen Welt. Ich habe es später als
ein großes Glück betrachtet, daß ich ihn losließ
und weiter vorstürzte. Gerade dieser eine erschien mir noch oft im
Traum. Das ließ mich hoffen, daß er die Heimat wiedergesehen
hat.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 262-263 |
Von oben sprangen Leute meiner Kompanie in den Hohlweg hinab.
Mir war glühend heiß. Ich riß den Mantel herunter und
schleuderte ihn fort. Ich weiß noch, daß ich einige Mal sehr
energisch rief: »Jetzt zieht Leutnant Jünger seinen Mantel
aus« und die Füsiliere dazu lachten, als ob ich den köstlichsten
Witz gemacht hätte. Oben lief alles über Deckung, ohne der höchstens
vierhundert Schritt entfernten Maschinengewehre zu achten. Auch ich rannte
blindlings den feuerspeienden Bahndamm an. In irgendeinem Trichter sprang
ich auf eine pistoleschießende Gestalt in braunem Manchester. Es
war Kius, der sich in ähnlicher Stimmung befand und mir zur Begrüßung
eine Handvoll Munition zusteckte. Ich schließe
daraus, daß das Eindringen in den Trichtersaum auf Widerstand gestoßen
war, denn ich hatte mir vor dem Sturm einen guten Vorrat an Pistolenkugeln
eingesteckt. Wahrscheinlich hatten sich hier die Reste der aus den vorderen
Gräben geworfenen Besatzung eingenistet und tauchten bald hier, bald
dort zwischen den Angreifern auf. Es fehlt mir aber für diesen Abschnitt
die persönliche Erinnerung. Ich durchmaß ihn jedenfalls, ohne
verwundet zu werden, obwohl nicht nur das Feuer aus den Trichtern sich
kreuzte, sondern auch vom Bahndamm her die Geschosse auf Freund und Feind
wie ein Bienenschwarm losfuhren. Sie mußten dort fast unerschöpfliche
Vorräte an Munition haben. Unsere Aufmerksamkeit
richtete sich nun auf dieses Bollwerk, das als drohender Wall vor uns
aufragte. Das zernarbte Feld, das uns von ihm trennte, bevölkerten
Hunderte von versprengten Engländern. Sie suchten zum Teil den Damm
noch zu erreichen, zum Teil waren sie in Handgemenge verstrickt.
Kius teilte mir später Einzelheiten mit, die ich mit dem Gefühl
vernahm, das man empfindet, wenn man einen Dritten von tollen Streichen
berichten hört, die man im Rausch begangen hat. So hatte er einen
Engländer mit Handgranaten durch ein Grabenstück gejagt. Als
ihm die Wurfgeschosse ausgingen, setzte er, um seinen Gegner »im
Laufen zu halten«, die Verfolgung mit Erdklumpen fort, während
ich oben auf Deckung stand und mir vor Lachen die Seiten hielt. Unter
solchen Abenteuern erreichten wir, ohne es recht zu merken, den Bahndamm,
der ununterbrochen wie eine groBe Maschine Feuer schleuderte. Hier setzt
meine Erinnerung, und zwar mit der Wahrnehmung einer äußerst
günstigen Lage, wieder ein. Wir waren nicht getroffen worden, und
nun verwandelte sich, da wir hart an seiner Böschung standen, der
Bahndamm aus einem Hindernis in eine Deckung für uns. Ich sah, wie
aus einem tiefen Traum erwachend, daß sich die deutschen Stahlhelme
durch das Trichterfeld näherten. Sie wuchsen wie eine eiserne Saat
aus dem mit Feuer gepflügten Boden empor. Zugleich nahm ich wahr,
daß dicht neben meinem Fuß aus einem mit Sackleinwand verhängten
Stollenfenster der Lauf eines schweren Maschinengewehrs hervorlugte. Der
Lärm war so stark, daß wir nur am Zittern der Mündung
erkannten, daß die Waffe feuerte. Der Verteidiger war also nur noch
um Armeslänge von uns entfernt. In dieser unmittelbaren Nähe
am Feind lag unsere Sicherheit. Es lag auch sein Untergang darin. Ein
heißer Dunst stieg von der Waffe auf. Sie mußte viele getroffen
haben und mähte immer noch. Der Lauf bewegte sich nur wenig; das
Feuer war gezielt. Ich starrte gebannt auf das heiße,
vibrierende Stück Eisen, das den Tod aussäte und fast meinen
Fuß streifte. Dann schoB ich durch das Tuch. Ein Mann, der neben
mir auftauchte, riß es fort und warf eine Handgranate in die Offnung
hinein. Ein Stoß und die entquellende weißliche Wolke verrieten
die Wirkung. Das Mittel war rauh, doch probat. Die Mündung bewegte
sich nicht mehr, die Waffe schwieg. Wir rannten an der Böschung entlang,
um die nächsten Luken in der gleichen Art zu bearbeiten, und brachen
so einige Wirbel aus dem Rückgrat der Verteidigung. Ich hob die Hand,
um unsere Leute, deren Geschosse uns aus nächster Entfernung um die
Ohren schellten, zu verständigen. Sie winkten freudig zurück.
Nun erklommen wir mit hundert anderen zugleich den Damm. Zum ersten Mal
im Krieg sah ich Massen aufeinanderprallen. Die Engländer hielten
auf der hinteren Böschung zwei terrassenartig eingehauene Gräben
besetzt. Geschosse wurden auf wenige Meter gewechselt, Handgranaten flogen
im Bogen hinab. Ich sprang in den ersten Graben; um
die nächste Schulterwehr stürzend, stieß ich mit einem
englischen Offizier in offener Jacke und heraushängender Halsbinde
zusammen; ich packte ihn und schleuderte ihn gegen einen Sandsackwall.
Hinter mir tauchte der weißhaarige Kopf eines Majors auf, der mir
zuschrie: »Schlag den Hund tot!« Das war unnötig. Ich
wandte mich dem unteren Graben zu, der von Engländern wimmelte. Es
war wie bei einem Schiffsuntergang. Einige warfen Enteneier, andere schossen
mit Coltrevolvern, die meisten flüchteten. Wir hatten nun die Oberhand.
Ich drückte wie im Traum meine Pistole ab, obwohl ich längst
keine Kugel mehr im Lauf hatte. Ein Mann neben mir warf Handgranaten unter
die Davonhastenden. Ein tellerförmiger Stahlhelm stieg kreiselnd
hoch in die Luft. In einer Minute war der Kampf entschieden.
Die Engländer sprangen aus ihren Gräben und flohen über
das freie Feld. Von der Dammkrone raste ein tolles Verfolgungsfeuer los.
Die Fliehenden überschlugen sich im Laufen, und in einigen Sekunden
war der Boden mit Gefallenen bedeckt. Das war die andere Seite des Bahndammes.
Auch Deutsche waren bereits im Vorfelde. Neben mir stand ein Unteroffizier
und starrte mit offenem Mund in das Gefecht. Ich nahm sein Gewehr und
schoß auf einen Engländer, der mit zwei Deutschen im Handgemenge
war. Die beiden stutzten einen Augenblick über die unsichtbare Hilfe,
um gleich darauf weiterzugehen. Der Erfolg brachte
eine zauberhafte Wirkung hervor. Obwohl längst von der Führung
einheitlicher Verbände keine Rede mehr sein konnte, gab es für
jeden nur eine Richtung: Vor! Jeder rannte geradeaus los.
Als Ziel wählte ich eine kleine Anhöhe, auf der die Trümmer
eines Häuschens, ein Grabkreuz und ein zerstörtes Flugzeug zu
sehen waren. Andere waren bei mir; wir bildeten ein Rudel und drangen
im Eifer in die Flammenwand der eigenen Feuerwalze ein. Wir mußten
uns in die Trichter werfen und das weitere Vorrücken des Feuers abwarten.
Neben mir entdeckte ich einen jungen Offizier eines anderen Regiments,
der sich gleich mir über das gute Gelingen des ersten Ansturmes freute.
Die gemeinsame Begeisterung brachte uns in den wenigen Augenblicken so
nahe, als ob wir uns schon jahrelang gekannt hätten. Der nächste
Sprung trennte uns auf Nimmerwiedersehen. Selbst in diesen furchtbaren
Augenblicken geschah etwas Witziges. Ein Mann neben mir riß sein
Gewehr an die Backe, um wie bei einer Treibjagd auf einen Hasen zu schießen,
der plötzlich durch unsere Linien sprang. Der Einfall kam so verblüffend,
daß ich lachen mußte. Es kann eben nichts so schrecklich sein,
daß nicht irgendein verwegener Geselle noch seinen Trumpf daraufsetzte.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 263-266 |
Bald stand hinter jeder Schulterwehr ein leichtes oder schweres
Maschinengewehr. Mit ihnen hielten wir den englischen Teil des Grabens
der Länge nach unter immer stärkeren Druck. Auch ich stellte
mich hinter eine dieser Kugelspritzen und schoß, bis der zeigefinger
von Rauch geschwärzt war. Hier könnte ich den Schotten erwischt
haben, der mir nach dem Krieg einen netten Brief aus Glagow schrieb, in
dem er den ort, an dem er verwundet wurde, genau bezeichnete. Wenn das
Kühlwasser verdunstet war, wurden die Kästen herumgereicht und
unter wenig feinen Scherzen durch ein natürliches Verfahren wieder
gefüllt. Bald begannen die Waffen zu glühen.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 280 |
Unsre Überlegenheit wuchs mit jedem Augenblick, denn dem
durch den Anlauf lang auseinandergezogenen Stoßtrupp folgten gleich
einem breiten Keile die Verstärkungen.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 281-282 |
Der General erzählte mir, daß ich bei den Gefechtsständen
schon seit gestern totgesagt sei. Es war nicht das erstemal in diesem
Krieg.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 285 |
Auf der Straße Noreuil-Queant herrschte ein unglaublicher
Verkehr. Wer sie nicht gesehen hat, kann sich kein Bild von den endlosen
Troßzügen machen, durch die sich ein Großangriff speist.
Hinter Queant steigerte sich das Gewühl ins Fabelhafte. Ein wehmütiger
Augenblick war es, als ich am Häuschen der kleinen Jeanne vorüberkam,
von dem kaum noch der Grundriß zu erkennen war. (Vgl.
ebd., S. 76-77; HB.)
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 286 |
Ich wandte mich an einen der durch weiße Binden kenntlichen Verkehrsoffiziere,
der mir einen Platz in einem Personenauto zum Feldlazarett Sauchy-Cauchy
anwies. Wir mußten oft halbe Stunden warten, wenn ineinandergeschachtelte
Wagen und Automobile den Weg sperrten. Obwohl die Ärzte im Operationsraum
des Feldlazaretts fieberhaft beschäftigt waren, wunderte sich der
Chirurg über die glückliche Art meiner Verletzungen. Auch die
Kopfwunde hatte Ein- und Ausschuß, ohne daß die Schädeldecke
durchbrochen war. Viel schmerzhafter als die Verwundungen, die ich nur
als dumpfe Schläge empfunden hatte, war übrigens die Behandlung,
der mich ein Lazarettgehilfe unterzog, nachdem der Arzt mit seiner Sonde
in spielerischer Eleganz durch die beiden Schußkanäle gefahren
war. Diese Behandlung bestand in einer kräftigen Rasur der Wundränder
am Kopfe, ohne Seife und mit einem stumpfen Messer ausgeführt.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 286 |
Ein gutes Zeichen für den Geist, der noch immer bei uns lebte,
war, daß ich den Mann bestimmen mußte, der zurückbleiben
sollte, um die Feldküche zu benachrichtigen. Freiwillig hatte sich
keiner melden mögen.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 313 |
Es ging zum letzten Sturm. Wie oft waren wir in den verflossenen Jahren
in ähnlicher Stimmung in die westliche Sonne geschritten!
Ernst Jünger,
In Stahlgewittern, 1920, S. 315 |
Von Kleinigkeiten wie von Prellschüssen und Rissen abgesehen,
hatte ich im ganzen mindestens vierzehn Treffer aufgefangen, nämlich
fünf Gewehrgeschosse, zwei Granatsplitter, eine Schrapnellkugel,
vier Handgranaten- und zwei Gewehrgeschoßsplitter, die mit Ein-
und Ausschüssen gerade zwanzig Narben zurückließen. In
diesem Kriege, in dem bereits mehr Räume als einzelne Menschen unter
Feuer genommen wurden, hatte ich es immerhin erreicht, daß elf von
diesen Geschossen auf mich persönlich gezielt waren. Ich heftete
daher das Goldene Verwundettenabzeichen, das mir in diesen Tagen verkliehen
wurde, mit Recht an meine Brust.
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 323 |
An einem Tage, es war der 22. September 1918, erhielt ich vom
General Busse folgendes Telegramm: »Seine Majestät der Kaiser
hat Ihnen den Orden Pour le mérite verliehen. Ich beglückwünsche
Sie im Namen der ganzen Division.«
Ernst
Jünger, In Stahlgewittern, 1920, S. 324 |
Der Zukunftsstaat ... national, sozial, wehrhaft und autoritativ.
Ernst
Jünger, SDas Sonderrecht des Nationalismus, in:
Publizistik, 1926, S. 226 |
Wir Nationalisten glauben an keine Wahrheiten. Wir glauben an keine
allgemeine Moral. Wir glauben an keine Menschheit als ein Kollektivwesen
mit zentralem Gewissen und einheitlichem Recht. Wir glauben vielmehr an
ein schärferes Bedingtsein von Wahrheit, Recht und Moral durch Zeit,
Raum und Blut. Wir glauben an den Wert des Besonderen.
Ernst
Jünger, Das Sonderrecht des Nationalismus, in: Publizistik,
1926, S. 280 |
In den Kaufläden (1). - Zu den Dingen, die
mir in den Läden merkwürdig erscheinen, gehört der eigensinnige
Hang der Kaufleute, die Ware, auch wenn sie an sich schon so verzüglich
vepackt ist wie etwa eine Schokoladentafel, noch mit einer besonderen
Umhüllung zu versehen. Das ist ein Verfahren, das, wie jeder Akt
der Höflichkeit, seine Hintergründe hat.
Ernst
Jünger, Das abentuerliche Herz, 1929, S. 32 |
Man kann sich heute nicht
in Gesellschaft um Deutschland bemühen; man muß es einsam tun wie ein
Mensch, der mit seinem Buschmesser im Urwald Bresche schlägt und den nur
die Hoffnung erhält, daß irgendwo im Dickicht andere an der gleichen
Arbeit sind.Ernst
Jünger, Das abentuerliche Herz, 1929 |
Die Gesellschaft erneuert sich durch Scheinangriffe auf sich selbst;
ihr unbestimmter Charakter oder vielmehr ihre Charakterlosigkeit bringt
es mit sich, daß sie auch ihre schärfste Selbstverneinung noch
in sich aufzunehmen vermag. Ihre Mittel sind zwiefach: entweder verweist
sie die Verneinung an ihren individuell anarchischen Pol und verleibt
sie dadurch ihrem Bestande ein, daß sie sie ihrem Freiheitsbegriffe
unterstellt; oder sie fängt sie an dem scheinbar entgegengesetzten
Pole der Masse in sich ein und verwandelt sie dort durch Zählung,
durch Abstimmung, durch Unterhandlung oder Unterhaltung in einen demokratischen
Akt.
Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke,
2. Abteilung, Band 8, S. 28 |
Es ist kein Zweifel daran, daß unser Bestand als Ganzes
sich über die Linie bewegt. Damit verändern sich Gefahern und
Sicherheit.
Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke,
2. Abteilung, Band 8, S. 30 |
Das Maß der Freiheit des Einzelnen entspricht genau dem
Maße, in dem er Arbeiter ist. Arbeiter, Vertreter einer großen,
in die Geschichte eintretenden Gestalt zu sein, bedeutet, Anteil zu haben
an einem neuen, vom Schicksal zur Herrschaft bestimmten Menschentum.
Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke,
2. Abteilung, Band 8, S. 72 |
Der umfassendste Tötungsakt, der heute zu beobachten ist,
richtet sich gegen die Ungeborenen. Es ist vorauszusehen, daß diese
Erscheinung, die in bezug auf das Individuum den Sinn einer größeren
Sicherung der Lebensführung des Einzelnen besitzt, beim Typus die
Rolle eines bevölkerungspolitischen Mittels spielen wird. Ebenso
unschwer zu erraten ist die Wiederentdeckung der sehr alten Wissenschaft
der Entvölkerungspolitik. Hierher gehören bereits die »vingt
millions de trop«, ein aperçu, das inzwischen durch den Bevölkerungsschub,
ein Mittel, durch das man sich sozialer oder nationaler Grenzschichten
auf dem Verwaltungswege zu entledigen beginnt, an Anschaulichkeit gewonnen
hat.
Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 153-154 |
Die Technik ist die Art und Weise, in der die Gestalt des Arbeiters
die Welt mobilisiert.
Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 160 |
Die Mobilmachung der Materie
durch die Gestalt des Arbeiters, wie sie alsTechnik erscheint, ist also in ihrer
letzten und höchsten Stufe noch ebensowenig sichtbar geworden wie bei der
ihr parallel laufenden Mobilmachung des Menschen durch dieselbe Gestalt. Diese
letzte Stufe besteht in der Verwirklichung des totalen Arbeitscharakters, die
hier als Totalität des technischen Raumes, dort als Totalität des Typus
erscheint. Diese beiden Phasen sind in ihrem Eintritt aufeinander angewiesen
dies macht sich bemerkbar, indem einerseits der Typus der ihm eigentümlichen
Mittel zu seiner Wirksamkeit bedarf, andererseits aber sich in diesen Mitteln
eine Sprache verbirgt, die nur durch den Typus gesprochen werden kann. Die Annäherung
an diese Einheit drückt sich aus in der Verschmelzung des Unterschiedes zwischen
organischer und mechanischer Welt; ihr Symbol ist die organische Konstruktion.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 181 |
Es gibt keinen triftigen
Grund, der der Annahme entgegensteht, daß sich eines Tages eine Konstanz
der Mittel ergeben wird. Eine solche Beständigkeit durch lange Zeiträume
hindurch ist vielmehr die Regel, während das fieberhafte Tempo der Veränderung,
in dem wir uns befinden, ohne geschichtliches Beispiel ist. Die Dauer dieser Art
von Veränderlichkeit ist begrenzt, sei es, daß der ihr zugrunde liegende
Wille zerbricht, sei es, daß er seine Ziele erreicht. Da wir solche Ziele
zu sehen glauben, ist die Betrachtung der ersten Möglichkeit für uns
bedeutungslosErnst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 187 |
Die Technik ist die Mobilisierung
der Welt durch die Gestalt des Arbeiters; der ersteAbschnitt dieser Mobilisierung
ist notwendig zerstörerischer Natur. Nach Abschluß dieses Vorganges
tritt die Gestalt des Arbeiters in bezug auf die konstruktive Tätigkeit als
oberster Bauherr auf. Dann freilich wird es wieder möglich sein, im Monumentalstile
zu bauen und dies um so mehr, als die rein quantitative Leistungsfähigkeit
der zur Verfügung stehenden Mittel jeden geschichtlichen Maßstab übertrifft.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 194 |
Die Technik ist jedoch,
wie wir sahen, keineswegs ein Instrument des Fortschritts, sondern ein Mittel
zur Mobilisierung der Welt durch die Gestalt des Arbeiters, und solange dieser
Vorgang läuft, ist mit Bestimmtheit vorauszusagen, daß man auf keine
ihrer verheerenden Eigenschaften verzichten wird. Im übrigen vermag auch
die höchste Steigerung der technischen Anstrengung nicht mehr zu erzielen
als den Tod, der zu allen Zeiten gleich bitter ist. Die Ansicht, daß dieTechnik
als Waffe eine tiefere Feindschaft zwischen den Menschen bewirkt, ist daher ebenso
irrig wie die entsprechende, daß sie dort, wo sie als Verkehr erscheint,
eine Festigung des Friedens zur Folge hat. Ihre Aufgabe ist eine ganz andere,
nämlich die, sich für den Dienst einer Macht geeignet zu machen, die
über Krieg und Frieden und damit über die Sittlichkeit oder Gerechtigkeit
dieser Zustände inhöchster Instanz bestimmt.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 195-196 |
Die Technik ist vielmehr
die Art und Weise, in der die Gestalt des Arbeiters die Welt mobilisiert und revolutioniert.
So kommt es, daß auf der einen Seite die Mobilisierung der Nation mehr und
andersartige Kräfte in Bewegung setzt, als in ihrer Absicht liegt, während
auf der anderen die entwaffnete mit Notwendigkeit in jene gefährlichen und
unberechenbaren Räume zurückgedrängt wird, in denen sich in chaotischer
Lagerung das revolutionäre Rüstzeug verbirgt. Esgibt aber heute nur
einen wirklich revolutionären Raum: er wird durch die Gestalt des Arbeiters
bestimmt.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 200 |
Ein Zustand, der als Symbol
des Ewigen Friedens anzusehen ist, wird niemals durch einen Gesellschaftsvertrag
zwischen Staaten garantiert, sondern allein durch einen Staat von unbestreitbarem
und imperialem Rang, in dem »Imperium et libertas« sich vereint.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 203 |
Es ist ein romantischer
Gedanke, daß sich ihre Entfesselung, ihre Anwendung im Kampfe auf Leben
und Tod durch Gesellschaftsverträge unterbinden läßt. Die Prämisse
dieses Gedankens ist, daß der Mensch gut sei der Mensch ist aber
nicht gut, sondern er ist gut und böse zugleich. In jede Berechnung, die
der Wirklichkeit standhalten soll, ist einzubeziehen, daß es nichts gibt,
dessen der Mensch nicht fähig ist. Die Wirklichkeit wird nicht durch Moralvorschriften,
sie wird durch Gesetze bestimmt. Daher ist die entscheidende Frage, die zu stellen
ist, die: Gibt es einen Punkt, von dem aus autoritativ zu entscheiden ist, ob
die Mittel angewendet werden sollen oder nicht? Daß es einen solchen Punkt
nicht gibt, ist ein Zeichen dafür, daß der Weltkrieg keine Weltordnung
geschaffen hat, und diese Tatsache ist deutlich genug im Bewußtsein der
Völker ausgeprägt.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 204 |
Die Technik erhält
ja überhaupt ihre Bedeutung erst dadurch, daß sie die Art und Weise
ist, in der die Gestalt des Arbeiters die Welt mobilisiert. Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 204 |
Es kommt nicht darauf an,
daß wir leben, sondern daß überhaupt auf der Welt wieder die
Führung eines Lebens im großen Stile und nach großen Maßstäben
möglich ist. Man trägt dazu bei, indem man die eigenen Ansprüche
schärft.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 205 |
Die Beschäftigung mit der Technik wird erst dort lohnend,
wo man sie als das Symbol einer übergeordneten Macht erkennt.
Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 206 |
Technik und Natur sind keine Gegensätze werden sie
so empfunden, so ist dies ein Zeichen dafür, daß das Leben
nicht in Ordnung ist. Der Mensch, der sein eigenes Unvermögen durch
die Seelenlosigkeit seiner Mittel zu entschuldigen sucht, gleicht dem
Tausendfuß der Fabel, der zur Bewegungslosigkeit verurteilt ist,
weil er seine Glieder zählt.
Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 207 |
Je mehr die Einzelnen und
die Massen ermüden, desto größer wird die Verantwortung, die nur
Wenigen gegeben ist. Es gibt keinen Ausweg, kein Seitwärts und Rückwärts;
es gilt vielmehr, die Wucht und die Geschwindigkeit der Prozesse zu steigern,
in denen wir begriffen sind. Da ist es gut, zu ahnen, daß hinter den dynamischen
Übermaßen der Zeit ein unbewegliches Zentrum verborgen ist.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 207 |
Wir leben in einer Welt,
die auf der einen Seite durchaus einer Werkstätte, auf der anderen durchaus
einem Museum gleicht.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 210 |
Der gegebene Maßstab
liegt in der Lebensführung des Arbeiters vor. Es kommt nicht darauf an, diese
Lebensführung zu verbessern, sondern darauf, ihr einen höchsten, entscheidenden
Sinn zu verleihen.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 215 |
Ebenso wie der Sieger die
Geschichte schreibt, das heißt, sich seinen Mythos schafft, bestimmt er,
was als Kunst zu gelten hat.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 218 |
Wir aber haben zu begreifen,
daß zwischen der Gestalt des Arbeiters und der christlichen Seele ebensowenig
eine Beziehung bestehen kann, wie sie zwischen dieser Seele und den antiken Götterbildern
möglich war.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 219 |
Die Landschaftsgestaltung,
und zwar die planmäßige Landschaftsgestaltung, gehört zu den Zeugnissen
aller Zeiten, denen eine unbezweifelbare und unbestreitbare Herrschaft gegeben
war.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 225 |
Der wahllose Konkurrenzkampf
um die Reviere des natürlichen Reichtums und die Anhäufung von Individuen
zu einer atomisierten Gesellschaft in den großen Städten brachten in
unglaublich kurzer Zeit eine Veränderung hervor, deren Eingriff bis zur Verpestung
derAtmosphäre und der Vergiftung der Flüsse führt. Dieser Vorgang
mußte unausbleiblich die Einsicht nach sich ziehen, daß die isolierte
ökonomische Existenz, das abstrakte Denken in ökonomischen Werten und
Theorien, letzten Endes nicht einmal die ökonomischen Rangordnungen aufrecht
zu erhalten vermag. Diese Einsicht wird illustriert durch einen Trümmerhaufen
von Anlagen in allen Ländern der Welt, der nicht etwa die Folgen einer vorübergehenden
Krise, sondern das Ende eines geistesgeschichtlichen Abschnittes anschaulich macht.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 227-228 |
Daß die großen
Prozesse dennoch weiterlaufen, ist ein Beweis dafür, daß es sich hier
um einen Vorgang handelt, der die bürgerliche Welt und ihre Wertungen übergreift.
Die Zahl der großen und kleinen Katastrophen kündet deutlich an, daß
die private Sphäre den Aufgaben, die sie für sich in Anspruch nahm,
nicht mehr gewachsen ist. Dies muß notwendig zu Maßnahmen führen,
die mit dem alten Freiheitsbegriff nicht in Einklang zu bringen sind und auf die
im einzelnen nicht eingegangen werden kann. So muß die Gewährung von
Subventionen Eingriffe indie Unabhängigkeit der Wirtschaft und die Führung
des Konkurrenzkampfes nach sich ziehen, und so gehören zu den natürlichen
Folgen von Arbeitslosenunterstützungen schwere Beschränkungen der individuellen
Grundrechte, wie der Freizügigkeit und des freien Gebrauches der Kündigung.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 228 |
Tatsächlich erleben
wir, scheinbar durch rein zwangsläufige Verkettungen, eine sich ständig
verschärfende Beschlagnahme des Individuums und seiner gesellschaftlichen
Formen durch den Staat.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 228 |
Weltrevolutionär ist
die Technik als das Mittel, durch das die Gestalt des Arbeiters die Welt mobilisiert,
weltrevolutionär der Typus, in dem dieselbe Gestalt sich eine herrschende
Rasse schafft. Die geheime Anlage der Mittel, der Waffen, der Wissenschaften zielt
auf Raumbeherrschung von Pol zu Pol, und die Auseinandersetzungen zwischen den
großen Lebenseinheiten streben weltkriegerischen Charakter an.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 231 |
Die Kunst ist nichts Besonderes,
nichts, was an den Teilen zur Darstellung gebracht und etwa auf Einzelgebieten
wiederhergestellt werden kann. Als Ausdruck eines mächtigen Lebensgefühles
gleicht sie der Sprache, die man spricht, ohne sich ihrer Tiefe bewußt zu
sein. Das Wunderbare trifft man entweder überall oder an keiner Stelle an.
Es ist, mit anderen Worten, eine Eigenschaft der Gestalt.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 233 |
Das Typische gilt als die
Form des Zivilisatorischen, die von den natürlichen Formen ebensosehr wie
von denen der Kultur unterschieden, und zwar durch das Kennzeichen der Wertlosigkeit
unterschieden ist.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 233 |
Dies sind gängige Wertungen
der Zeitkritik innerhalb eines polaren Verhältnisses zwischen Masse und Individualität.
Wir sahen jedoch, daß Masse und Individualität die beiden Seiten ein
und derselben Medaille sind, und keine Kritik wird aus diesem Verhältnis
mehr herausrechnen, als in ihm enthalten ist. Insbesondere wird der Typus durch
diese Wertungen in keiner Weise berührt, denn seine Form ist dort, wo er
als Gemeinschaft erscheint, nicht die der Masse, und dort, wo er als Einzelner
auftritt, nicht die des Individuums.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 233-234 |
Überall in der
Natur begegnen wir einem Verhältnis zwischen Stempel und Prägung, das
dem Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung in derselben Weise übergeordnet
ist, in der etwa der »astrologische« Charakter eines Menschen ungleich
bedeutender ist als seine rein moralische Qualität.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 236 |
Diese Rangordnung offenbart
sich, indem Ursache und Wirkung nur an der geprägten Form zu begreifen ist,
während diese Formen an und für sich bestehen, gleichviel welche Erklärung
man ihnen geben, welche Perspektive ihrer Betrachtung man aufsuchen mag. Ohne
Zweifel ist jene Anschauung, über welche der naturwissenschaftliche Dünkel
sich weit zu erheben glaubte, die Anschauung nämlich, daß jede Form
ihren Ursprung einem besonderen Schöpfungsakte (hinter der Lehre von den
Mutationen verbirgt sich übrigens eine der Wiederentdeckungen des Wunders
durch die moderne Wissenschaft) verdankt, der natürlichen Wirklichkeit weit
angemessener als die mechanische Entwicklungstheorie, die für ein Jahrhundert
das Wissen von der »lebenden Entwicklung« verdrängte, das unter
Entwicklung die Projektion von Urbildern in den der Wahrnehmung zugänglichen
Raum verstand.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 236 |
Ebenso wie das moderne Naturgefühl
ein Kennzeichen für den Zwiespalt ist, der zwischen den Menschen und der
Natur besteht, deutet sich im Kulturgefühl die Entfernung des Menschen von
der schöpferischen Leistung an eine Entfernung, wie sie im Abstand
des Museumsbesuchers von den ausgestellten Objekten zum Ausdruck kommt. Es ist
uns der Gedanke sehr fremd geworden, daß es Maße gibt, deren Hervorbringung
ohne Anstrengung geschieht, weil jede Bewegung bereits Ausdruck und Repräsentation
des Maßes ist und entsprechend eine Bildung, welche die Gebilde wie
Gewächse aus dem Boden treibt oder sie nach kristallinischen Gesetzen zusammenschießen
läßt.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 238 |
Die wesentliche Gegenüberstellung
lautet nicht: Einzelner oder Gemeinschaft, sie lautet: Typus oder Individuum.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 240 |
Der Liberalismus hältsich
seit langem eine eigentümliche Art von Hofnarren, deren Aufgabe darin besteht,
ihm Wahrheiten zu sagen, die ungefährlich geworden sind.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 245 |
Man besitzt Macht, insofern
man über motorische Energie verfügt letzten Endes ist bereits
der Wille zur Macht eine hinreichende Legitimation. Ebenso sind die Symbole, auf
die man in millionenfacher Wiederholung stößt, Ausdruck einer Bewegungssprache,
so der Flügel, die Welle, die Schraube, das Rad. Dieser Prozeß mündet
aus in die reine Bewegung der selbständig gewordenen Teile, also in dieAnarchie,
oder er wird eingefangen und gegliedert durch Mächte statischer Art.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 247 |
Es gibt Mächte, von
denen man ebensowenig Legalität wie von einem Hochstapler Geschenke annehmen
kann, ohne daß man sich zum Mitschuldigen macht.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 251 |
Wir stehen in einem Prozeß,
durch denden allgemeinen Prinzipien Richtung gegeben wird und in dem die »Freiheit
wovon« sich wandelt in eine »Freiheit wozu«. In diesem Zusammenhange
erscheint der Sozialismus als die Voraussetzung einer schärfsten autoritären
Gliederung und der Nationalismus als die Voraussetzung für Aufgaben von imperialem
Rang.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 254 |
Der Sozialismus und der
Nationalismus als allgemeine Prinzipien sind, wie gesagt, zugleich nachholender
und vorbereitender Natur. Dort, wo der menschlicheGeist sie für verwirklicht
hält, deutet sich der Abschluß eines Zeitalters an, aber sogleich wird
offenbar, daß dieser Abschluß neue Aufgaben, neue Gefahren, neue Möglichkeiten
des Aufmarsches in sich enthält. In allen großen Ereignissenunserer
Zeit verbergen sich sowohl die Endpunkte von Entwicklungen wie die Anfangspunkte
neuer Ordnungen. Dies gilt auch für den Weltkrieg als das umfassendste und
einschneidendste dieser Ereignisse.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 254 |
Der Weltkrieg war, insofern
er den Schlußstrich unter das 19. Jahrhundert zog, eine gewaltige Bestätigung
der in diesem Jahrhundert wirksamen Prinzipien. Er hinterließ auf dem Erdball
keine andere Staatsform als die der verhüllten oderunverhüllten nationalen
Demokratie.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 254-255 |
Auch dort, wo die Auseinandersetzung
eine rein ökonomische Färbung angenommen hat, dürfte der Satz einleuchten,
daß der Sozialismus in der Nachbarschaft eines kräftigen Kapitalismus
vor allem gedeiht. Handelt es sich doch um zwei Äste von ein und demselben
Holz.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 266 |
Man beginnt endlich zu sehen,
daß hier ein sehr gleichartiges Menschentum an der Arbeit ist und daß
der Vorgang des Meinungskampfes als ein Schauspiel erkannt werden muß, das
das bürgerliche Individuum mit verteilten Rollen spielt. Alle diese Leute
sind radikal, das heißt: langweilig, und ihre gemeinsame Ernährungsweise
besteht ohne Unterschied in der Ausmünzung von Tatsachen zu Meinungen. Ihr
gemeinsamer Stil ist zu definieren als ein einfältiger Jubel über irgendeinen
Standpunkt, irgendeine Perspektive, die ihnen allein eigentümlich ist
also als das Gefühl des einmaligen Erlebnisses in seiner billigsten Form.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 278-279 |
Es wäre irrig,
anzunehmen, daß die entsprechenden Zerstörungsmittel für den Arbeiter
in den großen sozialen und ökonomischen Theorien zu suchen sind. Wir
führten vielmehr bereits aus, daß in ihnen lediglich eine Fortsetzung
der Arbeit der bürgerlichen Vernunft zu erblicken ist. Diese Theorien sind
viel weniger zu vergleichen der Neuentdeckung des Menschen im 18. Jahrhundert
als dem aristokratischen Rationalismus, durch den sich die Schicht, gegen welche
diese Entdeckung gerichtet ist, gleichzeitig aus sich selbst heraus zersetzt.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 287 |
Diese Selbstzersetzung der
alten Gesellschaft kommt allerdings dem Bürger ebenso zugute wie später
die Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft dem Arbeiter. Wenn man auch
hierin eine Waffe erblicken will, so ist das zulässig nach dem Grundsatze,
daß alles von Vorteil ist, was den Gegner zu schädigen vermag. Das
angewandte Verfahren stößt freilich nicht aus der Zone der Zerstörung
in die der Herrschaft hinaus. Die ihm zugrunde liegenden Prinzipien, etwa das
der Gleichheit oder der Teilung, sind lediglich nivellierender Art; sie beziehen
sich auf den gegebenen Gesellschaftsbestand.Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 287 |
Die revolutionären Mittel, die der Arbeiter legitimiert,
sind bedeutender als abstrakt-geistige Mittel: sie sind gegenständlicher
Art. Die Aufgabe des Arbeiters besteht in der Legitimation der technischen
Mittel, durch die die Welt mobilisiert, das heißt, in den Zustand
einer uferlosen Bewegung versetzt worden ist. Das reine Vorhandensein
dieser Mittel steht zum bürgerlichen Freiheitsbegriff und den ihm
angemessenen Lebensformen in einem wachsenden Gegensatz; es erfordert
die Bändigung durch eine ihrer Sprache gewachsene Kraft. Wir haben
es hier mit einer jener großen stofflichen Revolutionen zu tun,
die mit dem Auftreten von Rassen zusammenfallen, denen der Zauber neuer
Mittel wie der Bronze, des Eisens, des Pferdes, des Segels zur Verfügung
steht. Ebenso wie das Pferd erst durch den Ritter, das Eisen durch den
Schmied, das Schiff durch jene »dreifach mit Erz gepanzerte Brust«
ihre Bedeutung gewinnen, so tritt auch der Sinn, die Metaphysik des technischen
Instrumentariums erst dann hervor, wenn die Rasse des Arbeiters alsdie
ihm zugeordnete Größe erscheint.
Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke,
2. Abteilung, Band 8, S. 287-288 |
Dem Unterschiede der angewandten Mittel entspricht der Unterschied
in der Einrichtung und Besitzergreifung der eroberten Welt. Für den
Bürger vollzieht sich dieser Vorgang in der geistigen Konstruktion
von Verfassungen, in denen dieselbe Vernunft, die die alte Gesellschaft
zerstörte, als Fundament und Grundmaß einer neuen erscheint.
Für den Arbeiter stellt sich die entsprechende Aufgabe dar als die
organische Konstruktion der in eine uferlose Bewegung geratenen Massen
und Energien, die der Zersetzungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft
hinterlassen hat. Der Rahmen, in den die Freiheit des Handelns eingeschlossen
wird, ist hier nicht mehr die bürgerliche Verfassung, sondern der
Arbeitsplan. Wie der Bürger zunächst den absoluten Staat als
Feld der Tätigkeit vorfindet, so vollziehen sich die ersten Bewegungen
des Arbeiters innerhalb der Grenzen der nationalen Demokratie, deren Mittel
den beiden Trägern der bürgerlichen Gesellschaft, also dem Individuum
und der Masse, zu entwinden sind.
Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke,
2. Abteilung, Band 8, S. 288 |
Der Nationalismus und der Sozialismus sind zu erkennen als Prinzipien,
die dem 19. Jahrhundert zugeordnet sind. Die Ordnungen der nationalen
Demokratie treiben in demselben Maße, in dem sie an Allgemeingültigkeit
gewinnen, Zuständen der Weltanarchie zu. Ebenso ist der Sozialismus
außerstande, gültige Ordnungen zu verwirklichen. Diese beiden
Prinzipien scheitern an sich selbst, indem jede beliebige Macht sich ihrer
Spielregeln bedient.
Ernst
Jünger, Der Arbeiter, 1932, in: Sämtliche Werke,
2. Abteilung, Band 8, S. 316 |
Die schlechte Rasse wird daran erkannt, daß sie sich durch
den Vergleich mit anderen zu erhöhen, andere durch den Vergleich
mit sich zu erniedrigen sucht.
Ernst
Jünger, Blätter und Steine, 1934 |
Tief ist der Haß, der in den niederen Herzen dem Schönen
gegenüber brennt.
Ernst Jünger,
Auf den Marmorklippen, 1939, S. 48 |
Dreieinig sind das Wort, die Freiheit und der Geist.
Ernst
Jünger, Auf den Marmorklippen, 1939, S. 67 |
Denn die Erde ist schön
Ernst
Jünger, Auf den Marmorklippen, 1939, S. 71 |
So ruhen unsere hohen Kräfte unverletzlich wie in den Adlerschlössern
aus Kristall.
Ernst
Jünger, Auf den Marmorklippen, 1939, S. 73 |
Der Pater Lampros freilich lächelte und meinte, es gäbe
Sarkophage auch für den Geist.
Ernst
Jünger, Auf den Marmorklippen, 1939, S. 73 |
So gibt es Lagen, in denen jeder jeden für einen
Träumer hält. - Es ist jedoch ein Fehler, der uns im Denken
häufig unterläuft, daß wir bei Gleichheit der Methoden
auch auf die gleichen Ziele schließen und auf die Einheit des Willens,
der hinter ihnen steht. Darin bestand Verschiedenheit insofern, als der
Alte die Marina mit Bestien zu bevölkern im Sinne hatte, indessen
Braquemart sie als den Boden für Sklaven und für Sklavenheere
betrachtete. Es drehte sich dabei im Grunde um einen der inneren Konflikte
unter Mauretaniern, den hier in seinen Einzelheiten zu beschreiben nicht
tunlich ist. Es sei nur angedeutet, daß zwischen dem ausgeformten
Nihilismus und der wilden Anarchie ein tiefer Gegensatz besteht. Es handelt
sich bei diesem Kampfe darum, ob die Menschensiedlung zur Wüste oder
zum Urwald umgewandelt werden soll.
Ernst
Jünger, Auf den Marmorklippen, 1939, S. 93 |
Was Braquemart betrifft, so waren alle Züge des späten
Nihilismus an ihm sehr ausgeprägt. Ihm war die kalte, wurzellose
Intelligenz zu eigen und auch die Neigung zur Utopie. Er faßte wie
alle seinesgleichen das Leben als ein Uhrwerk auf, und er erblickte in
Gewalt und Schrecken die Antriebsräder der Lebensuhr. Zugleich erging
er sich in den Begriffen einer zweiten und künstlichen Natur, berauschte
sich am Dufte nachgeahmter Blumen und den Genüssen einer vorgespielten
Sinnlichkeit. Die Schöpfung war in seiner Brust getötet und
wie ein Spielwerk wieder aufgebaut. Eisblumem blühten auf seiner
Stirn. Wenn man ihn sah, dann mußte man an den tiefen Ausspruch
seines Meisters denken: »Die Wüste wächst
weh dem, der Wüsten birgt!«.
Ernst
Jünger, Auf den Marmorklippen, 1939, S. 93-94 |
Unter
Ihren Bemerkungen fiel mir der Satz auf, daß Sie und Ihre Freunde die Menschen
nur nach ihrem funktionalen Charakter werteten. Wichtig ist aber ohne Zweifel
nur, was übrig bleibt, wenn man den Menschen seiner Funktion beraubt, sei
es seiner technisch-politischen, sei es der des Lebens überhaupt. Das ist
ein metaphysischer, unteilbarer und unorganisierbarer Rest.Ernst
Jünger, Brief an Edgar Traugott, 21.09.1942 |
Nach dem Erdbeben schlägt man auf die Seismographen ein.
Man kann jedoch die Barometer nicht für die Taifune büßen
lassen, falls man nicht zu den Primitiven zählen will. (Bitte
bei den folgenden Zitaten aus Jüngers Buch »Strahlungen«
den folgenden Hinweis beachten! »In verschlüsselter Form spiegelt
sich in diesem Tagebuch seine Affäre mit der verheirateten deutschstämmigen
Pariser Kinderärztin Sophie Ravoux wider. Ihren Namen verbirgt Jünger
hinter den Chiffren Doctoresse, Madame Dankart,
Madame dArmenonville, Charmille oder Camilla.
Unter ihrem bürgerlichen Namen findet sie erst 1972 in Jüngers
Alterstagebuch Siebzig verweht Eingang. Er verwendet auch für
andere Personen selbst erfundene Pseudonyme. - Wenn er Hitler meint, spricht
er immer von Kniébolo, von seiner Frau spricht er als
Perpetua. Ohne Namensnennung erwähnt er oft den Oberbefehlshaber
und den Präsidenten, im Unterschied dazu auch einen Président.
Auch Oberförster, Schinderhannes und Grandgoschier
finden Erwähnung [z.B. am 27. März 1944].« [Wikipedia])
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 9 |
Vincennes, 1. Mai 1941. - .... Maiglöckchen, von denen
ich ein Sträußchen kaufe, zur Feier des Tages, der wohl auch
Schuld trug an der Begegnung mit Renée, einer jungen Kontoristin
aus einem Warenhaus. Die Stadt bringt solche Verknüpfungen fast ohne
eigene Bemühungen; man merkt, daß sie auf einem Altar der Venus
gegründet ist. - Gegessen, dann im Lichtspiel; ich berührte
dort ihre Brust. Ein heißer Eisberg, ein Hügel im Frühling,
in den Myriaden von Lebenskeimen, etwa von weißen Anemonen, eigebettet
sind.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 32 |
Vincennes, 3. Mai 1941. - Mir gegenüber ein Mädchen
in Rot und Blau, das vollkommene Schönheit mit mit einem hohen Maß
von Kälte vereinigte. Eine Eisblume: wer sie auftaut, zerstört
die Form.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 33 |
Montgé, 8. Juni 1941. - Am Nachmittag des 5. Juni marschierten
wir ab. Die Mädchen von Montreuil und Vincennes bildeten vor den
Toren des Forts Spalier, wie weilan die Schönen beim Abzug der Truppen
Alexanders aus Babylon.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 41 |
Paris, 18. Oktober 1941. - Mittags mit Carl Schmitt, der
vorgestern einen Vortrag über die völkerrechtliche Bedeutung
des Unterschiedes von Land und Meer gehalten hat, im Ritz. Dazu Oberst
Speidel, grüninger, Graf Podewils. Gespräch über wissenschaftliche
und literarische Kontroverse in dieser Zeit. Carl Schmitt verglich seine
Lage mit der des weißen , von schwarzen Sklaven beherrschten Kapitäns
in Melvilles »Benito Corneo« und zitiert dazu den Spruch:
»Non possum scribere contra eum, qui potest proscribere«.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 51-52 |
Paris, 18. Oktober 1941. - Zum Trocadéro, am rechten
Ufer entlang. Wir sprachen dabei die Lage durch. Carl Schmitt sieht ihre
Bedeutung darin, daß Schichtensich vom menschlichen Bestand abzulsöen
beginnen, um unterhalb der Zone der Willensfreiheit zu erstarren - so
wie die Tiere abgefallene Masken des Menschenbildes sind. Der Mensch stößt
eine neue zoologische Ordnung aus sich aus - die eigentliche Gefahr des
Vorganges liegt darin, daß man in ihn einbezogen wird.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 52 |
Paris, 19. Oktober 1941. - Mit Grüninger und Carl
Schmitt in Port Royal.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 52 |
Paris, 12. November 1941. - Die Zukunft ist füssig,
die Vergangenheit ist fest.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 56 |
Paris, 7. Dezember 1941. - Merline ( Louis-Ferdinand Céline [eigentlich:
Destouches]; HB), groß knochig, stark, ein wenig plump,
doch lebhaft in der Diskussion oder vielmehr im Monolog. Es ist ihm der
in sich gekehrte Blick der Manischen eigentümlich, der wie aus Höhen
hervorleuchtet. Er sieht nicht mehr nach rechts und nach links; man hat
den Eindruck, daß er auf ein unb ekanntes Ziel zuschreitet: »Ich
habe den Tod stets neben mir« - dabei deutet er neben seinen Sessel
wie auf ein Hüdchen, das dort liegt. - Er sprach sein Befremden,
sein Erstaunen darüber aus, daß wir Soldaten die Juden nicht
erschießen, aufhängen, ausrotten - sein Erstaunen darüber,
daß jemand, dem die Bajonette zur Verfügung stehn, nicht unbeschränkten
Gebrauch von ihnen macht. »Wenn die Bolschewiken in Paris wären,
sie würden Ihnen das vormachen, Ihnen zeigen, wie man Quartier für
Quartier und Haus für Haus die Einwohnerschaft durchkämmt. wenn
ich die Baajonette hätte, ich würde wissen, was ich zu tun hätte.
- Es war mir lehrreich, ihn derart zwei Stunden wüten zu hören,
weil die ungeheure Stärke des Nihilismus mir an ihm einleuchtete.
Solche Menschen hören nur eine Melodie, doch diese ungemein eindringlich.
Sie gleichen eiserenen Maschinen, die ihren Weg verfolgen, bis man sie
zerbricht.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 63 |
Kirchhorst, 24. Dezember 1941. - Auf Urlaub in Kirchhorst.
Ish spüre kaum den Hang zu Aufzeichnungen - ein gutes Signum für
die Schwerkraft, die mir Perpetua verleiht. Wozu der Monolog. Besucher,
darunter Carl Schmitt. Er weile für zwei Tage. - Nachts Träume
- eine Menge von nackten Menschen, unter denen es Opfer und Henker gab.
Im Vordergrunde ein Weib von wunderbarer Schönheit, dem einer der
Henker mit einem Hiebe den Kopf herunterschlug. Ich sah den Rumpf noch
eine Weile stehn, ehe er zusammenbrach - noch kopflos schien er begehrenswert.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 65-66 |
Paris, 7. Januar 1942. - Nachmittags bei Poupet in der
Rue Garanvière. .... Charmille. Wir sprachen über Proust,
von dem Poupet mir Briefe schenken will. Dann über Bekannte, die
sie recht scharf erfaßt. Auch über Einfluß, den Eros
auf die Bildung des Körpers übt. In diesem Zusammenhange über
das Wort souplesse, das ähnlich wie désinvolture unübersetzbare
Züge trägt. - Der erste Brief Perpetuas. Wie ich wohl fühlte,
sprachen die beiden, nachdem sie mich an die Bahn gebracht hatten, auf
dem Rückwege durch die nächlichen Straßen noch lange von
mir. Vielleicht wird sie ein Haus bei Uelzen für uns kaufen; die
Gegend im Herzen der Heide wäre die rechte für das einsame Leben,
dem wir zustreben. - Ferner ein Brief von Wolfgang, der als der letzte
von uns vier Brüdern eingezogen worden ist. Er führt jetzt als
Gefreiter ein Gefangenenlager in Züllichau; die Gefangenen werden
es dort gut haben. Als Kuriosum schreibt er: »Gestern habe ich eine
Dienstreise nach Sorau in der Lausitz gemacht. wo ich einen Gefangenen
in das Lazarett zu überliefern hatte. Dort mußte ich auch dem
Irrenhaus ein Besuch abstatten. Es begenete mir dabei eine Frau, deren
einziger Tick darin bestand, daß sie ununterbrochen ,Heil Hitler
mumelte. Immerhin ein zeitgemäßer Wahnsinn.«
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 67-68 |
Paris, 10. Januar 1942. - Um fünf Uhr aufgewacht.
Ich hatte geträumt, daß mein Vater gestorben sei.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 69 |
Paris, 18. Januar 1942. - Oberst Gerlach, der jetzt als
Quartiermeister vom Osten herübergekommen ist und an dessen Unterhaltung
man den scharfen Potsdamer Witz studieren kann.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 70 |
Paris, 24. Januar 1942. - In Fontainebleau bei Röhricht,
dem Chef der I. Armee. Er wohnt im Hause der Dolly Sisters; ich übernachte
bei ihm. Rückblick auf alte Zeiten - wir haben damals im Dotter der
Leviathans gelebt. Der Estrrich des Speisezimmers war mit grün geströmtem
Marmor getäfelt und ohne Teppich, nach alter Sitte, damit man den
Hunden Knochen und Bratenstücke auf den Boden werfen kann. Lang am
Kamine, erst über Mommsen und Spengler, dann über die Entwicklung
des Feldzuges. Die Unterhaltung machte mir wieder die Verheerung deutlich,
die Burckhardt durch seine Renaissance anrichtete - vor allem durch die
Impulse, die über Nietzsche auf die Bildungsschicht ausstrahlten.
Merkwürdig bleibt der Umsatz der reinen Schau in Willen, in leidenschaftliche
Aktion.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 72 |
Paris, 27. Januar 1942. - Ich meine ..., daß die
Worte ein Gitter bilden, das durch die Mauer Ausblick auf das Unaussprechliche
gewährt. Sie zesilieren die Fassung, der Stein bleibt unsichbar.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 73 |
Paris, 5. Februar 1942. - Das eigentlich Männliche
tritt doch erst nach dem vierzigsten Jahr hervor.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 77 |
Paris, 8. Februar 1942. - Kniébolos Absichten ....
- Auch muß man wissen, daß viele Franzosen solche Pläne
billigen und Henkersdienste zu leisten begierig sind.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 78 |
Paris, 12. Februar 1942. - Meine vielen Verwundungen im
ersten Weltkriege ... entsprachen dem feurigen, stürmischen Geist,
der mich belebte, und der sich Venitile schaffte, weil er zu mächtig
für den Körper war. So auch die wilden Rauf-, Spiel- und Liebeshändel,
die Blessuren und oft den Selbstmord nach sich ziehen. Das Leben springt
in die Pistolenmündung ein.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 79 |
Paris, 10. März 1942. - Am Abend mit dem neuen Oberbefehlshaber,
Heinrich von Stülpnagel, im runden Salon. Wir sprachen über
Botanik und über byzantinische Geschichte, in der er bewandert ist.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 89 |
Kirchhorst, 17. Mai 1942. - Brief von Grüninger ....
- Nach Abwehr eines russischen Spähtrupps entdeckten seine Soldaten
unter den Toten ein siebzehnjähriges Mädchen, das fanatisch
gekämpft hatte. Wie es kam, wußte niemand zu sagen, aber am
nächsten Morgen lag der Leichnam nackt im Schnee, und da der Winter
ein glänzender Bildhauer ist, der die Formen sowohl starr wie frisch
erhält,so hatte die Besatzung noch lange zur Bewunderung des schönen
Körpers Gelegenheit. Als man später den Stützpunkt zurückverlegte,
meldeten sich die Leute oft freiwillg zu einer Streife, um sich auf diese
Weisenoch einmal zu erlaben am Anblick der herrlichen Gestalt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 95 |
Paris, 6. Juni 1942. - Im ersten Weltkrieg lautete die
Frage, die wir zu lösen hatten, ob der Mensch oder die Maschine stärker
sei. - Inzwischen sind die Dinge weiter gediehen; es handelt sich heute
darum, ob Menschen oder Automaten die Herrschaft über die Erde zukommen
soll.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 100 |
Paris, 22. Juni 1942. - Die Zeit beißt alle Welt.
Sie ist das demokratische Prinzip im Gegensatz zum aristokratischen Raum.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 102 |
Paris, 29. Juni 1942. - Truhe - doch wohl von truen, anvertrauen.
Dazu auch das Wort Hüstrue für Gattin, Hausfrau, das ich auf
nordischen Grabsteinen las. Dann Trude für Hexe - heir gewinnt das
Heimliche, Verborgene den schlimmen Sinn. Auch trudeln gehört in
diese Sippe, so fahren die Hexen durch die Luft.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 103 |
Paris, 18. Juli 1942. - Architekturen-Träume, in denen
ich alte gotische Gebäude sah. Sie standen in verlassenen Gärten,
und keine Seele erfaßte inmitten der Einsamkeiten ihren Sinn. Und
dennoch schienen sie mir auf verborgene Art noch schöner; es wurde
in ihnen eine Prägung deutlich, wie sie auch Pflanzen und Tieren
eigentümlich ist - die höhere Natur. Gedanke: das hatten sie
für Gott mit eingebaut.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 108 |
Paris, 21. Juli 1942. - Menschen mit Panzergliedern ....
Das ist der Optimismus, den die Maschinentechnik mit sich bringt, und
den sie nicht entbehren kann.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 109 |
Paris, 22. Juli 1942. - Nachmittags bei Picasso.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 110 |
Paris, 3. August 1942. - Gleichwie es Farben gibt, die
jenseits der sichtbaren Skala liegen, so gibt es einen dunklen Strom des
Wissens, der sich nur selten individualisiert.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 116 |
Paris, 16. August 1942. - Sonnabend und Sonntag in Vaux-les-Cernay
bei Rambouillet als Gast des Oberbefehlshabers, der diese alte Abtei als
Sommerresidenz benutzt. .... - Der General kam auf die russischen Städte
zu sprechen und meinte, daß ihre Kenntnis wichtig für mich
sei, vor allem für gewisse Korrekturen an der »Gestalt des
Arbeiters«. ich erwiderte, daßich mir zuz Pönitenz seit
langem einen Besuch New Yorks verschrieben hätte, doch auch mit einem
Kommando zur Ostfront einverstanden sei.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 121-122 |
Paris, 9. August 1942. - Lektüre: Schlegels Lucinde
....
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 123 |
Paris, 28. August 1942. -Immer noch keine Nachricht über
die Fahrt in die östlichen Gegenden.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 124 |
Paris, 8. September 1942. - Stadtkern sei demoliert. Dann
über den Amerikanismus, der druch die Niederleh´gung der alten
Städte weiter gefördert wird.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 127 |
Paris, 10. September 1942. - Unter den Klippen im Fortschritt
meines Denkens wurde in diesen Jahren die des Solipsismus besonder stark.
Das hängt zusammen mit der Versuchung zur Menschenverachtungm die
sich vor allen anderen aufdrängt, und die man nicht genug in sich
bekämpfen kann. Inmitten dieser Massen, die sich der Willensfreiheit
begeben haben, fühlt man sich immer mehr allein und immer fremder,
und manchmal will es scheinen, als wären sie gar nicht vorhanden
oder nur Schemen, die man in halb dämonischen, halb mechanischen
Zusammenhängen um sich erblickt. - Aktiver Solipsismus: in diesem
wird die Welt von uns geträumt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 128 |
Paris, 3. Oktober 1942. - »Unser leben währet
siebzig Jahre ...« - dem könnte man hinzusetzen: und das ist
auch genug. Wer bis dahin nicht so viel gelernt hat, um in eine höhere
Klasse versetzt zu werden, der muß eben noch einmal von vorn beginnen,
muß nachholen.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 141 |
Paris, 6. Oktober 1942. - Die Schleimhaut ist frühe
Haut, Erbteil der Meereswiegen und neptunischen Ursprünge. Hier strebt
der Tastsinn ähnliche Bereiche an, wie sie dem Auge durch die rote
Farbe zuteil werden.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 143 |
Paris, 7. Oktober 1942. - Aus den Zeitungen: »Ein
Buch, das eine Auflage von einer Million erreicht, ist in jedem Falle
etwas Ungewöhnliches - ein ungewöhnliches Ereignis in der geistigen
Welt. - Man erkennt, daß hier eine tiefe Notwendigkeit am Werke
ist. Der Erfolg des Mythus ist eines der Zeichen, an denen
der verborgene Wille eines kommenden Zeitalters abgelesen werden kann.«
Also der weise Kastor im »Völkischen Beobachter« vom
7. Oktober 1942 über den »Mythus« von Rosenberg, die
platteste Sammlung von flüchtig abgeschriebenen Gemeinplätzen,
die man sich denken kann. Derselbe Kastor argumentierte an der gleichen
Stelle vor nunmehr fast zehn Jahren: »Ja, hat denn Herr Spengler
nicht die Zeitungen gelesen?« Also ein Philosoph, der einen anderen
Philosophen als Erkenntnisquelle auf die Zeitungen verweist, und das in
Deutschland, und zwar expressis verbis -, das dürfte doch so schlicht
noch nie zum Ausdruck gekommen sein. Und wohlgemerkt gilt dieser als der
erste in seinem Fache, als Überphilosoph heroischer Geschichtsauffassung
und ähnliches. Dies als kleines Beispiel für die Luft, in der
man lebt. - Leute wie dieser Kastor gehören übrigens zum Typus
der Trüffelschweine, dem man in jeder Revolution begegnen wird. Da
ihre groben Gesinnungsgenossen unfähig sind, die exquisiten Gegner
festzustellen, bedienen sie sich korrumpierter Intelligenzen höheren
Ranges, um sie herauszuschnüffeln und sichtbar zu machen und dann
womöglich auf eine Art zu attackieren, die der Polizei Handhaben
bieten kann. Jedesmal wenn ich merkte, daß er sich mit mir beschäftigte,
machte ich mich auf eine Haussuchung gefaßt. Auch gegen Spengler
rief er nach der Polizei, und es gibt Eingeweihte, die behaupten, daß
er ihn auf dem Gewissen hat.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 144 |
Paris, 12. Oktober 1942. - Im Augenblick, in dem man nach
Rußland soll, kann man sich jedoch nicht krank melden.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 145 |
Suresnes, 14. Oktober 1942. - Wir wären nicht, hätte
unser vater eine andere Frau, unsere Mutter einen anderen Mann geheiratet.
Auch das Bestehen dieser Ehe angenommen, sind wir unter Millionen von
Keimen ausgewählt. So sind wir flüchtige Kombinationen des Absoluten
- wir gleichen Losen, die gezogen werden, und die Gewinne, die in Schicksalscharakteren
darauf verzeichnet stehen, werden uns dann in ridischer Währung,
als Pfunde, mit denen wir zu wuchern haben, ausgezahlt. - Von hierf aus
wäre dann zu schließen, daß wir als Individuen unvollkommen
sind, und daß die Ewigkeit uns weder angemessen noch tragbar ist.
Wir müssen uns vielmehr zum Absoluten zurückverwandeln, und
diese Möglichkeit eben bietet uns der Tod. Der Tod hat eine äußere
und eine innere Form, welch letztere auch zuweilen, und zwar physiognomisch,
am Toten sichtbar wird. Der Tod hat sein Mysterium, das das der Liebe
noch überwiegt. Wir werden Eingeweihte, Mysten an seiner Hand. Das
Lächeln der Überraschung ist schon geistig. doch strahl es im
Abglanz noch auf die Körperwelt, noch auf die Züge des Sterbenden
zurück.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 146 |
Suresnes, 14. Oktober 1942. - Mein Hang, mich, wenn ich
einen Menschen liebe, von ihm zu entfernen - als ob sein Bild sich in
mir so stark entwickelte, daß er sich mit seiner körperlichen
Nähe nicht verträgt. - Der Mann, der seine Geliebte tötet,
wählt den umgekehrten weg - er löscht, um sie ganz zu besitzen
ihr Abbild aus. - Der gemeinsame Tod ist immer ein bedeutender Akt ....
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 147 |
Suresnes, 16. Oktober 1942. - Lichtenbergs Aphorismen und
Schopenhauers Parerga, zwei alte, bewährte Tröster in der Not.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 148 |
Suresnes, 18. Oktober 1942. - Wir sagen: »Das ist
sicher wie zweimal zwei gleich vier.« Nicht aber: »Wie einmal
eins gleich eins.« - In der Tat ist die erste Fassung einleuchtender;
die Klippe des Identitätssatzes liegt bereits hinter ihr.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 149 |
Paris, 22. Oktober 1942. - Als er hörte, daß
ich nach Rußland ginge, wollte er kein Honrar nehmen.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 150 |
Kirchhorst, 24. Oktober 1942. - Stufen, die zum Amerikanismus
führen.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 155 |
Kirchhorst, 24. Oktober 1942. - Gedanke: die Natur hat
Wasserstofftiere vergessen, die Tiere des Leichter-als-Luft-Fluges, die
in der Atmosphäre schwimmen wie Wale in der Flut. Sie ist uns so
einige Giganten schuldig geblieben, indem sie gleich zur eleganteren Lösung
des Fluges überging.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 156 |
Kirchhorst, 6. November 1942. - Beim Lesen entsann ich
mich eines alten Planes: der Schilderung der Figur, in welcher die Ordnung
von links nach rechts in das Naturrecht taucht, zunächst mit dem
tribunizischen Flügel und dann mit dem senatorischen, mit Marius
und Sulla, mit Marat und Gallifet.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 157 |
Berlin, 12. November 1942. - Unterwegs physiognomische
Sudien. der feine, fast unvermerkbare Zug von Erfahrung, den ich in die
Mundwinkel eines jungen Mädchens umranden sah. So titzt die Lust
sich wie mit Diamanten ein. - Am Aband in Dahlem; wir wohnen bei Carl
Schmitt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 158 |
Lötzen, 18. November 1942. - Ich blieb in Lötzen,
da alle Plätze im Flugzeug für Kiew belegt waren.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 159 |
Lötzen, 19. November 1942. - Es war bereits fast dunkel;
ein stiller See lag gegen Sonnenuntergang in braunem und violettem Brodem,
und gegen Morgen in zarter, kühlgrüner Spiegelung. Ihn säumten
junge Birken; die wießen Schäfte strahlten im weichen Braun
des Dickichts, das sie umgab.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 160 |
Lötzen, 20. November 1942. - Vormittags Spaziergang
um die Feste Boyen, deren gezackte Schanzen ein lockerer Birken- und Erlenwald
umkränzt, in dessen kahlen Wipfeln Schwärem von Nebelkrähen
flatterten. Dabei berührte ich den Hügel am See, auf dem ein
hohes Kruzifix erreichte ist, zur Erinnerung an Bruno von Querfurt (Brun
von Querfurt; HB), der am 9. März des Jahre 1009 in diesem
Lande als Missionar den Matyrtod erlitt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 161 |
Kiew, 21. November 1942. - In Kiew wurde ich im Placehotel
einquartiert. Obwohl an den Waschbecken die Handtücher, im Schreibzimmer
die Tinte, auf den Treppen einige Marmorstufen fehlten, soll es das best
Hotel in ganz Rußland sein. Auch gaben die Wasserhähne, solange
man auch an ihnen drehte, weder warmes wasser noch Wasser überhaupt.
Das gleiche galt für die Spülungen. Daher erfülle auch
ein böser Duft das ganze Palacehotel.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 162 |
Rostow, 23. Nobvember 1942. - Das Auge muß sich an
den Anblick des denkbar Unangenehmsten gewöhnen ....
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 163 |
Woroschilowsk, 1. Dezember 1942. - Ob es auch geographische
Einwirkungen auf den Charakter gibt?
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 172 |
Krapotkin, 9. Dezember 1942. - Die Freiheit kann nicht
wiederhergestellt werden im Sinne des 19. Jahrhunderts ....
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 173 |
Kurinskij, 13. Dezember 1942. - »Achtung, Bandengefahr,
Schußwaffen bereithalten.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 178 |
Kurinskij, 18. Dezember 1942. - Die automatische Gewohnheit
des Tötens bringt physiognomisch die gleichen Verheerungen zustande
wie die automatisch geübte Sexualität.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 186 |
Nawaginskij, 19. Dezember 1942. - Sie sind Arbeiter auf
dem Gebiete der Befehlstechnik und, wie der nächste beste an der
Maschine, ersetzbar und auswechselbar.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 187 |
Nawaginskij, 21. Dezember 1942. - All diese Gespräche
habe ich schon im ersten Weltkrieg gehört, doch ist inzwischen das
Leiden dumpfer geworden, notwendiger, und eher die Regel als die Ausnahme.
Wir sind hier in einer der ganz großen Knochenmühlen, wie man
sie erst seit Sebastopol und dem russisch-japanischen Jriege kennt. Die
Technik, die Welt der Automaten, muß mit der Erdkraft und ihrer
Leidensfähigkeit zusammentreffen, damit derartiges entsteht.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 190 |
Kutais, 31. Dezember 1942. - Doch war ja das brave Pferd
noch unter mir.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 198 |
Apscheronskaja, 1. Januar 1943. - Besser ist eine gewisse
Lockerheit der Glieder, wie sie das Kind bei der Geburt besitzt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 200 |
Maikop, 3. Januar 1943. - Überhaupt wird man mehr
an den Dreißigjährigen Krieg erinnert als an den vorigen, nicht
nur durch die Formen, sondern auch durch die Religionsfragen, die deutlich
durchleuchten.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 201 |
Teberda, 4. Jnauar 1943. - Im übrigen verhielt er
sich philosophisch so etwa:
»Ich bin doch neugierig, wer in einer
Woche die Anastasia in den Hintern zwicken tut.« |
Der Spruch bezog sich auf eins der Mädchen, die bei Tisch aufwarteten.
Übrigens weinten sie u nd meinten, daß die Russen ihnen die
Hälse abschneiden würden, worau der Oberst ihnen einen Platz
beim Troß einräumte.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 204 |
Woroschilowsk, 6. Januar 1943. - Die Leute sind in einer
schlimmen Lage, da sie die Deutschen als Befreier begrüßten,
und werden wohl, falls sie den Rückmarsch nicht begleiten, sich in
die unwegsamen Berge flüchten müssen, um den russischen Abschlachtungen
zu entgehen.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 205 |
Woroschilowsk, 7. Januar 1943. - Im Stab fand ich die Stimmung
gedrückter als bei der Truppe; das liegt wohl daran, daß man
hier die Lage übersieht. Die Kessel teriben den Gemütszustand
hervor, den man in früheren Kriegen unserer Geschichte nicht kannte
- eine Erstarrung, wie sie der Annäherung an den absoluten Nullpunkt
entspricht.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 206 |
Woroschilowsk, 7. Januar 1943. - Natürlich versuchen
die Russen jetzt Brücken und Eisenbahnen zu sprengen und setzen zu
diesem Zwecke zahlreiche Sabotagetrupps an ....
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 207 |
Woroschilowsk, 8. Januar 1943. - Im Vorzimmer überreichte
mir der Nachrichtenoffizier ein Telegramm; der Vater ist schwer erkrankt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 208 |
Kiew, 9. Januar 1943. - Während der Fahrt viel an
den Vater gedacht. Ich sah ihn nicht seit dem Jahre 1940, als ich nach
dem Feldzug in Frankreich in Leisnig rastete. Doch telefonierte ich einige
Male mit ihm. Nun, ider Einmündung er ersten Morgenstunde, sah ich
am dunklen Himmel seine Augen strahlen, groß und in tieferem, lebendigerem
Blau als je zuvor - die Augen, die ihm im Grunde zugehörig sind.
Oft brauchte er ihren Sammet im Scheidewasser des Vesrtandes, in der Unrast
des Sinnenlebens ab. Nun sah ish sie voll Liebe auf mir ruhen. ich möchte
ihn einmal schildern wie eine Mutter, die männliche Intelligenz besäße
- mit tieferer Gerechtigkeit.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 208 |
Lötzen, 10. Januar 1943. - Mittags traf ich in Lötzen
ein und meldete sogleich Ferngespräche nach Kirchhorst und Leisnig
an. Um sieben Uhr erfuhr ich von Perpetua, daß mein Vater gestorben
ist, wie ich es schon deutlich geahnt hatte. Am Mittwoch soll er in Leisnig
beerdigt werden; ich komme also noch zurecht, was mich doch sehr beruhigt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 209 |
Kirchhorst, 21. Januar 1943. - Er wurde am ersten Weihnachstage
krank und legte sich zu Bett, nachdem er einige Tage auf dem Sofa geblieben
war. »Jetzt müßt ihr eben sehen, wie ihr allein fertig
werdet«, sagte er bald darauf. Der Zustand verschlimmerte sich dann
schnell, so daß ihn der Arzt in das Krankenhaus überführen
ließ, wo sein Leiden als doppelseitige Lungenentzündung erkannt
wurde. Friedrich Georg hatte den Eindruck, daß er sich dort zunehmend
mit sich selbst beschäftigte und keine Zeit fand, die Besucher zu
sehen. »Setzt euch doch« und »Wasser« waren die
beiden letzten Worte, die er von ihm vernahm. Er sah ihn noch am Freitag
nachmittag. In der Nacht, Sonnabend um ein Uhr, soll er dann, nach Aussage
der Krankenschwester, gestorben sein. Das wäre also um die gleiche
Stunde, zu der ich auf der Fahrt nach Armavir seine Augen erscheinen sah
(vgl. den Eintrag vom 9. Januar 1943; HB).
Auch werde ich betroffen, als ich jetzt beim Blättern in meinen Tagebüchern
entdecke, daß ich genau ein Jahr zuvor (vgl.
den Eintrag vom 10. Januar 1942; HB) traurig erwacht war, weil
ich von seinem Tode geträumt hatte.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 210 |
Kirchhorst, 9. Februar 1943. - Beim Anblick von Moormühle
(ein Ort in der Nähe von Kirchhorst; HB)
dachte ich an Friedrich Georg und das Gespräch, das wir hier 1939
über die »Illusionen der technik« gefürht haben.
Da dieses Buch den Geist der Stille beschwört, gehört es zu
seinem Schicksal, daß es damals nicht erschien (sondern
1946; HB). Es steht zu den Aktionen im Gegensatz.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 213 |
Paris, 14. März 1943. - In einer Mappe von Bildern
seiner (des in Paris lebenden Marcel Jouhandeau;
HB) Hausfrau (gemeint ist wohl Élisabeth [Elise] Toulemont; HB) fanden sich auch
nackte, aus ihrer Tänzerinnenzeit. Doch überraschte mich das
wenig, da ich aus seinen Büchern wußte, daß sie vor allem
im Sommer sich gern in diesem Zusatnd in ihrer Wohnung bewegt und so auch
Lieferanten, Handwerker oder des Gasmann abfertigt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 226 |
Paris, 17. März 1943. - Zum »Arbeiter«.
Die Zeichnung ist genau, doch gleicht er einer scharf gestochenen Medaille,
der die Rückseite fehlt. Es wäre in einem zweiten Teile noch
zu schildern die Unterstellung der beschriebenen dynamischen Prinzipien
unter eine ruhende Ordnung von höherem Rang. Wenn das Haus eingerichtet
ist, gehen die Mechaniker und die Elektrotechniker hinaus. Wer aber wird
Hausherr sein? - Wer weiß, ob sich für mich noch die Zeit,
hier wieder anzuspinnen, finden wird? Doch glückte Friedrich Georg
in dieser Richtung mit seinen »Illusionen der Technik« ein
bedeutender Schritt. Das zeigt, daß wir doch wahre Brüder sind,
im Geist noch ungetrennt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 227 |
Paris, 26. März 1943. - Wir werden in Spiralbewegung
durchlebten Dingen wieder zugewandt und überwinden sie - sie werden
für uns, wenn nicht bedeutungslos, doch Stoff zu höherem Triumph.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 230 |
Paris, 29. März 1943. - Wir haben zwei Arten, um uns
fortzupflanzen, sowohl durch Knospung als auch durch Kopulation. Im zweiten
Sinne zeugt uns der Vater, im ersten stammen wir von der Mutter ganz allein
und stehen in immergrünen Zusammenhang. In diesem Sinne gibt es für
die gesamte Menschheit nur einen Geburts- und einen Sterbetag.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 232 |
Paris, 5. April 1943. - Bomben trafen den Rewnnplatz von
Longchamps, der dicht bevölkert war.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 236 |
Paris, 17. April 1943. - Mit der Begattung vererbt sich
der Haß, der Widerwille h´gegen das andere Geschlecht.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 241 |
Paris, 1. Mai 1943. - Am Morgen dann Abfahrt nach Montparnasse.
Es war der Tag der Maiglöckchen, die überall in Mengen feilgeboten
wurden und die mich an Renée erinnerten. (Vgl.
1. Mai 1941; S. 32; HB). Noch immer erfüllt mich mit Schmerz
bei der Erinnerung an Gärten, die ich nicht betrat.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 252 |
Paris, 7. Mai 1943. - Darin leigt eine der großen
Schönheiten von Goethes Faust verborgen: in der Schilderung des lebenslangen,
unverdrossenen Bemühens um hohe Welten und dann im Eintritt in ihre
Ordnungen.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 257 |
Paris, 11. Mai 1943. - Abends im Ritz mit General Geyer,
der während des ersten Weltkrieges Ludendorffs Mitarbeiter war. Über
die Lage, die mit dem Fall von Tunis an Schärfe gewonnen hat. Dann
über das Verhältnis von Ludendorff und Hindenburg, in dem ich
von jeher eine besonders deutliche Ausprägung des Unterschiedes von
Wille und Charakter sah. Ludendorff hätte sich nach 1918 nur ruhig
verhalten müssen, um alles zu gewinnen, doch gerade das konnte er
nicht. An ihm sind alle Vorzüge und Schwächen des preußischen
Generalstabs zu studieren, der nach dem Abschied des alten Moltke sich
immer einseitiger der reinen Energetik zuwandte. Hier liegt der Grund,
aus dem er zum Widerstande gegen Kniébolo (=
Hitler; HB) nicht fähig war und fähig ist (Ludendorff
starb 1937! HB). Solche Geister können nur umsetzen, nur organisieren,
wozu aber etwas anderes, nämlich Organisches, die Voraussetzung ist.
- Bei Hindenburg ist dieses Organische da. Als Groener erfahen hatte,
daß Hindenburg Reichspräsident geworden sei, sagte er: »Jedenfalls
wird der alte Herr nie etwas Dummes machen«, und traf damit wohl
da Richige. Wenn jemand dem, was heraufzog, Widerstand hätte leisten
können, so waren es keineswegs die Mächte der Demokratie, die
ja gerade das energetische Prinzip nährten und steigerten. Hindenburgs
Unterliegen war unvermeidlich; es lag auch nicht an seinem hohen Alter,
das vielmehr symbolisch war. Das Organische an ihm hat eine besondere
Beziehung zum Holze; sein Kopf kann eigentlich nur aus diesem Stoff gebildet
gedacht werden. Der »Eiserne Hindenburg« war ein hölzener,
mit Nägeln beschlagener Hindenburg. Um ihn webt ohne Zweifel die
Witterung der historische´n Macht - im Gegensatz zu Kniébolos
elementarisch verheerender Ausstrahlung. - Natürlich war ich als
junger Offizier für Ludendorff. dazu kam, daß mich eine Bemerkung
des Alten über mich verstimmt hatte: »Es ist gefährlich,
wenn man in so jungen Jahren mit dem höchsten Orden ausgezeichnet
wird.« Ich hielt das damals für pedantisch, weiß aber
heute, daß es richtig war.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 259-260 |
Kirchhorst, 4. Juni 1943. - Das Tote wirkt mit.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 266 |
Kirchhorst, 7. Juni 1943. - Hölle der Maschinenwelt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 268 |
Paris, 25. Juni 1943. - Unsere Worte sind Würfe ....
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 271 |
Paris, 29. Juni 1943. - Während die Hauptzweige am
Baume der Ökonomie vertrocknen, blühen seine entlegensten Spitzen
auf. Hierüber möchte ich einmal mit einem Nationalökonomen
sprechen, der die Maße seines Faches überragt und Einblicke
in die Fiktion des Geldes hat. Hier könnte man jetzt viel lernen,
wie überhaupt in Zeiten der Dokomposition das geheime Getriebe der
gesellschaftlichen Maschine deutlicher wird. Wir blicken dahinter wie
Kinder in das Innere der zerstörten Spielzeuge.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 272 |
Paris, 17. Juli 1943. - »Bismarcker« - war
im Jargon der Billardspieler eine doppelte Berührung - das Wort kam
im Mai 1866 auf.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 280 |
Paris, 18. Juli 1943. - Was unsere Theologie betrifft,
so muß sie durchaus bescheiden und den in seiner Elementarkraft
geschwächten Geschlechte angemessen sein. Seit langem lebt unser
Glaube ja für jeden, der Kräfte sehen kann, viel stärker
in der Biologie, der Chemie, der Physik, der Päläontologie,
der Astronomie als in den Kirchen - ganz ähnlich hat auch die Philosophie
sich auf die Einzelwissenschaften aufgeteilt. Natürlich sind das
Irrwege - die Disziplinen müssen wieder sowohl von den theologischen
als auch von den philosophischen Einflüssen gereinigt werden, und
zwar schon ihrer selbst wegen, da mit aus bloßer Weltanschauung
wieder Wissenschaft wird. Die theologischen und philosophischen Elemente
sind herauszufällen wie Gold und Silber; die Theologie als Gold gibt
dann den Wissen schaften Währung und Kurs. Sie legt ihnen auch Zügel
an, denn man sieht ja, wohin die ungefesselte Erkenntnis führt. Sie
steckt gleich Phaetons Wagen den Erdkreis in Brand und hat uns oder unsere
Imagines zu Mohren, zu Negern, zu Kannibalen gemacht.
Adnoten hierzu:
In Brasilien, nach anstrengenden Insektenjagden in den Berg wäldern,
arbeitete ich nachts auf dem Schiffe meine Ausbeuten durch. Es kam dann
vor, daß ich mich auf den Fundortzetteln um einen Tag versah - etwa
den 14. Dezember 1936 eintrug, anstatt des 15. Ich schrieb dann, obwohl
das in keiner Weise etwas ändern konnte, die Hunderte von Zetteln
um.
In meiner Unterhaltung bin ich häufig stockend, weil ich, ehe ich
einen Satz ausspreche, ihn gegen alle Zweifel und Einwände, denen
er begegnen könnte, auspendele. Auf diese Weise bin ich im Hintertreffen
gegenüber Partnern, die mit ihrer Meinung herausschießen.
Wenn Gespräche zur Übereinstimmung führen, ergibt sich
häufig eine Art von Gemütlichkeit, von gefühlschäßigem
Akkord. Hier bemerke ich selbst im Familienkreise, selbst gegenüber
Friedrich Georg an mir den Hang, nicht allzu lange auf dieser Note zu
verweilen, sondern aus diesem Porte wieder hinauszuleiten, sei es durch
Einführung eines neuen, noch nicht erwogenen Argumentes, sei es durch
ein ironisches Licht. Der Zug macht mich unmöglich in allen Gremien
und Zusammenkünften, deren eigentlicher Sinn in der Erzeugung solcher
Stimmungen besteht, also in allen Vereinssitzungen, Verschwörungen
und politischen Versammlungen. Besonders peinlich kann das werden, wo
ich selbst der Gegenstand bin, an den sich die Stimmung heftet - eine
moderierte, kritische Achtung oder begründete Anerkennung war mir
von jeher lieber als Bewunderung. Dieser gegenüber war ich stets
mißtrauisch. Übrigens geht's mir genau so, wenn ich Kritiken
meiner Bücher lese; die Ausführung zur Sache, auch begründete
Ablehnung ist mir behaglicher als Lob. Dieses beschämt mich, aber
auch der unbegründete Tadel, etwa aus persönlicher oder willenschäßiger
Verstimmung, kränkt mich und hängt mir nach. Dagegen angenehm
ist mir Kritik, die mir mit guten Gründen entgegentritt. Dabei fühle
ich nicht das Bedürfnis, in die Debatte einzutreten - denn warum
soll mein Gegner nicht recht haben? Eine Kritik, die in der Sache trifft,
berührt nicht die Person, sie gleicht dem Gebete, das ich neben mir
vernehme, wenn ich vor dem Altare bin. Es kommt ja nicht darauf an, daß
ich recht habe.
In diesem letzten Satze verbirgt sich auch der Grund, aus dem ich nicht
Mathematiker geworden bin, gleich meinem Bruder Physikus (gemeint ist hier entweder
Hans Otto Jünger [*1905] oder Wolfgang Jünger [*1908]; HB). In der Prägnanz
der angewandten Logik liegt nicht die letzte Befriedigung. Das Rechte,
das Richtige im höchsten Sinne darf nicht beweisbar, es muß
strittig sein. Es ist in Formen anzustreben, die für uns Sterbliche
annäherungschäßig, nicht aber absolut erreichbar sind.
Das führt dann auf Gebiete, auf denen nicht der meßbare, sondern
der unwägbare Zugriff den Meister ziert, führt auch dem Musischen
zu.
Und hier ist es vor allem der Dienst an dem und mit dem Worte, der mich
fesselt, jene feinste Anstrengung, die das Wort immer näher und näher
der Grenzlinie führt, die es vom Unaussprechlichen trennt.
Auch hierin liegt Sehnsucht nach dem rechten Maße, nach dem das
Universum geschaffen ist, und das der Leser durch das Wort hindurch wie
durch ein Fenster erahnen soll.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 281-283 |
Paris, 18. Juli 1943. - Nammittags im Jardin d'Acclimatation.
Dort sah ich die Entfaltung des Farbenspieles von tiefen lapislazuliblauen,
goldgrünen rund goldbronzenen Tönen, die das Männchen einer
besonders prunkvollen Pfauenrasse zur Schau stellte. Ein Schaum goldgrüner
Fransen umwogte das unerhörte Federkleid. Die Wollust dieses Tieres
liegt in der vollkommenen Parade, in der Spreizung seiner Reize - wenn
der höchste Grad der Ausstellung erreicht ist, steigert er sich zu
einem Schauer, zu einem feinen spasmischen Rasseln und Klappern der Federkiele
unter elektrischem Frisson, als ob hörnerne Pfeile in einem Köcher
geschwenkt würden. In dieser Gebärde äußert sich
das köstliche Beben, aber zugleich das Automatische, Krampfartige
der Lust.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 283 |
Paris, 18. Juli 1943. - Beendet: Maurice Alhoy, »Les
Bagnes«, Paris 1845, illustriert. Die alten Bagnos ließen
den Verbrecher mehr als Verbrecher gelten; sie traten nicht mit außerhalb
seiner Sphäre gelegenen Begriffen an ihn heran. Infolgedessen lebte
er härter, aber auch natürlicher und stärker als in unseren
heutigen Gefängnissen. In allen schematischen Besserungstheorien,
in allen sozialhygienischen Anstalten liegt eine besondere Art der Verbannung,
eine besondere Grausamkeit. Das wahre Elend ist tief, ist substantiell,
und ebenso gehört das Böse zum Sein, zur inneren Natur; man
darf sich nicht puritanisch darüber hinwegsetzen. Man kann die Bestien
hinter Gitter bringen, und es schadet nichts, wenn sie sichtbar sind.
Aber man darf sie dort nicht an Blumenkohl gewöhnen wollen, man muß
ihnen Fleisch vorsetzen. Man kann dem Franzosen zubilligen, daß
er dieses puritanischen Erziehungstriebes, wie man ihn an den Engländern,
Amerikanern, Schweizern und vielen Deutschen beobachtet, ermangelt; es
geht in seinen Kolonien, auf seinen Schiffen, in seinen Gefängnissen
natürlicher zu. Er läßt dort viel auf sich beruhen, und
das ist immer angenehm. Hierher gehört auch das mangelnde Verhältnis
zur Hygiene, das man ihm vorwirft; und trotzdem wohnt, schläft und
ißt man bei ihm viel besser als in den hochdesinfizierten Landschaften.
Als Kuriosum fand ich, daß noch wenige Jahre vor 1845 im Bagno von
Brest die Abwässer der Latrinen dem Sträfling, der die Wäsche
besorgte, zufielen. Er wusch die Hemden im Urin, dem also eine reinigende
Kraft innewohnen muß, deren Verwendung sich wahrscheinlich ethnologisch
weit zurückverfolgen lassen wird. Überhaupt liefert das Buch
zum Studium der raubtierhaften, bestialischen Züge des Menschen gute
Beiträge - und auch zu seinen Lichtseiten wie etwa einer stark ausgeprägten
Gutmütigkeit und eines aufflammenden, noblen Instinkts. Die Bagnos
waren gewissermaßen Verbrecherstaaten, und ihre Betrachtung erweckt
den Eindruck: wenn die Welt nur von Verbrechern bewohnt wäre, so
würde sich doch das Gesetz herausbilden, sie würde nicht untergehen.
Übrigens bestätigt die Geschichte der Strafkolonien diesen Satz.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 283-284 |
Paris, 26. Juli 1943. - Im Garten des Offiziersheimes in
der Rue du Faubourg St. Honoré. Wir ... setzten uns ..., um die
Lage durchzugehen, im Park auf eine einsame Bank. Wie viele mich in diesen
Jahren angesprochen haben, so hier auch ...: »Sie müssen jetzt
den Aufruf vorbereiten, der an die Jugend Europas gerichtet ist.«
ich erzählte ..., daß ich bereits im Winter 1941/42 unter
demselben Titel Aufzeichnungen machte, die ich dann den Flammen übergab.
Nachher im Raphael sann ich darüber nach.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 286 |
Paris, 10. August 1943. - Mittags bei Florence, wo ich
mit dem Chefkonstrukeur Vogel über unsere Produktion von Flugzeugen
sprach. Er hatte vor einigen Jahren vorausgesagt, daß der vermehrte
Bau von Nachtbombern etwa um diese Zeit den Angriff auf die Städte
drosseln würde - was aber nun, da die Geschwader am hellen Mittag
einfliegen? Auch über den Phisphor als Waffe - es scheint in der
Tat, daß wir dieses Mittel bereits zur Zeit unserer Überlegenheit
besaßen, doch auf seine Anwendung verzichteten. Das wäre ein
Verdienst, wenn auch bei Kniébolos Charakter wunderlich genug.
Die Phosmormasse wird in großen irdenen Gefäßen mitgeführt
und soll als Ladung für den Piloten äußerst gefährlich
sein, da ein einziger Splitter genügt, sein Flugzeug in eine feuersprühende
Masse aufpuffen zu lassen, aus der es kein Entkommen gibt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 291-292 |
Paris, 11. August 1943. - Nachts zog sich das Abwehrfeuer
auf die in großer Höhe von der Zerstörung Nürnbergs
zurückkehrenden Flugzeuge über Stunden hin. Vormittags ließmich
der Oberbefehlshaber rufen und schenkte mir ein schönes botanisches
Werk. Dann sprach der Oberleutnant Sommer vor, der in Hamburg gewesen
war. Er erzählte, daß man dort einen Zug von Kindern mit grauen
Haaren gesehen hätte,von kleinen Greisen, gealtert in einer Phosphornacht.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 293 |
Paris, 11. August 1943. - Krause, der während des
Angriffes oder kurz nachher in Hamburg war, berichtet, daß er dort
etwa 20 verkohlte Leichen sah, die nebeneinander wie auf einem grill,
über ein Brückengeländer gelehnt waren. Es handelte sich
um solche, die, von Phosphor übergossen, sich ins Wasser stürzen
wollten, doch vorher verglüht waren. Auch soll man eine Frau gesehen
haben, die in jedem Arm die verbrannte Leiche eines Kindes trug.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 296 |
Paris, 16. August 1943. - Vormittags wurde die Stadt (Paris;
HB) von etwa dreihundert Maschinen überflogen: ich sah dem
Abwehrfeuer auf den flachen Dächern des Majestic zu. .... Man konnte
Einzelheiten nicht erkennen, doch schien es Treffer gegeben zu haben,
denn über dem Montmartre schwebte ein Fallschrim langsam den Boden
an.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 296 |
Paris, 21. August 1943. - Übrigens habe ich beobachtet,
daß die Germanophilie, natürlich von den käuflichen Subjekten
abgesehen, ferade in dem Teil der Bevölkerung auftritt, in dem noch
Elementarkraft lebt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 297 |
Paris, 21. August 1943. - Der Stadtgott. Soll über
den Übermenschen hinausführen, insofern der höchste Begriff
des Menschen zugleich animalisiert und vergöttlicht wird. Das ist
eines der Ziele der Moderne und ihrer Wissenschaft, die unter der rationalen
Maske magische Züge trägt; Erstarrung im babylonischen Turm.
- .... Der Fortschritt, die Maschinenwelt, die Wissenschaft, die Technik,
der Krieg als Elemente der vorheroischen, der Titanenwelt. Wie alles glühend,
alles elementar gefährlich wird.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 298 |
Paris, 17. September 1943. - Unter der Post ein Beitrag
zu meinen Hamannianis vom Domprobst Donders aus Münster übersandt.
»I. G. Hamann. Eine Festrede, gehalten am 27. Januar 1916 in der
Aula der westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster
von Julius Smend.« - Hamann, nach Herder ein »Mann des Alten
Bundes« - das ist die hieroglyphische Eigenschaft, die ich als vorherodotischen,
vorheraklitischen Charakter anspreche. Wie Weimar Goethe und Schiller,
so hatte königsberg Hamann und Kant. - Kant spricht von Hamanns »Göttersprache
der anschauenden Vernunft«.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 317 |
Paris, 24. September 1943. - Gespräch über die
Lage, aus der es seiner Ansicht nach nur einen Ausweg gibt, nämlich
die Anwendung der neuen Waffe (die schon seit 1938,
als Otto Hahn die Kernspaltung entdeckte, in der Mache befindliche Atombombe;
die Operation Overcast [die gezielte Erbeutung deutscher Technik und technischer
Unterlagen sowie die gezielte Gefangennahme deutscher Techniker und Ingenieure]
richtete sich unter anderem auf die unter der Leitung von Wernher von
Braun hergestellten Vergeltungswaffen [V-Waffen] und die unter der Leitung
von Werner Heisenberg hergestellten Atombomben; HB) ....
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 320 |
Paris, 5. Oktober 1943. - Brief Perpetuas über die
Nacht vom 28. September in Krichhorst. Es fielen Bomben auf die Weiden,
nahe dem Haus. .... Das siebenjährige Töchterchen eines Nachbarn
wurde am Morgen in die Irrenanstalt gebracht. Die Zukunft der Kinder macht
mir Gedanken - welche Früchte mag dieser Frühling zeitigen.
Die hohen und tiefen Temeperaturen werden auf die Schmetterlingsflügel
dieser Seelchens seltsame Muster einzeichnen.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 326 |
Paris, 16. Oktober 1943. - Die Technik gleicht einem Bauwerk,
das unter falschen Voraussetzungen, auf ungenügend erforschtem Grunde,
errichtet worden ist.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 330 |
Paris, 16. Oktober 1943. - Grundsätzlich glaubte ich
an Bogo eine Veränderung wahrzunehmen, die mir für die gesamte
Elite kennzeichnend scheint, und die darin besteht, daß er mit dem
rationalistisch erworbenen Elan des Denkens in metaphyische Gebiete eilt.
Das fiel mir bereits an Spengler auf und zählt zu den günstigen
Vorzeichen. Summarisch gesprochen war das 19. Jahrhundert ein rationales,
während das 20. ein kultisches ist. Davon lebt bereits Kniébolo,
und daher die völlige Unfähigkeit der liberalen Intelligenzen,
auch nur den Ort zu sehen, an dem er steht.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 332 |
Paris, 20. Oktober 1943. - Endlich trifft Nachricht von
Perpetua ein. Der fürchterliche Angriff vom 10. Oktober, der große
Teile von Hannover zertrümmerte, streifte Kirchhorst nur. Sie sah
vom Pfarrhaus aus, wie sich der Phosphor gleich flüssigem Silber
auf die Stadt ergoß. Am Nachmittag des 11. Oktober, drang sie durch
rauchenden Schutt zum Hause ihrer Eltern vor; es war das einzige, das
in weitem Umkreis erhalten geblieben war. Doch waren Brandbomben in die
Zimmer geschlagen; sie traf die Eltern erschöpft vom Löschen
und mit verquollenen Augen an. Besonders hatte sich ihre kleine Nichte
ausgezeichnet; so sieht man in solchen Augenblicken gerade die schwachen
Kräfte entfalten,die niemand ihnen zutraute.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 335 |
Paris, 24. Oktober 1943. - Endlich beruhigt mich ein Brief
Perpetuas auch hinsichtlich der Schreckensnacht vom 19ten. Kirchhorst
wurde getroffen, Höfe und Scheunen sind abgebrannt. Sprengbomben,
Brandbomben und Phosphorkanister fielen rund um das Pfarrhaus, dessen
Bewohner auf dem Flur lagen. Dann ertönte ein ungheurer Krach, als
ob der gute alte bau einstürzen wollte, und Perpetua eilte mit dem
Kleinen (Alexander; HB) in den Garten - dort
preßten beide sich an den Lebensbaum.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 336 |
Paris, 26. Oktober 1943. - In ihrem brief vom 21. Oktober
schreibt Perpetua von den Berliner Kindern, die bei uns untergekommen
sind. Eines von ihnen, ein armer Wicht von sechs Jahren, sagte zu ihr:
»Tante, bei mir erschrecken sich die Beine immer so, daß sie
wackeln.«
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 337 |
Kirchhorst, 24. November 1943. - Die Porta Westfalica.
Vom Westen kommend, begrüße ich sie immer als Einlaß,
der zur engeren, zur Niedersachsenheimat führt. Das sind heilige
Zeichen; sie bleiben bestehen. Ich dachte, am Fenster sinnend, über
ein Grabmal in diesem Raume nach.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 344 |
Kirchhorst, 6. Dezember 1943. - Wie alle physikalischen
Vorgänge gewinnt die Auslösung ihr eigentliches Interese erst
in der moralischen Welt. Ein Kind spielt mit Streichhölzern und eine
volkreiche Stadt geht in Asche auf. Es fragt sich, ob die Person des Auslösenden
in soclhen Zusammenhängen nicht doch eine bedeutendere Rolle spielt,
als man gemeinhin ahnt. Ich denke da an Kniébolo - ich habe zuweilen
den Eindruck, daß ihn der Weltgeist auf raffinierte Weise auswählte.
»Bei seinen feinsten Zügen schiebt er die unbedeutenden Figuren
vor.« Auch der Schlagbolzen, dessen geringe Kraft die Ladung zündet,
hat ja bestimmte Form. In Tausendundeiner Nacht werden die Ränke
eines bösen Weibes beschrieben, das man endlich im Nil ertränkt.
Der Leichnam treibt bei Alexandria an Land und läßt dort eine
Seuche ausbrechen. Fünfzigtausend Menschen gehen daran ein.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 347 |
Kirchhorst, 14. Dezember 1943. - Beginnen die lustlosen
und automatischen Gemetzel ... eigentlich schon mit dem Krimkriege.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 348 |
Kirchhorst, 14. Dezember 1943. - Carl Schmitt ist unter
allen Geistern, die ich kennenlernte, jener, der am besten definieren
kann. Als klassischer Rechtsdenker ist er der Krone zugeordnet ....
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 348 |
Paris, 26. Dezember 1943. - In meine »historia in
nuce« müßte ich ein Kapiel »Germanenkriege«
aufnehmen, in dem auszuführen wäre, daß stets die gleichen
Fehler gemacht werden. Es gibt Geheimnisse, die andere Stämme nie
begreifen werden (die Germanen eroberten ganz Europa
sowie Nordafrika und Teile Westasiens und da, wo noch Rest von Nichtgermanen
existierten, wurden diese germanisch durchmischt - hier gibt es also seitdem
»andere Stämme« [nichtgermanische Stämme]
nicht mehr; HB). - wie den magischen Zauber von Etzels Saal. War
er es, der Kniébolo (= Hitler; HB)
lockte - oder wie sonst erklärt sich der Hang, der Scharfsinn, dem
Siege auszuweichen, der ihm doch in die Hand gegeben war. (Antwort:
Er war gekauft! HB).
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 352 |
Paris, 28. Dezember 1943. - Das bringt mich auf den gedanken,
daß die zoologischen genera urbilder der Spezies sind. Gleich dem
Urbilde existiert das Genus nicht in den Spezies, nicht an sich selbst.
Wir sehen im Traume Dinge, die sonst unsichtbar sind.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 352 |
Paris, 28. Dezember 1943. - »Gegen den Feind kämpfen«
und »mit dem Feind kämpfen« - zwei den Germanen bezeichnende
Synonyma. Man kämpft »mit« ihm, nämlich »um«
etwas, das entweder beiden oder keinem angehört. Daher ist es nicht
eigentlich der Sieg, »um« den es geht. - Shakespeare kennt
das Geheimnis, von dem auch Rivière etwas gewittert hat, indem
er dem Deutschen nicht das »entweder-oder«, sondern das »sowohl-als-auch«
zuordnete. Mystisch findet man das bei Eckhart ausgeführt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 352 |
Paris, 28. Dezember 1943. - Perpetua schreibt mir, daß
nun auch der Schwager gefallen ist. Am 4. November ereilte ihm am Dnjepr
das Geschick, auf einem Erkundungsgang. In den letzten Jahren war ich
ihm näher getreten; ich entlieh ihm Züge zu der Gestalt des
Biedenhorn, darunter auch seinen Kernspruch: »Ihr Mannen, macht
das Armbein krumm, de Willekum geiht um.« - Natürlich begrüßte
er den Krieg, ganz ohne sich um seine Hintergründe zu kümmern,
als freie Bahn für Händel und Umtrünke. Durch seine Tageshülle
leuchtete das alte Niedersachsentum hindurch; er stammte aus einer der
autochthonen Familien, die sich bis auf die vorwelfischen Zeiten zurückführen.
Er zu jenen, deren Leben der Kameradschaft gewidmet ist, und die dort
aufblühen. Unzuverlässig in vielem, war er hier pures Gold,
Einmal, als ich im Garten neben ihm bei den Tomaten stand, merkte ich,
daß er, obwohl sonst ungeschliffen, hier großer Zartheit fähig
war. Daher betrübt mci sein Verlust. - Er fiel in den russischen
Linien. Seine Leute konnten ihn nicht zurückholen. Er war allein
gegangen, weil er es für zu gefährlich hielt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 352-353 |
Paris, 31. Dezember 1943. - Vormittags Überfliegung
der Stadt durch strake Einheiten. Ich siedelte wie üblich aus dem
Majestic ins Zimmer des Präsidenten über; wir pflegen diese
Unterbrechungen zu feiern, idem wir dort Kaffee kochen und frühstücken.
Man hörte die Geschütze lebhaft arbeiten. Dann erzitterten die
Gebäude unter Bombenwürfen, die in de Bannmeile Verheerungen
anrichteten.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 354 |
Paris, 4. Januar 1944. - Vormittags, wie jetzt fast regelmäßig,
Fliegeralarm ....
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 356 |
Paris, 7. Januar 1944. - Mittags erwartete mich im Majestic
Madame Noel. Sie arbeitete in Hamburg, wo ihr Mann vor ihren Augen von
einer Fliegerbombe zerrissen wurde und ihre Habe in Flammen aufloderte
Da ich einiges für sie tun konnte, brachte sie mir einen Blumenstrauß.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 357 |
Paris, 9. Januar 1944. - Der Todestag des lieben Vaters
jährt sich zum ersten Male.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 357 |
Paris, 16. Januar 1944. - Nihilismus und Anarchie. Die
Unterscheidung ist schweirig wie die von Aalen und Schlangen, doch unentbehrlich
zur Kenntnis des eigentlichen Spiels. Entscheidend ist die Beziehung zur
Ordnung, die dem Anarchisten fehlt, den Nihilisten auszeichnet. der Nihilist
sit daher auch schwerer zu durchschauen, besser getarnt. .... Der junge
Mensch durchläuft notwendig eine Phase der Anarchie, in der er besonders
leicht den reinen Mächten der Zerstörung zum Opfer fällt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 359-360 |
Paris, 22. Januar 1944. - Geschlechtsorgane werden stets
symmetrisch sein, wie man es bei den Blüten am schönsten sieht.
In welcher Beziehung stehen die symmetrischen und die asymmetrischen Anlagen
bei den Geschöpfen, und kann man daraus Schlüsse ziehen auf
den Plan, nach dem sie gebildet sind? Mit diesen Fragen will ich mich
beschäftigen in meiner Arbeit über das Verhältnis von Sprache
und Körperbau.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 362 |
Paris, 12. Februar 1944. - Aufgestanden, doch zieht die
Grippe immer noch in den Knochen umher. Gegen Mitternacht rief mich aus
Wilhelmshaven ein Wehrmachtsdekan an. Ich wollte zuerst liegenbleiben,
doch schoß mir plötzlich durch den Kopf, daß Ernstel
ja an der Küste als Marinehelfer dient. »Vielleicht ist beim
Schießen ein Unglück geschehen.« Das ließ mich
aufspringen. Unten erfuhr ich, halb erleichtert, folgendes: es handelt
sich um die Verhaftung einer Gruppe von Schülern im Alter non sechzehn
bis achtzeh Jahren,als deren Rädelsführer der Junge mit einem
seiner Kameraden namens Siedler (wahrscheinlich:
Wolf Jobst Siedler; vgl. S. 369; HB) gilt. Die beiden sind seit
einigen Wochen in Wilhelmshaven eingeschlossen, und, wenn ich recht verstanden
habe, ist bereits ein Urteil von sechs bis neun Monaten Gefängnis
gefällt. Freimütige Gespräche über die Lage sollen
der Grund gewesen sein. Der Junge ließ aus falscher Zurückhaltung
nichts von sich hören, obwohl ein solcher Handel ihn nue ehren kann.
Es scheint auch, daß keiner seiner Vorgesetzten es für nötig
hielt, mich zu benachrichtigen. Statt dessen bespitzelte man, um »Material
zu sammeln«, die Kinder seit Monaten und überlieferte sie dann
den Fängen der Staatsgewalt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 365-366 |
Kirchhorst, 29. Februar 1944. - In Ernstels sache war ich
in Berlin, von wo ich am Freitag zurückkehrte. Ich wollte zunächst
zu Dönitz vordringen, war auch schon draußen in seinem Lager,
doch wurde ich ausdrücklich vor ihm gewarnt. Er würde nur eine
Verschärfung des Spruches die Folge sein. Überhaupt bemerkte
ich an den Marineleuten die Neigung, mich mit glatter Höflichkeit
abzufertigen, die dem besonders auffällt, der aus einem »weißen«
Stabe wie dem von Stülpnagel kommt. Ich brachte da eine fatale Sache,
in der man sich möglichst wenig belasten wollte, an. So sah ich mich
auf diejenigen angewiesen, die sich von Berufs wegen damit abgeben mußten,
wie den Marinerichter Kranzberger. Bei seinem Vertreter sah ich mich mit
Dr. Siedler (vgl. S. 366; HB) das Urtei ein,
in dem ich noch einige erschwerende Umstände las. So soll der Junge
gesagt haben, daß, wenn die Deutschen noch zu einem guten Frieden
kommen wollten, sie Kniébolo aufhängen müßten -
von sechzehn Kameraden, die als Zeugen benannt wurden, will das freilich
nur einer, und zwar der Spitzel, gehört haben. Doch nimmt das Gericht
die Äußerung als erwiesen an. Ferner soll er »bei der
Verhandlung keine Reue gezeigt haben«, was mir auch lieber ist.
Die Menschen, die man in einer solchen Sache trifft, geben ein gutes Bild
der schwarzen und weißen Fäden, aus denen das politische Gewebe
gesponnen ist.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 369 |
Paris, 1. März 1944. - Das Leben ist eine fortgesetzte
Zeugung - wir suchen während seines Verlaufes Vater und Mutter in
uns zu vereinigen. Das ist unsere eigentliche Aufgabe, und von ihr strahlen
unsere Konflikte, unsere Triumphe aus. Dem folgt neue Geburt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 370 |
Paris, 1. März 1944. - Wie Vater und Mutter sich in
uns ablösen und verbinden, ist graphologisch oft schön nachweisbar.
Briefsammlungen sind schon aus diesem Grunde wichtig - zum Studium der
Kräfte, die im Laufe der Jahre und Jahrzehnte auf den Charakter einwirken,
und ihres Ausgleiches.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 370 |
Paris, 2. März 1944. - Die Textkritik des 19. Jahrhunderts
gibt keine größere Einsicht in die Bibel als der Darwinismus
in das Tier. Beide Methoden sind Projektionen auf die Ebene der Zeit -
wie hier der Logos im Zeitlichen aufgelöst werden soll, so dort die
Spezies. Das Wort wird teilbar, das Tierbild wird zum flüchtigen
Übergange, zur Impression. - Demgegenüber gilt Luthers: »Das
Wort sie sollen lassen stahn.« Die Bibel wie die Tierwelt sind Schöpfungen,
sind Offenbarungen, und darin liegt ihre gewaltige, gleichnishafte Macht.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 371 |
Paris, 3. März 1944. - Vormittags erfreute mich ein
Brief von Ernstel, der gottlob in seiner Zelle lesen kann.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 371 |
Paris, 3. März 1944. - Um Goethe zu schildern wäre
ein zweiter Goethe weniger geeignet als Eckermann.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 372 |
Paris, 7. März 1944. - Der enge Zusammenhang von Wissen
und Glauben, der unserer Epoche so deutlich zeichnet, läßt
wünschen, daß jeder, der hier Meister, Magister werden will,
erst auf dem Felde der Einzelwissenschaften die Gesellenprüfung macht.
Die Höchsten müssen das Ganze übersehen, das ist der nachweis
ihres Standortes.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 374 |
Paris, 9. März 1944. - Es ist merkwürdig, wie
sich in unserer Zeit das Bild der Krankheit vom Individuum ablöst
- auch hier verleirt sich das Eigentum. Und zwar kommt man sowohl in den
kapitalistischen wie in den bolschewistischen Systemen zu denselben Ergebnissen.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 374 |
Paris, 25. März 1944. - Ich begann mit einer Revision
der Friedensschrift.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 377 |
Paris, 27. März 1944. - Weiter in der Durchsicht des
Aufrufes.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 377 |
Paris, 27. März 1944. - Es ist richtig, daß
viele meiner Ansichten, insbesondere meine Wertung des Krieges und auch
des Christentums und seiner Dauer, sich änderten. Doch weiß
man bei der Arbeit in diesen alten Schächten niemals, ob und wann
man auf Minen stößt. Auch muß man den Einschnitt sehen,
der dem der Sanduhr gleicht. Während die Körnchen sich dem Punkte
der größten Dichte, der größten Reibung zubewegen,
ist ihre Tendenz eine andere, als wenn sie ihn passiert haben. Die erste
Phase steht unter dem Gesetze nder Konzentration, des Engpasses, der Totalen
Mobilmachung, die zweite unter dem der endgültigen Lagerung und Ausweitung.
Es sind ein und dieselben Atome, deren Umlauf das Bild ergibt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 377-378 |
Paris, 27. März 1944. - Am Abend suchte mich der Oberstleutnant
von Hofacker auf und nahm beim Eintritt den Hörer vom Telefon. ....
Obwohl er also den Hörer abgenommen hatte, schien er sich in meinem
Arbeitszimmer, in dem doch schon manches abgehandelt wurde, nicht wohl
zu fühlen, sondern abt mich, ihn auf die Avenue Kleber zu begleiten,
zur Aussprache. Indem wir zwischen dem Trocadéro und dem Etoile
hin- und herpendelten, teilte er mir Einzelheiten aus Berichten von Vertrauensleuten
mit, die für die Generalität in der höheren SS-Führung
arbeiten. Es scheint, daß man dort den Kreis um Stülpnagel
mit größtem Mißtrauen beobachtet. Vor allem als undurchsichtig
und verdächtig gelten, wie Hofacker sagte, der Pfarrer Domrath und
ich. Er hielte es daher für richtig, daß ich für einige
Zeit die Stadt verließe, um nach Südfrankreich, etwa nach Marseille
zu gehen. Er wolle dem Oberbefehlshaber in diesem Sinnen vortragen. Ich
begnügte mich damit, zu erwidern, daß ich die Entscheidung
abwarte. - Im Anschluß daran Lagebesprechung, bei der er eine Reihe
von Namen nannte, an erster Stelle den von Goerdeler, den man seit Jahren
in allen derartigen Kombinationen hört, vor allem wenn man Popitz
und Jessen kennt. Es ist unmöglich, daß Schinderhannes und
Grandgoschier darüber nicht unterrichtet sind, vor allem, wenn man
an die mexikanischen Gestalten denkt, die, als Generale verkleidet, im
Raphael und im Majestic mithören. - Das Vaterland sei jetzt in äußerster
Gefahr. Die Katastrophe sei nicht mehr abzuwenden, wohl aber zu mildern
und zu modifizieren, da der Zusammenbruch im Osten fürchterlicher
als der im Westen und sicher mit Ausmordungen größten Stils
verbunden sei. Infolgedessen müsse im Westen verhandelt werden, und
zwar vor einer Landung; man stehe bereits in Fühlung mit Lissabon.
Voraussetzung sei das verschwinden Kniébolos, der in die Luft zu
sprengen sei. Dazu wärhend der Lagebesprechung im Hauptquartier die
beste Gelegenheit. Er nannte dabei Namen aus seinem engsten Kreis.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 378-379 |
Paris, 27. März 1944. - Wenn Kniébolo fällt,
wird die Hydra einen neune Kopf bilden.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 379 |
Paris, 29. März 1944. - Geburtstag..... Abends bei
Florence. Es ist das dritte Mal, daß ich bei ihr diesen Tag feiere.
Und wieder, wie beim ersten Male, ertönten, während wir bei
Tische saßen, die Sirenen zum Alarm.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 379 |
Paris, 29. März 1944. - »Gegen Demokraten helfen
nur Soldaten« - das war noch 1848 richtig, gilt aber heute selbst
in Preußen nicht mehr. In unserer Elementarlandschaft muß
man sich eher an den Satz halten, daß ein Steppenbrand nur durch
ein Gegenfeuer bekämpft werden kann. Die Demokratien regulieren sich
im Weltmaßstab. (Hinter ihnen steht aber die
mittlerweile mächtigere Plutokratie! HB.) Aus diesem Grunde
gibt es nur noch den populären Krieg. - Wenn aber die Kriegerkaste
daraus Nutzen zu ziehen wünscht, verfällt sie optischen Trugschlüssen.
Die besten Köpfe im Generalstab waren nicht nur gegen die Besetzung
des Rheinlands und der Randgebiete, sondern auch gegen die forcierte Rüstung
überhaupt. Der Oberbefehslhaber erzählte mir darüber Einzelheiten,
die jeder spätere Historiker als unglaubwürdig bezeichnen wird.
.... - .... Beim Studium der Akten erstaunte ich zuweilen über den
Starrsinn Kniébolos in, politisch gesprochen, unbedeutenden Differenzen,
wie etwa im Streit um die Köpfe einer Handvoll Unschuldiger. Man
wird das nie begreifen, wenn man dahinter nicht den Willen zur Nomos-Zerstörung
sieht, der ihn untrüglich lenkt. .... - Politisch gesehen ist der
mensch fast immer ein mixtum compositum. In Vielzahl erheben Zeiten und
Räume Anspruch auf ihn. So bin ich stammes- und lehnsmäßig
gesehen ein Welfe, während meine Staatsauffassung preußisch
ist. Zugleich gehöre ich zur deutschen Nation und bin in meiner Bildung
Europäer, ja Weltbürger.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 380 |
Kirchhorst, 4. April 1944. - Meine niedersächsischen
Landsleute. Die unerschütterliche Ruhe, die ihnen als einer ihrer
besten Züge innewohnt, fand ich soeben in einer Hildesheimer Chronik
schön belegt. Am 1. August 1524 brach in der Neustagdt ein Feuer
aus, das eine große Menge von Häusern zerstörte und endlich
auch die Spitze des Pulverturms ergriff. Das Blei der Bedachung begann
zu schmelzen und tropfte herab. Auf diesem Turme leitete der städtische
Baumeister Oldekopp die Löscharbeit. Neben ihm stand sein Sohn Johannes
Oldekopp. Nachdem der Vater ihm schon verschiedentlich den Platz verwiesen
hatte,sprach er: »Unser ein is hire to vele. Westu nciht,
dat wi wol twintig tonnen pulvers under den voten hebben?« Da erst
verleiß der junge Oldekopp den Stand.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 381 |
Kirchhorst, 5. April 1944. - Mit Alexander zum Oldhorster
Moor, um dort den Ameisenhügel aufzusuchen, den ich im Winter entdeckt
hatte. Es ist doch immer erfreulich, wenn so ein Vorsatz sich verwirklicht
- ein angeknüpfter Knoten im Lebensnetz. Die Tierchen waren schom
lebhaft; unter den Gästen fand ich einen mir noch unbekannten: Mymecoxenus
subterraneus .... Auf dem Hinwege traten wir in einen Schuppen, weil amerikanische
Bomber, die uns überflogen, beschossen wurden, und auf dem Rückweg
regneten wir ein. gespräch über Don Quixotes Abenteuer bei den
Walkmühlen und die Fee Peri Banu aus Tausendundeiner Nacht.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 381-382 |
Kirchhorst, 5. April 1944. - Im Pflanzenreiche ruht ja
die ganze Metaphysik; und es gibt keinen besseren Kursus der unsichtbaren
Dinge als das Gartenjahr.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 382 |
Kirchhorst, 5. April 1944. - Nachmittags auf der Wiese,
wo ich in Gesellschaft von Alexander verwilderte Akazien aus dem Boden
grub. Bei dieser Arbeit überflogen uns zwei amerikanische Geschwader
im hellen Sonnenschein. Sie wurden über der Stadt lebhaft beschossen,
und kurz darauf sahen wir eine der Maschinen mit einer langen, an den
rechten Flügel gehefteten Rauchfahne zurückfliegen. Gewaltiges
Feuer begleitete sie aus dem Kessel, um plötzlich abzubrechen,als
ihr Schicksal offensichtlich war. Sie senkte sich über uns hinweg,
um eine Wendung zu beschreiben, während deren sich drei Fallschirme
von ihr ablösten. Nun führerlos, zog sie eine weite Spirale,
in der sie sich gewaltgig vergrößerte. Wir dachten, daß
sie in der Nähe des Hauses aufschlagen würde, doch schwebte
sie auf den Wald von Lohne zu, über dessen Wipfeln unmittelbar nach
ihrem Verschwinden ein dunkelkupferfarbenes Flammenmeer aufwallte, das
bald in eine Rauchwand überging.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 382 |
Kirchhorst, 13. April 1944. - Von der Küste zurück,
an die ich mit Perpetua in Ernstels Angelegenheit gefahren war. Wir reisten
am Ostermontag ab. Auch der Ostersonntag hatte zahlreiche Überfliegungen
gebracht, mit Vollalarm oder »Vollala«, wie der dreijährige
Peter sagt, der hier als Flüchtling weilt. Zuvor sah ich im Garten
noch einmal die blauen Kelche des Krokus, auf deren Grund der von den
Bienen abgestreifte Safran als goldener Staub gefallen war. das sind kräftige
Wegzehrungen.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 383 |
Wilhelmshaven, 13. April 1944. - In der Arrest-Anstalt.
.... Er (Ernstel; HB) sah blaß und
schwächlich aus; das Kinn trat hervor, es war mit kleinen Fältchen
bedeckt. Die Augen lagen in den Höhlen; sie hatten ihre kindliche
Frische verloren, frühe Erfahrung sprach sich in ihnen aus. Doch
war seine Haltung gut, zugleich bescheiden und stark. Als ich ihn so in
seinem Matraosenjäckchen vor mir sitzen sah, erinnerte ich mich,
wie sehr er als Kind auf kriegerischen Lorbeer hoffte, und wie sein ganzes
Sinnen und Trachten auf das Bestehen der Feldschlacht gerichtet gewesen
war. Er wollte sich des Vaters würdig erweisen - und daher zog es
ihn zum gefährlichsten Punkt. »Wie gut hats du ihn doch getroffen,
mein Junge«, dachte ich bei mir, »und wie gut, daß ich
das als Vater auch zu verstehen weiß.« Der Krieg, soweit er
zwischen den Nationen spielt, stellt doch nur die grobe Kulisse dar -
um andere, gefährlichere Preise geht der Kampf. Und gut schien mir,
daß ich mit den orden aus dem ersten Weltkrieg diese bescheidene
Zelle aufsuchte. Wir haben doch noch einen Glanz gekannt, der ihnen nicht
mehr beschieden ist, und darum ist ihr Verdienst das größere.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 384 |
Paris, 13. April 1944. - Heute versenkt man die Samen,
ohne zu wissen, wer ihre Früchte ernten wird.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 384 |
Paris, 29. April 1944. - Wenn man Stülpnagel, Popitz
ud Jessen kennt, dazu noch Schulenburg und Hofacker, dann hat man ein
Bild der Fronde im totalen Staat. Man sieht dann auch, daß die moralische
Substanz zum Zuge drängt, nicht die politische. Sie ist in der Aktion
die schwächere, und daher könnte die Lage sich nur zum Guten
wenden, wenn ein Sulla in Erscheinung träte, ja selbst ein simpler
Volks-General.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 387 |
Paris, 8. Mai 1944. - Die Landung beschäftigt alle
Sinne; sowohl die deutsche Führung wie die Franzosen glauben, daß
es in diesen Tagen dazu kommen wird (es wird erst
später dazu kommen; HB). Welche Vorteile aber brächte
sie dem Engländer? Er gleicht doch dem Banquier, der aus den Wechselfällen
des Krieges im Osten seine sicheren Gewinne zieht. Aus welchen Gründen
sollte diese höchst günstige Lage abbrechen? Es könnte,
auch von den Wünschen der Amerikaner (die miltärisch
den Ton angeben bei den Alliierten! HB) abgesehen, deren mehrere
geben: der Russe könnte zu stark, er könnte zu schwach werden
(letzteres! HB). Er könnte mit Verhandlungen
drohen (das ist auch geschehen! HB). Dagegen
spricht die Existenz Kniébolos; solange er am Wirken ist, bildet
er den Kitt einer jeden gegen Deutschland gerichteten Koalition. Er ist
von jener Sorte, die nach Goethe »das Universum gegen sich in Aufruhr
bringt«.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 392 |
Paris, 13. Mai 1944. - Nachmittags las ich in diesem Tagebuch.
Unter dem 10. Januar 1942 fand ich eingetragen, daß ich im Traume
meinen lieben Vater gestorben sah (vgl. S. 69; HB).
Merkwürdig bleibt, daß er genau nach einem Jahre, nämlich
in der Nacht zum 10. Januar (vgl. S. 209 und 210;
HB) gestorben ist. Auch in jener Stunde sah ich ihn im Geiste,
und zwar im Wachen - ich sah am nächtlichen Himmel seine Augen, die
mich bedeutender als je in meinem Leben anblickten.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 394 |
Paris, 19. Mai 1944. - In einem der lichterloh brenndenden
Häuser saß eine kleine Kassiererin zwischen den dort harrenden
Bewohnern, die Sprengbomben an der Flucht verhinderten. Plötzlich
stürzt ein herkulischer Mann herein, um sie in Sicherheit zu bringen,
indem er sie um die Hüften packt und sie nach draußen schleppt.
Er trägt sie über eine Planke in einen noch nicht vom Feuer
umstellten Raum,während hinter ihnen krachend das Haus zusammenstürzt.
Im Schein des Scheiterhaufens erkennt der Mann, daß er eine Unbekannte,
nicht seine Frau gerettet hat.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 395 |
Paris, 27. Mai 1944. - Alarme, Überfliegungen. Vom
Dache des Raphael sah ich zweimal in Richtung von ST. Germain gewaltige
Sprengwolken aufsteigen, während geschwader in großer Höhe
davobfliegen. Es handelt sich um Angriffe auf die Flußbrücken.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 397 |
Paris, 29. Mai 1944. - Vorgestern morgen wurde hier übrigens
ein sechsundzwanzigjähriger Hauptmann erschossen, der Soh eines Stettiner
Reeders, und zwar weil er geäußert hatte, es gehöre eine
Bombe auf das Hauptquartier. ein Franzose aus der Umgebung von laval zeigte
das an.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 398 |
Paris, 31. Mai 1944. - Höchst selten ist die Vereinigung
von Tatkraft und Bildung, wie man sie bei Caesar und Sulla sah oder in
unseren Zeiten bei Scharnhorst und Prinz Eugen. Aus diesem Gunde sind
Generale auch meist handlanger,deren man sich bedient. - Was Heinrich
von Stülpnagel betrifft, der zur Unterscheidung von anderen Generalen
dieses alten Soldatengeschlechtes auch als »der blonde Stülpnagel
bezeichnet wird, so trägt er fürstliche Züge, wie sie der
prokonsularischen Stellung zukommen, Dazu gehört die Schätzung
der Ruhe, der Muße, der Einwirkung auf einen kleinen geistigen Kreis.
Das alles unterscheidet sich von dem Getriebe, das man sonst in höheren
Stäben trifft. Sein vornehmer Charakter neigt der geistigen Wertung
des Menschen zu. Sein Leben erinnert an das eines Wissenschaftlers, wie
er sich auch auf langen Krankenlagern eine umfassende Belesenhait erwarb.
Er sucht den Umgang mit Mathematikern und Philosophen, und in der Geschichte
fesselt ihn das alte Byzanz. Doch darf man sagen, daß er als Feldherr
gutführte, als Staatsmann gut verhandelte und als Politiker nie den
Blick für unsere Lage verloren hat. Das alles macht versändlich,
daß er von Anfang an einer der Gegenspieler Kniébolos gewesen
ist. Doch ist er müde, wie es mir vor allem aus einer seiner Gesten
deutlich wird, die sich oft wiederholt: er pflegt sich mit der linken
Hand den Rücken zu streichen, als ob er ihn stützte oder seine
Haltung aufrichtete. Dabei befällt ein sorgenvoller Ausdruck sein
Gesicht.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 399-400 |
Paris, 6. Juni 1944. - Am gestrigen Abend bei Speidel in
La Roche-Guyon. Die Fahrt war wegen der zerstörung der Seinebrücken
umständlich. Wir fuhren gegen Mitternacht zurück. Auf diese
Weise verpaßten wir um eine Stunde das Eintreffen der ersten Meldungen
über die Landung im Hauptquartier. Sie wurde am Morgen in Paris bekannt
und überraschte viele, insbesondere auch Rommel, der gestern in La
Roche-Guyon gefehlt hatte, da er nach Deutschland zum Geburtstag seiner
Frau gefahren war. Das ist ein Schönheitsfehler für die Ouvertüre
einer so großen Schlacht. Die ersten abgesprungenen Kräftre
wurden nach Mitternacht festgestellt. Zahlreiche Flotten und elftausend
Flugzeuge traten bei den Operationen auf. - Es handelt sich ohne Zweifel
um den Beginn des großen Angriffes, der diesen Tag historisch machen
wird (»D-Day«; HB). Ich war doch
überrascht, gerade weil so viel darüber orakelt worden war.
Warum jetzt und hier? Das sind Fragen, über die man noch in ferner
Zukunft sprechen wird.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 401-402 |
Paris, 6. Juni 1944. - Die materialistische Geschichtsschreibung
faßt an den Dingen nur, was ihr sichtbar ist. Sie kennt nicht die
Mannigfaltigkeit, die dem Gewebe erst Farbe und Muster gibt. Das gehört
mit zu unserer Aufgabe: die Wiederentdeckung der Vielfalt der Antriebe.
Sie fordert eine größere Objektivität als die positivistische.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 402 |
Paris, 22. Juni 1944. - Am Abend wurde die Stadt überflogen,
und Splitter regneten in den Hof des Majestic herab. Im Verlaufe der Bombardements
wurden riesige Benzin- und Ölvorräte getroffen, deren Brandwolke,
gleich der Pinie des jüngeren Plinius, von einem schmalen Schaft
aufsteigend, das Himmelsgewölbe verfinsterte. Ein großer Bomber
stürzte in der Nahe des Ostbahnhofes ab.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 403-404 |
Paris, 13. Juli 1944. - In der Pariser Zeitung vom heutigen
Tage lese ich einen Aufsatz über das Roboterflugzeug, auch »Höllenhund«
genannt: »Mit der Erfüllung seines Auftrags, und der heißt
Vernichtung, vernichtet es sich selbst.«
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 407 |
Paris, 14. Juli 1944. - Auch der Mangel an Kohle ist unangenehm.
Der Haushalt erfordert ein Personal, das zwanzig Köpfe übersteigt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 408 |
Paris, 14. Juli 1944. - Feuerwelt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 408 |
Paris, 14. Juli 1944. - Ich dachte ... an den Auspruch
meines Vaters »Es muß erst ein großes Unglück kommen,
ehe es anders wird«.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 408 |
Paris, 21. Juli 1944. - Gestern abend wurde der Anschalg
bekannt. Die höchst gefährliche Lage gewinnt damit noch eine
besondere Zuspitzung. Der Attentäter soll ein Graf Stauffenberg sein.
Ich hörte den Namen bereits von Hofacker. Das würde meine Meinung
bestärken, daß an soclhen Wenden die älteste Aristokratie
ins Treffen tritt. Aller Voraussicht nach wird diese Tat fruchtbare Gemetzel
einleiten. Auch wird es immer schwieriger, die Maske zu bewahren - so
geriet ich heute vormittag in einen Wortwechsel mit W., der das Ereignis
als »unerhörte Schweinerei« bezeichnete. Dabei bin ich
seit langem der Überzeugung, daß durch Attentate wenig geändert
und vor allem nichts gebessert wird. Ich deutete das schon in der Schilderung
Sunmyras in den »Marmorklippen« an.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 409 |
Paris, 21. Juli 1944. - Nachmittags verbreitete sich im
engsten Kreis die Nachricht, daß der Oberbefehlshaber seines Amtes
enthoben und nach Berlin befohlen sei. Er hatte, nachdem die nachricht
aus der Bendlerstraße eingelaufen war, die gesamte SS und den Sicherheitsdienst
verhaften lassen, um sie dann wieder in Freiheit zu setzen, als er bei
Kluge in La -Roche-Guyon Vortrag gehalten hatte und als kein zweifel mehr
darüber walten konnte, daß das Attentat mißlungen war.
»Die Riesenschlange im Sack gehabt und wieder herausgelassen«,
wie der Präsident sagte, als wir in höchster Erregung bei gecshlossenen
Türen verhandelten. Erstaunlich ist das Trockene, Geschäftsmäßige
des Aktes - die Grundlage der Verhaftung bildete ein einfaches Telefonat
an den Kommandanten von Groß-Paris.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 409-410 |
Paris, 8. August 1944. - Die Städte sind weiblich
und nur dem Sieger hold.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 413 |
Paris, 13. August 1944. - Spaziergang mit Charmille an
den Ufern der Seine.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 414 |
St. Die, 18. August 1944. - Die Zerstörung der alten
Welt, wie sie mit der französischen Revolution und eigentlich schon
mit der Renaissance sichtbar zu werden beginnt, gleicht dem Absterben
der organischen Verbindungen, der Nerven und Arterien. Wenn der Prozeß
zu Ende gelaufen ist, terten die Gewaltmenschen auf; sie ziehen künstliche
Fäden und Drähte in den Leichnam und bewegen ihn ihn zu heftigerem,
aber zugleich groteskerem politischen Spiel. Sie selbst auch tragen diesen
Charakter von Hampelmännern, den grellen, marktschreierischen und
oft schauerlichen Zug. Die neuen Staaten haben eine zehrende Tendenz.
Sie können nur gedeihen, wo noch Erbteil vorhanden ist. Wenn das
verbraucht ist, wird der Hunger unerträglich; sie fressen wie Saturn
die eigenen Kinder auf (oder umgekehrt [!?]; HB).
Auf andere Ordnungen zu sinnen als die von 1789 ist daher reiner Selbsterhaltungstrieb.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 418 |
St. Die, 21. August 1944. - Bad in der Meurthe, bei Gewitterluft.
Dort nahm ich an der Jagd von Knaben teil, die in der Strömung Steine
umdrehten und kleine Fische, die sich darunetr verborgen hielten, mit
einer Gabel aufspießten. Die fingerlangen Wesen waren grünlich
marmoriert oder besser granitiert und wurden in großer Menge an
einem Drahte aufgezogen »pour faire la friture«. An diesem
Vorgang war die kleine Ökonomie ergötzlich, die Goethe im Gegensatz
zur offiziellen so gut gefiel.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 419 |
Colmar, 3. September 1944. - Beim Öffnen des Fensters
stand wieder ein Regenbogen in der Gewitterluft, der die Vogesen und den
Schwarzwald zauberhaft verband.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 422 |
Kirchhorst, 4. September 1944. - Kirchhorst. Begrüßung.
Im hause neue Flüchtlinge. Der Garten verwildert, die Zäune
verfallen; die Flure sind mit Koffern und Kisten gefüllt. - Der walnußbaum,
den ich 1940 gepflanzt habe, trägt seine erste Frucht.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 422 |
Kirchhorst, 7. September 1944. - Neue Einquartierung von
Flüchtlingen im Dorfe - von Holländern, die sich in ihrem lande
nicht mehr wohlfühlen.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 422 |
Kirchhorst, 7. September 1944. - Es scheint ein Gesetz
zu geben, nach dem gerade jene, die aus edlen gründen die Freundschaft
zwischen den Völkern fördern wollten, fallen müssen, während
die niederen Geschäftemacher davonkommen.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 422 |
Kirchhorst, 17. September 1944. - Im Moore, mit Alexander
und Ernstel, den ich von seiner Haft her noch schwächlich fand. Er
meldetet sich zu einer Panzer-Abteilung, und ich habe den Eindruck, daß
er den Anstrengungen der Ausbildung noch nicht gewachsen ist. Besonders
gefällt mir, daß kein Groll in ihm zurückgeblieben ist.
- Als ich ihn erschöpft am Waldrand sitzen sah, wurde mir die fürchterliche
Lage deutlich, in der wir sind. Ihr gegenüber ist der Gluthauch der
verbrannten Städte noch gering.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 423 |
Kirchhorst, 6. Oktober 1944. - Im Moor. Die fernen Wälder
leuchten schon mit goldenen Kronen, von blauen Schatten untermalt. Die
herbstliche Sonne fordert viel Blau. Das gleiche geht ist im Geistigen
der Fall. Der Herbst führt zur Metaphysik, auch zur Melancholie.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 426 |
Kirchhorst, 18. Oktober 1944. - Natürlich ist Kniébolo
auch ein europäischen Phänomen. Deutschland als Zentrum wird
immer die Stelle sein, an der derartiges am ersten, am schärfsten
sichtbar wird.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 428 |
Kirchhorst, 27. Oktober 1944. - In Bothfeld, zur Entlassun
aus dem militärischen Dienst. Da der Krieg nun allgegenwärtig
geworden ist, bedeutet das kaum eine Veränderung.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 429 |
Kirchhorst, 1. November 1944. - Wie man hört, beabsichtigt
Holland, von dem jetzt Teile überschwenmmt wurden, sich durch Annexione
deutschen Gebietes zu entschädigen (und das
trotz Kollaboration! HB). Es scheint, daß alle alten Fehler
sich wiederholen sollen, und daß die Welt, anstatt sich an der Erscheinung
Kniébolos zu belehren, ihn sich als Vorbild verschrieben hat (und
das trotz der Tatsache, daß Kniébolo selber seine Vorbilder
hatte! HB).
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 430 |
Kirchhorst, 2. November 1944. - Bei den indogermanischen
Völkern muß auf dem Menschenfleische seit uralten Zeiten ein
schreckliches Tabu liegen; in unseren Märchen deutet sich das an.
Auch führt sich der Tantalidenfluch auf eine solche Mahlzeit zurück.
Die Stärke des Verbotes läßt sich daraus ermessen, daß
selbst dieser Krieg, der die untersten Gründe aufrührte, kaum
daran rüttelte, was immerhin erwähnenswert ist, wenn man die
handelnden Geister kennt. Im Grunde muß jede rationalistische Ökonomie
nicht minder als jede konsequente Rassenlehre dem Kannibalismus zuführen.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 431 |
Kirchhorst, 3. November 1944. - Die deutsche Sprache besitzt
noch Feldwege,während die französische auf Schienen läuft.
Infolgedessen wachsen die koventionellem, nicht-individuellen Elemente
an; zu ihnen gehört die Liaison.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 432 |
Kirchhorst, 4. November 1944. - Ich freute mich über
den kleinen Alexander und seinen Mut - erstaunlich, wenn man bedenkt,
welch ungeheuerlichen Vernichtungsmitteln ein solches Herzchen gegenübersteht.
»Jetzt habe ich doch etwas Herzklopfen« - als die Bomben vorübersausten,
die,wie wir nachher erfuhren, bei der Autobahn landeten.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 433 |
Kirchhorst, 6. November 1944. - Herrlich das Schauspiel
auch, wie die alten Liberalisten, Dadaisten und Freigeister zu moralisieren
beginnen, nach einem Leben, das gänzlich der Zerstörung der
alten Bande und der Unterminierung der Ordnung gewidmet war. (Sie
tragen nun die Früchte ihrer eigenen Saat, die sie zudem bald auch
noch ernten müssen! HB). Dostojewski, der dieses ganze Aquarium
von Grund auf kannte, zeichnete sie in der Molluskengestalt des Stephan
Trophimowitsch vor. Die Söhne werden ermuntert, doch ja auf alles
zu pfeifen, was man bislang als Fundament betrachtet hat. Da endlich heißt
es denn von den nur allzu gelehrigen Adepten: »Na, Alterchen, du
hast genug geschwafelt, jetzt wird es Zeit, daß man dich zu Seife
verkocht.« Da ist dann der Jammer groß. Wenn nun auch noch
die Konservativen qangknackt sind, ist das Chaosn fertig ....
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 434-435 |
Kirchhorst, 9. November 1944. - Unter der Post eine Karte
von Ernstel, der unterwegs nach Italien ist.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 435 |
Kirchhorst, 10. November 1944. - Wieder über den Darwinismus
nachgedacht. Seine Hauptschwäche liegt im Mangel an Metaphysik. Methodologisch
gesehen drückt sich das darin aus, daß eine der bloßen
Formen der Anschauung, nämlich die Zeit, in dieser Lehre dominierend
wird. - Demgegenüber muß man sehen, daß die Tiere im
Verhältnis zu ihrer Umwelt und zueinander einem Knäuel gleichen,
das vielfach verknotet und verflochten ist. Die Fülle erfordert nicht
einen chronologischen, sondern einen synoptischen Blick. Die gewaltige
Gleichzeitigkeit, das Neben- und Miteinander wird vom Darwinismus in ein
Nacheinander aufgelöst - das Knäuel wird zu einer Rolle aufgespult.
Damit verliert sich das Grandiose an der Schöpfung, das Wunder des
Ur-Sprunges, das mit einem Schlage oder in gewaltigen Zyklen und Äonen
erwächst ....
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 436 |
Kirchhorst, 14. November 1944. - Noch unveröffentlichte
Biographien von Planck und Laue, die Keiper mir sandte, und die ich dem
Bruder Physikus weitergeben will. Auf diesen höchsten Stufen physikalischer
Einsicht wird das verhältnis zur Umwelt wieder einfach, instinkthaft
- der optische, mathematische, undulatorische, kristallographische Sinn
druchdringt den Körper gleich einem Fluidium. Die Wissenschaft klann
nicht in andere Bereiche führen als in jenem die tief in uns verborgen
sind. Was Teleskope und Mikroskope auch entdecken mögen - wir
kannten es längst in unserem Inneren. Mühselig bergen wir Bruchstücke
von Palästen, die in uns verschüttet sind.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 439 |
Kirchhorst, 18. November 1944. - Ob die Eignung zur Bildung
von totalen Staaten mit der Musikalität korrespondiert? Auffällig
bleibt jedenfalls, wie hier die drei muikalsischen Nationen, die Deutsche,
die Russen und taliener, hervortraten. Wahrscheinlich findet aber
gleichzeitig innerhalb der Musikalität eine Verlagerung auf die gröberen
Elemente, vom Melos auf den Rhythmus statt - eine Bewegung, als deren
krönung dann die Monotonie erscheint.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 440 |
Kirchhorst, 10. Dezmber 1944. - Das metaphysische Bedürfnis
ist heute deshalb besonderer Achtung würdig, weil die Erziehung von
vornherein auf seine Vernichtung, auf die Ausrottung der besten keime
gerichtet ist.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 447 |
Kirchhorst, 13. Dezember 1944. - Friedrich Georg schreibt
mir, daß bei dem Angriff, der in zwanzig Minuten die alte und schöne
Stadt Freiburg zerstörte, auch sein Buch über die »Illusionen
der Technik«,das dort in einer unveröffentlichten Ausgabe lagerte,
in Flammen aufgegangen ist. Es ist fats, also ob die Technik sein Erscheinen
verhindern möchte, denn zweimal zerschmolzen bereits in Hamburg die
Lettern im Satz.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 449 |
Kirchhorst, 14. Dezember 1944. - Rast im Beindorfer Wäldchen,
das einer meiner geistigen Orte ist, etwa wie der Place des Ternes in
Paris. ich entschloß mich hier zu einer zweiten vollständigen
Bibellesung, und zwar in der Lutherschen Übersetzung, mit Apparat.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 450 |
Kirchhorst, 15. Dezember 1944. - Nachmittags Besuch von
Cramer v. Laue, der in Italien zum zweiten Male schwer verwundet wurde
und auf Krücken kam. Gespräch über das Attentat und insbesondere
über Kniébolos Gesundheit, sie strak gelitten haben soll.
Sein Kummer, daß er den feind nicht erkannt, daß er ihn nicht
gewittert hat, soll alle anderen Erwägungen übertroffen haben
- das würde sich mit Einzelheiten decken, die Kleist mir in Stawropol
erzählte, und ist auch der Grund, aus dem ich ein Zusammentreffen
stets vermied.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 451 |
Kirchhorst, 15. Dezember 1944. - »Verflucht sie der
Acker um deinetwillen mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein
Leben lang.« 1. Mose, 3, 17. - Die Stelle entspricht dem Satz des
Hesiod, daß die Götter den Menschen die Nahrung verkümmerten,
und daß vorher die Arbeit eines einzigen Tages genügte für
ein ganzes Jahr. - Der wahre Überfluß, die paradiesische Fülle
leiget außerhalb der Zeit. Dort ist auch die Landschaft der großen
unmittelbaren Hervorbringungen, wie sie der Mythos schildert und die Genesis
veranschaulicht. Dort sit auch kein Tod. In der Liebesumarmung behielten
wir ein Fünkchen vom großen Licht der Schöpfungswelt zurück
- wir fliegen, wie von der Armbrust abgeschossen über die Zeit hinaus.
Im Mythos wird dieser Urkraft durch den Sieg des Kronos ein Ende gesetzt.
Kronos. mit seiner diamantenen Sichel ihn verstümmelnd, macht den
Urvater des Göttergeschlechtes zu weiteren zeugungen unfähig.
Die Rolle der Gaea ist der der Schlange verwandt. (Die
»Autoren« des »Alten Testamentes« haben ja auch
aus der ägyptischen, persichen und hellenistischen Mythologie abgeschrieben;
HB).
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 452 |
Kirchhorst, 19. Dezember 1944. - Weiter in der Genesis.
Lamach, der sich seinen Weibern Ada und Zilla gegenüber rühmt,
daß er einen Mann für seine Wunde, einen Jüngling für
seine Beule erschalgen hat, und daß er nich wie Kain siebenmal,
sondern siebenundsiebzigmal gerächt werden will. Es ist ein genialer
Gedanke von Herder, diesen frühesten Triumphgesang der Menschheit
mit der Erfindung des Schwertes in Verbindung zu setzen, die in dem Verse,
der vorhergeht, angedeutet wird. Lamach ist der Vater von Thubalkain,
des ersten Meisters in allerlei Erz- und Eisenwerk. So hat er gewaltige
Übermacht. - Lamech ist einer der Titanen, der Übermenschen
der kainitischen Kultur, die man sich noch im Besitze eines großen
Teiles der Urfruchtbarkeit und von einem dunklen Glanze erfüllt vorstellen
muß. Menschenopfer gehören zu ihren Festen (da
waren die Indogermanen zu der Zeit aber schon sehr viel weiter; HB);
in der Korruption (6, 2) erreicht sie ein äußerstes Maß.
- Die kainitische Kultur muß man als vorsintflutartliches Vorbild
jeder reinen Machtkultur auffassen. In diesem Sinne sind Orte wie Sodom,
Gomorrha, Babylon, Dahomey ihre späten Pflanzstädte. Kainitisch
sind die großen brudermörderischen Feststätten auf dieser
Erde, wie die mexikanischen Theokallis, der römische Zirkus, die
Mordhöhlen der Maschinen-Zivilisation. Kainitisch sind die roten
fahnen, gleichviel welche Symbole sie führen, kainitisch sind die
Totenkopfverbände Kniébolos, kainitisch ist ein Kriegsschiff,
das sich mit dem Namen Marat brüstet, der einer der größten
Menschenschlächter war.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 454 |
Kirchhorst, 19. Dezember 1944. - Die kainitischen Weiber
werden als überaus schön geschildert.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 454 |
Kirchhorst, 21. Dezember 1944. - Wir müssen
uns in unserer Eigenschaft als Rationalisten überwinden lassen, und
dieser Ringkampf findet heute statt. Gott tritt den Gegenbeweis gegen
uns an.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 455 |
Kirchhorst, 30. Dezember 1944. - Wir sprachen am Ofen über
Mescalin; hierüber schrieb er, daß ihm ein Erblindeter deswegen
geschrieben hätte, aus Farbenhunger, in Hoffnung auf einen optischen
Rausch. Sodann über die verschiedenen Arten, in denen der Opiumkuchen
bereitet wird, in China, in Indien, in Persien, in der Türkei. Die
Mohnkapsel muß an sonnigen Tagen geritzt werden; nur unter dem Einfluß
des Lichtes gerinnt die bittere Milch zu narkotischer Kraft, bildet sich
innere Luminiszenz. Ferner über eine obsolete Droge, Lactucarium,
das aus dem gestockten Milchsaft des Giftlattichs gewonnen wird. Besonders
in Zell an der Mosel soll diese Pflanze feldmäßig angebaut
worden sein. Die Wirkung wurde von den alten Ärzten der des Opiums
gleichgestellt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 457 |
Kirchhorst, 6. Januar 1945. - Freund Speidel sandte aus
Freudenstadt Nachricht, daß er auf freiem Fuß.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 460 |
Kirchhorst, 8. Januar 1945. - Der gestrige Angriff soll
Langenhagen zerstört haben. leichen aus diesem Orte flogen bis auf
die netfernte Autobahn. Einige Bomben schlugenauch in der Nähe, in
der Feldmark von Altwarmbüchen ein.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 462 |
Kirchhorst, 8. Januar 1945. - Von Ernstel immer noch kein
Brief.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 462 |
Kirchhorst, 12. Januar 1945. - Ernstel ist tot, gefallen
, mein gutes Kind, schon seit dem 29. November des vorigen Jahres tot!
Gestern, am 11. Januar 1945 abends, kurz nach sieben Uhr kam die Nachricht
an.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 464 |
Kirchhorst, 13. Januar 1945. - Der liebe Junge hat den
Tod gefunden am 29, November 1944; er war achtzehn Jahre alt. Er fiel
durch Kopfstoß bei der Spähtrupp-Begegnung im Marmorgebirge
von Carrara ... und war, wie seine Kameraden berichten, sofort tot. Sie
konnten ihn nicht ,itnehmen, brachten ihn aber kurz darauf mit einem Panzerwagen
ein. Auf dem Friedhofe von Turigliano fand er die letzte Ruhestatt. -
Der gute Junge. Von Kind auf war es sein Bestreben, es dem Vater nachzutun.
Nun hat er es gleich beim ersten Male besser gemacht, ging so unendlich
über ihn hinaus. - War heute in seiner kleinen Bodenkammer, die ich
ihm abgetreten hatte, und in der noch ganz seine Aura war. Trat leise
ein, als in ein Heiligtum. Fand unter seinen papieren dort ein Tagebüchlein,
beginnend mit dem Mott: »Der kommt am weitesten, der nicht weiß,
wohin er geht.«
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 464 |
Kirchhorst, 16. Januar 1945. - Andacht für Ernstel.
Superintendent Spannuth hielt sie in der Bibliothek. Auf dem Tisch das
Bild zwischen Tannengrün und zwei Wachsenkerzen. Als Text der Schluß
des 73. Psalm und sein Konfirmatiosspruch, Lukas, 9, 62: »Wer aber
seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt
zum Reich Gottes.« Anwesend waren die Familie, die Flüchtlinge
des Hauses und die beiden Nachbarn, Lahmann und Colshorn. - Der Tod des
Jungen setzt eines der Daten, einen der Angel- und Wendepunkte in mein
Leben ein. Die Dinge,die Gedanken, die Taten vorher und nachher unterscheiden
sich.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 465 |
Kirchhorst, 17. Januar 1945. - Nach Burgdorf. Bei Beinhorn
lebhaft an Ernstel gedacht. Wir gingen dort im vorigen Dezember im Nebel
durch die Wälder und sprachen über den Tod. Er meinte: »Zuweilen
spürt man darauf eine solche Neugier, daß man ihn kaum erwarten
kann.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 465 |
Kirchhorst, 26. Januar 1945. - Die Räumung Ostpreußens
und Schlesiens ist von Bildern begleitet, wie sie die europäische
Geschichte nicht kennt; das erinnert an die Zerstörung Jerusalems.
Die Judenverfolgung hat ihre den blinden Tätern unbekannten Seiten;
so setzt sie das Neue Testament außer Kraft und verbreitet alttestamentarische
Gültigkeit.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 468 |
Kirchhorst, 27. Januar 1945. - Wie man hört, erfroren
viele der aus den östlichen Provinzen geflüchteten Kinder auf
den Landstraßen und in offenen Bahnwagen. Es kommt jetzt zu entsetzlichen
Begleichungen auf Kosten der Unschuldigen.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 468 |
Kirchhorst, 6. Februar 1945. - Seit Ernstels Tod vergaß
ich, die Überfliegungen und Abwürfe aufzuzeichnen, an denen
es nicht fehlte in der Zwischenzeit. So ist es auch an diesem Morgen,
während ich schreibe, recht unruhig in der Luft. Bin auch in Sorge
um den Bruder Physikus. Er stand zuletzt in Schneidemühl, das eingeschlossen
ist.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 469 |
Kirchhorst, 12. Februar 1945. - Noch kommen täglich
Briefe, die sich mit Ernstels Tod beschäftigen, und mit ihnen manch
tröstliches Wort. So heute der Gedanke, daß unser Leben eine
andere Seite vorausetzte; der Aufwand sei zu groß für unsere
sichtabe Existenz. - Von Friedrich Georg Verse, die mich an Etnstels Kindheit
in Goslar und Überlingen erinnern: »Auf Ernstels Tod. - Die
Winde fragen nach den Gespielen: // Wo bist du? Und das Echo
kehrt wieder. // Der Frühling kommt nun, bald kommt der Frühling.
// Wo bist du, Ernstel? Kommst du nicht wieder? // Der Harz
will grünen. Und auf den Wiesen // In dichten Hecken tönen die
Lieder. // Die Amsel ruft dich aus den Gebüschen: // Wo bist
du, Ernstel? Kommst du nicht wieder? // Er ruht nun. Ach, ihr ruft
ihn vergebens // An kühlen Wassern und in den Hainen // Ihm ward
ein früher Friede beschieden. // Wir aber blieben, ihn zu beweinen.
- Trotz seiner Jugend hinterließ er einen bestimmten Eindruck, war
auch von vielen geliebt. Heute kam von Carrara die Aufnahme seines Grabes
an. So bringt jeder Tag ein Echo von ihm.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 472 |
Kirchhorst, 12. Februar 1945. - Ziegler schreibt mir aus
Hamburg, daß auf besondere Anweisung von Grandgoschier (Goebbels;
HB) die Presse von meinem fünfzigsten Geburtstag nicht Notiz
nehmen wird. Das ist auch die einzige Auszeichnung, auf die ich Wert lege.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 472 |
Kirchhorst, 16. Februar 1945. - Diskurs am Gartenzaun:
Ich: »s ist heute lebhaft in der Luft.
Der Nachbar: »Ja, Osnabrück und Chemnitz sollen zerstört
worden sein.
Ich hatte aber an die Mücken, die zum ersten Male spielten, gedacht.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 475 |
Kirchhorst, 16. Februar 1945. - Wir sind jetzt fast pausenlos
in Luftalarm.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 475 |
Kirchhorst, 26. Februar 1945. - Zwei Russen, die für
uns Holz schlagen, erzählen Perpetua in der Küche, das dies
nach dreijähriger Gefangenschaft das erste Mal gewesen sei, bei dem
man sie in einem Hause, für das sie arbieten, bewirtete.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 476 |
Kirchhorst, 27. Februar 1945. - Es heißt, daß
Überlingen bombardiert worden ist, die alte, herrliche Stadt. ich
bin auch in Sorge um Friedrich Georg.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 476 |
Kirchhorst, 7. März 1945. - Unter der Post ein Brief
von Hanna, die aus Leisnig schreibt. Sie meint, daß die Nachricht
von Ernstels Tode die Fanfare für alles herbeieilende Unheil gewesen
sei. Von meinen beiden jüngsten Brüdern,dem Geographen und dem
Physiker, die bei Schneidemühl und Grossen lagen, kam seit Wochen
keine Nachricht mehr.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 478 |
Kirchhorst, 14. März 1945. - Perpetuas Geburtstag.
zugleich kommen neue Flüchtlinge ins Haus, das mehr und mehr einem
rettungsboote in der Nähe sinkender Schiffe gleicht. Perpetua zeigt
sich diesem Andrang gut gewachsen - es scheinen ihr die Mittel in dem
Maße zuzufließen, in dem sie gibt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 480 |
Kirchhorst, 14. März 1945. - Große Post. Friedrich
Georg beruhigt mich durch einen seiner erquickenden Briefe,in dem er freilich
auch schreibt, daß Überlingen bombardiert wurde. Er war während
dieser Fährnis gerade bei dem Philosophen Ziegler zu Besuch.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 480 |
Kirchhorst, 15. März 1945. - Nachmittags nach Burgdorf,
zum Zahnarzt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 481 |
Kirchhorst, 15. März 1945. - Herrliches Frühlingswetter
- ich dachte am Waldstück von Beinhorn wie immer an Ernstel und daran,
daß er nun die irdischen Wiesen und Blumen nicht mehr sieht. Sien
Tod bringt eine neue Erfahrung in mein Leben: die einer Wunde, sie sich
nicht schließen will.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 481 |
Kirchhorst, 19. März 1945. - Der schärferen Verzahnung
der technischen Mittel, deren oberstes der Weltstaat ist als machina machinarum,
muß wachsende Selbständigkeit und Freiheit der organischen
Bereiche zugeordnet sein. Vater- und Mutterland. Die neue Ordnung muß
einem sinnvollen Uhrwerk gleichen, in welchem das Hauptrad der Zentralisation
die kleinen Räder der Dezentralisation beschickt. Der bedeutsame
Unterschied liegt darin, daß die konservativen Kräfte nicht
mehr als Hemmung, sondern als Triebfeder arbeiten.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 483 |
Kirchhorst, 20. März 1945. - Am Morgen zeigte mir
Alexander, der mit Erkältung im Bett liegt, ein Märchen, das
er geschrieben hatte; es wurden fünf Hanwerksburschen in Frösche
verzaubert darin.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 484 |
Kirchhorst, 24. März 1945. - Ich lese in Johann Christian
Günthers Gedichten, die seit langem in einer schönen alten Breslauer
Ausgabe unter meinen Büchern stehen. Das ist kräftige Nahrung,
gewissermaßen die Ginseng-Wurzel des barock. Dazu Beobachtungen
wie folgende: »Und damit lag zugelich ihr Haupt in meinem Schoß.
// Der Zephir riß das Kleid vor Neid den halben Busen bloß,
// Wo Philemon sogleich, so weit sie ihm erlaubte, // Der Schönheit
Rosenknopf mit sanften Fingern schraubte.«
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 485-486 |
Kirchhorst, 29. März 1945. - Fünfzigster Geburtstag.
Das ist die Mitte des Lebens, wenn man es nicht mit der Elle, sondern
mit der Waage mißt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 487 |
Kirchhorst, 1. April 1945. - Amerikaner in Brilon und Paderborn.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 488 |
Kirchhorst, 1. April 1945. - Wenn Spengler vor jedem Eindringen
nach Rußland aus Raumgründen warnte, so hatte er, wie wir inzwischen
gesehen haben, recht.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 489 |
Kirchhorst, 3. April 1945. - In dieser Landschaft ist das
Welfentum die letzte Realität.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 490 |
Kirchhorst, 5. April 1945. - Er brachte Nachrichten von
Niekisch mit. Es heißt, daß die »Liquidation«
der Insassen der Zuchthäuser vorgesehen ist. Es gelang Niekisch,
seiner Frau einen Brief zukommen zu lassen, in dem er schrieb, daß
dies wohl der sinnvolle Abschluß seines Schicksals sei. Alle seine
Prophezeiungen, insbsesondere auch die seiner Schrift »Hitler, ein
deutsches Verhängnis«, seien nun erfüllt. Doch hegt seine
Frau noch Hoffnung, daß es zur Abschlachtung nicht kommen wird.
Ich sinne über dieses Schicksal immer mit einem besonderen Gefühl
der Bitterkeit.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 491 |
Kirchhorst, 7. April 1945. - Hin und wieder terten Gefangene
ein, um Deckung zu suchen, so wird die Scheune von einem TruppRussen überflutet,
der sich über einen Haufen von Mohrrüben macht. Perpetua teilt
ihnen Brotschnitten aus. Dann Polen - ich frage einen von ihnen, ob er
gleich bis zur Ostgrenze weitermarschieren will: »O, nein, erst
in einem jahr. Erst muß Russe weg.« Es deuten sich bereits
die nächsten Konflikte an.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 492 |
Kirchhorst, 8. April 1945. - Geburtstag meines lieben Vaters,
der nach dem Ausgang dieses Krieges so begierig war.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 493 |
Kirchhorst, 10. April 1945. - Nachmittags kommen zwei amerikanische
Panzerwagen aus Neuwarmbüchen her ins Dorf gefahren ....
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 494 |
Kirchhorst, 11. April 1945. - Wie gut, daß Ernstel
das nicht sieht; es hätte ihn zu sehr geschmerzt.
Ernst
Jünger, Strahlungen, 1949, S. 495 |
In
den Eingangssätzen des »Willens zur Macht bezeichnet Nietzsche
sich als »den ersten vollkommenen Nihilisten Europas, der aber den Nihilismus
selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, - der ihn hinter sich, unter sich, außer
sich hat«. Gleich darauf folgt die Bemerkung, daß sich in seiner Arbeit
bereits eine Gegenbewegung ankünde, welche »in irgendeiner Zukunft«
jenen vollkommenen Nihilismus ablösen werde, wenngleich sie ihn als notwendig
voraussetze. Obwohl seit der Konzeption dieser Gedanken mehr als sechzig Jahre
verflossen sind, wirken sie noch immer erregend auf uns, als Sätze, die sich
mit unserem Schicksal beschäftigen. Sie füllten sich inzwischen mit
Inhalt, mit gelebtem Leben, mit Taten und Schmerzen an. Das geistige Abenteuer
bestätigte und wiederholte sich in der Wirklichkeit. Wenn wir von unserem
erreichten Standort auf jene Aussage zurückblicken, scheint sich ein Optimismus
in ihr auszudrücken, der späteren Betrachtern fehlt. Der Nihilismus
wird also nicht als Ende angesehen, sondern vielmehr als Phase eines ihn umfassenden
geistigen Vorganges, wie sie nicht nur die Kultur in ihrem geschichtlichen Verlaufe,
sondern auch der Einzelne in seiner persönlichen Existenz in sich zu überwinden
und auszutragen oder vielleicht auch wie eine Narbe zu überwachsen vermagErnst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 5 |
Man
hat ... den Eindruck, daß der Nihilismus als notwendige Phase innerhalb
einer auf bestimmte Ziele gerichteten Bewegung begriffen wird. Die Frage, welche
Punkte die Bewegung inzwischen erreichte, ist daher ersten Ranges und drängt
sich sogleich bei jeder Beurteilung der Lage auf, in allen Gesprächen und
Selbstgesprächen, die sich mit der Zukunft beschäftigen. Die Antwort
freilich, wie immer man sie formulieren und wie man sie unterbauen möge,
wird stets bestreitbar sein. Der Grund liegt darin, daß sie weniger von
Tatbeständen abhängt, als von der Lebensstimmung und Lebensaussicht
überhaupt. Das macht sie wiederum in anderer und zwingenderer Weise aufschlußreich.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 7 |
Der Optimismus oder auch der Pessimismus einer solchen Antwort
rankt sich zwar an Beweisen, doch gründet er sich nicht auf sie.
Es handelt sich um verschiedene Ränge; dem Optimismus verleiht die
Tiefe, und dem Beweis die Klarheit die Überzeugungskraft. Der Optimismus
kann Schichten erreichen, in denen die Zukunft schlummert und befruchtet
wird. In diesem Falle begegnet man ihm als einem Wissen, das tiefer reicht
als die Gewalt der Tatsachen - ja, das Tatsachen schaffen kann. Sein Schwerpunkt
liegt eher im Charakter als in der Welt. Ein so fundierter Optimismus
ist an sich zu schätzen, insofern seinen Träger ja der Wille,
die Hoffnung und auch die Aussicht beleben muß, im Wandel der Geschichte
und ihrer Gefahren zu bestehen. Darin liegt viel.
Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 7-8 |
Als Widerspruch zu diesem Optimismus ist nicht der Pessimismus
anzusehen. Die Katastrophe ist von pessimistischen, insbesondere von kulturpessimistischen
Strömungen umringt. Der Pessimismus kann sich, wie bei Burckhardt,
als Ekel äußern vor dem, was man heraufkommen sieht - man wendet
dann die Augen auf schönere, wenngleich vergangene Bilder ab. Dann
gibt es Umschwünge zum Optimismus, wie etwa bei Bernanos - das Licht
glänzt auf, wenn es ganz dunkel geworden ist. Gerade die absolute
Übermacht des Feindes spricht gegen ihn. Endlich gibt es den Pessimismus,
der, obwohl wissend, daß das Niveau sich senkte, auch auf der neuen
Ebene Größe für möglich hält und insbesondere
der Beharrung, dem Halten des verlorenen Postens den Preis erteilt. Darin
liegt Spenglers Verdienst.
Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 8 |
Der
Widerspruch zum Optimismus ist vielmehr der Defaitismus, der heute ungemein verbreitet
ist. Man hat dem nichts mehr entgegenzusetzen, was man kommen sieht, weder an
Werten, noch an innerer Kraft. In dieser Stimmung findet die Panik keinen Widerstand;
sie breitet sich wie ein Wirbel aus. Die Bosheit des Feindes, das Schreckliche
der Mittel scheinen sich im gleichen Maß zu steigern, in dem im Menschen
die Schwäche wächst. Zuletzt umgibt ihn der Terror wie ein Element.
In dieser Lage zermürbt ihn bereits das nihilistische Gerücht, bereitet
ihn zum Untergange vor. Die Angst ergreift mit Gier, es unermeßlich vergrößernd,
das Schreckliche, ist ständig auf Jagd nach ihm. Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 8 |
Um
eine Vorstellung des Nihilismus zu erhalten, tut man gut, zunächst Erscheinungen
auszuscheiden, die in seiner Gesellschaft oder in seinem Gefolge auftreten und
daher gern mit ihm verquickt werden. Sie sind es auch vor allem, die dem Worte
den polemischen Sinn geben. Zu ihnen zählen die drei großen Bereiche
des Kranken, des Bösen und des Chaotischen.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 13 |
Um
mit dem dritten zu beginnen, so fällt uns heute, nach wohlerwor benen Erfahrungen,
die Unterscheid ung zwischen dem Nihilistischen und dem Chaotischen nicht schwer.
Sie ist jedoch wichtig, denn es gibt eine Entscheidung zwischen dem Chaos und
dem Nichts.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 13 |
Inzwischen
hat sich erwiesen, daß der Nihilismus mit ausgedehnten Ordnungssystemen
wohl harmonieren kann, ja daß das, wo er aktiv wird und Macht entfaltet,
sogar die Regel ist. Die Ordnung ist für ihn ein günstiges Substrat;
erbildet es zu seinem Zielen um. Vorausgesetzt wird lediglich, daß die Ordnung
abstrakt sei, und also geistig -hierher gehört in erster Linie der durchgebildete
Staat mit seinen Beamten und Apparaturen, und das vor allem zu einem Zeitpunkt,
an dem die tragenden Ideen mit ihrem Nomos und Ethos verlorengegangen oder in
Verfall geraten sind, obwohl sie vielleicht im Vordergrunde in erhöhter Sichtbarkeit
fortleben. Es wird dann an ihnen nur noch beachtet, was zu aktualisieren ist,
und diesem Zustande entspricht eine Art von journalistischer Geschichtsschreibung.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 13-14 |
Ganz
eng verbunden mit diesem Ablauf, in dem der Staat zum nihilistischen Objekt wird,
ist das Auftreten großstädtischer Massenparteien, die sowohl rational
als leidenschaftlich vorgehen. Im Falle des Erfolges können sie dem Staat
so ähnlich werden, daß zwischen beiden schwer zu unterscheiden ist.
Die siegreiche Macht im Bürgerkriege bildet Organe, die denen des Staates
korrespondieren, sei es zur Infiltration oder nach Art der Saugnäpfe. Endlich
kommt es zu neuen Verwachsungen.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 14 |
Der
große Einschnitt liegt darin, daß die Vernichtung zunächst leidend
empfunden wird. Das bringt oft eine letzte Schönheit wie in den Wäldern
der erste Frost, auch eine Feinheit, die klassischen Zeiten nicht gegeben ist.
Dann schlägt das Thema um, zum Widerstande; es stellt sich die Frage, wie
der Mensch im Angesichte der Vernichtung, im nihilistischen Soge bestehen kann.
Das ist die Wendung, in der wir begriffen sind; es ist das Anliegen unserer Literatur.
Das läßt sich mit zahlreichen Namen belegen - ... (genannt
werden hier u.a. die Namen Spengler und Benn; HB) .... Gemeinsam ist ihnen
allen das Experimentelle, das Provisorische der Haltung und die Kenntnis der gefährlichen
Lage, der großen Bedrohung; das sind zwei Daten, die über Sprachen,
Völker und Reiche hinweg den Stil bestimmen - denn daß ein solcher
bestehe und nicht nur in der Technik lebe, darüber kann kein Zweifel sein.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 19 |
Es
gibt eine nihilistische Medizin, deren Kennzeichen darin liegt, daß sie
nicht heilen will, sondern andere Zwecke verfolgt, und diese Schule breitet sich
aus. Ihr entspricht ein Patient, der in der Krankheit verharren will. Auf der
anderen Seite läßt sich von einer speziellen Gesundheit sprechen, die
in den Kreis der nihilistischen Erscheinungen gehört, von einer propagandistischen
Frische, die einen starken Eindruck der physischen Unbedenklichkeit erweckt. Man
wird sie bei den privilegierten Schichten treffen, sowie in Phasen der Konjunktur,
die mit Komfort verbunden sind. Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 20 |
Nietzsche
hat recht darin, daß der Nihilismus ein normaler Zustand ist, und pathologisch
nur, wenn man ihn mit nicht mehr oder noch nicht gültigen Werten vergleicht.
Als normaler Zustand umfaßt er Gesundes und Krankes auf seine eigentümliche
Art. An einer anderen Stelle verwendet Nietzsche das Bild vom Tauwind, der bewirken
wird, daß, wo man zu seiner Zeit noch gehen konnte, bald niemand mehr gehen
können wird. Das Bild ist gut; der Nihilismus erinnert in seiner zerstörerischen
und zukunftsträchtigen Gewaltsamkeit an einen Föhn, der vom Gebirge
kommt. Ganz ähnlich ist auch die Wirkung auf die Systeme die einen werden
gelähmt, die anderen reger in ihrem Wohlbefinden und ihrer Geistigkeit. Es
ist bekannt, daß man in manchen Ländern Delikte anders wertet, wenn
sie bei Föhn begangen sind.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 20-21 |
Das
führt uns auf die dritte Unterscheidung, nämlich auf jene, die zwischen
dem Nihilismus und dem Bösen zu treffen ist. Das Böse braucht an ihm
nicht zu erscheinen besonders dort nicht, wo Sicherheit gegeben ist. Wo sich die
Dinge der Katastrophe nähern, wird es mit dem Chaotischen verschwistert sein.
Es tritt dann als Begleitumstand wie bei Theaterbränden oder Schiffsuntergängen
auf.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 21 |
Andererseits
können Anlage und Programme nihilistischer Aktionen sich durch gute Absicht
und durch Philanthropie auszeichnen. Oft folgen sie bereits als Gegenschlag auf
erste Unordnungen, mit rettender Tendenz, und setzen dennoch, sie verschärfend,
die angesponnene-n Prozesse fort. Das führt dann dahin, daß auf weite
Strecken Recht und Unrecht fast ununterscheidbar werden, und zwar dem Handelnden
mehr als dem Leidenden. Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 21 |
Selbst
bei den großen Untaten tritt das Böse kaum als Beweggrund auf; es müßte
denn ein Böser kommen, der sich den nihilistischen Vorgang zunutze macht.
Solche Naturen bringen eher sachliche Störungen mit. Indifferenz gilt als
geeigneter. Beunruhigend ist weniger, daß Menschen mit krimineller Vorgeschichte
gefährlich werden, als daß Passanten, die man an jeder Straßenecke
und hinter jedem Schalter sieht, in den moralischen Automatismus eintreten. Das
deutet auf den Klimasturz. Wenn sich das Wetter bessert, sieht man dieselben Existenzen
&iedlich an den gewohnten Ort zurückkehren. Der Nihilist ist kein Verbrecher
im hergebrachten Sinne, denn dazu müßte noch gültige Ordnung sein.
Aus demselben Grunde aber spielt das Verbrechen auch keine Rolle für ihn;
es tritt aus dem moralischen Zusammenhange über in den automatischen. Wo
der Nihilismus zum normalen Zustande wird, bleibt dem einzelnen nur noch die Wahl
zwischen Arten des Unrechtes. Die richtenden Werte können jedoch nicht von
Orten kommen, an denen man noch nicht in den Vorgang einbezogen ist. Die neue
Flut wird vielmehr von den Tiefpunkten aus ansteigen.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 21-22 |
Wenn
sich der Nihilismus als spezifisch böse ansprechen ließe, dann wäre
die Diagnose günstiger. Gegen das Böse gibt es bewährte Heilmittel.
Beunruhigender ist die Verschmelzung, ja selbst die völlige Verwischung des
Guten und des Bösen, die oft dem schärfsten Auge sich entzieht.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 22 |
Was
diese Zeit an höchster Hoffnung einschließt, sei unberührt. Wenn
das Wort von Hölderlin wahr ist, dann muß das Rettende gewaltig anwachsen.
In seinem ersten Strahl verblaBt das Sinnlose.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 22 |
Uns
fesseln hier vielmehr die Wirkungen der Wende, die, von den Massen unbemerkt,
vorausgegangen ist. Hier finden sich vielleicht Merkzeichen zum praktischen Gebrauch
inmitten der nihilistischen Strömungen. Es handelt sich also um die Schilderung
von Symptomen und nicht von Ursachen.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 22 |
An
diesen Symptomen fällt auf den ersten Blick ein Hauptkennzeichen auf, das
sich als das der Reduktion bezeichnen läßt. Die nihilistische Welt
ist ihrem Wesen nach eine reduzierte und weiter sich reduzierende, wie das notwendig
der Bewegung zum Nullpunkt hin entspricht. Das in ihr herrschende Grundgefühl
ist das der Reduktion und des Reduziertwerdens. Dagegen kommt die Romantik nicht
mehr an, bringt nur einEchoder entschwundenen Wirklichkeit hervor. Der überfluß
versiegt; der Mensch empfindet sich als Ausgebeuteter in mannigfachen und nicht
nur ökonomischen Beziehungen.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 22-23 |
Die
Reduktion kann räumlich, geistig, seelisch sein; sie kann das Schöne,
das Gute, das Wahre, die Wirtschaft, die Gesundheit, die Politik berühren
- nur wird sie immer im Ergebnis als Schwund bemerkt werden. Das schließt
nicht aus, daß sie altf weite Strecken mit wachsender Machtentfaltung und
Durchschlagskraft verbunden ist. Wir sehen das vor allem an der Vereinfachung
der wissenschaftlichen Theorie. Sie schneidet unter Verzicht auf Dimensionen die
Fluchtlinien heraus. Das führt zu Kettenschlüssen, wie es sich etwa
am Darwinismus gut studieren läßt. Kennzeichnend für das nihilistische
Denken ist auch die Neigung, die Welt mit ihren verwickelten und vielfachen Tendenzen
auf einen Nenner zu beziehen. Der Zugriff wirkt verblüffend, wenn auch nur
eine Weile lang. Er wird gelehrt, da seine Dialektik das beste Mittel darstellt,
den Gegner zu demontieren, der ohne Reserven ist. Dann aber nimmt auch der Angegriffene
die Methodik an. Darauf begründet sich die geistige Rasanz der Reaktion.
Das Mittel mag in gewissen Phasen der nihilistischen Entwicklung unumgänglich
werden; im Grunde bleibt es ein Zeichen der Reduktion.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 23 |
Zu
diesen Zeichen zählt ferner das Entschwinden des Wunderbaren, und mit ihm
verflüchtigen sich nicht nur die Formen der Verehrung, sondern auch das Staunen
als Quelle der Wissenschaft. Was man in solchem Zustand Bewunderung, Erstaunen
nennt, das ist vor allem der Eindruck der Ziffer in der Raum- und Zahlenwelt.
Das Unermeßliche wird dann injeder Richtung auffallen - es bildet die Entsprechung
zur exakten und endlich auf die reine Meßkunst reduzierten Wissenschaft.
Der Schwindel vor dem kosmischen Abgrund ist ein nihilistischer Aspekt. Er kann
Erhabenheit erreichen ..., doch stets wird eine besondere und auf das Nichts bezogene
Furcht mit ihm verbunden sein.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 23 |
Noch
viele Felder ließen sich nennen, auf denen der Schwund ganz deutlich wird,
wie etwa das der Kunst oder des Erotischen. Es handelt sich eben um einen Prozeß,
der das Ganze angreift und endlich zu höchst sparsamen, grauen oder auch
ausgebrannten Landschaften führt. Im besten Falle treibt der Kristallismus
hervor. Das EigentÜmliche daran ist nicht das Neuartige. Es ist vielmehr
das weithin die Welt Umfassende. Zum ersten Male beobachten wir Nihilismus als
Stil.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 25 |
Schon
oft wird in der Menschengeschichte, sei es an Einzelnen, sei es an kleineren oder
größeren Einheiten, der Sturz der unsterblichen Hierarchien mit seinen
Folgen .sichtbar geworden sein. Immer standen dann mächtige Reserven zur
Verfügung, sei es in der elementaren oder auch in der gebildeten Welt. Es
gab noch wilden Grund in Fülle, und ganze Kulturen blieben unberührt.
Heute ergreift der Schwund, der ja nicht lediglich Schwund ist, sondern zugleich
Beschleunigung, Vereinfachung, Potenzierung und Trieb zu unbekannten Zielen, die
ganze Welt.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 25 |
Wenn
man die negative Seite der Reduktion betrachtet, so erscheint als ihr vielleicht
bedeutendstes Kennzeichen die Zurückführung der Zahl auf die Ziffer
oder auch der Symbole auf die entblößten Beziehungen. Das erzeugt dann
den Eindruck einer von Gebetsmühlen erfüllten Einöde, die unter
dem gestirnten Himmel kreist. Ununterbrochen wird die Meßbarkeit aller Verhältnisse
wichtiger. Man konsekriert noch, obwohl man nicht mehr an die Verwandlung glaubt.
Dann deutet man die Verwandlung um, macht sie verständlicher.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 25 |
Ein
früher Typus ist der Dandy; er verfügt noch über die äußeren
Maße einer Kultur, deren Sein zu schwinden beginnt. Die Prostitution gehört
hierher als von den Symbolen entblößte Geschlechtlichkeit. Es tritt
dann nicht nur das Käufliche hinzu, sondern auch die Meßbarkeit. Die
Schönheit wird in Ziffern schätzbar, wird weithin allgemein. Die umfassendste
Reduktion ist die auf die reine Kausalität ; zu ihren Untergattungen zählt
die ökonomische Betrachtung der geschichtlichen und sozialen Welt. Nach und
nach lassen sich alle Gebiete auf diesen Nenner bringen, sogar der Kausalität
so sehr entzogene Residenzen wie der Traum.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 25-26 |
Damit
berühren wir den Tabu-Abbaul der zunächst erschreckt, befremdet und
wohl auch reizt. Dann tritt das so Entkeimte in das Selbstverständliche.
Es ist zunächst ein Wagnis, einen Leichenwagen zu motorisieren, dann wird
es zum ökonomischen Fakt. .... Das Wagnis liegt immer nur in den Anfängen.
Inzwischen hat sich eine Art von Kulmination vollzogen, der die Beteiligung am
groben nihilistischen Prozesse der Anziehung beraubt.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 26 |
Worauf
begründet sich die Mißstimmung, die unter anderem den radikalen Parteien
das Wasser abzugraben droht, und welche die Jahre nach 1945 so bedeutsam von denen
nach 1918 trennt? Der Grund ist darin zu vermuten, daß wir inzwischen nicht
nur ideologisch, sondern mit dem der Ideologie zugrunde liegenden Kernbestand
den Nullpunkt passiert haben. Das bringt dann eine neue Richtung des Geistes und
die Wahrnehmung neuer Phänomene mit.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 26 |
Es
ist kaum zu erwarten, daß diese Phänomene überraschend oder blendend
auftauchen. Die überquerung der Linie, die Passage des Nullpunkts teilt das
Schauspiel; es deutet die Mitte, doch nicht das Ende an. Die Sicherheit ist noch
sehr fern. Dafür wird Hoffnung möglich sein. Der Barometerstand wird
besser trotz äußerer Gefährdung, und das ist günstiger als
wenn er fiele bei noch bestehenden Aspekten der Sicherheit. Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 26 |
Ebensowenig
ist anzunehmen, daß sich die Phänomene sogleich als theologisch zu
erkennen geben werden, wenn man das Wort im engeren Sinne faßt. Eher ist
zu vermuten, daß sie aufjenen Feldern sichtbar werden, an die sich heute
der Glaube knüpft, also gerade auf denen der Ziffernwelt. Und in der Tat
ist zu erkennen, daß an der Grenze, an der sich Mathematik und Naturwissenschaft
berühren, gewaltige Veränderungen im Werden sind. Es ändern sich
die astronomischen, die physikalischen, die biologischen Aspekte in einer Weise,
die einen bloßen Wechsel der Theoreme weit übersteigt. Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 26-27 |
Wir
greifen damit freilich noch nicht über den Werkstättenstil hinaus, obgleich
ein bedeutsamer Unterschied aufschimmert. Die Werkstättenlandschaft, wie
wir siekennen, beruht im wesentlichen auf einer bis zum Grunde reichenden Abtragung
der alten Formen zugunsten der größeren Dynamik des Arbeitsvorganges.
Die ganze Maschinen-, Verkehrs- und Kriegswelt mit ihren Destruktionen gehört
hierher. In Schreckensbildern wie in dem des Städtebrandes erreicht die Abtragung
die höchste Intensität. Der Schmerz ist ungeheuer, und doch verwirklicht
sich inmitten der historischen Vernichtung die Gestalt der Zeit. Ihr Schatten
fällt auf die umgepflügte Erde, fallt auf den Opfergrund. Dem folgen
die neuen Grundrisse.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 27 |
Noch
sinnt das Auge über die Veränderung der Dekorationen, die von denen
der Fortschrittswelt und des kopernikanischen Bewußtseins zu unterscheiden
sind. Es hat den Eindruck, daß der Plafond nicht minder als die Szenerie
auf höchst konkrete Weise heranzurücken und in eine neue Optik einzutreten
scheint. Schon ist vorauszusehen, daß auf diesem Theater auch neue Figuren
auftreten.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 27 |
Daneben
wird niemand übersehen, daß in der Welt der Tatsachen der Nihilismus
sich den letzten Zielen annähert. Nur war beim Eintritt in seine Zone der
Kopf bereits gefährdet, der Leib dagegen noch in Sicherheit. Nun ist es umgekehrt.
Das Haupt ist jenseits der Linie. Indessen steigert sich der niedere Dynamismus
weiter und drängt zur Explosion. Wir wohnen dem schauerlichen Horten von
Geschossen bei, die auf die unterschiedslose Vernichtung großer Teile des
Menschengeschlechtes berechnet sind. Es ist kein Zufall, daß hier die gleichen
Kräfte wirken, die den Soldaten diskriminieren, der noch Regeln des Kampfes
und den Unterschied von Kriegern und Wehrlosen kennt.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 27 |
Damit
soll nicht der Vorgang als schlechthin sinnlos abgeurteilt sein. Es kann nichts
helfen, daß man die Augen vor ihm verschließt vor ihm verschließt.
Er ist ein Ausdruck des Weltbürgerkrieges, in dem wir begriffen sind. Das
Ungeheure der Mächteund Mittelläßt darauf schließen, daß
nunmehr das Ganzeauf dem Spiele steht. Dazu kommt die Gemeinsamkeit des Stils.
Das alles deutet auf den Weltstaat hin. Es handelt sichnicht mehr um nationalstaatliche
Fragen, auch nicht umGroßraum-Abgrenzungen. Es geht um den Planeten überhaupt.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 27-28 |
Das
ist ein erster Hoffnungsblick. Zum ersten Male ergibt sich ein festes, sachliches
Ziel inmitten des uferlosen Fortschritts und seiner Veränderung. Auch ist
der Wille, es zuerreichen, nicht durchaus machtpolitisch - vielmehr entspricht
er der Meinung, die man an jeder Straßenecke, in jedem Abteil hört.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 28 |
Es
sollte zugleich die Ansicht wachsen, daß ein dritter Weltkrieg, wenn auch
nicht unwahrscheinlich, so doch nicht unvermeidlich ist. Nicht ausgeschlossen
ist es, daß die Welteinheit sich durch Verträge erreichen läßt.
Das würde freilich die Entstehung einer dritten Macht voraussetzen, als welche
vorläufig nur das geeinte Europa denkbar ist. Auch könnte die Umdrehung
ein Maß erreichen, das einen der Konkurrenten bereits im Frieden scheitern
läßt. Dann gibt es das Unvorhergesehene. Das alles drängt zu dem
Urteil, daß bei hinreichender Kraft des Geistes weder zum Optimismus, noch
zur Verzweiflung Anlaß gegeben ist.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 28 |
Gesundheit
entsteht nicht dadurch, daß jeder zum Arzte wird.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 28 |
Der
freie Mensch ist schon aus Gründen der Selbsterhaltung verpflichtet, sich
darüber Gedanken zu machen, wie er sich in einer Welt verhalten will, in
der der Nihlismus nicht nur herrschend, sondern, was schlimmer, auch zum Normalzustand
geworden ist.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 29 |
Die
konservative Haltung, in ihren Vertretern der Achtung, ja oft Bewunderung würdig,
vermag die wachsende Bewegung nicht mehr aufzufangen und abzudämmen, wie
das noch nach dem ersten Weltkriege möglich schien. Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 29-30 |
Es
ist kein Zweifel daran, daß unser Bestand als Ganzes sich über die
kritische Linie bewegt. Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 30 |
Es
gibt daher auch eine Frage nach dem Grundwert, die heute an Personen, Werke und
Einrichtungen zu stellen ist. Sie lautet: inwiefern haben sie die Linie passiert?Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 31 |
Man
hört auch den Vorschlag, die Massen ihrem Willen zu überlassen, der
sie so deutlich zur Vernichtung drängt. Das hieße die Sklaverei verewigen,
in der zahllose Millionen schmachten, und welche die Schrecken der Antike überbietet,
doch ohne deren Licht.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 33 |
Sodann
ist festzustellen, daß sich dieTheologie mitnichten in einem Stand befindet,
der es mit dem Nihilismus aufnehmen kann. Sie schlägt sich vielmehr mit den
Nachhuten der Aufklärung herum, ist also selber noch verwickelt in das nihilistische
Gespräch.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 33 |
Weit
hoffnungsvoller ist es, daß die Einzelwissenschaftenvon sich aus zu Bildern
vordringen, die einer theologischen Deutung fähig sind - vor allem die Astronomie,
die Physik und die Biologie. Sie scheinen aus der Expansion sich wieder der Verdichtung
anzunähern, der begrenzteren, schärferen und damit vielleicht auch menschlicheren
Sicht, vorausgesetzt, daß man das Wort neu konzipiert. Man wird sich hier
vor vor eiliger Ausdeutung hüten müssen, am besten sprechen die Ergebnisse.
Den Experimenten werden jetzt neue Fragen unterlegt. Das bringt auch neue Antworten.
Zu ihrer Zusammenfassung wird die Philosophie nicht ausreichen.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 33 |
Der
Mangel wird dort am wenigsten spürbar werden, wo Gottesdienst genügt
- im orthodoxen Kern. Er ist vielleicht der einzige, der die Linie unzersetzt
passiert, oder, wenn erzersetzt wird, ungeheure Veränderungen bringt. Der
Mangel wird auch bei den Protestanten stärker als bei den Katholiken auftreten,
daher wird auch bei ihnen das Streben stärker auf den weltlichen Umtrieb
und die Wohlfahrt gerichtetsein. Den geistigen Spitzen wird die Entscheidung in
keinem Falle abzunehmen sein. Das treibt dazu, daß theologische Themen immer
stärker in die Literatur eindringen.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 33 |
Ausbeutung ist der Grundzug der Maschinen- und Automatenwelt.
Sie steigert sich zur Unersättlichkeit, wo der Leviathan erscheint.
Darüber darf man sich auch dort nicht täuschen, wo großer
Reichtum die Schuppen zu vergolden scheint. Es ist noch fürchterlicher
im Komfort. Die Zeit der Monster-Staaten ist angebrochen, wie Nietzsche
es voraussagte.
Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 34 |
Die Zeit der Ideologien, wie sie noch nach 1918 möglich waren,
ist vorbei; sie liegen den großen Mächten nur noch als ganz
leichte Schminke auf. Die Totale Mobilmachung ist in ein Stadium eingetreten,
das an Bedrohlichkeit noch das vergangene übertrifft. Der Deutsche
freilich ist nicht mehr ihr Subjekt, und dadurch wächst die Gefahr,
daß er als ihr Objekt begriffen wird.
Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 36 |
Die
Bildung von Großräumen und vor allem ihr wachsender Bürgerkriegscharakter
weist daruf hin, daß es sich nicht mehr um Bewegungen von Nationalstaaten
handelt, sondern um die Vorbereitung einer umfassenden Einheit, innerhalb deren
dann wiederum ein größerer Schutz und freieres Leben der Völker
und Vaterländer zu erwarten ist.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 36-37 |
Es
ist vorauszusehen, diiß die Beschneidung der Freiheit noch währen wird.
Sie ist auch dort vorhanden, wo man sich auf naive Weise im Besitze des Entschlusses
wähnt. Ist es ein Unterschied, ob völkermordende Mittel im Auftrage
tyrannischer Oligarchen oder auf Parlamentsbeschluß ersonnen und gehäuft
werden? Gewiß ein Unterschied: im Zweiten wird der universale Zwang noch
deutlicher. Die Furcht herrscht über allen, wenn sie sich auch hier als Tyrannis
und dort als Fatum offenbaren mag. Solange sie regiert, wird alles im dumpfen
Kreis umhergeführt, und aufden Waffen ruht unheilvoller Glanz.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 38 |
Damit
erhebt sich die Frage, ob selbst auf beschränktem Felde noch Freiheit möglich
ist. Gewiß ist sie nicht durch Neutralität gegeben - vor allem nicht
durch jene scheußliche Illusion der Sicherheit, die jenen sich zu moralisieren
unterfängt, der in der Arena steht.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 38 |
Desgleichen
ist Skepsis nicht zu empfehlen, besonders nicht jene Skepsis, die sichtbar macht.
Die Geister, die den Zweifel verwaltet haben und von ihm profitieren, sind nunmehr
weithin in den Besitz der Macht gekommen, und nun ist ihnen gegenüber der
Zweifel Sakrileg. Sie fordern für sich und ihre Lehren und ihre Kirchenväter
Verehrung, wie sie nie ein Kaiser, ein Papst für sich in Anspruch nahm. Hier
noch zu zweifeln, möge wagen, wer Folter und Zwangsarbeit nicht scheut. Es
werden nicht viele sein. Sich sichtbar machen auf solche Weise heißt dem
Leviathan gerade den Dienst erweisen, der ihm behagt, für den er Heere von
Polizisten unterhält. Solches den Unterdrückten anzuraten, etwa vom
sicheren Rundfunkpulte aus, ist rein verbrecherisch. Vor jenen, die reden, haben
die heutigen Tyrannen keine Angst. Das mochte noch in den guten alten Zeiten des
absoluten Staates möglich sein. Viel fürchterlicher ist das Schweigen
- das Schweigen der Millionen und auch das Schweigen der Toten, das von Tag zu
Tage tiefer wird. und das nicht Trommeln übertönen, bis es dann das
Gericht beschwört. Im Maße, in dem der Nihilismus normal wird, werden
die Symbole der Leere fürchterlicher als die der Macht.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 38-39 |
Die
Freiheit aber wohnt nicht im Leeren, sie haust vielmehr im Ungeordneten und Ungesonderten,
in jenen Gebieten, die zwar organisierbar, doch nicht zur Organisation zu zählen
sind. Wir wollen sie die Wildnis nennen; sie ist der Raum, aus dem der Mensch
nicht nur den Kampf zu führen, sondern aus dem heraus er auch zu siegen hoffen
darf. Das ist dann freilich keine romantische Wildnis mehr. Es ist der Urgrund
seiner Existenz, das Dickicht, aus dem er eines Tages wie ein Löwe hervorbrechen
wird.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 39 |
Gibt
es doch auch in unseren Wüsten Oasen, in denen die Wildnis blüht.Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 39 |
INHALT. I. Prognose: * Die günstige
Prognose Nietzsches * wird von Dostojewski geteilt. * Optimismus und Pessimismus
können gleich fruchtbar sein. Verwerflich ist der Defaitismus, denn
er fordert die Hybris heraus. II. Diagnose:
* Der Nihilismus ist als Grundmacht nicht zu erfassen, * doch bestehen
Vorstellungen über seinen Verlauf. * Der Nihilismus ertastet nur
das Nichts. * Er ist nicht gleichzusetzen dem Chaos, * der Krankheit *
oder dem Bösen, sondern * er ist ein Reduktionsvorgang, * mit dem
auch der Schwund des Wunderbaren verbunden ist. * Der Schwund hat indessen
Endphasen erreicht. * Damit besteht Hoffnung, daß wir aus dem Werkstättenstil
heraustreten. III. Therapie: * Was tun in solcher
Lage? * Es gilt sich auszurichten * gegenüber den Kirchen, * dem
Leviathan, * der organisierten Welt. * Sicherheit ist in der Wildnis,
die als die Heimat des Todes, des Eros und der musischen Schöpfung
erkannt werden muß. * Auch das Denken führt in diese ungesonderte
Welt. * Vor allem muß Sicherheit in der eigenen Brust gefunden werden.
Dann ändert sich die Welt.
Ernst
Jünger, Über die Linie, 1950, S. 45 |
Wir
leben in Zeiten, in denen ununterbrochen fragenstellende Mächte an uns herantreten.
Und diese Mächte sind nicht nur von idealer Wißbegier erfüllt.
Indem sie sich mit ihren Fragen nähern, erwarten sie von uns nicht, daß
wir einen Beitrag zur objektiven Wahrheit liefern, ja nicht einmal, daß
wir zur Lösung von Problemen beitragen. Sie legen nicht auf unsere Lösung,
sie legen auf unsere Antwort Wert.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 5-6 |
Das
ist ein wichtiger Unterschied. Er nähert die Fragenden Verhören an.
Man wird das an der Entwicklung verfolgen können, die vom Wahlzettel zum
Fragebogen führt. Der Wahlzettel zielt auf die Feststellung reiner Zahlenverhältnisse
und deren Auswertung. Er soll den Willen des Wählers ermitteln, und der Wahlvorgang
ist dahin ausgerichtet, daß dieser Wille rein und ohne fremde Einflüsse
zur Darstellung gelangt. Die Wahl wird daher auch von einem Gefühl der Sicherheit,
ja selbst der Macht begleitet, wie es den freien, im Rechtsraum abgegebenen Willensakt
auszeichnet.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 6 |
Der
Zeitgenosse, der einen Fragebogen abzugeben sich veranlaßt sieht, ist weit
entfernt von solcher Sicherheit. DieAntworten, die er erteilt, sind folgenschwer;
oft hängt von ihnen sein Schicksal ab. Man sieht den Menschen in eine Lage
kommen, in der von ihm verlangt wird, Urkunden zu schaffen, die auf seinen Untergang
berechnet sind. Und was für belanglose Dinge bestimmen heute oft den Untergang.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 6 |
Es
leuchtet ein, daß sich in dieser Veränderung der Fragestellung eine
ganz andere Ordnung andeutet, als wir sie zu Anfang unseres Jahrhunderts vorfanden.
Hier gibt es die alte Sicherheit nicht mehr, und unser Denken muß sich danach
einrichten.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 6 |
Die
Fragen rücken uns enger, dringender auf den Leib, und immer bedeutungsvoller
wird die Art, in der wir antworten.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 6 |
Dabei
ist zu bedenken, daß Schweigen auch eine Antwort ist. Man fragt uns, warum
wir dann und dort geschwiegen haben, und gibt uns die Quittung dafür. Das
sind die Zwickmühlen der Zeit, denen keiner entrinnt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 6 |
Der
Wähler also, an den wir denken, wird sich der Urne mit ganz anderen Gefühlen
nähern als sein Vater oder Großvater.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 7 |
An
Plätzen, wo die Diktatur schon stark gefestigt ist, würden neunzig Prozent
Bejahungen schon zu stark abfallen. Daß sich in jedem Zehnten ein geheimer
Gegner verbirgt: den Gedanken kann man den Massen nicht zumuten. Dagegen würde
eine Zahl von ungültigen und Gegenstimmen, die sich um zwei Prozent herum
bewegt, nicht nur erträglich, sondern auch günstig sein. Diese beiden
Prozente wollen wir nun nicht einfach als taubes Metall betrachten und abstreichen.
Sie sind der näheren Betrachtung wert. Man findet heute das Ungeahnte gerade
in den Rückständen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 9 |
Der
Nutzen dieser beiden Stimmen für den Veranstalter ist ein doppelter: sie
geben einmal den übrigen achtundneunzig Stimmen Kurs, indem sie bezeugen,
daß jeder ihrerTräger sein Votum hätte abgeben können wie
jene zwei Prozent. Damit gewinnt sein Ja an Wert, wird echt und vollgültig.
Den Diktaturen ist der Nachweis wichtig, daß die Freiheit, Nein zu sagen,
bei ihnen nicht ausgestorben ist. Darin liegt eines der größten Komplimente,
die man der Freiheit machen kann.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 9 |
Der
zweite Vorteil unserer zwei Prozent liegt darin, daß sie die ununterbrochene
Bewegung unterhalten, auf welche die Diktaturen angewiesen sind. Aus diesem Grunde
pflegen sie sich immer noch als »Partei« zu geben, obwohl das sinnlos
ist. Mit hundert Prozenten wäre das Ideal erreicht. Das würde die Gefahren
mit sich bringen, die mit jeder Erfüllung verbunden sind. Man kann auch auf
dem Lorbeer des Bürgerkrieges einschlafen. Beim Anblick jeder großen
Fraternisierung muß man sich fragen: wo steht der Feind? SolcheZusammenschlüsse
sind zugleich Ausschlüsse Ausschlüsse eines Dritten und Verhaßten,
der dennoch unentbehrlich ist. Die Propaganda ist auf einen Zustand angewiesen,
in dem der Staatsfeind, der Klassenfeind, der Volksfeind zwar durchaus aufs Haupt
geschlagen und schon fast lächerlich geworden, doch immerhin noch nicht ganz
ausgestorben ist.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 9 |
Die
Diktaturen können von der reinen Zustimmung nicht leben, wenn nicht zugleich
der Haß und mit ihm der Schrecken die Gegengewichte gibt. Nun würde
aber bei hundert Prozent guter Stimmen der Terror sinnlos werden; man träfe
nur noch Gerechte an. Das ist die andere Bedeutung der zwei Prozent. Sie weisen
nach, daß zwar die Guten in ungeheurer Mehrheit, doch auch nicht gänzlich
ungefährdet sind. Im Gegenteil ist anzunehmen, daß angesichts so überzeugter
Einheit nur eine besondere Verstocktheit sich unbeteiligt verhalten kann. Es handelt
sich um Saboteure mit dem Stimmzettel und was liegt näher als der
Gedanke, daß sie auch zu anderen Formen der Sabotage schreiten werden, wenn
sich Gelegenheit ergibt?Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 10 |
Das
ist der Punkt, an dem der Wahlzettel zum Fragebogen wird. Es ist dabei nicht nötig,
eine individuelle Haftung für die erteilte Antwort anzunehmen, doch darf
man sicher sein, daß ziffernmäßige Beziehungen bestehen. Man
darf gewiß sein, daß jene zwei Prozent nach den Regeln der doppelten
Buchführung auch in anderen Registern als denen der Wahlstatistik in Erscheinung
treten, wie etwa in den Namenslisten der Zuchthäuser und Arbeitslager oder
an jenen Stätten, wo Gott allein die Opfer zählt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 10 |
Die
alten Systeme, die alten Parteien werden mitverändert .... Ein Demokrat,
der mit einer gegen neunundneunzig Stimmen für Demokratie gestimmt hat, trat
damit nicht nur aus seinem politischen Systeme, sondern auch aus seiner Individualität
heraus. Das wirkt dann weit über den flüchtigen Vorgang, indem es nach
ihm weder Demokratie noch Individualität geben kann.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 18 |
Das
ist der Grund, aus welchem unter den Cäsaren die zahlreichen Versuche, zur
Republik zurückzukehren, scheiterten. Die Republikaner waren im Bürgerkrieg
gefallen, oder sie gingen verändert aus ihm hervor.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 18 |
Im
Waldgang betrachten wir die Freiheit des Einzelnen in dieser Welt. Dazu ist auch
die Schwierigkeit, ja das Verdienst zu schildern, das darin liegt, in dieser Welt
ein Einzelner zu sein. Daß sie sich, und zwar notwendig, verändert
hat und noch verändert, wird nicht bestritten, doch damit verändert
sich auch die Freiheit, zwar nicht in ihrem Wesen, wohl aber in der Form. Wir
leben im Zeitalter des Arbeiters; die These wird inzwischen deutlicher geworden
sein. Der Waldgang schafft innerhalb dieser Ordnung die Bewegung, die sie von
den zoologischen Gebilden trennt. Er ist weder ein liberaler noch ein romantischer
Akt, sondern der Spielraum kleiner Eliten, die sowohl wissen, was die Zeit verlangt,
als auchnoch etwas mehr.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 19 |
In einer Millionenstadt leben zehntausend Waldgänger, wenn
wir uns dieses Namens bedienen wollen, ohne noch seine Tragweite zu übersehen.
Das ist eine gewaltige Macht. Sie ist zum Sturz auch starker Zwingherren
hinreichend. Die Diktaturen sind ja nicht nur gefährlich, sie sind
zugleich gefährdet, da die brutale Kraftentfaltung auch weithin Abneigung
erregt. Insolcher Lage wird die Bereitschaft winziger Minderheitenbedenklich
sein, vor allem, wenn sie eine Taktik entwickelten.
Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 20-21 |
Das
Mißtrauen wächst mit der Zustimmung. Je näher der Anteil der guten
Stimmen den hundert Prozent kommt, desto größer wird die Zahl der Verdächtigen,
denn es ist anzunehmen, daß nun die Träger des Widerstandes aus einer
statistisch faßbaren Ordnung hinüberwechselten in jene unsichtbare,die
wir als den Waldgang ansprechen. Nunmehr muß jeder überwacht werden.
Die Ausspähung schiebt ihre Organe in jeden Block, in jedes Wohnhaus vor.
Sie sucht selbst in die Familien einzudringen und erreicht ihre letzten Triumphe
in den Selbstbezichtigungen der großen Schauprozesse: hier sehen wir das
Individuum als seinen eigenen Polizisten auftreten und an seiner Vernichtung mitwirken.
Es ist nichtmehr, wie in der liberalen Welt, unteilbar, sondern durch den Staat
in zwei Hälften zerlegt, in eine schuldige und eine andere, die sich anschuldigt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 21-22 |
Durch
den Staat in zwei Hälften zerlegt, in eine schuldige und eines andere, die
sich anschuldigt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 22 |
All
diese Enteignungen, Abwertungen, Gleichschaltungen, Liquidationen, Rationalisierungen,
Sozialisierungen, Elektrifizierungen, Flurbereinigungen, Aufteilungen und Pulverisierungen
setzen weder Bildung noch Charakter voraus, die beide den Automatismus eher schädigen.
Wo daher in der Werkstättenlandschaft auf die Macht geboten wird, erhält
derjenige den Zuschlag, in dem sich das Bedeutungslose durch starken Willen überhöht.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 23 |
Der
Mensch tritt in Zusammenhänge ein, die er mit dem Bewußtsein nicht
sogleich erfaßt, geschweige denn durch die Gestaltung die Optik wird
erst mit der Zeit erworben, die das Schauspiel verständlich macht. Erst dann
wird Herrschaft möglich sein. Ein Vorgang muß zunächst begriffen
werden, ehe man auf ihn einwirken kann.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 23 |
Es
gibt kein hoffnungsloseres Schicksal, als in einen solchen Ablauf zu geraten,
in dem das Recht zur Waffe geworden ist.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 24 |
Solche
Erscheinungen hat es in der menschlichen Geschichte schon immer gegeben, und man
könnte sie den Greueln zurechnen, die selten fehlen, wo große Veränderungen
sich vollziehen. Beunruhigender ist, daß die Grausamkeit zu einem Element,
zu einer Einrichtung der neuen Machtgebilde zu werden droht und daß man
den Einzelnen ihr wehrlos ausgeliefert sieht. Das hat mehrere Gründe, vor
allem den, daß das rationale Denken grausam ist. Das geht dann in die Pläne
ein. Dabei spielt eine besondere Rolle das Erlöschen der freien Konkurrenz.
Es führt ein sonderbares Spiegelbild herbei. Die Konkurrenz gleicht, wie
ihr Name sagt, dem Wettlauf, in ihm erringen die Geschicktesten den Preis. Wo
sie entfällt, droht eine Art von Rentnertum auf Staatskosten, während
die äußere Konkurrenz, der Wettlauf der Staaten untereinander, bestehen
bleibt. In diese Lücke tritt der Terror ein. Wohl sind es andere Umstände,
die ihn herbeiführen: hier zeigt sich einer der Gründe, aus denen er
bestehen bleibt. Die durch den Wettlauf erzeugte Geschwindigkeit muß nun
die Furcht hervorbringen. Der Standard hängt dort vom Hochdruck und hier
vom Vakuum ab. Dort gibt der Gewinnende die Gangart an, hier der, dem es noch
schlechter geht. Damit nun hängt zusammen, daß im zweiten Falle der
Staat beständig einen Teil der Einwohner schauerlichen Zugriffen zu unterwerfen
sich gezwungen sieht. Das Leben ist grau geworden, doch mag es dem erträglich
scheinen, der neben sich die Dunkelheit, das absolute Schwarz erblickt. Darin,
und nicht auf dem Gebiet der Wirtschaft, liegen die Gefahren der großen
Planungen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 25 |
Die
Katastrophen prüfen, in welchem Maße Menschen und Völker noch
original gegründet sind. Ob wenisgtens noch ein Wurzelstrang unmittelbar
das Erdreich aufschließt - daran hängen Gesundheit und Lebensaussicht
jenseits der Zivilisation un ihrer Versicherung.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 27 |
Wir
nannten den Arbeiter und den Unbekannten Soldaten als zwei der großen Gestalten
unserer Zeit. Im Waldgänger erfassen wir eine dritte, die immer deutlicher
erscheint.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 28 |
Im
Arbeiter entfaltet sich das tätige Prinzip in dem Versuch, das Universum
auf neue Weise zu durchdringen und zu beherrschen, Nähen und Fernen zu erreichen,
die noch kein Auge sah, Gewalten zu gebieten, die noch niemand entfesselte. Der
Unbekannte Soldat steht auf der Schattenseite der Aktionen, als Opfergänger,
der in den großen Feuerwüsten die Lasten trägt und der als guter,
einender Geist nicht allein innerhalb der Völker, sondern auch zwischen ihnen
beschworen wird. Er ist der Sohn der Erde unmittelbar.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 28 |
Waldgänger
aber nennen wir jenen, der durch den großen Prozeß vereinzelt und
heimatlos geworden, sich endlich der Vernichtung ausgeliefert sieht. Das könnte
das Schicksal vieler, ja aller sein - es muß also noch eine Bestimmung hinzukommen.
Diese liegt darin, daß der Waldgänger Widerstand zu leisten entschlossen
ist und den, vielleicht aussichtslosen, Kampf zu führen gedenkt. Waldgänger
ist also jener, der ein ursprüngliches Verhältnis zur Freiheit besitzt,
das sich, zeitlich gesehen, darin äußert, daß er dem Automatismus
sich zu widersetzen und dessen ethische Konsequenz, den Fatalismus, nicht zu
ziehen gedenkt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 28 |
Wenn
wir ihn so betrachten, wird uns aufgehen, welche Rolle der Waldgang nicht nur
in den Gedanken, sondern auch in der Wirklichkeit unserer Jahre spielt. Ein jeder
befindet sich ja heute in Zwangslage, und die Versuche, den Zwang zu bannen, gleichen
kühnen Experimenten, von denen noch ein weit größeres Schicksal
abhängt als das jener, die sie zu wagen entschlossen sind.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 28 |
Ein
solches Wagnis kann Erfolg nur dann erhoffen, wenn ihm von den drei großen
Mächten der Kunst, der Philosophie und der Theologie Hilfe geboten und Bahn
im Ausweglosen gebrochen wird. Wir werden darauf im einzelnen eingehen. Vorausgeschickt
sei nur, daß in der Kunst tatsächlich das Thema des umstellten Einzelnen
an Raum gewinnt. Naturgemäß wird das besonders in der Menschenschilderung
hervortreten, wie sie der Bühne und dem Lichtspiel zukommt, vor allem aber
dem Roman. Und wirklich sehen wir die Perspektive wechseln, insofern die Schilderung
der fortschreitenden oder sich zersetzenden Gesellschaft abgelöst wird durch
die Auseinandersetzung des Einzelnen mit dem technischen Kollektiv und seiner
Welt. Indem der Autor in ihre Tiefe eindringt, wird er selbst zum Waldgänger,
denn Autorschaft ist nur ein Name für Unabhängigkeit.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 28-29 |
Die
immer künstlicheren Städte, die automatischen Bezüge, die Kriege
und Bürgerkriege, die Maschinenhöllen, die grauen Despotien, Gefängnisse
und raffinierten Nachstellungen das alles sind Dinge, die Namen bekommen
haben und die den Menschen Tag und Nacht beschäftigen. Wir sehen ihn über
Fortgang und Ausweg sinnen als kühnen Planer und Denker, wir sehen ihn in
den Aktionen als Maschinenlenker, Krieger, Gefangenen, als Partisan inmitten seiner
Städte, die bald brennen, bald festlich erleuchtet sind. Wir sehen ihn als
Verächter der Werte, als kalten Rechner, doch auch in der Verzweiflung, wenn
inmitten der Labyrinthe der Blick die Sterne sucht.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 30 |
Der
Vorgang hat zwei Pole einmal den des Ganzen, das, sich immer mächtiger
gestaltend, fortschreitet durch jeden Widerstand. Hier ist vollendete Bewegung,
imperiale Entfaltung, vollkommene Sicherheit. Am anderen Pole sehen wir den Einzelnen,
leidend und schutzlos, in ebenso vollkommener Unsicherheit. Beides bedingt sich,
denn die große Machtentfaltung lebt von der Furcht, und der Zwang wird dort
besonders wirksam, wo die Empfindsamkeit gesteigert ist.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 30 |
Wenn
sich die Kunst in zahllosen Versuchen mit dieser neuen Lage des Menschen befaßt
als mit dem eigentlichen Thema, so geht das über die Schilderung hinaus.
Es handelt sich vielmehr um Experimente mit einem höchsten Ziel, das darin
liegt, Freiheit und Welt in neuer Harmonie zu einigen. Wo das im Kunstwerk sichtbar
wird, muß sich die angestaute Furcht zerteilen wie Nebel im ersten Sonnenstrahl.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 30 |
Wäre
es ... möglich, zugleich auf dem Schiff zu bleiben und sich die eigene
Entscheidung vorzubehalten - das heißt, die Wurzeln nicht nur zu wahren,
sondern auch zu stärken, die noch dem Urgrund verhaftet sind. Das ist die
eigentliche Frage unserer Existenz.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 31 |
Der
Mensch fragt, wie er der Vernichtung entrinnen kann. Wenn man in diesen Jahren
an jedem beliebigen Punkt Europas mit Bekannten oder Unbekannten im Gespräch
zusammensitzt, so wird die Unterhaltung sich bald dem Allgemeinen zuwenden, und
das ganze Elend wird auftauchen. Man wird erkennen, daß fast alle diese
Männer und Frauen von einer Panik erfaßt sind, wie sie seit dem frühen
Mittelalter bei uns unbekannt geworden war. Man wird beobachten, daß sie
sich mit einer Art Besessenheit in ihre Furcht hineinstürzen, deren Symptome
offen und schamlos hervortreiben. Man wohnt da einem Wettbewerb von Geistern bei,
die darüber streiten, ob es besser sei, zu fliehen, sich zu verbergen oder
Selbstmord zu verüben, und die bei voller Freiheit schon darauf sinnen, durch
welche Mittel und Listen sie sich die Gunst des Niederen erwerben können,
wenn es zur Herrschaft kommt. Und mit Entsetzen ahnt man, daß es keine Gemeinheit
gibt, der sie nicht zustimmen werden, wenn es gefordert wird. Darunter sieht man
kräftige, gesunde Männer, die wie die Wettkämpfer gewachsen sind.
Man fragt sich, wozu sie Sport treiben.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 32 |
Nun
sind aber dieselben Menschen nicht nur ängstlich, sondern fürchterlich
zugleich. Die Stimmung wechselt von der Angst zu offenem Hasse, wenn sie jenen
schwach werden sehen, den sie eben noch fürchteten. Und nicht nur in Europa
trifft man solche Gremien. Die Panik wird sich noch verdichten, wo der Automatismus
zunimmt und sich perfekten Formen nähert, wie in Amerika. Dort findet sie
ihre beste Nahrung; sie wird durch Netze verbreitet, die mit dem Blitz wetteifern.
Schon das Bedürfnis, mehrere Mal am Tage Nachrichten aufzunehmen, ist ein
Zeichen der Angst; die Einbildung wächst und lähmt sich in steigenden
Umdrehungen. All diese Antennen der Riesenstädte gleichen dem gesträubten
Haar. Sie fordern zu dämonischen Berührungen heraus.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 32 |
Die
Grundfrage in diesen Wirbeln lautet, ob man den Menschen von der Furcht befreien
kann. Das ist weit wichtiger, als ihn zu bewaffnen oder mit Medikamenten zu versehen.
Macht und Gesundheit sind beim Furchtlosen. Dagegen belagert die Furcht auch die
bis an die Zähne Gerüsteten ja gerade sie. Das gleiche läßt
sich von jenem sagen, der im Überflüsse schwimmt. Mit Waffen, mit Schätzen
bannt man die Bedrohung nicht. Das sind nur Hilfsmittel.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 33 |
Furcht
und Gefährdung stehen in so enger Verknüpfung, daß sich kaum sagen
läßt, welche der beiden Mächte die andere erzeugt. Die Furcht
ist wichtiger, daher muß man bei ihr beginnen, wenn man den Knoten lösen
will. Vor dem Gegenteil aber, das heißt: vor dem Versuch, von der Gefährdung
aus zu beginnen, muß gewarnt werden. Indem man versucht, sich schlechthin
gefährlicher zu machen als der Gefürchtete, führt man die Lösung
nicht herbei. Das ist das klassische Verhältnis zwischen Roten und Weißen,
zwischen Roten und Roten und morgen vielleicht zwischen Weißen und Farbigen.
Der Schrecken gleicht einem Feuer, das die Welt verzehren will. Zugleich vervielfacht
sich die Furcht. Als zur Herrschaft berufen legitimiert sich jener, der dem Schrecken
ein Ende setzt. Das ist derselbe, der zuvor die Furcht bezwungen hat.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 33 |
Der
Ort der Freiheit ist ein ganz anderer als bloße Opposition, ein anderer
auch, als ihn die Flucht gewähren kann. Wir nannten ihn den Wald. Dort gibt
es andere Mittel als ein Nein, das man in den dazu vorgesehenen Umkreis setzt.
Wir sahen freilich, daß bei dem Stande, zu dem die Dinge vorgeschritten
sind, vielleicht nur einer unter hundert zum Waldgang fähig ist. Es handelt
sich aber nicht um Zahlenverhältnisse. Bei einem Theaterbrande genügt
ein klarer Kopf, ein starkes Herz, um einer Panik von tausend Menschen Einhalt
zu gebieten, die sich gegenseitig zu erdrücken drohen und der tierischen
Angst nachgeben.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 34-35 |
Der
höhere Rhythmus der Geschichte kann überhaupt dahin gedeutet werden,
daß der Mensch sich periodisch wiederentdeckt. Immer sind Mächte, die
ihn maskieren wollen, bald totemistische, bald magische, bald technische. Dann
wächst die Starre und mit ihr die Furcht. Die Künste versteinern, das
Dogma wird absolut. Doch seit den frühesten zeiten wiederholt sich das Schauspiel,
daß der Mensch die Maske abnimmt, und dem folgt Heiterkeit, wie sie der
Abglanz der Freiheit ist.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 35 |
Mythos
ist keine Vorgeschichte; er ist zeitliche Wirklichkeit, die sich in der Geschichte
wiederholt. Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 37 |
Zwei
Eigenschaften werden also beim Waldgänger vorausgesetzt. Er läßt
sich durch keine Übermacht das Gesetz vorschreiben, weder propagandistisch
noch durch Gewalt. Und er gedenkt sich zu verteidigen, indem er nicht nur Mittel
und Ideen der Zeit verwendet, sondern zugleich den Zugang offen hält zu Mächten,
die den zeitlichen überlegen und niemals rein in Bewegung aufzulösen
sind. Dann kann der Gang gewagt werden.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 38 |
Es
stellt sich nun die Frage nach der Absicht einer solchen Anstrengung. Wie bereits
angedeutet, kann sie nicht auf die Eroberung reiner Innenreiche beschränkt
werden. Das gehört zu den Vorstellungen, die sich nach der Niederlage ausbreiten.
Ebenso ungenügend würde die Beschränkung auf reale Ziele, wie etwa
auf die Führung des nationalen Freiheitskampfes, sein. Wir werden vielmehr
sehen, daß es sich um Anstrengungen handelt, die auch die nationale
Freiheit als ein Hinzutretendes krönt. Wir sind ja nicht lediglich in einen
nationalen Zusammenbruch verwickelt, sondern in eine Weltkatastrophe, bei der
sich kaum sagen und noch weniger prophezeien läßt, wer eigentlich die
Sieger und wer die Besiegten sind.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 38 |
Es
ist vielmehr so, daß der einfache Mensch, der Mann auf der Straße,
dem wir täglich und überall begegnen, die Lage besser erfaßt hat
als alle Regierungen und alle Theoretiker. Das beruht darauf, daß in ihm
immer noch die Spuren eines Wissens leben, das tiefer reicht als die Gemeinplätze
der Zeit. Daher kommt es, daß auf Konferenzen und Kongressen Beschlüsse
gefaßt werden, die viel dümmer und gefährlicher sind, als es der
Schiedsspruch des Nächsten, Besten wäre, den man aus einer Straßenbahn
herauszöge.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 38 |
Der
Waldgang soll nicht verstanden werden als eine gegen die Maschinenwelt gerichtete
Form des Anarchismus, obwohl die Versuchung dazu nahe liegt, besonders wenn das
Bestreben zugleich auf eine Verknüpfung mit dem Mythos gerichtet ist. Mythisches
wird ohne Zweifel kommen und ist bereits im Anzüge. Es ist ja immer vorhanden
und steigt zur guten Stunde wie ein Schatz zur Oberfläche empor. Doch wird
es gerade der höchsten, gesteigerten Bewegung entspringen als anderes Prinzip.
Bewegung in diesem Sinne ist nur der Mechanismus, der Schrei der Geburt. Zum Mythischen
kehrt man nicht zurück, man begegnet ihm wieder ....Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 41 |
Zum
Mythischen kehrt man nicht zurück, man begegnet ihm wieder ....Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 41 |
Zum
Mythischen kehrt man nicht zurück, man begegnet ihm wieder, wenn die Zeit
in ihrem Gefüge wankt, und im Bannkreis der höchsten Gefahr. Auch heißt
es nicht, der Weinstock oder sondern es heißt: der Weinstock
und das Schiff. Es wächst die Zahl derjenigen, die das Schiff verlassen
wollen und unter denen auch scharfe Köpfe und gute Geister sind. Im Grunde
heißt das, auf hoher See aussteigen. Dann kommen der Hunger, der Kannibalismus
und die Haifische, kurz, alle Schrecken, die uns vom Floße der »Medusa«
berichtet sind. Es ist daher auf alle Fälle rätlich, an Bord und auf
Deck zubleiben, selbst auf die Gefahr hin, daß man mit in die Luftfliegen
wird.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 41 |
Souveränität
... wird man heute weniger in den großen Entschlüssen finden als im
Menschen, der in seinem Inneren der Furcht abschwört. Die ungeheuren Vorkehrungen
sind gegen ihn allein gerichtet, und dennoch sind sie im letzten für seinen
Triumph bestimmt. Diese Erkenntnis macht ihn frei. Dann sinken Diktaturen in den
Staub. Hier liegen die kaum angeschürften Reserven unserer Zeit, und nicht
nur der unseren. Diese Freiheit ist das Thema der Geschichte überhaupt und
grenzt sie ab: hier gegen die Dämonenreiche, dort gegen das bloß zoologische
Geschehen. Das ist im Mythos und in den Religionen vorgebildet und kehrt stets
wieder, und immer erscheinen die Riesen und Titanen in gleicher Übermacht.
Der Freie fällt sie; er braucht nicht immer ein Fürst und Herakles zu
sein. Der Stein aus einer Hirtenschleuder, die Fahne, die eine Jungfrau aufnahm,
und eine Armbrust haben schon genügt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 43 |
Inwiefern
ist Freiheitwünschbar, ja überhaupt sinnvoll innerhalb unserer historischen
Lage und ihrer Eigenart? Liegt denn nicht ein besonderes und leicht zu unterschätzendes
Verdienst des Menschen dieser Zeit gerade darin, daß er in weitem Umfang
auf Freiheit zu verzichten weiß? In vielem gleicht er einem Soldaten auf
dem Marsche zu unbekannten Zielen oder dem Arbeiter an einem Palast, den andere
bewohnen werden; und das ist nicht sein schlechtester Aspekt. Soll man ihn ablenken,
solange die Bewegung im Gange ist?Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 44 |
Wer
dem Geschehen, das mit so viel Leiden verbunden ist, sinnvolle Züge abzugewinnen
sucht, macht sich zum Stein des Anstoßes. Dennoch sind alle Prognosen verfehlt,
die auf der reinen Untergangsstimmung beruhen. Wir durchschreiten vielmehr eine
Reihe immer deutlicherer Bilder, immer klarerer Prägungen. Auch Katastrophen
unterbrechen kaum die Bahn, kürzen sie eher in vielem ab. Es ist kein Zweifel,
daß Ziele vorhanden sind. Millionen stehen in ihrem Banne, führen ein
Leben, das ohne diese Aussicht unerträglich wäre und das durch bloßen
Zwang nicht zu erklären ist. Die Opfer werden vielleicht spät gekrönt,
doch nicht vergeblich gewesen sein.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 44 |
Wir
berühren hier das Notwendige, das Schicksal, das die Gestalt des Arbeiters
bestimmt. Geburten sind nie ohne Schmerz. Die Prozesse werden sich fortsetzen,
und wie in jeder Schicksalslage werden alle Versuche, sie aufzuhalten und in die
Ausgangslinie zurückzukehren, sie eher fördern und beschleunigen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 44 |
Man
tut daher auch gut, stets das Notwendige im Auge zubehalten, wenn man sich nicht
in Illusionen verlieren will. Die Freiheit allerdings ist mit dem Notwendigen
gegeben, und erst, wenn sie zu ihm in Relation tritt, stellt sich die neueVerfassung
dar. Zeitlich gesehen, bringt jede Veränderungim Notwendigen auch eine Veränderung
der Freiheit mit.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 44 |
Es
muß nun zugegeben werden, daß die Behauptung der Freiheit heute besonders
schwierig ist. Der Widerstand erfordert große Opfer; daraus erklärt
sich die Überzahl derjenigen, die den Zwang vorziehen. Dennoch kann echte
Geschichte nur durch Freie gemacht werden. Geschichte ist die Prägung, die
der Freie dem Schicksal gibt. In diesem Sinnefreilich kann er stellvertretend
wirken; sein Opfer zählt fürdie anderen mit.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 45 |
Wir
wollen unterstellen, daß wir die Hemisphäre, auf der sich das Notwendige
vollzieht, in ihren Umrissen erforscht hätten. Hier zeichnet sich das Technische,
das Typische, das Kollektive ab, bald grandios, bald fürchterlich. Wir nähern
uns nun dem anderen Pole, an dem der Einzelne nicht nur leidend, sondern zugleich
erkennend und richtend wirkt. Da ändern sich die Aspekte; sie werden geistiger
und freier, doch werden auch die Gefahren deutlicher.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 45 |
Man
hätte indessen mit diesem Teil der Aufgabe nicht beginnen können, denn
das Notwendige wird zuerst gesetzt. Es mag als Zwang, als Krankheit, als Chaos,
ja selbst als Tod an uns herantreten in jedem Falle will es als Aufgabe
begriffen sein.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 45 |
Es
kann also nicht darauf ankommen, den Grundriß der Arbeitswelt zu ändern;
die große Zerstörung legt ihn eher frei. Es könnten aber andere
Paläste darauf errichtet werden als jene Termitenhügel, wie sie die
Utopie teils fordert, teils befürchtet; so einfach ist der Plan nicht angelegt.
Auch handelt es sich nicht darum, der Zeit den Zoll zu weigern, dessen sie bedarf,
denn Pflicht und Freiheit lassen sich vereinigen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 45 |
Ein
weiterer Einwand sei erwogen: soll man sich auf die Katastrophe festlegen? Soll
man, und sei es auch nur geistig, die äußersten Gewässer aufsuchen,
die Katarakte, den Malstromwirbel, die großen Abgründe?Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 46 |
Das
ist ein Einwand, der nicht zu unterschätzen ist. Es hat viel für sich,
die sicheren Routen abzustecken, wie die Vernunft sie vorschreibt, mit dem Willen,
auf ihnen zu beharren. Dieses Dilemma wird ja auch praktisch, wie bei den Rüstungen.
Die Rüstung ist auf den Kriegsfall angelegt, zunächst als Sicherung.
Sie führt dann an eine Grenze, an der sie dem Kriege zutreibt und ihn anzuziehen
scheint. Es gibt hier einen Grad der Investierung, der auf alle Fälle dem
Bankrott entgegenführt. So wären Systeme von Blitzableitern denkbar,
die endlich die Gewitter heranführen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 46 |
Das
gleiche gilt im Geistigen. Indem man die äußersten Bahnen übersinnt,
vernachlässigt man die Fahrwege. Auch hier indessen schließt das eine
das andere nicht aus. Vielmehr gebietet die Vernunft, die möglichen Fälle
in ihrer Gesamtheit zu überlegen und auf jeden die Antwort bereitzuhalten
wie eine Reihe von Schachzügen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 46 |
In
unserer Lage sind wir verpflichtet, mit der Katastrophezu rechnen und mit ihr
schlafen zu gehen, damit sie uns nicht zur Nacht überrascht. Nur dadurch
werden wir zu einem Vorrat an Sicherheit gelangen, der das vernunftgemäßeHandeln
möglich macht. Bei voller Sicherheit spielt der Gedanke nur mit der
Katastrophe; er bezieht sie als unwahrscheinliche Größe in seine Pläne
ein und deckt sich durch geringe Versicherungen ab. In unseren Tagen ist das umgekehrt.
Wir müssen beinahe das ganze Kapital an die Katastrophe wenden um
gerade dadurch den Mittelweg offenzuhalten, der messerschmal geworden ist.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 46 |
Ganz
sichtbar bewegen wir uns aus den Nationalstaaten, ja aus den Großräumen
heraus zu planetarischen Ordnungen. Diese sind durch Verträge zu erreichen,
falls nur die Partner den Willen dazu haben, wie es vor allem eine Lockerung der
Souveränitätsansprüche zu erweisen hätte - denn im Verzicht
verbirgt sich die Fruchtbarkeit. Es gibt Ideen, und es gibt auch Tatsachen, auf
denen ein großer Friede errichtet werden kann. Das setzt voraus, daß
man die Grenzen achtet; Annektion von Provinzen, Bevölkerungsabschub, Errichtung
von Korridoren und Trennung nach Breitengraden verewigen die Gewalt. Es ist daher
ein Vorteil, daß es zum Frieden noch nicht gediehen ist und damit das Ungeheuerliche
noch der Sanktion entbehrt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 47 |
Der
Friede von Versailles schloß bereits den Zweiten Weltkrieg ein. Auf offene
Gewalt begründet, gab er das Evangelium, auf das jede Gewalttat sich bezog.
Ein zweiter Friede nach diesem Muster würde noch kürzer dauern und die
Zerstörung Europas einschließen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 47 |
Soviel
in Kürze, da uns hier andere als politische Ideen beschäftigen. Es handelt
sich vielmehr um die Gefährdung und um die Furcht des Einzelnen. Der gleiche
Zwiespalt beschäftigt ja auch ihn. An sich belebt ihn der Wunsch, sich seinem
Beruf und seiner Familie zu widmen, seinen Neigungen nachzugehen. Dann macht die
Zeit sich geltend - sei es, daß die Bedingungen allmählich sich verschlechtern,
sei es, daß er sich plötzlich von extremer Seite aus angegangen sieht.
Enteignung, Zwangsarbeit und Schlimmeres tauchen in seinem Umkreis auf. Bald wird
ihm deutlich, daß Neutralität mit Selbstmord gleichbedeutend wäre
- hier heißt es, mit den Wölfen heulen oder gegen sie ins Feld ziehen.
Wie findet er in solcher Bedrängnis ein Drittes, das nicht gänzlich
in der Bewegung untergeht? Wohl nur in seiner Eigenschaft als Einzelner, in seinem
menschlichen Sein, das unerschüttert bleibt. Es ist in solchen Lagen als
großes Verdienst zu preisen, wenn die Kenntnis des rechten Weges nicht gänzlich
verloren geht. Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 47-48 |
Wer
Katastrophen entronnen ist, der weiß, daß er es im Grunde der Hilfe
von einfachen Menschen verdankt, über die der Haß, der Schrecken, der
Automatismus der Gemeinplätze nicht Macht gewann. Sie widerstanden der Propaganda
und ihren Einflüsterungen, die rein dämonisch sind. Unendlicher Segen
kann erwachsen, wenn diese Tugend in den Führern der Völker, wie in
Augustus, sichtbar wird. Darauf begründen sich Imperien. Der Fürst herrscht
nicht, indem er tötet, sondern indem er das Leben schenkt. Darin liegt eine
der großen Hoffnungen: daß unter den zahllosen Millionen ein vollkommener
Mensch auftrete.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 48 |
Soviel
zur Theorie der Katastrophe. Es steht nicht frei, sie zu vermeiden, doch gibt
es Freiheit in ihr. Sie zählt zu den Prüfungen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 48 |
Die
Lehre vom Walde ist uralt wie die menschliche Geschichte, ja älter als sie.
Sie findet sich bereits in den ehrwürdigen Urkunden, die wir zum Teil erst
heute zu entziffern verstehen. Sie bildet das große Thema der Märchen, der
Sagen, der heiligen Texte und Mysterien. Wenn wir das Märchen der Steinzeit,
den Mythos der Bronzezeit und die Geschichte der Eisenzeit zuordnen, so werden
wir überall auf diese Lehre stoßen, falls unsere Augen dafür geöffnet
sind. Wir werden sie in unserer uranischen Epoche wiederfinden, die man als Strahlungszeit
bezeichnen kann.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 48 |
Immer
und überall ist hier das Wissen, daß in der wechselvollen Landschaft
Ursitze der Kraft verborgen sind und unter der flüchtigen Erscheinung Quellen
des Überflusses, kosmischer Macht. Das Wissen bildet nicht nur das symbolisch-sakramentale
Fundament der Kirchen, es spinnt sich nichtnur in Geheimlehren und Sekten fort,
sondern es stellt auchden Kern der Philosopheme, wie überaus verschieden
immer deren Begriffswelt sei. Im Grunde gehen sie auf das gleiche Geheimnis aus,
das jedem offen liegt, den es einmal im Leben weihte, sei es nun, daß es
als Idee, als Urmonade, als Ding an sich, als Existenz der Heutigen begriffen
wird. Wer einmal das Sein berührte, überschritt die Säume, an denen
Worte, Begriffe, Schulen, Konfessionen noch wichtig sind. Doch lernte er, das
zu ehren, was sie belebt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 48-49 |
In
diesem Sinne kommt es auch auf das Wort Wald nicht an. Freilich ist kein Zufall,
daß alles, was uns mit zeitlicher Sorge bindet, sich so gewaltig zu lösen
anfängt, wenn sich der Blick auf Blumen und Bäume wendet und von ihrem
Bann ergriffen wird. Nach dieser Richtung sollte die Botanik sich erhöhen.
Da ist der Garten Eden, da sind die Weinberge, die Lilien, das Weizenkorn der
christlichen Gleichnisse. Da ist der Märchenwald mit den menschenfressenden
Wölfen, Hexen und Riesen, aber auch dem guten Jäger darin, die Rosenhecke
Dornröschens, in deren Schatten die Zeit stille steht. Da sind die germanischen
und keltischen Wälder, wie der Hain Glasur, in dem die Helden den Tod bezwingen,
und wiederum Gethsemane mit den Ölbäumen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 49 |
Aber
das gleiche wird auch an anderen Orten gesucht in Höhlen, in Labyrinthen,
in Wüsten, in denen der Versucher wohnt. Überall residiert ein gewaltiges
Leben für den, der seine Symbole errät. Moses klopft mit dem Stab an
die Felswand, aus der das Wasser des Lebens springt. Ein solcher Augenblick reicht
dann für Tausende von Jahren aus.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 49 |
Das
alles ist nur scheinbar auf ferne Räume und Vorzeiten verteilt. Es ist vielmehr
in jedem Einzelnen verborgen und ihm in Schlüsseln überliefert, damit
er sich selbst begreife, in seiner tiefsten und überindividuellen Macht.
Darauf zielt jede Lehre, die dieses Namens würdig ist. Mag die Materie sich
auch zu Wänden verdichtet haben, die jede Aussicht zu nehmen scheinen, so
ist doch der Überfluß ganz nahe, da er im Menschen als Pfund, als überzeitliches
Erbteil lebt. Es hängt von ihm ab, ob er den Stab, nur um sich auf dem Lebensweg
darauf zu stützen, oder ob er ihn als Szepter ergreifen will.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 49 |
Die
Zeit versieht uns mit neuen Gleichnissen. Wir haben Formen der Energie erschlossen,
die den bisher bekannten gewaltig überlegen sind. Dennoch ist all das eben
nur ein Gleichnis; die Formeln, die menschliche Wissenschaft im Zeitwandel findet,
führen immer auf längst Bekanntes zu. Die neuen Lichter, die neuen Sonnen
sind flüchtige Protuberanzen, die sich vom Geist ablösen. Sie prüfen
den Menschen auf sein Absolutes, auf seine wunderbare Macht. Stets kehren die
Schicksalsschläge wieder, durch die der Mensch nicht mehr als dieser oder
jener, sondern durch die er als solcher in die Schranken gefordert wird.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 49-50 |
Das
zieht sich auch als großes Thema durch die Musik: die wechselnden Figuren
führen dem Punkte zu, an dem der Mensch in seinen von der Zeit befreiten
Maßen sich gegenübertritt an dem er sich selbst zum Schicksal
wird. Das ist die oberste, die schreckliche Beschwörung, die nur dem Meister
zusteht, der durch die Pforten des Gerichtes zur Erlösung führt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 50 |
Der
Mensch ist zu stark in die Konstruktionen eingetreten, er wird zu billig und verliert
den Grund. Das bringt ihn den Katastrophen nahe, den großen Gefahren und
dem Schmerz. Sie drängen ihn in das Ungebahnte, führen ihn der Vernichtung
zu. Doch seltsam ist es, daß er gerade dort, geächtet, verurteilt,
flüchtend, sich selbst begegnet in seiner unaufgeteilten und unzerstörbaren
Substanz. Damit durchdringt er die Spiegelbilder und erkennt sich in seiner Macht.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 50 |
Der
Wald ist heimlich. Das Wort gehört zu jenen unserer Sprache, in denen sich
zugleich ihr Gegensatz verbirgt. Das Heimliche ist das Trauliche, das wohlgeborgene
Zuhause, der Hort der Sicherheit. Es ist nicht minder das Verborgen-Heimliche
und rückt in diesem Sinne an das Unheimliche heran. Wo wir auf solche Stämme
stoßen, dürfen wir gewiß sein, daß in ihnen der große
Gegensatz und die noch größere Gleichung Leben und Tod anklingen, mit
deren Lösung sich die Mysterien beschäftigen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 50 |
In
diesem Lichte ist der Wald das große Todeshaus, der Sitz vernichtender Gefahr.
Es ist die Aufgabe des Seelenführers, den von ihm Geführten an der Hand
dorthin zu leiten, damit er die Furcht verliert. Er läßt ihn symbolisch
sterben und auferstehen. Hart an der Vernichtung liegt der Triumph. Aus diesem
Wissen ergibt sich die Erhöhung über die zeitliche Gewalt. Der Mensch
erfährt, daß sie ihm im Grunde nichts anhaben kann, ja nur dazu bestimmt
ist, ihn im höchsten Range zu bestätigen. Das Schreckensarsenal, bereit,
ihn zu verschlingen, ist um den Menschen aufgestellt. Das ist kein neues Bild.
Die »neuen« Welten sind immer nur Abzüge ein und derselben Welt.
Sie war den Gnostikern bekannt, den Einsiedlern der Wüste, den Vätern
und wahren Theologen seit Anbeginn. Sie kannten das Wort, das die Erscheinung
fällen kann. Die Todesschlange wird zum Stab, zum Szepter dem Wissenden,
der sie ergreift.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 51 |
Die
Furcht nimmt immer die Maske, den Stil der Zeiten an. Das Dunkel der Weltraumhöhle,
die Visionen der Eremiten, die Ausgeburten der Bosch und Cranach, die Hexen- und
Dämonenschwärme des Mittelalters sind Glieder der ewigen Kette der Angst,
an die der Mensch wie Prometheus an den Kaukasus geschmiedet ist. Von welchen
Götterhimmeln er sich auch befreien möge die Furcht begleitet
ihn mit großer List. Und immer erscheint sie ihm in höchster, lähmender
Wirklichkeit. Wenn er in strenge Erkenntniswelten eintritt, wird er den Geist
verlachen, der sich mit gotischen Schemen und Höllenbildern ängstigte.
Er ahnt kaum, daß er in den gleichen Fesseln gefangen liegt. Ihn freilich
prüfen die Phantome im Erkenntnisstil, als Fakten der Wissenschaft. Der alte
Wald mag nun zum Forst geworden sein, zur ökonomischen Kultur. Doch immer
noch ist in ihm das verirrte Kind. Nun ist die Welt der Schauplatz von Mikrobenheeren;
die Apokalypse droht wie je zuvor, wenngleich durch Machenschaften der Physik
(nicht nur der Physik! HB). Der alte Wahn blüht
in Psychosen, Neurosen fort. Und auch den Menschenfresser wird man in durchsichtiger
Verkleidung wiederfinden nicht nur als Ausbeuter und Treiber in den Knochenmühlen
der Zeit. Er mag vielmehr als Serologe inmitten seiner Instrumente und Retorten
darüber sinnen, wie man die menschliche Milz, das menschliche Brustbein zum
Ausgangsstoff für wunderbare Medizinen nimmt. Da sind wir mitten im alten
Dahomey, im alten MexikoErnst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 51-52 |
Das
alles ist nicht weniger fiktiv als das Gebäude jeder anderen Symbolwelt,
deren Trümmer wir aus einem Schuttberg ausgraben. Es wird wie sie dahingehen
und verfallen und fremden Augen unverständlich sein. Doch dafür steigen
andere Fiktionen aus dem stets unerschöpften Sein, genau so überzeugend,
genau so mannigfaltig und lückenlos.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 52 |
Bedeutend
ist nun an unserem Zustand, daß wir nicht völlig im Dumpfen dahinleben.
Wir steigen nicht nur zu Punkten großen Selbstbewußtseins auf, sondern
auch zu strenger Selbstkritik. Das ist ein Zeichen hoher Kulturen; sie wölbenBögen
über die Traumwelt auf. Wir kommen im Bewußtseinsstil zu Einsichten,
wie sie dem indischen Bilde vom Schleier der Maja entsprechen oder der ewigen
Weltzeitfolge, die Zarathustra lehrt. Die indische Weisheit rechnet selbst den
Aufstieg und das Versinken von Götterreichen der Welt des Augentruges zu
- dem Schaum der Zeit. Wenn Zimmer behauptet, daß uns diese Größe
des Aspektes fehle, so kann man ihm darin nicht beistimmen. Nur fassen wir ihn
im Bewußtseinsstil, durch den alles zermalmenden Vorgang der Erkenntniskritik.
Hier schimmern die Grenzen von Zeit und Raum. Der gleiche Vorgang, vielleicht
noch dichter und folgenschwerer, wiederholt sich heute in der Wendung von der
Erkenntnis auf das Sein. Dazu kommt der Triumph der zyklischen Auffassung in der
Geschichtsphilosophie. Freilich muß die Kenntnis der historia in nuce sie
ergänzen: das Thema, das in unendlicher Verschiedenheit von Zeit und Raum
sich abwandelt, ist ein und dasselbe, und in diesem Sinne gibt es nicht nur Geschichte
der Kulturen, sondern Menschheitsgeschichte, welche eben Geschichte in der Substanz,
im Nußkern, Geschichte des Menschen ist. Sie wiederholt sich in jedem Lebenslauf.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 52 |
Damit
kehren wir zum Thema zurück. Menschliche Furcht zu allen Zeiten, in allen
Räumen, in jedem Herzen ist ein und dieselbe, ist Furcht vor der Vernichtung,
ist Todesfurcht. Das hören wir bereits von Gilgamesch, wir hören es
im 90. Psalm, und dabei ist es geblieben bis in unsere, heutige Zeit. Die Überwindung
der Todesfurcht ist also zugleich die Überwindung jedes anderen Schreckens;
sie alle haben nur Bedeutung hinsichtlich dieser Grundfrage. Der Waldgang ist
daher in erster Linie Todesgang. Er führt hart an den Tod heran - ja, wenn
es sein muß, durch ihn hindurch. Der Wald als Lebenshort erschließt
sich in seiner überwirklichen Fülle, wenn die Überschreitung der
Linie gelungen ist. Hier ruht der Überfluß der Welt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 52-53 |
Jede
wirkliche Führung bezieht sich auf diese Wahrheit: sie weiß den Menschen
an einen Punkt zu bringen, an dem er die Wirklichkeit erkennt. Das wird vor allem
deutlich, wenn Lehre und Beispiel sich vereinen - wenn der Bezwinger der Furcht
das Todesreich betritt, wie man es an Christus als höchstem Stifter sieht.
Das Weizenkorn, indem es starb, hat nicht nur tausendfältig, es hat unendlich
Frucht gebracht. Hier wurde der Überfluß der Welt berührt, auf
den sich jede Zeugung als zugleich zeitliches und zeitbezwingendes Symbol bezieht.
Dem folgten nicht nur die Märtyrer, die stärker waren als die Stoa,
stärker als die Cäsaren, stärker als jene Hunderttausend, die sie
in die Arena einschlossen. Dem folgten auch die Ungezählten, die in der Zuversicht
gestorben sind. Das wirkt noch heute weit zwingender, als es der erste Blick erkennt.
Auch wenn die Dome stürzen, bleibt ein Wissen, ein Erbteil in den Herzen
und unterhöhlt wie Katakomben die Paläste der Zwingherrschaft. Aus diesem
Grunde schon darf man gewiß sein, daß die reine und nach antiken Vorbildern
geübte Gewalt nicht auf die Dauer triumphieren kann. Es wurde mit diesem
Blute Substanz in die Geschichte eingeführt, und daher zählen wir immer
noch mit Recht von diesem Datum ab als von der Zeitwende. Hier herrscht die volle
Fruchtbarkeit der Theogonien, mythische Zeugungskraft. Das Opfer wird auf zahllosen
Altären wiederholt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 53 |
Hölderlin
faßt im Gedichte Christus als die Überhöhung herakleischer und
dionysischer Macht. Herakles ist der Urfürst, auf den selbst die Götter
im Kampfe gegen die Titanen angewiesen sind. Er legt die Sümpfe trocken,
baut Kanäle und macht die Einöden bewohnbar, indem er die Ungeheuer
und Unholde erlegt. Er ist der erste der Heroen, auf deren Gräber sich die
Polis gründet und deren Verehrung sie erhält. Jede Nation hat ihren
Herakles, und heute noch sind Gräber die Mittelpunkte, an denen der Staat
sakralen Glanz erhält.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 54 |
Dionysos
ist der Festherr, der Führer der Festzüge. Wenn Hölderlin ihn als
Gemeingeist anspricht, ist das so zu verstehen, daß auch die Toten zur Gemeinde
zählen, ja gerade sie. Das ist der Schimmer, der das dionysische Fest umhüllt,
die tiefste Quelle der Heiterkeit. Die Pforten des Totenreiches werden weit aufgestoßen,
und goldener Überfluß quillt hervor. Das ist der Sinn der Rebe, in
der Erd- und Sonnenkräfte sich vereinen, der Masken, der großen Verwandlung
und Wiederkehr.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 54 |
Unter
den Menschen ist Sokrates zu nennen, dessen Vorbild nicht nur die Stoa, sondern
kühne Geister zu allen Zeiten befruchtete. Wir mögen über Leben
und Lehre dieses Mannes verschiedener Ansicht sein; sein Tod zählt zu den
größten Ereignissen. Die Welt ist so beschaffen, daß immer wieder
das Vorurteil, die Leidenschaften Blut fordern werden, und man muß wissen,
daß sich das niemals ändern wird. Wohl wechseln die Argumente, doch
ewig unterhält die Dummheit ihr Tribunal. Man wird hinausgeführt, weil
man die Götter verachtete, dann weil man ein Dogma nicht anerkannte, dann
wieder, weil man gegen eine Theorie verstieß. Es gibt kein großes
Wort und keinen edlen Gedanken, in dessen Namen nicht schon Blut vergossen worden
ist. Sokratisch ist das Wissen von der Ungültigkeit des Urteils, und zwar
von der Ungültigkeit in einem erhabeneren Sinne, als menschliches Für
und Wider ihn ermitteln kann. Das wahre Urteil ist von Anbeginn gesprochen: es
ist auf die Erhöhung des Opfers angelegt. Wenn daher moderne Griechen eine
Revision des Spruches anstreben, so wären damit nur die unnützen Randbemerkungen
zur Weltgeschichte um eine weitere vermehrt, und das in einer Zeit, in der unschuldiges
Blut in Strömen fließt. Dieser Prozeß ist ewig, und die Banausen,
die in ihm als Richter saßen, trifft man auch heute an jeder Straßenecke,
in jedem Parlament. Daß man das ändern könne: dieser Gedanke zeichnete
von jeher die flachen Köpfe aus. Menschliche Größe muß immer
wieder erkämpft werden. Sie siegt, indem sie den Angriff des Gemeinen in
der eigenen Brust bezwingt. Hier ruht die wahre historische Substanz, in der Begegnung
des Menschen mit sich selbst, das heißt: mit seiner göttlichen Macht.
Das muß man wissen, wenn man Geschichte lehren will. Sokrates nannte diesen
tiefsten Ort, an dem ihn eine Stimme, schon nicht mehr in Worten faßbar,
beriet und lenkte, sein Daimonion. Man könnte ihn auch den Wald nennen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 54-55 |
Was
soll es nun dem Heutigen bedeuten, wenn er sich durch das Vorbild der Todesbezwinger,
der Götter, Helden und Weisen leiten läßt? Es heißt, daß
er sich am Widerstande gegen die Zeit beteiligt, und nicht nur gegen diese, sondern
jede Zeit überhaupt, und deren Grundmacht ist die Furcht. Jegliche Furcht,
wie abgeleitet sie auch erscheine, ist im Kerne Todesfurcht. Wenn es dem Menschen
gelingt, hier Raum zu schaffen, so wird sich diese Freiheit auch auf jedem anderen
Felde geltend machen, das die Furcht regiert. Dann wird er die Riesen fällen,
deren Rüstung der Schrecken ist. Auch das hat sich in der Geschichte stets
wiederholt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 55 |
Es
liegt in der Natur der Dinge, daß die Erziehung heute auf das genaue Gegenteil
gerichtet ist. Niemals herrschten über den Geschichtsunterricht so seltsame
Vorstellungen. Die Absicht in allen Systemen richtet sich auf Unterbindung des
metaphysischen Zustroms, auf Zähmung und Dressur im Sinne des Kollektivs.
Selbst dort, wo der Leviathan auf Mut sich angewiesen sieht, wie auf dem Schlachtfeld,
wird er darauf sinnen, dem Kämpfer eine zweite und stärkere Bedrohung
vorzuspiegeln, die ihn am Platze hält. In solchen staaten verläßt
man sich auf die Polizei.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 55 |
Die
große Einsamkeit des Einzelnen zählt zu den Kennzeichen der Zeit. Er
ist umringt, ist eingeschlossen von der Furcht, die sich gleich Mauern anschiebt
gegen ihn. Sie nimmt reale Formen an - in den Gefängnissen, der Sklaverei,
der Kesselschlacht. Das füllt die Gedanken, die Selbstgespräche, vielleicht
auch die Tagebücher in jahren, in denen er selbst den Nächsten nicht
trauen kann.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 56 |
Hier
stößt die Politik an andere Bereiche - sei es an die Natur-, sei es
an die Dämonengeschichte mit ihren Schrecknissen. Doch wird auch die Nähe
großer, rettender Mächte geahnt. Die Schrecken sind ja Weckrufe, sind
Zeichen einer ganz anderen Gefahr, als der historische Konflikt sie vorspiegeIt.
Sie gleichen immer dringenderen Fragen, die an den Menschen gestellt werden. Niemand
kann ihm die Antwort abnehmen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 56 |
An
diesen Grenzen tritt der Mensch in seine theologische Prüfung, gleichviel
ob er sich darüber im klaren ist oder nicht. Man sollte auch auf das Wort
nicht zuviel Wert legen. Der Mensch wird nach seinen höchsten Werten befragt,
nach seiner Ansicht zum Weltganzen und dem Verhältnis seiner Existenz zu
ihm. Das braucht nicht in Worten zu geschehen, ja es wird sich dem Wort entziehen.
Es kommt auch auf die Formulierung der Antwort nicht an, das heißt: nicht
auf Bekenntnisse.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 56 |
Wir
sehen also von den Kirchen ab. Dafür, daß sie noch unerschöpftes
Gut enthalten, gibt es in unserer Zeit, und gerade in ihr, bedeutende Zeugnisse.
Zu ihnen rechnet vor allem das Verhalten ihrer Gegner, in erster Linie das des
staates, der unumschränkte Macht erstrebt. Das bringt notwendig Kirchenverfolgung
mit. In diesem Stande soll der Mensch als zoologisches Wesen behandelt werden,
gleichviel ob ihn die herrschenden Theorien ökonomisch oder andersartig einordnen.
Das führt in die Bereiche zunächst des puren Nutzens, sodann der Bestialität.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 56 |
Auf
der anderen Seite steht der Charakter der Kirchen als Institution, als menschliche
Einrichtung. In diesem Sinne bedroht sie stets Verhärtung und damit das Versiegen
der spendenden Kraft. Darauf beruht das Traurige, Mechanische, Unsinnige an manchem
Gottesdienst, die Qual der Sonntage, dann das Sektierertum. Das Institutionelle
ist zugleich das Angreifbare; der durch den Zweifel geschwächte Bau stürzt
über Nacht, falls er nicht einfach in ein Museum verwandelt wird. Man muß
mit Zeiten und Räumen rechnen, in denen die Kirche nicht mehr vorhanden ist.
Der Staat sieht sich dann darauf angewiesen, die so entstandene oder sich offenbarende
Leere mit seinen Mitteln auszufüllen - ein Unterfangen, an dem er scheitern
wird.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 57 |
Für
jene, die sich nicht grob abspeisen lassen, ergibt sich die Lage des Waldganges.
Zu ihm kann sich der priesterliche Mensch gezwungen sehen, der glaubt, daß
ohne Sakrament kein höheres Leben möglich ist und der in der Stillung
dieses Hungers sein Amt erblickt. Das führt zum Walde und zu einer Existenz,
die immer wiederkehrt in der Verfolgung und vielfach beschrieben ist, wie in der
Geschichte des heiligen Polykarp oder in den Memoiren des vortrefflichen d'Aubigné,
der Stallmeister Heinrichs IV. war. Unter den Neueren wäre hier Graham Greene
zu nennen mit seinem Roman »The Power and the Glory«, der in einer
tropischen Landschaft spielt. Wald ist in diesem Sinne natürlich überall;
er kann auch in einem Großstadtviertel sein.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 57 |
Darüber
hinaus handelt es sich um das Bedürfnis jedes Einzelnen, soweit er sich nicht
mit der zoologisch-politischen Einordnung abfindet. Damit berühren wir den
Kernpunkt des modernen Leidens, die große Leere, die Nietzsche als das Wachsen
der Wüste bezeichnet hat. Die Wüste wächst: das ist das Schauspiel
der Zivilisation mit ihren entleerten Beziehungen. In dieser Landschaft wird die
Frage nach der Wegzehrung besonders brennend, besonders eindringlich: »Die
Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt.«Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 57 |
Gut,
wenn die Kirche Oasen schaffen kann. Besser, wenn sich der Mensch auch damit nicht
beruhigt. Die Kirche kann Assistenz geben, nicht Existenz. Auch hier sind wir,
institutionell gesehen, noch auf dem Schiff, noch in Bewegung; die Ruhe ist im
Wald. Im Menschen fällt die Entscheidung; niemand kann sie ihm abnehmen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 57-58 |
Die
Wüste wächst: die fahlen und unfruchtbaren Ringe nehmen zu. Nun schwinden
die sinnvollen Vorfelder: die Gärten, von deren Früchten man sich arglos
nährt, die Räume, die mit erprobten Werkzeugen ausgerüstet sind.
Dann werden die Gesetze fragwürdig, die Geräte zweischneidig. Weh dem,
der Wüsten birgt: wer nicht, und sei es auch nur in einer Zelle, von jener
Ursubstanz mit sich führt, die immer wieder Fruchtbarkeit verbürgt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 58 |
Zwei
Prüf- und Mahlsteinen wird keiner der Lebenden entrinnen: dem Zweifel und
dem Schmerz. Sie sind die beiden großen Mittel der nihilistischen Reduktion.
Man muß sie passiert haben. Darin liegt die Aufgabe, die Reifeprüfung
für ein neues Zeitalter. Sie wird keinem erspart bleiben. Daher ist man in
manchen Ländern der Erde unvergleichlich weiter vorgeschritten als in anderen,
und vielleicht gerade in denen, die man für rückständig hält.
Das gehört in das Kapitel der optischen Täuschungen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 58 |
Wie
lautet nun die furchtbare Frage, die das Nichts dem Menschen stellt? Es ist das
alte Rätsel der Sphinx an Ödipus. Der Mensch wird nach sich selbst gefragt
- kennt er den Namen des sonderbaren Wesens, das sich durch die Zeit bewegt? Er
wird verschlungen oder gekrönt, je nach der Antwort, die er gibt. Das Nichts
will wissen, ob ihm der Mensch gewachsen ist, ob Elemente in ihm leben, die keine
Zeit zerstört. In diesem Sinne sind Nichts und Zeit identisch; und es ist
richtig, daß mit der großen Macht des Nichts die Zeit sehr wertvoll
wird, selbst in den kleinsten Bruchteilen. Zugleich vermehren sich die Apparaturen,
das heißt: das Arsenal der Zeit. Darauf beruht der Irrtum, daß die
Apparaturen, insonderheit die Maschinentechnik, die Welt vernichtigen. Das Gegenteil
ist der Fall: die Apparaturen wachsen unermeßlich und rücken ganz nah
heran, weil die uralte Frage an den Menschen wieder fällig geworden ist.
Sie sind die Zeugen, deren die Zeit bedarf, um ihre Übermacht den Sinnen
darzutun. Wenn der Mensch richtig antwortet, verlieren die Apparaturen ihren magischen
Glanz und fügen sich seiner Hand. Das muß erkannt werden.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 58-59 |
Dies
ist die Grundfrage: die Frage der Zeit an den Menschen nach seiner Macht. Sie
richtet sich an die Substanz. Alles, was auftritt an feindlichen Reichen, Waffen,
Nöten, zählt zur Regie, durch die das Drama vorgetragen wird. Es ist
kein Zweifel, daß der Mensch auch diesmal die Zeit bezwingen, das Nichts
in seine Höhle verweisen wird.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 59 |
Zu
den Kennzeichen der Befragung gehört die Einsamkeit. Sie ist besonders merkwürdig
in Zeiten, in denen der Kultus der Gemeinschaft blüht. Daß aber gerade
das Kollektiv als das Unmenschliche auftritt, gehört zu den Erfahrungen,
die wenigen erspart bleiben. Es ist ein ähnliches Paradoxon wie jenes: daß
im gleichen Verhältnis zu den ungeheuren Raumeroberungen sich die Freiheit
des Einzelnen mehr und mehr beschränkt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 59 |
Man
könnte sagen, daß immer ein bestimmtes Maß an Gläubigkeit
besteht, das durch die Kirchen legitim gestillt wird. Nun, frei geworden, heftet
sich die Kraft an all- und jedes an. Daher die Leichtgläubigkeit des modernen
Menschen, bei gleichzeitigem Unglauben. Er glaubt, was in der Zeitung, doch nicht,
was in den Sternen geschrieben steht.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 61 |
In
jedem guten Arzte muß zwar etwas vom Priester sein, auf den Gedanken jedoch,
den Priester ersetzen zu wollen, kann der Arzt erst in Zeiten kommen, in denen
die Abgrenzung von Heil und Gesundheit verlorengegangen ist. Daher mag man über
all jene Nachahmungen geistlicher Macht und Formen ... durch therapeutische Methoden
denken, wie man will: sie werden über die Symptome nicht hinausgreifen, falls
sie nicht sogar schädigen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 62 |
Theologe
ist jener,der über die niedere Ökonomie hinaus die Wissenschaft des
Überflusses kennt, das Rätsel der ewigen Quellen, die unerschöpflich
und immer nahe sind.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 64 |
Wie
die Gegenreformation in ihrem Wesen der Reformation entsprach und durch sie gekräftigt
wurde, so ist eine geistige Bewegung denkbar, die sich den Nihilismus als Feld
sucht und sich an ihn anlegt, als Spiegelbild im Sein.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 65 |
Der
Wahrspruch des Waldgängers heißt: »Jetzt und Hier« - er
ist der Mann der freien und unabhängigen Aktion. Wir sahen, daß wir
zu diesem Typus nur einen Bruchteil der Massenbevölkerungen rechnen können,
und trotzdem bildet sich hier die kleine, dem Automatismus gewachsene Elite, an
der die reine Gewaltanwendung scheitern wird. Es ist die alte Freiheit im Zeitgewande:
die substantielle, die elementare Freiheit, die in gesunden Völkern erwacht,
wenn die Tyrannis von Parteien oder fremden Eroberern das Land bedrückt.
Sie ist keine lediglich protestierende oder emigrierende Freiheit, sondern eine
Freiheit, die den Kampf aufnehmen will.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 66 |
Das
ist ein Unterschied, der auf die Glaubenssphäre wirkt. Der Waldgänger
kann sich keine Indifferenz gestatten, die eine abgelaufene Epoche in ähnlicher
Weise kennzeichnet wie die Neutralität der kleinen Staaten oder die Festungshaft
bei politischem Delikt. Der Waldgang führt in schwerere Entscheidungen. Die
Aufgabe des Waldgängers liegt darin, daß er die Maße der für
eine künftige Epoche gültigen Freiheit dem Leviathan gegenüber
abzustecken hat. Dem Gegner kommt er nicht mit bloßen Begriffen bei.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 66 |
Der
Widerstand des Waldgängers ist absolut, er kennt keine Neutralität,
keinen Pardon, keine Festungshaft. Er erwartet nicht, daß der Feind Argumente
gelten läßt, geschweige denn ritterlich verfährt. Er weiß
auch, daß, was ihn betrifft, die Todesstrafe nicht aufgehoben wird. Der
Waldgänger kennt eine neue Einsamkeit, wie sie vor allem die satanisch angewachsene
Bosheit mit sich bringt - ihre Verbindung mit der Wissenschaft und dem Maschinenwesen,
die zwar kein neues Element, doch neue Erscheinungen in die Geschichte bringt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 66 |
Das
alles kann nicht mit Indifferenz übereinstimmen. In solcher Lage kann man
auch nicht auf die Kirchen warten oder auf geistige Führer und Bücher,
die vielleicht herantreten. Doch hat sie den Vorteil, aus dem Angelesenen, dem
Angefühlten und Angeglaubten herauszuführen ....Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 66 |
Der
Mensch ist souverän in dieser Einsamkeit, vorausgesetzt, daß er seinen
Rang erkennt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 67 |
Auch heute geht die Heilung vom Numinosen aus, und es ist wichtig,
daß der Mensch, zum mindesten ahnend, sich von ihm bestimmen läßt.
Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 68 |
Die
Ärzte zu meiden, sich auf die Wahrheit des Körpers zu verlassen, doch
freilich ihrer Stimme auch zu lauschen, ist für den Gesunden das beste Rezept.
Das gilt auch für den Waldgänger, der sich auf Lagen zu rüsten
hat, in denenalle Krankheiten zum Luxus gerechnet werden, außer den tödlichen.
Welche Meinung man immer von dieser Welt der Krankenkassen, Versicherungen, pharmazeutischen
Fabriken und Spezialisten hegen möge: stärker ist jener, der auf das
alles verzichten kann.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 68-69 |
Verdächtig
und im höchsten Maße zur Vorsicht mahnend ist der immer größere
Einfluß, den der Staat auf den Gesundheitsbetrieb zu nehmen beginnt, meist
unter sozialen Vorwänden. Dazu kommt, daß infolge weitgehender Entbindung
des Arztes von der Schweigepflicht bei allen Konsultationen Mißtrauen zu
empfehlen ist. Man weiß doch nie, in welche Statistik man eingetragen wird,
und zwar nicht nurbei den Medizinalstellen. All diese Heilbetriebe mit angestellten
und schlecht bezahlten Ärzten, deren Kuren durch die Bürokratie überwacht
werden, sind verdächtig und können sich über Nacht beängstigend
verwandeln, nicht nur im Kriegsfalle. Daß dann die musterhaft geführten
Kartotheken wieder die Unterlagen liefern, auf Grund deren man interniert, kastriert
oder liquidiert werden kann, ist zum mindesten nicht unmöglich.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 69 |
Der
ungeheure Zulauf, den die Scharlatane und wunderdoktoren finden, erklärt
sich nicht nur durch die Leichtgläubigkeit der Massen, sondern auch durch
ihr Mißtrauen gegen den medizinischen Betrieb und im besonderen gegen die
Art, in der er sich automatisiert. Diese Zauberer, wie plump sie auch ihr Handwerk
treiben, weichen doch in zwei wichtigen Dingen ab: einmal, indem sie den Kranken
als Ganzen nehmen, und zweitens, indem sie die Heilung als Wunder darstellen.
Gerade das entspricht dem immer noch gesunden Instinkt, und darauf beruhen die
Heilungen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 69 |
Selbstverständlich
ist Ähnliches auch möglich innerhalb der Schulmedizin. jeder, der heilt,
wirkt ja an einem Wunder mit, sei es mit oder trotz seinen Apparaten und Methoden,
und viel ist schon gewonnen, wenn er das erkennt. Der Mechanismus kann überall
durchbrochen, unschädlich oder sogar nützlich gemacht werden, wo der
Arzt mit seiner menschlichen Substanz erscheint. Diese unmittelbare Zuwendung
wird freilich durch die Bürokratie erschwert. Doch ist es schließlich
so, daß »auf dem Schiff« oder auch auf der Galeere. auf der
wir leben, das Funktionale immer wieder von Menschen durchbrochen wird, sei es
durch ihre Güte, sei es durch ihre Freiheit oder durch ihren Mut zur unmittelbaren
Verantwortung. Der Arzt, der einem Kranken gegen die Vorschrift etwas zuwendet,
verleiht vielleicht gerade dadurch dem Mittel Wunderkraft. Durch dieses Auftauchen
aus den Funktionen leben wir.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 69-70 |
Der
Techniker rechnet mit einzelnen Vorteilen. In der großen Buchführung
sieht das oft anders aus. Liegt in der Welt der Versicherungen, der Impfungen,
der peinlichen Hygiene, des hohen Durchschnittsalters ein wirklicher Gewinn ?
Es lohnt sich nicht, darüber zu streiten, weil sie sich weiter ausbilden
wird und weil sich die Ideen, auf denen sie beruht, noch nicht erschöpft
haben. Das Schiff wird seine Fahrt fortsetzen, auch über die Katastrophen
hinweg. Die Katastrophen bringen freilich gewaltige Ausmerzungen. Wenn ein Schiff
untergeht, versinkt auch die Apotheke mit. Es kommt da auf andere Dinge an, wie
etwa darauf, daß man einige Stunden im Eiswasser übersteht. Die vielfach
geimpfte, keimfreie, an Medikamente gewöhnte Besatzung von hohem Durchschnittsalter
hat da geringere Aussicht als jene andere, die das alles nicht kennt. Eine minimale
Sterblichkeit in ruhigen Zeiten gibt keinen Maßstab für die wahre Gesundheit;
sie kann über Nacht in ihr Gegenteil umschlagen. Es ist sogar möglich,
daß sie noch unbekannte Seuchen erzeugt. Das Gewebe der Völker wird
anfällig.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 70 |
Hier
eröffnet sich auch die Aussicht auf eine der großen Gefahren unserer
Zeit, die Übervölkerung, wie etwa Bouthoul sie in seinem Buche »Hundert
Millionen Tote« geschildert hat. Die Hygiene sieht sich vor der Aufgabe,
die gleichen Massen einzudämmen, deren Entstehung sie ermöglichte. Doch
damit überschreiten wir das Thema des Waldganges. Wer mit ihm rechnet, für
den taugt die Luft der Treibhäuser nicht.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 70 |
Beängstigend
ist die Art, in der Begriffe und Dinge oft über Nacht ihr Gesicht wechseln
und andere Folgen zeitigen als die erwarteten. Das ist ein Zeichen der Anarchie.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 71 |
Betrachten
wir etwa die Freiheiten und Rechte des Einzelnen in ihrem Verhältnis zur
Autorität. Sie werden durch die Verfassung bestimmt. Freilich wird man immer
wieder und leider wohl auch noch für längere Zeit mit der Verletzung
dieser Rechte rechnen müssen, sei es durch den Staat, sei es durch eine Partei,
die sich des Staates bemächtigt, sei es durch einen fremden Eindringling
oder durch kombinierte Zugriffe. Man kann wohl sagen, daß sich die Massen
... in einem Zustand befinden, in dem sie Verfassungsverletzungen kaum noch wahrnehmen.
Wo dieses Bewußtsein einmal verlorengegangen ist, wird es künstlich
nicht wieder hergestell.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 71 |
Die
Rechtsverletzung kann auch legalen Anstrich tragen, etwa dadurch, daß die
herrschende Partei eine verfassungsändernde Mehrheit bewirkt. Die Mehrheit
kann zugleich recht haben und Unrecht tun: der Widerspruch geht in einfache Köpfe
nicht hinein. Bereits bei den Abstimmungen läßt sich oft schwer entscheiden,
wo das Recht aufhört und die Gewalt beginnt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 71 |
Die
Übergriffe können sich allmählich verschärfen und gegen bestimmte
Gruppen als reine Untat auftreten. Wer solche vom Massenbeifall unterstützten
Akte beobachten konnte, der weiß, daß dagegen mit hergebrachten Mitteln
wenig zu unternehmen ist. Ein ethischer Selbstmord läßt sich nicht
jedem zumuten, vor allem nicht, wenn er ihm vom Ausland her empfohlen wird.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 71 |
Es
wird ... vom Einzelnen ein hoher Mut erwartet; man verlangt von ihm, daß
er allein, auch gegen die Macht des Staates, dem Recht handhafte Hilfe leistet.
Man wird bezweifeln, daß solche Menschen zu finden sind. Indes, sie werden
auftauchen und sind dann Waldgänger.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 72 |
Auch
unfreiwillig wird dieser Typus in das Geschichtsbild treten, denn es gibt Formen
des Zwanges, die keine Wahl lassen. Freilich muß Eignung hinzukommen. Auch
Wilhelm Tell geriet wider seinen Willen in den Konflikt. Dann aber bewies er sich
als Waldgänger, als Einzelner, in dem das Volk sich seiner Urkraft dem Zwingherrn
gegenüber bewußt wurde.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 72 |
Lange
Zeiten der Ruhe begünstigen gewisse optische Täuschungen. Zu ihnen gehört
die Annahme, daß sich die Unverletzbarkeit der Wohnung auf die Verfassung
gründe, durch sie gesichert sei. In Wirklichkeit gründet sie sich auf
den Familienvater, der, von seinen Söhnen begleitet, mit der Axt in der Tür
erscheint. Nur wird diese Wahrheit nicht immer sichtbar und soll auch keinen Einwand
gegen Verfassungen abgeben. Es gilt das alte Wort: »Der Mann steht für
den Eid, nicht aber der Eid für den Mann.« Hier liegt einer der Gründe,
aus denen die neue Legislatur im Volke auf so geringe Anteilnahme stößt.
Das mit der Wohnung liest sich nicht übel, nur leben wir in Zeiten, in denen
ein Beamter dem anderen die Klinke in die Hand drückt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 73-74 |
Wie
gegenüber den Kirchen, so fragt der Waldgänger auch hinsichtlich der
Rüstung nicht, ob und wie weit sie vorgeschritten, ja ob sie überhaupt
vorhanden ist oder nicht. Das sind Vorgänge auf dem Schiff.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 74 |
Der
Waldgang ist zu jeder Stunde und an jedem Orte zu verwirklichen, auch gegen ungeheure
Übermacht. In solchen Fällen wird er sogar das einzige Mittel des Widerstandes
sein.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 74 |
Der
Waldgänger ist kein Soldat. Er kennt nicht die soldatischen Formen und ihre
Disziplin. Sein Leben ist zugleich freier und härter als das soldatische.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 74 |
Wie
alle ständischen Formen in spezielle Arbeitscharaktere, das heißt:
in technische Funktionen umgeschmolzen werden, so auch die soldatischen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 78 |
Dem
Soldaten ist von den Aufgaben des Herakles im wesentlichen die erste verblieben:
er hat von Zeit zu Zeit den Augiasstall der Politik zu reinigen. Bei diesem Geschäft
wird es immer schwieriger, saubere Hände zu behalten und den Krieg auf eine
Weise zu führen, die ihn einerseits vom Handwerk der Polizei und andererseits
von dem des Schlachters oder selbst des Abdeckers hinreichend trennt. Den neuen
Auftraggebern ist daran auch weniger gelegen als an der Ausbreitung des Schreckens
um jeden Preis.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 78-79 |
Dazu
kommt, daß die Erfindungen den Krieg ins Uferlose treiben und die neuen
Waffen jede Unterscheidung zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern aufheben.
Damit fällt die Voraussetzung, aus der das Standesbewußtsein des Soldaten
lebt, geht der Verfall der ritterlichen Formen Hand in Hand. Noch Bismarck lehnte
den Vorschlag ab, Napoleon III. vor ein Gericht zu ziehen. Er hielt sich als Gegner
nicht für zuständig. Inzwischen ist es üblich geworden, den Besiegten
rechtsförmlich zu verurteilen. Die Streitigkeiten, die sich an solche Sprüche
knüpfen, sind überflüssig und entbehren der Grundlage. Parteien
können nicht urteilen. Sie setzen den Gewaltakt fort. Sie entziehen auch
den Schuldigen seinem Gericht.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 79 |
Wir
leben in Zeiten, in denen Krieg und Frieden schwer zu unterscheiden sind. Die
Grenzen zwischen Dienst und Verbrechen sind durch Schattierungen verwischt. Das
täuscht selbst scharfe Augen, denn in jeden Einzelfall fließt ja die
Zeitverwirrung, die Allgemeinschuld ein. Erschwerend wirkt ferner, daß Fürsten
fehlen und daß die Mächtigen alle über die Stufen der Parteiung
aufgestiegen sind. Das mindert vom Ursprung an die Begabung für Akte, die
sich auf das Ganze richten, also für Friedensschlüsse, Urteile, Feste,
Spendungen und Mehrungen. Die Kräfte wollen vielmehr vom Ganzen leben; sie
sind unfähig, es zu erhalten und zu mehren durch inneren Überfluß:
durch Sein. So kommt es zum Verschleiß des Kapitals durch siegreiche Fraktionen,
für Tageseinsichten und -absichten, wie das bereits der alte Marwitz befürchtete.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 79 |
Das
einzig Tröstliche an diesem Schauspiel liegt darin, daß es sich um
ein Gefälle handelt, das in bestimmter Richtung und zu bestimmten Zielen
wirkt. Abschnitte wie diesen bezeichnete man früher als Interregnum, während
sie sich heute als Werkstättenlandschaft darbieten. Sie zeichnen sich dadurch
aus, daß letzte Gültigkeiten fehlen; und es ist bereits viel erreicht,
wenn man erkennt, daß das notwendig ist und auf jeden Fall besser, als wenn
man abgebrauchte Elemente als gültig einzuführen oder zu halten sucht.
Ähnlich wie unser Auge die Verwendung gotischer Formen in der Maschinenwelt
ablehnt, verhält es sich auch im Moralischen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 79-80 |
Wir
haben das in der Betrachtung der Arbeitswelt im einzelnen ausgeführt. Man
muß schon die Gesetze der Landschaft kennen, in der man lebt. Andererseits
bleibt das wertende Bewußtsein unbestechlich, und hierauf beruht der Schmerz,
beruht die Wahrnehmung des Verlustes, die unvermeidlich ist. Der Anblick eines
Bauplatzes kann nicht das ruhende Behagen geben, das ein Meisterwerk gewährt,
und ebenso wenig können die Dinge vollkommen sein, die man dort erblickt.
Im Maße, in dem das bewußt wird, ist Ehrlichkeit vorhanden, und in
ihr deutet sich der Respekt vor höheren Ordnungen an. Diese Ehrlichkeit schafft
ein notwendiges Vakuum, wie es etwa in der Malerei sichtbar wird und das seine
theologischen Entsprechungen besitzt. Das Bewußtsein des Verlustes kommt
auch darin zum Ausdruck, daß jede ernstzunehmende Lagebeurteilung sich entweder
auf ein Vergangenes oder auf ein Zukünftiges bezieht. Sie führt entweder
zur Kulturkritik oder zur Utopie, von den zyklischen Lehren abgesehen. Der Schwund
der rechtlichen und moralischen Bindungen zählt auch zu den großen
Themen der Literatur. Insbesondere der amerikanische Roman spielt in Bereichen,
in denen nicht die geringste Verbindlichkeit mehr herrscht. Er ist auf den nackten
Fels geraten, den anderswo noch der Humus sich zersetzender Schichten bedeckt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 80 |
Im
Waldgang hat man sich mit Krisen abzufinden, in denen weder Gesetz noch Sitte
standhalten. In solchen Krisen wird man ähnliche Beobachtungen machen können
wie bei den Wahlen, die wir am Eingang schilderten. Die Massen werden der Propaganda
folgen, die sie in ein technisches Verhältnis zu Recht und Moral versetzt.
Nicht so der Waldgänger. Es ist ein harter Entschluß, den er zu fassen
hat: auf alle Fälle sich die Prüfung dessen vorzubehalten, für
das man von ihm Zustimmung oder Mitwirkung verlangt. Die Opfer werden bedeutend
sein. Jedoch verbindet sich mit ihnen auch ein unmittelbarer Gewinn an Souveränität.
Die Dinge liegen freilich so, daß dieser Gewinn nur von den wenigsten als
solcher empfunden wird. Herrschaft wird aber nur von jenen kommen können,
denen die Kenntnis der menschlichen Urmaße erhalten blieb und die durch
keine Übermacht zum Verzicht auf menschliches Handeln zu bringen sind. Wie
sie das leisten, bleibt eine Frage des Widerstandes, der durchaus nicht immer
offen geführt zu werden braucht. Das zu verlangen, gehört zwar zu den
Lieblingstheorien der Unbeteiligten, bedeutet aber praktisch wohl das gleiche,
als wenn man die Liste der letzten Menschen den Tyrannen auslieferte.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 80-81 |
Wenn
alle Institutionen zweifelhaft oder sogar anrüchig werden und man selbst
in den Kirchen nicht etwa für die Verfolgten, sondern für die Verfolger
öffentlich beten hört, dann geht die sittliche Verantwortung auf den
Einzelnen über oder, besser gesagt, auf den noch ungebrochenen Einzelnen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 81 |
Der
Waldgänger ist der konkrete Einzelne, er handelt im konkreten Fall. Er braucht
nicht Theorien, nicht von Parteijuristen ausgeheckte Gesetze, um zu wissen, was
rechtens ist. Er steigt zu den noch nicht in die Kanäle der Institutionen
verteilten Quellen der Sittlichkeit hinab. Hier werden die Dinge einfach, falls
noch Unverfälschtes in ihm lebt. Wir sahen die große Erfahrung des
Waldes in der Begegnung mit dem eigenen Ich, dem unverletzbaren Kerne, dem Wesen,
aus dem sich die zeitliche und individuelle Erscheinung speist. Diese Begegnung,
die sowohl auf die Gesundung wie auf die Verbannung der Furcht so großen
Einfluß übt, ist auch moralisch von höchstem Rang. Sie führt
auf jene Schicht, die allem Sozialen zugrunde liegt und urgemeinsam ist. Sie führt
auf den Menschen zu, der unter dem Individuellen den Grundstock bildet und von
dem die Individuationen ausstrahlen. In dieser Zone ist nicht nur Gemeinsamkeit;
hier ist Identität. Das ist es, was das Symbol der Umarmung andeutet. Das
Ich erkennt sich im Anderen - es folgt der uralten Weisheit des »Das bist
du«. Der andere kann der Geliebte, er kann auch der Bruder, der Leidende,
der Schutzlose sein. Indem das Ich ihm Hilfe spendet, fördert es sich zugleich
im Unvergänglichen. Darin bestätigt sich die Grundordnung der Welt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 81-82 |
Das
sind Erfahrungen. Zahllose leben heute, welche die Zentren des nihilistischen
Vorganges, die Tiefpunkte des Malstromes passiert haben. Sie wissen, daß
dort die Mechanik sich immer drohender enthüllt; der Mensch befindet sich
im Inneren einer großen Maschine, die zu seiner Vernichtung ersonnen ist.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 82 |
Der
Mensch befindet sich in einer großen Maschine, die zu seiner Vernichtung
ersonnen ist.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 82 |
Sie
mußten auch erfahren, daß jeder Rationalismus zum Mechanismus und
jeder Mechanismus zur Folter führt, als seiner logischen Konsequenz. Das
hat man im 19. Jahrhundert noch nicht gesehen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 82 |
Ein
Wunder muß geschehen, wenn man solchen Wirbeln entkommen soll. Das Wunder
hat sich unzählige Mal vollzogen, und zwar dadurch, daß inmitten der
unbelebten Ziffern der Mensch erschien und Hilfe spendete. Das galt bis in die
Gefängnisse, ja gerade dort. In jeder Lage und jedem gegenüber kann
so der Einzelne zum Nächsten werden darin verrät sich sein unmittelbarer,
sein fürstlicher Zug. Der Ursprung des Adels liegt darin, daß er Schutz
gewährte Schutz gegenüber der Bedrohung durch Untiere und Unholde.
Das ist das Kennzeichen der Vornehmen, und es leuchtet noch auf im Wächter,
der einem Gefangenen heimlich ein Stück Brot zusteckt. Das kann nicht verloren
gehen, und davon lebt die Welt. Es sind die Opfer, auf denen sie beruht.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 82 |
Es
gibt also Lagen, die unmittelbar zur moralischen Entscheidung auffordern, und
das vor allem dort, wo der Umtrieb seine tiefsten Wirbel erreicht. Das war nicht
immer der Fall und wird nicht immer der Fall bleiben. Im allgemeinen bilden die
Institutionen und die mit ihnen verknüpften Vorschriften gangbaren Boden;
es liegt in der Luft, was Recht und Sitte ist. Natürlich gibt es Verstöße,
aber es gibt auch Gerichte und Polizei. Das ändert sich, wenn die Moral durch
eine Untergattung der Technik, nämlich durch Propaganda, ersetzt wird und
die Institutionen sich in Waffen des Bürgerkrieges umwandeln. Dann fällt
die Entscheidung dem Einzelnen zu, und zwar als Entweder-Oder, indem ein drittes
Verhalten, nämlich das neutrale, ausgeschlossen wird. Nunmehr liegt in der
Nichtbeteiligung, aber auch in der Verurteilung aus dem Nichtbeteiligtsein heraus,
eine besondere Art der Infamie.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 82-83 |
Auch
der Machthaber in seinen wechselnden Inkarnationen tritt mit einem Entweder-Oder
an den Einzelnen heran. Das ist der zeitliche Vorhang, der sich vor stets demselben
und immer wiederkehrenden Schauspiel hebt. Die Zeichen auf dem Vorhang sind nicht
das Wichtigste. Das Entweder-Oder des Einzelnen sieht anders aus. Er wird an einen
Punkt geführt, an dem er zwischen der ihm unmittelbar verliehenen Qualität
des Menschen und der des Verbrechers zu wählen hat. Wie sich der Einzelne
in dieser Fragestellung behauptet, davon hängt unsere Zukunft ab.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 83 |
Nun
leben wir in Zeiten, in denen täglich unerhörte Arten des Zwanges, der
Sklaverei, der Ausrottung auftreten können sei es, daß sie sich
gegen bestimmte Schichten richten oder über weite Landstriche ausdehnen.
Dagegen ist der Widerstand legal, als die Behauptung der menschlichen Grundrechte,
die von Verfassungen im besten Falle garantiert werden, doch die der Einzelne
zu vollstrecken hat. Hierfür gibt es wirksame Formen, und der Bedrohte muß
auf sie vorbereitet, er muß in ihnen geschult werden; ja es verbirgt sich
hier das Hauptfach einer neuen Erziehung überhaupt. Es ist schon ungemein
wichtig, den Bedrohten an den Gedanken zu gewöhnen, daß Widerstand
überhaupt möglich ist ist das begriffen, dann wird mit einer
winzigen Minderheit die Erlegung des gewaltigen, doch plumpen Kolosses möglich
sein. Auch das ist ein Bild, das immer in der Geschichte wiederkehrt und in dem
sie ihre mythischen Grundfesten gewinnt. Darauf erheben sich dann Gebäude
für lange Zeit.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 84 |
Es
ist nun das natürliche Bestreben der Machthaber, den legalen Widerstand und
selbst die Nichtannahme ihrer Ansprüche als verbrecherisch darzustellen,
und diese Absicht bildet besondere Zweige der Gewaltanwendung und ihrer Propaganda
aus. Dazu gehört auch, daß sie in ihrer Rangordnung den gemeinen Verbrecher
höher stellen als jenen, derihren Absichten widerspricht.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 85 |
Demgegenüber
ist es wichtig, daß der Waldgänger sich in seiner Sittlichkeit, in
seiner Kampfführung, in seiner Gesellschaft nicht nur deutlich vom Verbrecher
unterscheidet, sondern daß dieser Unterschied auch in seinem Inneren lebendig
ist. Er kann das Rechte nur in sich finden, in einer Lage, in der Rechts- und
Staatsrechtslehrer ihm nicht das nötige Rüstzeug an die Hand geben.
Bei Dichtern und Philosophen erfahren wir schon eher, was zu verteidigen ist.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 85 |
Wir
sahen an anderer Stelle, warum weder das Individuum noch die Masse sich in der
Elementarwelt behaupten können, in die wir seit 1914 eingetreten sind. Das
heißt nicht, daß der Mensch als Einzelner und Freier verschwinden
wird. Er muß vielmehr tief unter seine individuelle Oberfläche hinabloten
und wird dann Mittel finden, die seit den Religionskriegen versunken sind. Es
ist kein Zweifel daran, daß er aus diesen Titanenreichen im Schmucke einer
neuen Freiheit scheiden wird. Sie kann nur durch Opfer erworben werden, denn Freiheit
ist kostbar und fordert, daß man vielleicht gerade das Individuelle, vielleicht
sogar die Haut der Zeit zum Raube läßt. Der Mensch muß wissen,
ob ihm die Freiheit schwerer wiegt - ob er sein So-Sein höher als sein Da-Sein
schätzt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 85 |
Das
eigentliche Problem liegt eher darin, daß eine große Mehrzahl die
Freiheit nicht will, ja daß sie Furcht vor ihr hat. Frei muß man sein,
um es zu werden, denn Freiheit ist Existenz - ist vor allem die bewußte
Übereinstimmung mit der Existenz und die als Schicksal empfundene Lust, sie
zu verwirklichen. Dann ist der Mensch frei, und die von Zwang und Zwangsmitteln
erfüllte Welt muß nunmehr dazu dienen, die Freiheit in ihrem vollen
Glanze sichtbar zu machen, so wie die großen Massen des Urgesteins durch
ihren Druck Kristalle hervortreiben.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 85 |
Die
neue Freiheit ist alte, ist absolute Freiheit im Zeitgewande; denn immer wieder
und trotz allen Listen des Zeitgeistes zu ihrem Triumph zu führen: das ist
der Sinn der geschichtlichen Welt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 85-86 |
Bekanntlich
ist das Grundgefühl unserer Epoche dem Eigentum feindlich und zum Zugriff
auch dort geneigt, wo nicht nur der Betroffene, sondern auch das Ganze geschädigt
wird. Man sieht, wie Äcker, die durch dreißig Geschlechter Besitzer
und Pächter nährten, zerstückelt werden auf eine Weise, die alle
darben läßt. Man sieht den Kahlschlag von Wäldern, die durch Jahrtausende
Holz brachten. Man sieht die Hühner, die goldene Eier legten, über Nacht
geschlachtet werden, um öffentliche Suppen aus ihrem Fleisch zu kochen, die
niemand sättigen. Man tut gut, wenn man sich mit diesem Schauspiel abfindet,
obwohl es starke Rückschläge erwarten läßt, da es neue, zugleich
intelligente und entwurzelte Schichten in die Gesellschaft einführen wird.
In dieser Hinsicht lassen sich, besonders für England, merkwürdige Dinge
voraussagen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 86 |
Der
Angriff ist einmal ethisch, insofern die alte Formel »Eigentum ist Diebstahl«
nunmehr zum anerkannten Gemeinplatz geworden ist. Der Eigentümer ist derjenige,
dem gegenüber jeder ein gutes Gewissen hat, und seit langem fühlt er
sich selber nicht mehr wohl in seiner Haut. Dazu kommen die Katastrophen, die
Kriege, die durch die Technik gesteigerten Umsätze. Das alles verweist nicht
nur darauf, vom Kapital zu leben, es zwingt auch dazu. Man baut nicht umsonst
Geschosse, von denen ein einziges soviel kostet wie früher ein Fürstentum.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 86 |
Unmerklich
hat die Erscheinung des Enterbten, des Proletariers, andere Züge angenommen;
die Welt ist von neuen Leidensfiguren erfüllt. Das sind die Vertriebenen,
die Geächteten, die Geschändeten, die ihrer Heimat und Scholle Beraubten,
die brutal in den untersten Abgrund Gestoßenen. Hier sind die Katakomben
von heute; sie werden nicht dadurch geöffnet, daß man die Enterbten
hin und wieder abstimmen läßt, auf welche Weise ihr Elend durch die
Bürokratie verwaltet werden soll.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 86-87 |
Deutschland
ist heute reich an Enterbten und Entrechteten; es ist an ihnen das reichste Land
der Welt. Das ist ein Reichtum, der gut oder schlecht verwendet werden kann. Jeder
Bewegung, die sich auf die Enterbten stützt, wohnt große Stoßkraft
inne; zugleich ist zu befürchten, daß sie nur zu einer anderen Verteilung
des Unrechts führt. Das würde die Schraube ohne Ende sein. Dem Bann
der reinen Gewalt wird nur entrinnen, wer ethisch im Bau der Welt ein neues Stockwerk
gewinnt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 87 |
Es
bereiten sich nicht nur neue Anklagen, sondern auch eine neue Lesart des alten
»Eigentum ist Diebstahl« vor. Solche Theorien sind schneidender von
seiten des Ausgeplünderten als von denen des Plünderers, der mit ihrer
Hilfe den Raub sich sichern will. Längst übersättigt, frißt
er immer neuen Raum in sich hinein. Es gibt indessen auch andere Lehren, die aus
der Zeit gezogen werden können, und man darf sagen, daß die Ereignisse
nicht spurlos vorbeigegangen sind. Das gilt vor allem für Deutschland; hier
war der Ansturm der Bilder besonders stark. Er brachte tiefe Veränderungen
mit. Solche Veränderungen werden erst spät in Theorien sichtbar; sie
wirken zunächst auf den Charakter ein. Das gilt auch für die Beurteilung
des Eigentums; sie löst sich von den Theorien ab. Die ökonomischen Theorien
sind in den zweiten Rang getreten, \während zugleich sichtbar wurde, was
Eigentum ist.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 87 |
Der
Deutsche mußte darüber nachdenken. Nach seiner Niederlage wurde die
Absicht, ihn auf ewig zu entrechten, ihn zu versklaven, ihn durch Aufteilung zu
vernichten, an ihm erprobt. Diese Prüfung war schwerer als die des Krieges,
und man darf sagen, daß er sie bestanden hat, bestanden schweigend, ohne
Waffen, ohne Freunde, ohne ein Forum auf dieser Welt. In diesen Tagen, Monaten
und Jahren wurde eine der größten Erfahrungen ihm zuteil. Er wurde
zurückgeworfen auf sein Eigentum, auf seine der Vernichtung entzogene Schicht.
Hier liegt ein Mysterium, und solche Tage sind verbindender als eine gewonnene
Entscheidungsschlacht. Der Reichtum des Landes liegt in seinen Männern und
Frauen, die äußerste Erfahrungen gemacht haben, wie sie irn Laufe vieler
Geschlechter nur einmal an den Menschen herantreten. Das gibt Bescheidenheit,
aber es gibt auch Sicherheit. Die ökonomischen Theorien gelten »auf
dem Schiffe«, während das ruhende und unveränderliche Eigentum
irn Walde liegt, als Fruchtgrund, der stets neue Ernten bringt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 87-88 |
In
diesem Sinne ist das Eigentum existentiell, am Träger haftend und unablösbar
verknüpft mit seinem Sein. Wie die »unsichtbare Harmonie bedeutender
ist als die sichtbare«, so ist auch dieses unsichtbare Eigentum das wirkliche.
Besitz und Güter werden fragwürdig, wenn sie nicht in dieser Schicht
verwurzelt sind. Das wurde deutlich gemacht. Die ökonomischen Bewegungen
scheinen gegen das Eigentum gerichtet; sie stellen in Wahrheit die Eigentümer
fest. Auch das ist eine Frage, die immer von neuern aufgeworfen und immer wieder
beantwortet wird.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 88 |
Wer
einmal den Brand einer Hauptstadt, den Einmarsch östlicher Heere erlebt hat,
der wird nie ein waches Mißtrauen verlieren gegenüber allem, was man
besitzen kann. Das kommt ihm zugute, denn er wird zu jenen zählen, die ohne
allzu großes Bedauern ihrem Hofe, ihrem Hause, ihrer Bibliothek den Rücken
kehren, falls es nötig wird. Ja er wird merken, daß damit zugleich
ein Akt der Freiheit verbunden ist. Nur wer sich umblickt, erleidet das Schicksal
von Lots Weib.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 88 |
Wie
es immer Naturen geben wird, die den Besitz überschätzen, so fehlt es
auch nie an solchen, welche in der Enteignung ein Allheilmittel sehen. Es bedeutet
aber keine Vermehrung des Reichtums, daß man ihn anders verteilt schon eher
eine Vermehrung des Konsums, wie man das an jedem Bauernwald beobachten kann.
Der Löwenanteil fälft ohne Zweifel an die Bürokratie, vor allem
bei jenen Teiluqgen, bei denen nur die Lasten bestehen bleiben: vom gememsamen
Fisch bleiben die Gräten zurück.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 88 |
Wichtig
ist dabei, daß der Enteignete sich über die Idee des individuellen
Raubes erhebe, der an ihm begangen wird. Sonst wird in ihm ein Trauma bleiben,
ein inneres Fortbestehen des Verlustes, das dann im Bürgerkriege sichtbar
wird. Das Gut ist freilich ausgegeben, und deshalb steht zu befürchten, daß
der Enterbte sich auf anderen Gebieten zu entschädigen sucht, als deren nächstes
sich der Terror anbietet. Man tut vielmehr gut, sich zu sagen, daß man notwendig
und auf alle Fälle in Mitleidenschaft gezogen wird, wenngleich unter verschiedenen
und wechselnden Begründungen. Die Lage, vom andern Pol aus gesehen, ist zugleich
die des Endlaufes, bei dem der Wettkämpfer die letzten Kräfte ausgibt,
im Angesicht des Ziels. Ganz ähnlich handelt es sich bei der Heranziehung
des Kapitals auch nicht um reine Ausgabe, sondern um Investierung im Hinblick
auf neue und notwendig gewordene Ordnungen, vor allem auf das Weltregiment. Man
kann sogar sagen: die Ausgaben sind und waren derart, daß sie entweder auf
den Ruin oder auf eine äußerste Möglichkeit hinweisen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 89 |
Das
sind Einsichten, die man beim einfachen Mann nicht voraussetzen kann. Und doch
sind sie in ihm lebendig, und zwar in einer Art, sich mit dem Schicksal abzufinden,
der Zeit den Zoll zu zahlen, die immer wieder ergreift und in Erstaunen setzt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 89 |
Wo
die Enteignung das Eigentum als Idee treffen soll, wird die Sklaverei die
notwendige Folge sein. Das letzte sichtbare Eigentum bleibt der Körper und
seine ArbeitskraftDoch sind die Befürchtungen übertrieben, mit denen
der Geist derartigen Möglichkeiten entgegensieht. Es genügen ja auch
die Schrecken der Gegenwart vollauf. Dennoch sind grauenhafte Utopien wie die
von Orwell nützlich, obwohl der Autor von den wahren und unveränderlichen
Machtverhältnissen auf dieser Erde keine Vorstellung besitzt und sich dem
Schrecken ausliefert. Solche Romane gleichen geistigen Experimenten, durch die
vielleicht so mancher Umweg und Irrlauf der praktischen Erfahrung vermieden wird.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 89 |
Indem
wir hier den Vorgang nicht »auf dem Schiffe«, sondern vom Waldgang
her betrachten, unterwerfen wir ihn den Forum des souveränen Einzelnen. Von
seiner Entscheidung hängt ab, was er als Eigentum betrachten und wie er es
behaupten will. In einer Zeit wie dieser wird er gut tun, wenn er geringe Angriffsflächen
zeigt. Er wird also bei seiner Bestandsaufnahme zu unterscheiden haben zwischen
Dingen, die kein Opfer lohnen, und solchen, für die es zu kämpfen gilt.
Sie sind die unveräußerlichen, das echte Eigentum. Sie sind es auch,
die man, wie Bias das Seine, mit sich trägt oder die, wie Heraklit sagt,
zur eigenen Art gehören, die des Menschen Dämon ist. Zu ihnen zählt
auch das Vaterland, das man im Herzen trägt und das von hier, vom Unausgedehnten
her, ergänzt wird, wenn es im Ausgedehnten, in seinen Grenzen, Verletzungen
erlitt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 89.90 |
Die
eigene Art zu wahren ist schwierig und um so schwieriger, je mehr man mit
Gütern belastet ist. Hier droht das Schicksal jener Spanier unter Cortez,
die in der »traurigen Nacht« die Last des Goldes, von dem sie sich
nicht trennen wollten, zu Boden zog. Dafür ist auch der Reichtum, der zur
eigenen Art gehört, nicht nur unvergleichlich wertvoller,er ist die Quelle
jedes sichtbaren Reichtums überhaupt. Wer das erkannt hat, wird auch begreifen,
daß Zeiten, die auf die Gleichheit aller Menschen hinarbeiten, ganz andere
Früchte als die erhofften zeitigen. Sie nehmen nur die Zäune, die Gitter,
die sekundäre Verteilung fort und schaffen gerade dadurch Raum. Die Menschen
sind Brüder, aber sie sind nicht gleich. In diesen Massen verbergen sich
immer Einzelne, die von Natur aus, das heißt in ihrem Sein, reich, vornehm,
gütig, glücklich oder mächtig sind. Auf sie strömt Fülle
zu im gleichen Maße, in dem die Wüste wächst. Das führt zu
neuen Mächten und zu neuem Reichtum, zu neuen Teilungen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 90 |
Dem
Unbefangenen mag zugleich sichtbar werden, daß sich im Besitz auch eine
ruhende, wohltätige Macht verbirgt, und zwar nicht nur für den Besitzenden.
Die Eigenart des Menschen ist ja nicht nur schaffend, sie ist auch zerstörend,
ist sein Daimonion. Wenn die zahlreichen kleinen Grenzen fallen, die sie beschränken,
richtet sie sich wie der entfesselte Gulliver im Lande der Zwerge empor. Der also
konsumierte Besitz verwandelt sich in unmittelbare, in funktionale Gewalt. Man
sieht dann die neuen Titanen, die Übermächtigen. Auch dieses Schauspiel
hat seine Grenzen, hat seine Zeit. Es bildet keine Dynastie.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 90-91 |
Das
mag erklären, warum die Herrschaft sich wieder fester gründet nach Zeiten,
in denen die Gleichheit in aller Munde war. Sowohl Furcht wie auch Hoffnung führen
den Menschen darauf zu. Er ist mit einem unausrottbaren monarchischen Instinkt
behaftet, auch dort, wo er die Könige nur noch aus dem Panoptikum kennt.
Es bleibt erstaunlich, wie aufmerksam und willig er immer wieder dort ist, wo
ein neuer Führungsanspruch erhoben wird, gleichviel woher oder von wem. Wird
irgendwo die Macht ergriffen, so knüpfen sich immer, selbst bei den Gegnern,
große Hoffnungen daran. Man kann auch nicht sagen, daß der Regierte
untreu wird. Aber er hat ein feines Gefühl dafür, ob der Mächtige
sich selbst treu bleibt und ob er die Rolle durchhält, die er sich zuteilte.
Trotzdem verlieren die Völker nie die Hoffnung auf einen neuen Dietrich,
einen neuen Augustus auf einen Fürsten, dessen Auftrag sich durch
eine Konstellation am Himmel ankündet. Sie ahnen, daß der Mythos als
Goldhort dicht unter der Geschichte ruht, dicht unter dem vermessenen Grund der
Zeit.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 91 |
Ob
denn das Sein im Menschen überhaupt vernichtet werden kann? An dieser Frage
scheiden sich nicht nur Konfessionen, sondern auch Religionen sie läßt
sich nur aus dem Glauben beantworten. Man mag dieses Sein als das Heil, die Seele,
die ewige und kosmische Heimat des Menschen erkennen immer wird einleuchten,
daß der Angriff darauf dem finstersten Abgrund entstammen muß. Auch
heute, wo die herrschenden Begriffe nur die Oberfläche des Vorgangs fassen,
wird geahnt, daß Anschläge im Gange sind ... Auf einer solchen Ahnung
beruht der Vorwurf des »Seelenmords«.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 91-92 |
Ein
solches Wort kann nur durch einen bereits geschwächten Geist geprägt
werden. Es wird jeden unangenehm berühren, der eine Vorstellung von der Unsterblichkeit
und den auf sie sich gründenden Ordnungen besitzt. Wo es Unsterblichkeit
gibt, ja wo nur der Glaube an sie vorhanden ist, da sind auch Punkte anzunehmen,
an denen der Mensch durch keine Macht und Übermacht der Erde erreicht oder
beeinträchtigt, geschweige denn vernichtet werden kann. Der Wald ist Heiligtum.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 92 |
Der
Wald ist Heiligtum.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 92 |
Die
Panik, die man heute weithin beobachtet, ist bereits der Ausdruck eines angezehrten
Geistes, eines passiven Nihilismus, der den aktiven herausfordert. Der freilich
ist am leichtesten einzuschüchtern, der glaubt, daß, wenn man seine
flüchtige Erscheinung auslöscht, alles zu Ende sei. Das wissen die neuen
Sklavenhalter, und darauf gründet sich die Bedeutung der materialistischen
Lehren für sie. Sie dienen im Aufstand zur Erschütterung der Ordnung
und sollen nach errungener Herrschaft den Schrecken verewigen. Es soll keine Bastionen
mehr geben, auf denen der Mensch sich unangreifbar und damit furchtlos fühlt.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 92 |
Demgegenüber
ist es wichtig, zu wissen, daß jeder Mensch unsterblich und daß ein
ewiges Leben in ihm ist, unerforschtes und doch bewohntes Land, das er selbst
leugnen mag, doch das keine zeitliche Macht ihm rauben kann. Der Zugang bei vielen,
ja bei den meisten mag einem Brunnen gleichen, in welchen seit Jahrhunderten Trümmer
und Schutt geworfen sind. Räumt man sie fort, so findet man am Grunde nicht
nur die Quelle, sondern auch die alten Bilder vor. Der Reichtum des Menschen ist
unendlich größer, als er ahnt. Es ist ein Reichtum, den niemand rauben
kann und der im Lauf der Zeiten auch immer wieder sichtbar anflutet, vor allem,
wenn der Schmerz die Tiefen aufgegraben hat.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 92 |
Das
ist es, was der Mensch wissen will. Hier liegt das Zentrum seiner zeitlichen Unruhe.
Das ist die Ursache seines Durstes, der in der Wüste wächst und
diese Wüste ist die Zeit. Je mehr die Zeit sich ausdehnt, je bewußter
und zwingender, aber auch je leerer sie in ihren kleinsten Teilen wird, desto
brennender wird der Durst nach den ihr überlegenen Ordnungen.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 92-93 |
Zu
den großen Ereignissen zählt die Wendung der Philosophie von der Erkenntnis
auf die Sprache; sie bringt den Geist in enge Berührung mit einem Urphänomen.
Das ist wichtiger als alle physikalischen Entdeckungen. Der Denker betritt ein
Feld, auf dem endlich wieder ein Bündnis nicht nur mit dem Theologen, sondern
auch mit dem Dichter möglich ist.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 93 |
Daß
der Zugang zu den Quellen durch Stellvertreter, durch Mittler erschlossen werden
kann: darin liegt eine der großen Hoffnungen. Wenn an einem Punkte
eine echte seinsberÜhrung gelingt, so hat das immer gewaltige Wirkungen.
Geschichte, ja überhaupt die Möglichkeit, Zeit zu datieren, beruht auf
solchen Vorgängen. Sie stellen Belehnungen mit schöpferischer Urkraft
dar, die zeitlich sichtbar wird.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 94 |
Das
wird auch in der Sprache offenbar. Die Sprache gehört zum Eigentum, zur Eigenart,
zum Erbteil, zum Vaterland des Menschen, das ihm anheimfällt, ohne daß
er dessen Fülle und Reichtum kennt. Die Sprache gleicht nicht nur einem Garten,
an dessen Blüten und Früchten der Erbe bis in sein höchstes Alter
sich erquickt; sie ist auch eine der großen Formen für alle Güter
überhaupt. Wie Licht die Welt und ihre Bildung sichtbar macht, so
macht die Sprache sie im Innersten begreifbar und ist nicht fortzudenken als Schlüssel
zu ihren Schätzen und Geheimnissen. Gesetz und Herrschaft in den sichtbaren
und selbst den unsichtbaren Reichen fangen mit der Benennung an. Das Wort ist
Stoff des Geistes und dient als solcher zu den kühnsten Brückenschlägen;
es ist zugleich das höchste Machtmittel. Allen Landnahmen im Konkreten und
Gedachten, allen Bauten und Heerstraßen, allen Zusammenstößen
und Verträgen gehen Offenbarungen, Planungen und Beschwörungen im Wort
und in der Sprache und geht das Gedicht voran. ja man kann sagen, daß es
zwei Arten der Geschichte gibt, die eine in der Welt der Dinge, die andere in
der der Sprache; und diese zweite umschließt nicht nur den höheren
Einblick, sondern auch die wirkendere Kraft. Selbst das Gemeine muß sich
immer wieder an dieser Kraft beleben, auch wenn es in die Gewalttat stürzt.
Aber die Leiden vergehen und verklären sich im Gedicht.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 94 |
Es
ist ein alter Irrtum, daß aus dem Zustand der Sprache darauf geschlossen
werden könne, ob ein Dichter zu erwarten sei oder nicht. Die Sprache kann
sich in vollem Verfall befinden, und ein Dichter kann aus ihr hervortreten wie
ein Löwe, der aus der Wüste kommt. Ebenso kann nach hoher Blüte
die Frucht ausbleiben.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 94-95 |
Die
Sprache lebt nicht aus eigenen Gesetzen, denn sonst beherrschten Grammatiker die
Welt. Im Urgrund ist das Wort nicht Form, nicht Schlüssel mehr. Es wird identisch
mit dem Sein. Es wird zur Schöpfungsmacht. Und dort liegt seine ungeheure,
nie ausmünzbare Kraft. Hier finden nur Annäherungen statt. Die
Sprache webt um die Stille, wie die Oase sich um eine Quelle legt. Und das Gedicht
bestätigt, daß der Eintritt in die zeitlosen Gärten gelungen ist.
Davon lebt dann die Zeit.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 95 |
Selbst
in Epochen, in denen die Sprache zum Mittel von Technikern und Bürokraten
herabgesunken ist und wo sie, um Frische vorzutäuschen, beim Rotwelsch Anleihen
versucht, bleibt sie in ihrer ruhenden Macht ganz ungeschwächt. Das Graue,
Verstaubte haftet nur ihrer Oberfläche an. Wer tiefer gräbt, erreicht
in jeder Wüste die brunnenführende Schicht. Und mit den Wassern steigt
neue Fruchtbarkeit herauf.Ernst
Jünger, Der Waldgang, 1951, S. 95 |
Unsere Wissenschaft läßt sich ohne weiteres und ohne
Rangminderung im astrologischen System unterbringen, nicht aber umgekehrt.
Schon diese Beobachtung ist wertvoll, denn wir brauchen Fangschnüre
für unsere sich immer souveräner entfaltende technisch-abstrakte
Welt, die aus sich heraus Grenzen und Hemmungen nicht zu entwickeln vermag.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke,
2. Abteilung, Band 8, S. 403 |
Wir können ... Oswald Spengler nicht zustimmen in seiner
Aufforderung an die neue Generation: sich der Technik statt der Lyrik,
der Marinie statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntnistheorie
zuzuwenden« - obwohl man gewiß vorm Sprung das Überflüssige
ablegen muß. Wir alle haben es, mehr oder weniger widerstrebend,
gemußt.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke,
2. Abteilung, Band 8, S. 407 |
Dem Menschen hat von jeher
sein Da-Sein mehr gegolten als sein So-Sein: die Schicksalslinie, ihre Länge,
ihr Glück und Unglück mehr als der eigentliche Stoff des Schicksals,
der allem Bedeutung gibt. Macht gilt ihm mehr als Einsicht, Reichtum mehr als
Charakter, die Länge des Lebens mehrals sein Inhalt, Schein mehr als unveräußerliches
Sein.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 410 |
Tatsächlich findet
sich in der Geschichte der Astrologie nicht selten die Bevorzugung des Empfängnishoroskops
gegenüber dem Geburtshoroskop, so schon bei den Babyloniern und besonders
in der hellenistischen Zeit. Man kannte daher Stunden und Tage, die für die
Zeugung als günstig galten; der Grieche sagte »Ich pflanze einen Menschen«,
wie man sagt: »Ich pflanze einen Baum.«Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 417 |
Der astronomische und der
astrologische Blick auf die Sterne sind verschieden wie Newtons und Goethes Blick
auf die Farbenwelt. Hier handelt es sich um quantitative Messung, dort um unmeßbare
Qualität. Das gilt, wie für die Farben, auch für die Zeit. Und
immer wieder werden sich Menschen finden, die die Qualität der Zeit für
wichtiger halten als ihre Meßbarkeit. Jeder weiß es im Grund. DieZeit
gibt nicht nur den Lebensrahmen, sie ist auch das Schicksalskleid. Sie setzt nicht
nur dem Leben seine Grenzen; sie ist auch sein Eigentum. Mit der Geburt eines
jeden Menschen steigt seine Zeit herauf.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 423 |
Innerhalb des historischen
Rahmens gibt es Wiederholung, doch keine Wiederkehr. Achilles kehrt in Alexander,
doch der erste Napoleon kehrt nicht im dritten zurück. Innerhalb der berechenbaren
Zeit gibt es Analogien, aber keine Identität. Es können also Väter,
nicht aber der Vater auftreten. Hierauf bezog sich der Arianische Streit, der
um Wesensähnlichkeit oder Wesensgleichheit des Sohnes geführt wurde.
Es ging um Zeitfragen im tiefsten Sinn.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 437 |
Mit der Wiederkehr zieht
etwas Stärkeres in den Menschen ein als die Erinnerung. Es wird identisch
mit ihm, wie Mann und Frau identisch werden in der Zeugung, in der zeitlose Schöpfungsmacht
in das zeitliche Leben wiederkehrt. Ohne Wiederkehr gibt es nur noch Daten, doch
keine Feste mehr.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 437 |
Die Menschen werden mächtiger
und reicher, aber nicht glücklicher. Im Maße, in dem die Mittel wachsen,
entschwindet die Zufriedenheit. Wahrscheinlich sind dieser Schwund und dieses
Wachstum aufeinander angelegt: es muß Glück konsumiert werden.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 439 |
Der Mensch, der keine Zeit
hat und das ist eines unserer Kennzeichen kann schwerlich Glück
haben. Notwendig verschließen sich ihm große Quellen und Mächte
wie die der Muße, des Glaubens, der Schönheit in Kunst und Natur. Damit
entgeht ihm die Krönung, der Segen der Arbeit, der in Nicht-Arbeit, und die
Ergänzung, der Sinn des Wissens, der im Nicht-Wissen liegt. Das wird im Absinken
dessen, was wir Kultur nennen, unmittelbar anschaulich.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 439-440 |
Man könnte befürchten,
daß der Schwund sich einem Punkte nähert, an dem ernicht mehr als solcher
empfunden wird einem Punkt, an dem Komfort das Glück ersetzt, der
Kunsttrieb durch Maschinen befriedigt und Schönheit meßbar wird. Es
bleiben aber immer, wenn nicht andere Räume, so doch andere Zeiten zum Vergleich,
etwa Zeiten, von denen Mozarts Musik kündet. Daß ein Mangel empfunden
wird, verrät auch das außerordentliche Erstaunen, das die Massen ergreift,
wenn ein Weiser in ihren Gesichtskreis gerät.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 440 |
Es gibt Länder, in
denen jeder, dem man begegnet, mehrfach versichert ist und in denen man dennoch
das Gefühl hat, daß nicht nur die Unzufriedenheit, das Mißbehagen,
sondern sogar die Unsicherheit ununterbrochen zunehmen ....Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 441-442 |
Wenn die Bedeutung der
Astrologie nur darin bestände, den Menschen auf den Sinn der großen
Kreisläufe und auf die Achtung vor ihnen hinzuweisen, so würde das schon
unschätzbar sein, auch ohne überzeugende Beziehung auf das Schicksal
des Einzelnen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 445 |
Die Deutungen der Astrologie,
die ins Große gehen, erscheinen zwingender als die horoskopische Beurteilung
der Individuen. So sind auch die großen Bewegungen im Kosmos, die Bahnen
der Sonnen, Monde und Planeten berechenbarer als der Weg des Einzelnen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 448 |
Ebenso lassen sich über
das Schicksal eines Schwarmes mit größerer Sicherheit Voraussagen treffen
als über das der Geschöpfe, die ihn bilden; ihre kleinen Bewegungen
verschwinden in den größeren Abläufen. Über das Schicksal
eines Herings, eines Maikäfers pflegen wir kaum nachzusinnen, obwohl das
Auftreten der Art in der Schwarmzeit selbst den Kindern zu denken gibt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 448 |
Die ungeheure Vermehrung
der Bevölkerungen in unserem Zeitalter bringt dieGefahr mit sich, daß
wir den Menschen in ähnlicher Weise sehen. Nicht nur dieMassenhaftigkeit,
sondern auch die Gleichförmigkeit nimmt zu und damit die Versuchung, den
Einzelnen abstrakt zu nehmen, sei es als mechanische Einheit oder als zoologische
Spezies.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 448 |
Die Einbeziehung in das
Massenschicksal und der Grad ihrer Notwendigkeit, ja Unentrinnbarkeit, bildet
eines unserer täglichen Probleme, und eines der schwierigsten. Eine große
Katastrophe wie die von Stalingrad ist leichter vorauszusehen als das Schicksal
des Einzelnen in ihr. Hier blenden die Ziffer und der mechanische Aspekt. Dennoch
hält der Einzelne, der dem Malstrom entronnen ist und der vielleicht sogar
gewonnen hat durch die Begegnung, das nicht für Zufall, und mit Recht.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 448-449 |
Der drohenden Verflachung
gegenüber bewahrt der Astrologe einen sicheren Blick für die angeborene
Würde des Menschen, ohne sich auf abstrakte Formeln von Gleichheit und Freiheit
einzulassen; das So-Sein bildet die Voraussetzung dafür. Er meint, daß
mit dem Einzelnen, und zwar mit jedem Einzelnen, nicht nur ein neues Bild der
Spezies, sondern auch eine neue Welt geboren wird. Damit räumt er ihm einen
höheren Rang ein, als abstraktes Denken, abstrakte Zuteilung, ihm gewähren
kann.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 449 |
Zu unseren großen
Fragen gehört auch diese: ob im So-Sein oder im Gleichsein das Glück
liege. Sie wird ununterbrochen beantwortet, aber nie gelöst werden. Es handelt
sich um eine jener geistigen Bewegungen, die sich wellenförmig fortpflanzen.
Die Frage beginnt gerade dann von neuem anzusetzen, wenn ihre Lösung gelungen
scheint.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 449 |
Hieraus erklären sich
sowohl die Unterbrechungen des Fortschrittes und seiner berechenbaren Bahnen als
auch die Tatsache, daß in der Lebensgeschichte der Einzelnen und der Völker
oft Extreme sich ablösen, ja herausfordern. In dieser Hinsicht ist die Entwicklung
reich an Überraschungen und spottet der Voraussagen. Wer hätte etwa
geahnt, daß gerade China, das Land des Tao und des konfuzianischen Familienkultes,
der Monotonie der Arbeitswelt mit einem Furor Opfer bringen würde, der im
Westen seinesgleichen sucht?Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 449 |
Die Revolutionen künden
sich in den Sternen an. Das war längst so, ehe Menschen die Erde bewohnt
haben. Dort sind die Maßstäbe zur Einteilung der Weltzeit, vom flüchtigen
Augenblick bis zu den Lichtjahren. Daher deuten sich die tiefsten Veränderungen
der menschlichen Ordnung in der Sternkunde an. Der Blick auf den gestirnten Himmel
wirft die erste, die unsichtbare Bahn. Dem folgen die Erscheinungen. Die Moderne
beginnt und endet mit der kopernikanischen Revolution. Jeder neue Blick auf das
All hat einen metaphysischen Hintergrund. Das All und das Auge verändern
sich gleichzeitig. Das gilt auch nach der Erfindung der Fernrohre und innerhalb
komplizierter Berechnungen. In die Erfassung großer Zeitalter teilen sich
heute Geschichte und Naturgeschichte, ohne uns zu befriedigen, obwohl ihnen nicht
nur eine Fülle neuen Materials, sondern auch neuer Meßgeräte und
Uhren zur Verfügung steht. Die Einteilung läßt sich auf eine Gerade
oder auf einen Kreis abtragen, je nachdem, ob ein lineares oder ein zyklisches
System angenommen wird. Eine Verbindung von beiden gibt die Spirale, in der die
Entwicklung sich sowohl fortbewegt als auch wiederkehrt, wenngleich auf verschiedenen
Ebenen. Es scheint, daß zyklische Systeme dem Geist gemäßer sind.
Wir bauen auch die Uhren rund, obwohl kein logischer Zwang dazu besteht. Auch
Katastrophen werden als wiederkehrend angenommen, so Fluten und Verwüstung,
Feuer und Eiszeiten. Das periodische Wachsen und Schwinden der weißen Kappen
hat etwas Pulsierendes. Man hat den Eindruck, daß es noch einer kleinen
Änderung bedürfte, und ein indisches Philosophem würde konzipiert.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 451 |
Der klassische Darwinismus
zählt zu den linearen Systemen, doch dringen zyklische Vorstellungen in ihn
ein. Die Darstellung der dürren Stammbäume in den Lehrbüchern beginnt
sich zu belauben, nimmt Busch- und Kugelformen an. Das »biogenetische Grundgesetz«
ist als Beleg des linear aufsteigenden Fortschreitens gedacht. Es läßt
sich ebensogut als Wiederholung und Wiedervollzug des Schöpfungsgedankens
im Einzelnen auffassen und als Dienst, den die gesamte Natur, ja das Universum
selbst, an seiner Bildung zu leisten hat. Das große Theater kreist um ihn
herum. Mit jedem Menschen wird die Welt neu konzipiert. In der Entwicklung der
Tierstämme herrscht über dem lückenlosen Fortfließen des
Bios die Wiederkehr von Bildungselementen, die von der Verwandtschaft unabhängig
sind: der ideale Eingriff formender Prinzipien. Jeder der großen Stämme
bildet in sich fliegende, schwimmende, landbewohnende Wesen aus, Parasiten und
Nachahmer, Raubtiere und Pflanzenfresser, und es ist erstaunlich, welche Ähnlichkeit
von Form und Wesen bei größter Fremdheit der Blutlinien auftreten kann.
Ein Saurier lebt als Vogel, eine Eule nach Art des Murmeltiers. Wenn man »den
Fisch« nicht mehr als eine Art Stafettenläufer im anatomischen System,
sondern als Lebensform und -schicksal auffaßt, kann man sagen, daß
es Würmer, Schlangen, Saurier, Vögel, Säugetiere und auch Menschen
gibt, die Fische sind. Das setzt eine geringfügige Verschiebung der Optik
voraus, die eintreten könnte, wenn der Nominalismusstreit in eine neue Instanz
getrieben würde, worauf Anzeichen hinweisen. Es gibt viele mögliche
Natursysteme neben, außer und über dem unseren.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 452 |
Eine Ordnung der Menschheitsgeschichte
unter Richtpunkten, die außerhalb der Kultur- und Völkergeschichte
liegen, also etwa den astrologischen ähneln würden, scheint heute besonders
schwierig, auch abgesehen von dem großen Anfall an Tatsachen. Dieser besteht
nicht nur darin, daß sich, vor allem durch die Ausbildung der Archäologie,
unsere Kenntnis der Frühgeschichte erweitert hat und noch fortwährend
ausdehnt, so daß nicht nur neues Licht auf die uns bekannten Kulturen fällt,
sondern auch ganz unbekannte auftauchen. Dazu kommt der erstaunliche Einblick
in die Vorgeschichte, der nicht nur ein neues Feld, sondern eine neue Dimension
erschließt. Je mehr Tatsachen anfallen, desto entschiedener muß der
Geist auf seinem Herrschaftsanspruch, auf Ordnung und Benennung, bestehen. Vielleicht
ist bereits der Andrang von Tatsachen ein Symptom der Schwächung, ein hellenistischer
Zug. Der Geist wird zum Museumsdirektor, zum Kustos unkontrollierbarer Sammlungen.
Bereits aus diesem Grunde ist Spenglers System mit seiner Einteilung in acht Kulturen
dem Toynbees vorzuziehen, das sich auf deren einundzwanzig stützt. Auch diese
Zahl könnte durch archäologische Ergebnisse und feinere Einteilung vermehrt
werden. Es bleibt aber richtig, daß der Geist der Forschung die Aufträge
erteilt, nicht umgekehrt. Tatsachen schaffen Belege, nicht Wahrheiten. Wo geforscht
wird, wurde das Feld bereits durch geistige Vetos und Placets abgesteckt. Was
gefunden wird, ist daher nicht zufällig.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 453 |
Spengler bezeichnet seine
morphologische Geschichtslehre als »kopernikanische Entdeckung« im
Reich der Geschichte. Dem läßt sich zustimmen, was ihren Rang, nicht
aber, was die Qualität betrifft. Hinsichtlich dieser ist Spenglers Auffassung
anderen Systemen, wie dem tychonischen näher verwandt. Vor allem fehlt ihm
die Unendlichkeit des kopernikanischen Raumes, den der Lichtstrahl geradlinig,
ohne eine Grenze zu finden, durchfliegt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 453-454 |
Spenglers
Verdienst liegt darin, daß er den großen Gedanken der Entwicklung,
wie Herder und Goethe sie verstanden, auf sein Geschichtsbild anwendet, und das
zu einem Zeitpunkt, an dem dieser Gedanke durch Mißverständnis und
Verflachung der Hegelschen Geschichtsphilosophie nicht nur im historischen Selbstbewußtsein
der Gebildeten, sondern bis in die politische Praxis hinein zu einer Art von optimistischem
Religionsersatz vereinfacht worden war. Demgegenüber ist Spenglers Geschichtsbild,
vor allem hinsichtlich der Kulturprognose, mit Recht pessimistisch. Es führt
von der Vorstellung der linearen und eo ipso aufsteigenden Entwicklung zu zyklischen
Konfigurationen zurück. Dadurch übt es großen und wachsenden Einfluß
aus.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 454 |
Daß auch dieses Geschichtsbild
letzthin nicht befriedigt, berührt eine der Schattenseiten seiner Vorzüge.
Es ist ein organisches Geschichtsbild: die Kulturen werden in ihm gezeichnet als
mächtige Bäume; ihr Leben wird verfolgt vom unbewußten Keim bis
zur bewußten Reife und zum Tode, den ein langes Absterben einleitet. Sie
sind nicht weiter ausdeutbare Urbilder. Sie haben »keine Fenster«,
wie Leibniz von der Monade sagt. Im Anblick endet die Frage nach dem Warum. Wir
fragen auch nicht, warum ein Baum an einer bestimmten Stelle wächst und alt
wird und warum dieser Baum gerade ein Ahorn oder eine Linde ist, obwohl zwischen
Art und Standort Relationen in Menge bestehen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 454 |
Zuweilen verstärkt
sich dieser Eindruck, wie beim Gang über eine Wiese, auf der Pilze in großen
Individuen oder auch in Ringen aufwachsen und über Nacht vergehen. Der Anblick
läßt fragen: Was war der Anflug, wo kommen die Sporen her?Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 454 |
Die Weltgeschichte wird
so zu einer Reihe von Auftritten, die einander nach unerklärlichem Belieben
folgen und ohne inneren Zusammenhang. Das Verbindende liegt in der Periodizität
der Abläufe und ihrer morphologischen Ähnlichkeit, die der physiognomische
Blick erfaßt. Da wird auch Bedeutendes und Überraschendes gesehen,
und zwar in einer Fülle, die sogleich verrät, daß es sich weniger
um neue Funde handelt als um eine neue Optik, einen neuen Blick.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 454-455 |
Wenn Spengler in der
Einleitung zu seinem Hauptwerk sagt: »Das Mittel, lebendige Formen zu erkennen,
ist die Analogie«, so rührt er damit das Wesen der physiognomischen
Methodik an. Durch den Analogieschluß läßt sich in der Tat viel
erreichen, unter anderem die Erfassung und Ordnung historischer Figuren unter
der bloßen Oberflächenähnlichkeit der zeitlichen Gewänder
und ferner die Einsicht in noch bevorstehende Abläufe aus der Kenntnis der
Periodizität heraus: als Voraussage. Hier gewinnt der physiognomische Instinkt
des Hinzutretenden prophetische Kraft.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 455 |
Nun aber gehört es
zu den Eigentümlichkeiten des menschlichen Geistes, daß ihn die Anordnung
und Anreihung des Ähnlichen zwar stark beschäftigt, doch nicht befriedigt,
solange die Frage nach der Quelle der Vergleiche und nach der gemeinsamen Komposition
der Akte und Auftritte des großen Schauspiels offen bleibt. Die reine Vergleichung
schafft Relationen, nicht Maßstäbe. Es bleibt die Frage nach der inneren
Einheit der mannigfaltigen Erscheinungen und Abläufe über die Ähnlichkeit
hinaus. Die Ähnlichkeit ist ja nicht nur ein unerschöpfliches Feld der
Deutung, sondern weist auch auf unerschöpfliche Bedeutung hin, auf Schöpfung
selbst.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 455 |
Dieser zweiten Frage versagt
sich Spengler; wir suchen vergebens eine Antwort bei ihm. So gleicht seine Morphologie
der Weltgeschichte einem vorzüglichen Gruppenbild von acht Brüdern,
die sowohl untereinander verschieden als einander ähnlich sind. Dürfte
man noch den Vater kennen oder auch nur auf ihn schließen, so hätte
man das innere Band.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 455 |
Die Frage nach dem Weltplan
oder dem Weltsinn, sei er göttlicher, sittlicher oder materieller Natur,
wird also von Spengler nicht beantwortet. Seine Morphologie gleicht einem Palast,
dem das oberste Stockwerk fehlt. Das nimmt ihr nichts von ihrer morphologischen
Größe, führt aber nicht aus dem Vergleichbaren ins Unvergleichliche
hinaus. Von dort, so vermuten wir, kommen die Aufträge.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 456 |
Spengler zitiert in diesem
Zusammenhang ein Goethewort: der Sinn des Lebens sei das Leben selbst. Das ist
ein vieldeutiger Spruch. Die Vergleichung der Kulturen mit tausendjährigen
Bäumen hätte vermutlich Goethes ungeteilten Beifall gefunden; in dieser
Hinsicht beruft Spengler sich auf ihn mit Recht. Zudem jedoch ist Goethes morphologisches
Genie durch ein synoptisches erhöht. Er hätte bei gleichem Unterfangen
die Bäume nicht nur in ihrer Mannigfaltigkeit, sondern auch in ihrer Einheit,
als Urpflanze, zu erfassen versucht. Die Hauptgefahr der Morphologie liegt darin,
daß man den Wald vor Bäumen nicht sieht.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 456 |
Das Wort »Weltplan«
wird von Spengler in Anführungszeichen gesetzt. Er wirft den Philosophen
vor, daß sie als dessen Urheber »Gott bemühen«. Trotzdem
bleibt der Weltplan der große Gedanke, der Herders Geschichtsbild sinnvoll
zusammenhält. Das gleiche gilt für Hegels Deutung der Geschichte als
der Selbstentfaltung des Weltgeistes.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 456 |
In solchen Konzeptionen
liegt mehr als die Befriedigung der betrachtenden Vernunft durch letzte Siegel
- sie besitzen einen weisenden, fordernden Zug, der sie mit dem Verhalten des
Menschen sinnvoll verknüpft, ihm Bahn und Richtung gibt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 456 |
Diese Überlegenheit
ist an Hegels System zu verfolgen bis zu den materialistischen Schulen, die sich
von ihm abzweigen. Das ist einer der Gründe, aus denen der materialistische
Optimismus sich im politischen Machtkampf den Kräften gegenüber durchsetzt,
die ihr theoretisches Rüstzeug aus biologischen Vorstellungen beziehen. Eines
festen Punktes, wie Archimedes, bedarf auch der, der die politische Welt aus den
Angeln heben will, und diese Voraussetzung kündet sich bereits in den Denkstilen
an.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 456-457 |
Die Astrologie gibt das Muster einer Methodik, die das Leben mit
größeren Abläufen verknüpft. Sie greift weit über
die biologisch-historische Erfassung sowohl der Einzelnen als auch der
Kulturen hinaus. Ihre Vorstellung, ihr Symbol, das Horoskop, ist zyklisch,
und da es sich auf den größten und ältesten Umlauf bezieht,
den wir kennen, genügt ihr eine einzige und unveränderliche
Uhr zur Ablesung dessen, »was die Stunde geschlagen hat«.
Dieser Zyklus setzt dem Astrologen zugleich die meßbare astronomische
und die zu deutende Schicksalszeit. Logos und Nomos werden in Beziehung
gesetzt, ja ausgetauscht, und schmelzen für den deutenden Blick ineinander
ein.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 457 |
Die Zuversicht auf Wiederkehr
bestätigt das Sein und auch die Sicherheit in ihm ganz anders als das Bild
der endlosen, sei es auch aufsteigenden, Bahn. Sie läßt vermuten, daß
andere Maße, andere Pläne als die der menschlichen Berechnung mitbestimmen,
mitwirken und daß sich der menschliche Plan in einem größeren
Rahmen bewegt. Das ist besonders wichtig in Zeiten, in denen die Bewegung uferlos
und höchst gefährlich zu werden scheint. Auch darin liegt ein Hinweis
auf die wachsende Anziehungskraft der Sterndeutung.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 457 |
Eine nicht näher zu
berührende Frage ist die nach den Mächten, die die Deutung bestimmen
oder von denen der Deuter bestimmt zu werden glaubt. Gleichviel ob er Gesetze
oder prägende Mächte aus der Umdrehung des Schicksalsrades zu erraten
meint - sein Blick richtet sich auf eine zwar verschleierte, doch ohne Zweifel
wirksame Welt. Das ist erstaunlich in einer Zeit, in der die Theologie in immer
größerem Umfang sich der reinen Ethik zuzuwenden beginnt. Noch erstaunlicher
ist der Umstand, daß es sich nicht um wie Schnee in der Sonne der praktischen
Vernunft dahinschmelzende Reste, um »Tibetanisches«, handelt, sondern
um Auswachsendes.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 457-458 |
An das Erscheinen, nicht
an die Erscheinung dieser Bewegung knüpft sich die Untersuchung an, also
an ihren Standort, der selbst ein sich regender ist, wie ein Grund, der aus der
Tiefsee sich in die Höhe wölbt. Demgegenüber ist unbedeutend, was
auf ihm wächst. Mißverständnissen läßt sich dabei nicht
ausweichen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 458 |
Der eigentliche Wert einer
solchen Bewegung, einer solchen Beunruhigung liegt nicht darin, daß sie
»stimmt«. Er liegt vielmehr darin, daß Geisteskräfte ins
Treffen geführt werden, die lange brachgelegen haben, ja weithin verkümmert
sind und deren Absterben den Planeten zu veröden droht.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 458 |
Darin, und nicht in der
physischen Bedrohung, die sekundär ist, oft sogar heilsam, liegt die Gefahr.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 458 |
Zu den Verdiensten Spenglers
gehört, daß er eine Generation vom Vorurteil der Einmaligkeit, der
Einzigartigkeit ihrer historischen Erscheinung und ihrer historischen Lage befreit
hat, von jener Vorstellung des Niedagewesenen, wie sie besonders mit der Entwicklung
der Technik und ihren überraschenden Phänomenen verbunden war.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 458 |
Insofern verrät sein vergleichender Blick, etwa auf ein Fußballstadion
von 1914 oder die Feststellung, daß es sich bei dem Weltkrieg nicht
um eine der üblichen Auseinandersetzungen zwischen Völkern handelte,
sondern um den Typus einer Zeitwende, die seit Jahrhunderten ihren vorbestimmten
Platz hatte, eine Lagebeurteilung, die dem bloßen Wechsel der Prospekte
innerhalb des historischen Bewußtseins weit überlegen ist.
Das war von besonderer Wirkung zu einem Zeitpunkt, da seit langem die
philosophische, vor allem die erkenntniskritische, Disziplin aus den Einzelwissenschaften
geschwunden war, gewichen der Überschätzung empirischer Abläufe
und experimenteller Phänomene - von theologischen Erwägungen
ganz abgesehen. In dieser Hinsicht bleibt unumstößlich Prediger
1, Vers 9, 10.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 458-459 |
Spenglers Geschichtsbild
wurde vor dem Ersten Weltkrieg konzipiert. Inzwischen haben Beschleunigung und
Anfall von Tatsachen sich weiterhin gesteigert, und das in einem Maße, das
den Strom der Zeit und ihres Geschehens zuweilen als Katarakt erscheinen läßt,
der die Schiffe weniger trägt als mitreißt und bedroht.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 459 |
Die Weisheit des Ben Akiba,
daß alles schon dagewesen sei, wird durch die Ereignisse und Gebilde, die
sich vorstellen, auf das härteste erprobt. Damit erhöht sich die Verantwortung
des betrachtenden und ordnenden Geistes und seiner Lagebeurteilung. Es wirft sich,
unter anderem, die Frage auf, ob es sich überhaupt noch um ein Geschehen
handelt, das durch historische Betrachtung und aus historischer Erfahrung heraus
beurteilt werden kann. Auch dann wäre das Wort Ben Akibas nicht hinfällig.
Es müßte aber außerhalb der Geschichte belegt werden: Wir würden
dann Dinge wiederholen, für die der historische Vorgang fehlt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 459 |
Immerhin war es eine gute
Feststellung, daß wir nicht »im Zeitalter der Punischen Kriege«,
wie viele glaubten, sondern in dem der Schlacht von Actium stehen, und ein politisches
Genie, das mit zwingender Schärfe die Konsequenzen durchdacht hätte,
würde uns wahrscheinlich viel Unangenehmes, und vor allem Umwege, erspart
haben.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 459 |
»Ab 2000« würden
wir demnach in einem weltfriedlichen Zeitalter mit Riesenstädten, hellenistischen
Kunstwerken und machtvoll perfektionierter Technik stehen. Zum ersten Male wäre
der Erdball in einer Hand; es gäbe keine »Ränder« im alten
Sinne mehr. Die Parther dieses Imperiums würden an anderen, nur vermutbaren,
Orten auftauchen. Schon Nietzsche sieht den Weltstaat und dann seinen Verfall
voraus. Es kann nicht anders sein. Denn alles, was entsteht, // Ist wert, daß
es zugrunde geht. Daher sind den Auskünften, die die reine Geschichtsbetrachtung
gewähren kann, Grenzen gesetzt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 459-460 |
Spengler hat ohne Zweifel
einen Turnus erfaßt, obwohl, wie gesagt, sein pluralistisches Bild in letzter
Instanz nicht befriedigen kann. Es war daher vorauszusehen, daß es an Versuchen
nicht fehlen würde, die Einheit der Weltgeschichte in der Betrachtung wiederherzustellen.
Das wird der Geschichtschreibung aus eigenen Mitteln nicht möglich sein,
wie es ihr auch niemals möglich gewesen ist. Sie muß dazu einen außerhalb
der Geschichtswelt gelegenen archimedischen Punkt finden, sei es in der Theologie,
sei es in der Metaphysik, sei es in der Materie.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 460 |
Der morphologischen Feststellung,
die auch in unserem Zeitalter Wiederkehrendes erblickt, kann nur mit Einschränkung
zugestimmt werden - insofern nämlich als, falls es sich um Wiederkehrendes
handelt, der Turnus der historischen Zyklen dafür zu kurz ist und somit unsere
geschichtliche Erfahrung zum Wiedererkennen nicht genügt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 460 |
Es ist freilich immer gut
und zeugt für geistigen Abstand, wenn man sich angesichts des Anfalls von
Aktualitäten mit dem »Nil admirari« des Horaz oder dem »Alles
ist dagewesen« des Ben Akiba rüstet, obwohl zugegeben werden muß,
daß dieser Anfall, schon quantitativ gesehen, enorm ist, sowohl was die
Masse als auch was den Schauplatz der Ereignisse betrifft. Dazu kommt ihre Beschleunigung
in einer geometrischen Progression, die, wie der Sog eines Kataraktes, seit über
hundertfünfzig Jahren die Ereignisse immer schneller, immer zwingender einander
folgen läßt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 460 |
Noch beunruhigender wirkt
die Feststellung, daß dieser Anfall von Tatsachen ohne Zweifel auch eine
qualitative Färbung besitzt. Die Dinge werden befremdend in einem Maße,
für das der Vorgang fehlt. Das Wort »beunruhigend« ist hier nicht
im gängigen Sinne gemeint; es muß zunächst von der Gefahr abstrahiert
werden. Erst wo das gelingt, kann Stichfestes zur Zeit gesagt werden. Die Furcht
vernebelt die Kontur. Auch Faszinierendes ist beunruhigend.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 461 |
Daß weite Gebiete
durch Kriege verheert, entvölkert oder von Unholden beherrscht werden, ist
kein historisches Novum, und auch die Mittel, deren man sich dazu bedient, kann
man als akzidentell ansehen. Tamerlan dürfte so leicht nicht zu überbieten
sein. Die Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges auf die betroffenen
Völker und ihre Kultur waren verhängnisvoller als die beider Weltkriege,
während deren die Vermehrung der Erdbevölkerung sich fortsetzte und
die Kapazität der zivilisatorischen Mittel und Methoden sich sprunghaft steigerte.
Dieser Unterschied ist nicht zufällig.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 461 |
Beunruhigend im Sinne des
Erstaunlichen und »Eintretenden« sind andere Wahrnehmungen, wie etwa,
um ein Beispiel zu nennen, jene, daß sich die Spezies sowohl an sich als
auch im Verhältnis der Geschlechter offensichtlich zu verändern beginnt,
und das in einer Weise, für die es weder im historischen Nacheinander noch
im ethnographischen Nebeneinander Vorgänge gibt. Das deutet auf Veränderungen,
die im Turnus nicht zu belegen sind, falls sie sich nicht auf Kreisläufen
abzeichnen, deren Bewegungen langfristiger als die der Kulturen oder überhaupt
der Geschichtszeit sind.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 461 |
Dem widerspricht nicht, daß auch der von Spengler aufgezeigte
Turnus »stimmen« kann. Es bleibt aber evident, daß über
die Möglichkeit des morphologischen Vergleichens und Wiedererkennens
hinaus neuartige Elemente eintreten. Das läßt vermuten, daß
zugleich mit dem historischen Turnus eine Spanne abgelaufen ist, die seinen
Maßstab übergreift.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 461 |
Man kann sich das durch Zahlen veranschaulichen: Zugleich mit
einem Jahrzehnt kann ein Jahrtausend, ein Jahrzehntausend oder ein noch
größerer Turnus abgelaufen sein. Will man es räumlich
sehen, so kann man sich vorstellen, daß ein Grenzbewohner mit einem
Schritte sowohl aus seinem Zimmer wie aus seinem Hause und sogar aus seinem
Lande heraustreten kann. Wir geben uns über solche Verhältnisse
meist wenig Rechenschaft. Wir können die Wirbel eines Tieres durchzählen,
ohne wahrzunehmen, daß sie hier einen Teil des Kopf - und dort des
Rücken- oder Schwanzskeletts ausmachen. Je mechanischer wir zählen,
desto weniger bemerken wir Übergänge dieser Art. Ähnlich
verhält es sich mit dem Wechsel der Schicksalszeit unterhalb der
Chronologie. Wir zählen weiter, ohne zu bemerken, daß sich
nicht nur die Zahl, sondern auch das Wesen der Jahre verändert hat.
Sie folgen sich, aber sie gleichen sich nicht mehr.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 461-462 |
Haben wir das Gefühl, in einer Spätzeit zu stehen? Das
ist wohl vorbei; es war um 1900 stärker ausgeprägt. Es gibt
nur noch wenige Orte auf der Welt, an denen man sich den Luxus der decadence
leisten kann. Heut heißt es: »Friß, Vogel, oder stirb«.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 462 |
Der ungeheure Zug, den wir
erleiden, kann nicht allein aus schärferer Durchdenkung der Welt entspringen;
er treibt andere Symptome hervor als der cäsarische Altersstil. Nach dieser
Theorie müßten die Söldnerheere zunehmen; ihr widerspricht die
Totale Mobilmachung. Der Gebildete würde sich durch einen ganz anderen Abstand
von den Dingen auszeichnen, durch geistige Gelassenheit, sei es im Sinn der Stoa
oder Epikurs. Die Machtfragen würden weniger mit Moralfragen verquickt werden,
und umgekehrt. Im allgemeinen würde man angenehmer leben, wie fast immer
in Spät- und Verfallszeiten.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 462 |
Von solcher Herbst- und Abendstimmung ist wenig zu bemerken -
die Jahre fordern sowohl den Pessimismus wie den Optimismus stärker
heraus. Auf der einen Seite werden sie nicht als Spät-, sondern als
Endzeit gesehen, auf der anderen mit einem Jubel, einem Opfermut begrüßt,
der nicht zu erklären, geschweige denn zu widerlegen ist. Beides
zusammen deutete auf eine ungewöhnliche Zäsur.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 462-463 |
Sollte etwa der Einschnitt,
der so offensichtlich unsere Jahre zeichnet, nicht nur zwei Epochen menschlicher
Geschichte trennen, sondern zugleich sowohl den Ablauf als auch den Beginn eines
größeren Zyklus ankünden? Das würde bedeuten, daß selbst
zur Erfassung grober Fakten die Mittel der Geschichtsbetrachtung nicht ausreichen.
Das würde bereits der Fall sein, wenn es sich um einen verhältnismäßig
kleinen Zyklus, etwa von zehn- oder zwanzigtausend Jahren, handelte. Ein solcher
Zyklus ist winzig, verglichen etwa mit einem indischen Götterjahr oder auch
mit den Abläufen, die unsere Astronomie, Geologie oder Paläontologie
berücksichtigen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 465 |
Ferner: Gab es immer, solange
Menschen auf der Welt sind, Weltgeschichte in unserem Sinn? Ohne Zweifel nicht,
da wir von Vor- und Urgeschichte sprechen, die wir entweder aus unserer Geschichtsbetrachtung
ausklammern oder als Vorsaal in sie einbeziehen. Eine Person, eine Begebenheit
muß ganz bestimmte Eigenschaften aufweisen, um »geschichtlich«
zu sein. Dazu gehört sowohl die geschichtsbildende Kraft als auch die Fähigkeit,
Gegenstand der Geschichtschreibung und des in ihr waltenden Eros, Objekt der historischen
Anschauung zu sein. Diese heftet sich an bestimmte, nicht an beliebige Zeiten
und Vorgänge.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 465-466 |
Das war nicht immer der Fall. Wir nennen Herodot den »Vater
der Geschichtschreibung«. In der Tat bietet er eine ungewöhnliche
Lektüre; man durchwandert seine Bücher wie ein von der Morgenröte
bestrahltes Land.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 466 |
Vor ihm war etwas anderes,
war mythische Nacht. Diese Nacht war aber nicht dunkel, sondern eher Traum und
kannte eine andere Verknüpfung der Menschen und Ereignisse als das historische
Bewußtsein und seine sondernde Kraft. Das bringt die Morgenröte in
Herodots Werk. Er steht auf dem Grat eines Gebirges, dasTag und Nacht trennt:
nicht nur zwei Zeiten, sondern zwei Zeitarten, zwei Arten von Licht.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 466 |
Ein wenig später, schon
bei Thukydides, ist die Morgenröte verblaßt. Auf Menschen und Dinge
fällt das klare Licht historischen Wissens, historischer Wissenschaft.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 466 |
Es fragt sich nun: Hat auch
dieses Licht seine Zeit? Stehen wir in einer ähnlichen Wende wie Herodot
oder in einer noch bedeutsameren? Sind die Ereignisse, die sich darbieten, nicht
mehr auf jene Art verknüpft, die wir gewöhnt sind, Geschichte zu nennen,
sondern auf eine andere, die wir noch nicht benannt haben?Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 466 |
Aus der Welt verschwindet mit den historischen Bindungen und Landschaften
auch das Verhalten, das sich nach geschichtlichen Vorbildern beurteilen
und prognostizieren läßt. Daher beginnen auch Wörter trügerisch
zu werden, die zum eisernen Bestand des geschichtlichen Handelns und der
Verträge gehörten, wie »Krieg« und »Frieden«,
»Volk«, »Staat«, »Familie«, »Freiheit«,
»Recht«.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 467 |
In dieser babylonischen
Verwirrung sucht die Geschichtschreibung Anleihen zumachen, sei es bei der Theologie,
der Mythologie und Dämonologie, sei es bei der Psychologie und Moral, oder
sei es einfach bei der Politik. In der Tat kann man kaum noch ein Buch zur Zeitgeschichte
aufschlagen, bei dem nicht sein politischer Standort, und damit mehr Absicht als
Ansicht, sogleich durchleuchtet.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 467 |
Es muß aber dem, der
wissen will, was vorgeht, mehr an einer Typologie unserer Welt und ihrer Vorgänge
als an ihrer polemischen Beleuchtung gelegen sein.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 467 |
Die groben Einbrüche, die an vielen Stellen die Geschichtslandschaften
in elementare verwandeln, verhüllen Veränderungen feinerer,
aber durchdringenderer Art. Bedenklicher ist, daß sich der Mensch
in seinem Wesen, als Wesen, zu verändern beginnt. Es tritt etwas
Neues und Fremdartiges in ihn ein, und zwar generell, über Nationen,
Rassen und Bildungsstufen hinweg, auf planetarische Art. Diese Veränderungen
sind unsichtbarer als die der Technik, obwohl sie mit ihr zusammenhängen,
und sind ursächlicher.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 467 |
Von Jahr zu Jahr wird beklemmender,
mächtiger spürbar, daß Dinge im Werden sind, vor denen auch Ben
Akiba erstaunen würde eben deshalb, weil sie im Geschichtlichen nicht
unterzubringen sind. Das eben bezeugt auch die Tatsache der astrologischen Beunruhigung,
von der wir ausgegangen sind. Daß Millionen ihr Horoskop verfolgen, mag
als Faktum unwichtig sein. Das ändert wenig oder nichts. Höchst aufschlußreich
dagegen ist es als Symptom.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 468 |
Wenn wir annehmen, daß
wir uns am Abschluß eines Zyklus befinden, der die Geschichte, ja vielleicht
die menschliche Existenz auf dieser Erde übergreift und daß bereits
ein neuer Zeitgroßraum auf den Menschen einwirkt, so dürfen wir folgern,
daß Erscheinungen eintreten werden oder bereits eingetreten sind, wie sie
geschichtlich oder selbst anthropologisch noch nicht fixiert wurden. Da Erdgeschichte
aber die Menschengeschichte weit überdauert, könnte aus ihr als einer
umfassenden Kategorie vielleicht Vergleichbares geschöpft werden.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 468 |
Dabei ergibt sich eine nur
anzudeutende Schwierigkeit. Es wiederholt sich die Lage des Herodot mit umgekehrten
Vorzeichen. Herodot blickte aus dem historischen Raum, den er soeben betreten
hatte, auf den mythischen zurück. Er tat es mit Scheu. Die gleiche Scheu
ist heute dort geboten, wo sich jenseits der Zeitmauer Zukünftiges abzeichnet.
In jeder Benennung schlummert Gefahr.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 468 |
Wo Herodot sich, etwa während
seiner Reise nach Ägypten, in die Mysterien, die noch überall begangen
wurden, einweihen ließ, erwähnt er die Tatsache, aber verschweigt,
was er erfahren hat. Das Mythische ist eine Macht für ihn, die sich in die
Heiligtümer zurückgezogen hat, doch deren Grenzen zu beachten sind.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 468-469 |
Übrigens setzt
sich dieses Verhältnis, wenn nicht in der späteren Geschichtschreibung,
so doch in der Geschichte fort. Die Bilder, Personen, Ereignisse im Geschichtsfeld
sind immer in Gefahr, vom Mythos angestrahlt und überwältigt zu werden,
und das gerade in Augenblicken, in denen das Historische zu kulminieren scheint.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 469 |
Eine der großen Anstrengungen der nachherodotischen, also
der abendländischen Kultur im weiteren (nicht im Spenglerschen) Sinne
besteht daher in der Wahrung ihrer geschichtlichen Struktur, sei es der
des Staates, des Denkens oder der Person und ihres Freiheitsanspruchs,
gegen den Angriff mythischer Mächte und ihrer Wiederkehr. Das, und
nicht der Kampf zwischen Nationen und Wirtschaftsformen, gehört zur
wesentlichen Erfassung des Abschnittes, der hinter uns liegt. Von Geschichtswahrung,
von Geschichtsbewußtsein überhaupt in diesem Sinne, kann nur
in ihm die Rede sein. Diese Geschichtswahrung ist das große Thema
der abendländischen Kultur. Das unterscheidet sie von allen anderen.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 469 |
Diese Geschichtswahrung
ist das große Thema der abendländischen Kultur. Das unterscheidet sie
von allen anderen. Ihr gegenüber wird die Streitfrage, ob Geschichte als
Staaten- und Kriegs- oder als Kulturgeschichte im engeren Sinn behandelt werden
sollte, zweiten Ranges das Wesentliche ist die Wahrung eines eigentümlichen
Nomos, eines So-Seins, das sich in der Kultur bestätigt, im Kampf verteidigt
wird. Es ist die Würde des historischen Menschen, die sich gegen Naturgewalten
und Barbarenvölker einerseits, gegen die Wiederkehr mythischer und magischer
Mächte andererseits zu behaupten sucht. Diese Würde ist eigentümlich;
Bewußtheit, Freiheit, Recht, Personalität durchdringen sich in ihr
auf besondere Weise oder strahlen von ihr aus als von einem Urphänomen. Sie
bestimmt den Gang der schaffenden und handelnden Menschen, der »Großen«,
der Vorbilder in Werken und Taten, und sie begrenzt, was dem leidenden Menschen
zugemutet werden darf. Dieses Maß und dieses Maßhalten wird oft verletzt,
wird oft vergessen, aber es zieht sich als Höhenlinie, als Maßstab
der Menschen und Dinge durch das Massiv des Geschehens, und auch die große
Geschichtschreibung setzt sich auf dieser Gratlinie fort.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 469-470 |
Das alles tritt sogleich
bei Herodot, besonders in seiner Schilderung der Perserkriege, auf das klarste
hervor und macht sein Werk zu einer großen Lektüre an einer Wende,
an der das So-Sein des historischen Menschen Verletzungen erlitten hat und noch
erleidet, die vielleicht nie wieder herzustellen sind.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 470 |
Wir wollen zunächst
von Art und Schwere dieser Verletzungen und von der naheliegenden Frage, ob sie
heilbar sind oder nicht, absehen und uns mit ihrem Sinn beschäftigen. Im
besonderen ist zu erwägen, ob es sich um eine Wiederkehr handelt, etwa um
die Wiederkehr mythischer Mächte, die unter Verhüllungen in die zerbröckelnde
Geschichtswelt und ihre Lücken eindringen, oder ob diese Möglichkeit
ausgeschlossen ist.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 470 |
An sich können mythische
Mächte in der Geschichtswelt nicht entbehrt werden. Weder der Staat noch
die Gesellschaft können rein dem politischen Plan folgen, ob er sich nun
als Staatsräson oder als Sozialordnung darstelle.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 470 |
Der Unterschied zwischen
dem Menschen, der wie der Richter oder der Feldherr auf legale Weise über
das Leben verfügt, gegenüber dem Henker und dem Mörder wird unscharf,
kann diskutiert werden, während zugleich zahllose Unschuldige wegen geringfügiger
sozialer oder ökonomischer Differenzen des Lebens beraubt werden oder als
Sklaven dahinschmachten.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 474-475 |
Demgegenüber kann
von Opfern weder im sakralen Sinne, etwa von Kreuzzügen, noch im heroischen
noch selbst im praktischen, etwa der Staatsräson, mehr dieRede sein. Wir
müssen dieser Tötung auch jene abstrakten Formen zurechnen, die wir
als Unfall ansehen. Sie reichen nicht nur rein zahlenmäßig an frühere
Kriegsverluste heran, sondern es zeichnet sich sogar die Gefahr von Massenkatastrophen
ab. Auch das fällt unter die Verantwortung.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 475 |
Allerdings hat noch keine
Veränderung auf der Erde stattgefunden, die nicht Blut gefordert hätte.
Wir wissen nicht, ob und in welchem Sinne gültige Opfer gebracht werden.
Aber wir können nicht daran zweifeln, daß Blut gefordert wird. Daß
es nicht den Sinn haben kann, den die Blutvergießenden meinen, ist nicht
nur wahrscheinlich; es ist auch der einzige Gedanke, der Erlösung, Versöhnung
verspricht.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 470 |
Wir sehen kein Opfer, aber
wir zahlen einen Zoll.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 475 |
Gewisse Dinge sind, zwar
nicht tatsächlich, doch inder Anschauung, unmöglich, seit Christus,
das »neue Licht«, erschienen ist. Die Kirchen können längst
in Museen, Remisen oder Lichtspielhäuser verwandelt sein; es bleibt ein unausrottbares
Bewußtsein für das, was im ethischen Sinne schön oder häßlich
ist. Dieses Häßliche kann in mythischer Zeit schön gewesen sein
wie etwa das Schauspiel der Blutopfer auf den mexikanischen Pyramiden
es wurde im Augenblick zum Frevel, in dem christliche Augen es wahrnahmen. Damit
ist nicht gesagt, daß Christen nicht ähnliches zuzutrauen wäre,
aber es fehlt nun der Bluttat der mythische Glanz, die Weihe, das Selbstbewußtsein
der antiken Macht. Das ist ein für alle Mal dem Menschen abgedungen und abgekauft.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 477 |
Soviel, um anzumerken, daß
Wiederkehr mythischer Figuren zur Herrschaft nicht zu erwarten ist. Dem widerspricht
nicht, daß das historische Bewußtsein als geschichtsbildende Macht
seinerseits aus der Herrschaft scheidet, vielleicht bereits geschieden ist, und
zwar auf ähnliche Weise, wie es den Mythos ablöste.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 477 |
Der Spaten ist für
die Geschichte ein Hilfsmittel, für die Vorgeschichte das Hauptmittel.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 479 |
Vieles läßt darauf
schließen, daß der Abschied von der Geschichte einschneidender und
folgenschwerer sein wird, als es jener vom Mythos war. Das läßt vermuten,
daß ein noch größerer Zyklus abgelaufen ist. Wird der Mensch
nicht noch mehr als damals opfern, nicht noch mehr zurücklassen müssen
am Ende das Menschentum selbst?Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 480-481 |
Wenn wir Mythisches
und Geschichtliches innerhalb der menschlichen Wirklichkeit abgrenzen, so treffen
wir eine schärfere Unterscheidung als jene, die zwischen Geschichte und Vorgeschichte
sich ziehen läßt. Das soll nicht heißen, daß mythische
und vorgeschichtliche Zeit identisch sind.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 481-482 |
Auch zwischen Vorgeschichte
und Urgeschichte schwanken die Abgrenzungen. Im Sinne, in dem das Wort oder ihm
ähnliche seit Hesiod immer wieder verwandt wurden, verschmilzt die zeitliche
Bedeutung mit einer idealen gemeint ist die Idee des Menschengeschlechts.
Wo sie sich rein verwirklicht, ist das Goldene Zeitalter, wie es immer wieder
von Menschen gesucht und als Muster verwandt worden istErnst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 482 |
Hesiod sagt von den Menschen
des Goldenen Zeitalters: » Ganz nach Gefallen // Schufen sie ruhig
ihr Werk und waren in Fülle gesegnet, // Reich an Herden und Vieh, geliebt
von den seligen Göttern.« Erst von den Menschen des Erzenen Zeitalters
heißt es: » diese betrieben Ares Jammergeschäfte
und Frevel.« Auch heute sind die Spiegelungen des Goldenen Zeitalters stärker
als alle anderen. Ihm entstammt der Mensch Rousseaus, während der Norde das
Erzene Zeitalter vertritt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 483 |
Die Einteilung der Alten
in ein goldenes, silbernes, erzenes und eisernes Zeitalter bezieht sich nicht
auf die Metalle im materiellen Sinn. Sie ist eher der Art verwandt, in der die
Alchimisten oder auch die Astrologen von den Metallen sprechen: die Eigenschaften
sind Tugenden des Seins. Wir sagen noch heute: »Reden ist Silber, Schweigen
ist Gold«. Es handelt sich bei dieser Einteilung im Grunde um vier Jahreszeiten
eines Weltalters von abnehmender Kraft. Gold ist hier Göttliches. Es bleibt
in jeder Form Gold, was aus Gold besteht: »Nichts Göttliches in dem,
// Was aus ihm ward, vergeht.« (Shankara). Auch der Brahmane kennt solche
Weltalter von ungeheurer Ausdehnung, die durch partielle Weltuntergänge getrennt
sind und von denen jedes seine Morgen- und seine Abenddämmerung besitzt.
Jedes hat seinen eigenen Götterhimmel, sein neues Menschengeschlecht.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 485-486 |
Wenn unsere Wissenschaft
Geschichte und Vorgeschichte bis zur Morgendämmerung des Menschen in Stein-,
Bronze- und Eisenzeit einteilt, so sind damit die Stoffe im eigentlichen Sinn
gemeint und erst in zweiter Linie die Stufen der Gesittung, die mit ihrer Anwendung
verbunden sind. Hier finden wir entwicclungsgeschichtliche Perspektiven mit Zeitaltern
von zunehmender Kraft. Hier meint »spät« Wachstum, nicht Schwund
wie in der Bibel und bei Hesiod. Bei näherer Ansicht können uns jedoch
gewisse Übereinstimmungen nicht entgehen. Wir führten das Ideal des
Norden auf das Erzene Zeitalter zurück. Das ist die mythische Bezeichnung
des Abschnitts, den der Historiker die Bronzezeit nennt. Es ist die Zeit, in der
der Mythos herrschende Wirklichkeit gewann, in der das Handeln und Denken des
Menschen durch ihn bestimmt wurde. Diese Wirklichkeit bleibt unerschütterlich
in der Erinnerung, in den Sängen Homers und in den Sagas, sie kann aber nicht
politisch wiederholt werden. Es ist kein Zufall, daß die Vorbilder der im
Zweiten Weltkrieg geschlagenen Mächte der Bronze- und der frühen Eisenzeit
entstammen: der Norde, der antike Römer, der japanische Samurai. Daß
sie nicht siegen konnten, entspricht der Grundregel, daß der Mythos nicht
wiederherzustellen ist, daß er zwar vulkanisch die Geschichtsdecke durchbrechen,
nicht aber ein Weltklima schaffen kann. Diese Grundregel erklärt zahlreiche
Einzelbeobachtungen, wie etwa die, daß der Krieg nicht mehr zwischen Völkern,
nicht mehr durch Könige und auch nicht nach den Regeln des Duells geführt
werden kann, daß er also sein mythisch-heroisches Ethos verliert, während
tiefere Kennzeichen bleiben, wie die Hingabe, der Schmerz. Sie erklärt auch,
warum der heroische Machthaber als Lenker, als Vater nicht mehr glaubwürdig
erscheint. Er muß, wie schon Napoleon, als Führer, als Entfeßler
von Energien,auftreten. Sein Vorbild ist der ewige Jüngling der mythischen
Zeit. Daher kann er nicht alt werden. Seine Legitimation reicht vor der »Völkerversammlung«
nicht aus. Sie gibt schon den homerischen Helden den Hintergrund.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 486-487 |
Wenn wir nun das Erzene
Zeitalter des Hesiod auf unsere Bronzezeit bezogen, so liegt die Frage nahe, ob
nicht auch für das Goldene Zeitalter ein ähnlicher Bezug zu finden sei?
Ihm, als der frühesten Epoche des Hesiod, böte sich dann die älteste
der wissenschaftlichen Vorstellungen, die Steinzeit, an. In der Tat wurde das
Goldene Zeitalter, wie der geschichtliche Mensch es zu erkennen glaubte, gern
dort vermutet, wo steinzeitliche Kulturen bis auf unsere Tage erhalten geblieben
sind. Der Einfluß, den die Südseereisen Cooks und Forsters auf die
französische Revolution und ihr Menschenbild ausgeübt haben, ist bekannt.
Die Gleichzeitigkeit ist hier ebensowenig zufällig wie die Tatsache, daß
aus der Welt der Südseevölker grundlegende Begriffe in die Psychologie
übergegangen, oder wie jene andere, daß die uralten Höhlen des
Steinzeitmenschen gerade in unseren Tagen sichtbar geworden sind. Solchen Funden
und solcher Art der Sichtbarwerdung geht anderes voran.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 487 |
Steinzeit: das ist nicht nur ein zeitlicher, sondern auch
ein morphologischer Begriff. Steinzeit ist gegenwärtig, und zwar
nicht nur ethnographisch, sondern auch individuell. Wenn Spengler daher
sagte, daß man »den Neandertaler« in jeder Volksversammlung
trifft, so war das eine richtige Feststellung. Ärgerlich daran ist
nur der polemische Bezug, der beiden Parteien unrecht tut. Verglichen
mit der unseren war die Steinzeit wahrscheinlich ein Goldenes Zeitalter.
Vermutlich konnte man sich unendlich glücklicher fühlen, auch
sicherer. Es gab weder Polis noch Politik. Das räumen selbst Autoren
ein, die dem »Primitiven« gegenüber ein zivilisatorisches
Grauen hegen, wie es der Reisende des 18. Jahrhunderts und noch Darwin
gegenüber dem Feuerländer empfand. So sagt der Epikuräer
Lucretius Carus in seinem Lehrgedicht über die Natur der Dinge, nachdem
er ein düsteres Bild der Schutzlosigkeit des frühen Menschen
gegenüber den Elementen und den reißenden Tieren entworfen
hat: »Aber Tausende führte noch nicht ein Tag zum Verderben
// Unter den Fahnen dahin; es wurden Männer und Schiffe // Nicht,
von den stürmenden Wogen zerschellt, an Klippen geschleudert, //
Denn die verderbliche Kunst der Schiffahrt war noch verborgen.«
Die Stelle ist auch deshalb bemerkenswert, weil sie bereits den Unfall
in Rechnung zieht.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke,
2. Abteilung, Band 8, S. 487-488 |
Das eigentliche Kennzeichen
der Kultur liegt nicht in der Bewußtseinshöhe, sondern in der unbewußten
Harmonie, der Sicherheit des Lebenstraumes inmitten der Kreisläufe. Das Lied,
die Kunst weisen sie aus.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 488 |
Hesiod berichtet von Zeiten
großen Überflusses, in denen ein Tag der Arbeit für ein Jahr der
Ernte ausreichte. Auch in dieser Hinsicht nähert sich die Steinzeit am ersten
dem Goldenen Zeitalter. Das beruht nicht auf der geringeren Zahl derMenschen,
bei der ein größerer Anteil am Segen der Erde auf den Einzelnen entfiel.
Die geringe Zahl gehört allerdings zum Bilde des Zeitalters, wie zu dem des
unserendie Milliardenbevölkerung. Es beruht auch nicht auf dem besseren Klima
und seiner Fruchtbarkeit. Wohl dürfen wir hier an Gewächse denken wie
an den Brotbaum Polynesiens, der eine Familie ernährt, an die Banane, Musa
paradisiaca, deren Früchte von den Entdeckern auch Adams- oder Paradiesfeigen
genannt wurden, auch an den Mais mit seiner Riesenähre an Zeugen eines
reicheren Wachstums, die wie Zweige über die Mauer eines alten Gartens in
unsere Zeit hereinragen. Wir müssen aber auch die unerschöpflichen Herden
an den waldlosen Rändern der großen Vereisungen dazurechnen. Auch sie
ragen in die Gegenwart hinein, als die gewaltigen Büffelherden der nordamerikanischen
Prärien, die Rentierherdender Tundren und die Vogelberge der Arktis; dazu
passen die Ströme, in denen der Lachs Rücken an Rücken steht.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 488-489 |
Daß es kein Licht
ohne Schatten gibt, ist ... zu bedenken, wenn man der Vermutung nachgeht, daß
die Steinzeit ein Goldenes Alter gewesen sei. Bilder eines Überflusses, wie
er nie wieder erreicht wurde, dürfen wir mit Recht annehmen, auch eine Freiheit
des Einzelnen, die nur beim Jäger anzutreffen ist und die bereits dem Hirten
verloren geht. Man kannte nicht den Krieg, weder in den heroischen Formen des
mythischen noch in den strategischen des geschichtlichen Zeitalters. Feindschaft
und Streit gab es gewiß, aber keine Grenzen im heutigen Sinn. Vom Blutvergießen,
wie im »männermordenden« Streit der homerischen Helden oder gar
unserer Schlachten, konnte noch nicht die Rede sein.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 493-494 |
DieTierwelt führt
nicht linear auf uns zu. Sie umschließt uns ringförmig.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 498 |
Die Technik ist projizierter
Geist, wie das Steinbeil verlängerte Faust gewesen ist.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 502 |
Wo von Ökonomie auch
nur die Rede ist, hat der Schwundbereits begonnen; er triumphiert, wo das ökonomische
Denken den Vorrang gewinnt. Dort versiegt, neben anderen Zeichen des Überflusses,
auch die Poesie.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 505 |
Andererseits ist der Dichter
nicht nur Künder, sondern auch Spender des Überflusses; daher ist er
notwendiger als alle Ökonomen, und das Gedicht ist wichtiger als jede Wissenschaft.
Der Dichter schöpft noch aus dem Unaufgeteilten; er leidet früher, wenn
es sich vermindert, spürt aber eher auch seine Wiederkehr. Denn auch der
Überfluß das ist ein tröstlicher Gedanke hat Wiederkehr.
Es kann nicht anders sein, da ja das Universum sich nicht vermindert, stets unerschöpflich
bleibt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 505-506 |
Die Berichte über
das Goldene Zeitalter stimmen darin überein, daß es ein schuldloses
Zeitalter gewesen sei. Es muß also notwendig nicht nur ohne Theologie, sondern
auch ohne Wissenschaft gewesen sein, nicht nur ohne Buchstaben-, sondern auch
ohne Bilderschrift. Der ungebrochene Mensch hat Wissen, doch keine Wissenschaft.
Er kennt weniger die Eigenschaften der Steine, Pflanzen und Tiere als ihre Tugenden.
Sie sprechen zu ihm.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 510 |
Daß die Götter
ohne die Hilfe des Herakles die Titanen nicht besiegen können, ist eine Weisheit
des Mythos; auch können sie sie nicht vernichten, nur einschließen.
Bei jeder Wendeklopft es aus der Tiefe an.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 515 |
Wir finden immer wieder,
daß solche Wenden zugleich Aufgang und Untergang sind, zugleich die Abenddämmerung
des alten und die Morgendämmerung des neuen Zeitalters.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 515 |
Was helfen die besten Gewehre,
wenn kein Wild mehr erscheint.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 518 |
Nur der Jäger will
auch nach dem Tode weitertreiben, was sein Leben ausmachte: in den Ewigen Jagdgründen.
Das gibt es in keiner anderen Zeit.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 519 |
Nichts ist wahrscheinlicher,
als daß im frühen Überfluß der Welt, in einem Leben ohne
Sparsamkeit und Grenzen, die Furcht geringer gewesen ist als je in Zeiten, die
jenen folgten, in denen der erste Pflug die Erde ritzte und die erste Mauer eine
tätte umgab.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 520 |
Die Zähmung des Menschen
wiederholt sich in den Einzelnen. Das Kind lebt noch im Märchen, im alten
Überfluß. Der Knabe tritt in das heroische Zeitalter ein, das sich
auch im Wechsel der Spiele, in seinen Plänen und seiner Lektüre abzeichnet.
Wenn er davon träumt, auf See oder zu den Indianern zu gehen, wird eine alte
Sehnsucht, eine vorbabylonische Erinnerung in ihm wach. Hierher gehört auch
die Anziehungskraft des Kriminalromans, dessen tragischer Held nicht der Polizist,
sondern der Verbrecher ist. Viele Verbrechen junger Menschen, auch ökonomisch
gefärbte, sind ihrem Sinn nach Protestakte. Daß auch der Verbrecher
nicht Urfreiheit hat, sondern im Rahmen spielt, zeigt sich, wo er zur Macht gelangt.
Da versteht er sich gut mit dem Staat. Es gibt nur eine Freiheit, die dem Schach
bieten kann, die des Dichters, der daher auch keinen Platz im platonischen Staat
findet.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 521 |
Nietzsche sieht weit in
das Kommende. Er gehört nicht mehr zu den klassischen Philosophen; die denkerische
Kraft schlägt unversehens, wie durch eine brüchig gewordene Isolierung,
in dichterische um. Die Isolierung ist impressionistisch: »Abgerechnet nämlich,
daß ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz« (»Ecce
homo«). Den Eintritt in die Dichtung darf man auch so auslegen, daß
der Gedanke nicht mehr genügt. Nietzsche sagt einmal, daß, wo er noch
gehe, bald niemand mehr werde gehen können; später, in Turin, hätte
er sagen können: wo ich jetzt gehe, ging niemand mir voraus. Dort ist sichtbarer
Überfluß, sind Midas und Danae.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 525 |
Der Mechanismus des Unterganges
wird verschieden gesehen es ist viel Temperamentssache dabei. Die Neptunisten
haben andere Vorstellungen als die Plutonisten; im Ergebnis ist kein großer
Unterschied. Die Unterhöhlung, etwa durch Auslaugung oder Auswaschung, kann
lange unbemerkt bleiben. Wenn sie genug gewirkt hat, kommt es zum Einsturz, zur
Katastrophe von tektonischer Gewalt. Nun sucht man die Schuldigen und hält
sich an Strohmänner.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 525 |
Die Untergangsvorstellungen
anläßlich des Erscheinens des Halleyschen Kometen, 1910 .... Der Schock,
den zwei Jahre später der Untergang der »Titanic« hervorrief
.... Um diese Zeit muß Spengler den Satz konzipiert haben: »Der Untergang
des Abendlandes ist nichts Geringeres als das Problem der Zivilisation.«
Seitdem hat sich die Bedrohung durch die technische Katastrophe immer enger dem
Bewußtsein der Völker und der Einzelnen verknüpft. Ununterbrochen
ist die Zahl der Opfer angewachsen, die so gebracht werden. Auch kollektive Vorgänge
wie Kriege, Bürgerkriege und Großexperimente nehmen die Form der technischen
Katastrophen an. Da liegt es nahe, daß auch der Weltuntergang in dieser
Form begriffen wird.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 525-526 |
Die grauenvollste Aussicht
ist die der Technokratie, einer kontrollierten Herrschaft, die durch verstümmelte
und verstümmelnde Geister ausgeübt wird.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 528 |
Je beschränkter, je
mehr durch die bloße Ziffer geblendet ein Geist ist, desto sinnloser muß
die Katastrophe ihm vorkommen. Die Katastrophe hat aber ihren Platz und ihre Aufgabe
in der Welt. Sie ist nicht nur ein Zeichen dafür, daß die Ordnung gestört
ist, sondern auch dafür, daß sie sich wiederherstellen will. Wir dürfen
annehmen, daß es immer einen Ort gibt, von dem aus gesehen sie im Plan liegt,
selbst wenn es sich um Ausbrüche in einer unvorstellbaren Größenordnung
handelt, einer Supernova etwa.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 531 |
Hinsichtlich des Schicksals
des Menschen speziell, als eines staatenbildendenGeschöpfes, eines politischen
Wesens, sind verschiedene Prognosen möglich, darunter folgende: 1. Es kommt
zu großen Zerstörungen. Die Maschine wird zerschlagen oder gerät
ins Stocken, sei es durch Kriege oder auf andere Art. Es fehlt an Mitteln, vielleicht
auch an der Neigung, sie wieder aufzubauen. Der Schleier der Maja hat sich bewegt.
Stark verminderte Populationen mit neuen Ideen und andersartiger Ökonomie
erscheinen als nachsintflutliches Geschlecht. Sie sind kräftiger, naturhafter,
denn die Ausmerzung hat gerade jene Gebiete betroffen, die der homo faber in seinen
schärfsten Ausprägungen besiedelte. Er hat sich, wie es sich in der
Naturgeschichte oftmals wiederholte, durch hypertrophe Bewaffnung ad absurdum
geführt. Diese Aussicht ist am unwahrscheinlichsten. 2. Welteinheit wird
durch Verträge konstituiert, sei es durch friedliche Vereinbarung, sei es
unter Zwang oder durch beide zugleich. Das setzt ein oberstes Gremium voraus.
Es könnte erreicht werden: a) Durch Rationalisierung in Form von Zusammenlegung:
Die Staaten verzichten auf Teile ihrer Souveränität. Diese werden zugunsten
der Gesellschaft, der societas humana, abgebaut. Die Armeen werden zu Polizeikräften,
die Großkampfmittel zum Weltregal. Sie liegen, ähnlich wie das Gold,
im Depot, ohne de facto zu erscheinen, und garantieren die Ordnung existentiell.
Die Konkurrenz erlischt sowohl auf dem Gebiete des Krieges als auch auf dem der
Ökonomie. Formen und Mittel werden perfekt, die Staatspläne durch Erd-
und kosmische Pläne ersetzt. b) Durch einen dritten Weltkrieg ohne umfassende
Folgen, wie sie oben erwähnt wurden. Eine Macht bleibt im Besitze der Souveränität
und der entsprechenden Ausstattung. Sie gibt nach Ermessen Teile davon ab. Sie
müßte Staat bleiben. Im Ersten Weltkrieg wurden die Monarchien ausgeschieden,
im Zweiten die Nationalstaaten, im dritten bliebe einer der kontinentalen Großräume
intakt. Die so gewonnene Ordnung wäre schwächer als die durch Evolution
erreichte, das Risiko enorm. c) Durch Überanstrengung. Gesteigerte Rotation
und innere Schwächung wirken derart zusammen, daß Teile der Maschinerie
verschleißen oder in die Luft fliegen. Pressionen, Unterdrückung, Propaganda,
Rüstungsaufwand auf Kosten der Lebenshaltung, Drohung, Panik, Unruhen erledigen
einen oder mehrere Partner auf kaltem Wege und lassen sie aus der Konkurrenz ausscheiden.
Die großen Parolen büßen an Zugkraft ein. Es kommt zu einer mehr
oder minder nachdrücklichen pénétration pacifique. Im Grunde
hat man ja dasselbe gewollt. Der Sog wirkt von vorne, vom zukünftigen Ergebnis
her. Dort liegt die Einheit des Vorganges, nicht in der Verständigung. Nicht
die klügste Ideologie ist die beste, sondern jene, die am leichtesten der
Erdströmung folgt, mit ihr harmoniert. d) Durch Positionsgewinn. Hier nähert
sich der Krieg, wie das Schachspiel, den reinen Intelligenzakten. Der Feldherr
erkennt die strategische Überlegenheit an und zieht die Konsequenzen, wie
in gewissen Händeln der Renaissance. Die besten Aufstellungen sind tangential,
flankierend - prinzipiell gesehen: aus dem System fallend. Sie liegen außerhalb
des umkämpften Objekts.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 532-534 |
Nicht nur hat jedes
Licht seinen Schatten, sondern jeder Schatten hat auch sein Licht. Wir leben in
einer Zeit großer Spannungen, aber gemeinsamer Tendenz. Diese Spannungen
haben zwar ihre Geschichte, erklären sich aber nicht durch die Geschichte
allein, gleichviel ob man sie in ihrer geistigen, politischen oder technischen
Entwicklung zurückverfolgt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 534 |
Daß etwa Raumfahrt
in der Spanne praktisch wird, in der sich der Planet miteiner neuen, einheitlichen
Garnitur und ihrer Formensprache ausstattet, gehört nicht nur zu den weltgeschichtlichen,
sondern darüber hinaus zu den erdgeschichtlichen Überraschungen. Es
ist ein Zeichen der Aufladung. Daher greift die Tatsache, obwohl politisch von
hoher Bedeutung, über die Staatengeschichte und ihre Probleme hinaus. Sie
betrifft den Menschen an sich als den zur Zeit mächtigsten Sohn der Erde,
und nicht ihn allein.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 534 |
Von einer rationalen Behandlung
der Tatsachen dürfen wir uns auf alle Fälle mehr versprechen als von
der moralischen. Daß das Moralische sich von selbst verstehe, ist ein gutes
Wort. Außerdem liegt das Moralische dichter an den Leidenschaften als die
Vernunft. Der Mensch hat zu allen Zeiten ziemlich genau gewußt, was gut
und was böse ist, aber durchaus nicht immer das Vernünftige erkannt.
Das gilt vor allem dort, wo der Gang der Tatsachen schneller ist als ihre Erfassung
und wo eine Überraschung die andere jagt. Wenn der Geist sie als unsinnig
empfindet, bekennt er, daß er nicht Schritt gehalten, daß er die Herrschaftverloren
hat. Es hat seine Logik, daß hier weder Mühen noch Milliarden gespart
werden. Der Wettlauf wird auf größte Entfernungen und um geringsten
Zeitgewinn geführt. Die Raumfahrt ist eines der Indizien dafür, daß
der Arbeiter in den Herrenstand getreten ist. Sie gehört zu seinen Vergnügungen,
wie früher Krieg und Architektur zu denen der Könige.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 534 |
Von einer rationalen Behandlung
der Tatsachen dürfen wir uns auf alle Fälle mehr versprechen als von
der moralischen. Daß das Moralische sich von selbst verstehe, ist ein gutes
Wort. Außerdem liegt das Moralische dichter an den Leidenschaften als die
Vernunft. Der Mensch hat zu allen Zeiten ziemlich genau gewußt, was gut
und was böse ist, aber durchaus nicht immer das Vernünftige erkannt.
Das gilt vor allem dort, wo der Gang der Tatsachen schneller ist als ihre Erfassung
und wo eine Überraschung die andere jagt. Wenn der Geist sie als unsinnig
empfindet, bekennt er, daß er nicht Schritt gehalten, daß er die Herrschaft
verloren hat. Das bedeutet nicht, daß die Tatsachen nicht auch ihr Ziel
haben. Daher werden sie auch heute unterhalb der Konflikte, unterhalb der moralischen
Erwägung und der Panik vom Menschen bejaht. Sie sind objektivierter Geist,
und daher genießen sie mehr oder minder verborgene Sanktion.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 536-537 |
Daß die Mittel
zu stark geworden seien, ist ein Halbzeiturteil; sie immer mächtiger zu machen,
ist offensichtlich die Welttendenz. Der Energiehunger ist heute stärker als
jeder andere. Angesichts dieses Schauspiels erhebt sich die Frage, ob es seiner
Konsequenz und innersten Absicht nach zur Explosion führen soll, oder ob
es in sich Genüge finden wird.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 537 |
Begrenzung kann sich erst
ergeben, wenn die Gestalt des Arbeiters den Rahmen, den die Welt bietet, ohne
Hohlraum ausfüllt, das heißt: zur Weltherrschaft gekommen ist. Dem
entspricht eine auch heute noch unvorstellbare Energiefülle, die umein Zentrum
geordnet ist. Die Mittel verlieren ihren unheilvollen Glanz nicht etwa dadurch,
daß ihre friedliche Kapazität entwickelt, herausgezüchtet wird,
sonderndadurch, daß sie in ihrer Gesamtpotenz den legitimen Souverän
gefunden haben, auf den sie angelegt gewesen sind. Damit erfahren sie zugleich
in ihrem energetischen Charakter eine Änderung. Sie können gehegt werden.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 537 |
Die Welt wird von Uhren
erfüllt, wird selbst zum Uhrwerk; die Zeit wird kostbarer und unerträglicher.
All diese Uhren zählen und messen, aber sie sind auch, wie die Furcht vermutet,
auf eine Stunde gestellt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 539 |
Die Technik ist in diesem
Sinne Umstand, Kulisse, ist, nach dem Ausdruck von Martin Heidegger, Gestell.
Ihre ökonomische, lokomotorische und ihre Machtseite ist ohne innere Bedeutung
für den Menschen; ihre eigentliche Aufgabe ist einweisend und hinleitend.
Dazu rechnet auch die Zerstörung, die man ihr vorwirft, die Verflachung,
das Entleerende. Es hängt eng mit der Monotonie zusammen, jedoch im Sinne
einer Umgruppierung, eines Schwundes, dem nachzuforschen ist. Der Raum wird ohne
Zweifel leerer, unfreundlicher zugleich verstärkt sich das Pochen
an der Tür.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 539 |
Bei dieser Umgruppierung
ist zu unterscheiden zwischen einer bloßen Verschiebung des Gleichgewichtes
und absolutem Wertverlust. Wenn die Individuen unter dem Zwang der Monotonie zugunsten
von Kollektiven Substanz abgeben, so bleibt das eine Gleichgewichtsverschiebung
innerhalb eines größeren Systems. Es gehört zur Uniformierung
und Typisierung, die mit der Monotonie verbunden ist, zur ersten Phase des Arbeiters,
zu seinem Austritt aus der bürgerlichen Welt. Der Verdacht, daß sich
das nicht auszahlt, daß damit ein Verlust verschleiert wird, ist ebenso
berechtigt wie allgemein. Wäre dem anders, so müßte nicht nur
ein Macht-, sondern auch ein Wertgewinn des Kollektivums festzustellen sein. Es
müßten also Dichter, Theologen, Philosophen innerhalb des Kollektivums
auftreten, und zwar nicht als Nachzügler oder Propheten, sondern als seine
gewachsenen Organe und Fürsprecher. Das ist aber nicht der Fall. Was als
Ersatz geboten wird, kann nicht überzeugen; es hält weder dem historischen
Vergleich noch einem unausrottbaren Bedürfnis stand. Der Hunger nach Substanz
ist zwingender und weniger einfach zu befriedigen als der nach Brot. Was der »höhere
Mensch« zubieten hat, genügt nicht ein ander Ding ist, daß
es im Zuge der Bewegung nicht genügen kann und, was wichtiger ist, nicht
genügen darf. Das gäbe nutzlosen Aufenthalt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 539-540 |
Der Schwund, bis zum
Überdruß als Nihilismus gesehen, bezeichnet und beschrieben, ist also
durchgehend. Er betrifft nicht nur die Individuen, sondern auch ihre Konfigurationen
und Bildungen. Unbestreitbar und nicht zu übersehen ist nur der technische
Gewinn. In ihm verbergen sich andere Gefahren als die grob auf der Hand liegenden
so etwa die, daß der metaphysische Hunger in der Tat abstürbe
und mit ihm die enge Verknüpfung von Glück und Freiheit, die heute noch
unabdingbar scheint. Der »Letzte Mensch« würde dann als intelligenter
Insektentypus die Welt bevölkern; seine Bauten und Kunstwerke würden
Perfektion gewinnen, als Ziel des Fortschrittes und der Evolution, auf Kosten
der Freiheit; sie würden wie Falterflügel oder Muschelschalen in großer,
aber unfreier Pracht aus dem technischen Kollektiv hervorwachsen, vielleicht für
Jahrtausende. Auch die Kunst würde sich von der Freiheit ablösen, könnte
technisch produziert werden. Diese Absicht kündet sich unverkennbar in einer
der Sprossen, der Augentriebe unseres Stammbaums an.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 540 |
Dem Tief, das sich durch
wachsende Depression ankündet, kann man nicht ausweichen, weder tatsächlich
noch moralisch noch intellektuell gleichviel ob es sichum die persönliche
Katastrophe handelt oder um die kosmische, den Weltuntergang. Nur so lassen sich
beide bestehen. Der Weg führt über den Nullpunkt hinweg, führt
über die Linie, über die Zeitmauer und durch sie hindurch.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 545 |
In der Krisis schwinden
die Dimensionen; auch das ist Augentrug. Die Todesnähe verändert Zeit
und Raum.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 545 |
Es bleibt die Vermutung,
daß andere Größen einspielen, etwa astronomische. Dabei sei wieder
auf die Astrologie verwiesen, nicht etwa deshalb, weil diese Lehre buchstäblich
genommen wird, sondern weil sie solche Größen zugleich praktisch messend
und unter Beziehung auf metaphysische Qualitäten anwendet. Damit gibt sie
nicht ein Verfahren, aber das Modell eines Verfahrens, das sowohl unserer historischen
als auch unserer naturwissenschaftlichen Methodik überlegen ist, ja dessen
Synoptik ihnen auf verhängnisvolle Weise fehlt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 546 |
Die nunmehr zu stellende
Frage ist die, ob der Einschnitt zwei geologischeAbschnitte trennt und ob eine
in diesem Sinne neue Epoche mit ihren Mustern auf uns übergreift.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 546 |
Nach entsprechenden Anzeichen
wurde früher, als noch eine ausgeprägte Mantik bestand, schärfer
Ausschau gehalten. Man bemühte sich, jede Veränderung, und vor allem
solche, die am Himmel beobachtet wurden, im Zusammenhang zu sehen. Hierfür
ist der Blick immer mehr verlorengegangen. Auch in der Naturwissenschaft weichen
Theorien von harmonischem Charakter solchen von mechanistischer Rasanz. Daher
kommt es, daß großartige Zusammenfassungen wie Humboldts »Kosmos«
nicht mehr möglich sind.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 546 |
Es ist anzunehmen, daß
das Leben selbst auf Extreme noch eine Antwort, noch Reserven hat. Wir finden
es in den Wüsten, in kochenden Quellen, an Eisrändern (und
sogar in der Erdkruste! HB). Natürlich könnte auch die Vernichtung
seiner organischen Formen das Leben nicht beeinträchtigen. Das Universum
lebt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 548 |
Wenn wir, um im Bereiche
der Messung ein Beispiel zu wählen, uns der des Eises zuwenden, so gibt es
zwei Hypothesen: Die Masse des als Eis auf dem Planeten gebundenen Wassers kann
quasi konstant bleiben, oder es lassen sich Veränderungen beobachten. Veränderungen
sind wiederum nach zwei Richtungen hin möglich: Die Vereisung kann, grob
gesprochen, zu- oder abnehmen. Wenn wir der Wissenschaft, die sich mit der Messung
der Meerestiefen, der Gletscher und Poleismassen beschäftigt, glauben wollen,
und es besteht kein Grund, an ihr zu zweifeln, so sind Anzeichen einer Abschmelzung
zu beobachten.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 550 |
In der Tat sind die Anthropologen
der Meinung, daß wir ohne die großen Winter nicht da stünden,
wo wir stehen. Sie vermuten, daß gerade die Eiszeit eine entscheidende Rolle
spielt in dem Prozeß, den sie die »Hominisation« nennen. Sie
wäre also, wenn wir progressiv, und vor allem, wenn wir dynamisch werten,
ein Glücksfall für uns. Freilich erhebt sich hier sogleich die Frage:
»Was ist Glück?« Die Wanderung einer reichen Flora in Richtung
auf den Äquator läßt sich als Ausdruck einer großen Veränderung
deuten, die man als Glücksverschiebung bezeichnen kann. Damals muß
in den Keimen ein Prozeß begonnen haben, der bis in unsere Tage fortläuft:
Umwandlung des Glückes in Aktion. Wahrscheinlich läßt sich das
auch an den Schädeln ablesen. Aber wir suchen anderes in diesem Mosaik, das
wir aus Scherben zusammensetzen, und unser Blick ist uns willfährig. Das
Eis war einer unserer großen Lehrmeister, wie es der Winter noch heute ist.
Er hat unseren ökonomischen, technischen, moralischen Stil bestimmt. Er hat
den Willen gestählt, uns denken gelehrt. Wahrscheinlich gehören die
Zeiten, seit denen es auf unserem Planeten Eis gibt, und jene, seit denen hier
in unserem Sinn gedacht wird, demselben Weltstil an. Er mag eine Minute des Weltjahrs
ausfüllen. Wo heute das Eis in Bergen ansteht, grünten vor kurzem subtropische
Wälder, und warum soll nicht, noch ein wenig früher, die Victoria regia
dort geblüht haben, die vielleicht wiederum, weil es ihr auf der Welt zu
kühl wird, entschwindet in den platonischen Raum.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 551-552 |
Der menschliche Plan
wirkt in den Schöpfungsplan hinein. In diesem Wirken erreicht er zugleich
die Grenze und die Höhe des Bewußtseins, auf der das Wissen der Verehrung
weicht. So leuchtet das Gewebe der Kulturen, schimmern die Städte: sie bilden
den Weltenteppich nach.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 552-553 |
Das Hineinwirken des
menschlichen Planes ist eigentlich ein Hinauswirken; es ist ein Mit- und Gegenspiel,
in dem auch das gewaltige Schauspiel der Freiheit sich ausdrückt, das Hegel
auf geniale Weise durchdrungen hat. Diese Freiheit beruht auf der Vorgabe eines
mächtigen Schachspielers: er verzichtet auf die stärkste Figur.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 553 |
Wenn der Staatsplan in den
Weltplan hinauswirkt und, wie wir es jetzt erleben,sprunghaft die Grenzen des
Geschichtsfeldes und der dort erlernten Regeln überschreitet, so führt
er in einen neuen Limbus der Harmonie und erfährt dort seine Ausrichtung.
Er zahlt auch Eingangszoll. Während der menschliche Plan begrenzt ist, ist
der Weltplan grenzenlos; er ist immer und überall. Das bedeutet, daß
er auch innerhalb der Menschenpläne und ihrer Wissenschaft wirkt. Das ist
ein verborgener Anteil der Pläne, der sich der Planung entzieht. Der Mensch
treibt und erfindet Dinge, deren Bedeutung sich ihm versteckt. Die Alten pflegten
das einfacher auszudrücken: »Der Mensch denkt und Gott lenkt.«
Man braucht indessen die Theologie noch nicht zu bemühen, wenn man feststellt,
daß in jedem Plan ein Regulativ verborgen ist, ein Anteil an jener Weltvernunft,
die gerade das Unerwartete, ja das Absurde zu bevorzugen scheint, den Ausgang,
den keine Phantasie sich erträumt hätte indem sie etwa bei einemTier,
das das Wasser verläßt, die Kiemen nicht, wie der Verstand der Verständigenes
täte, zu Lungen, sondern zu ganz anderer Verwendung umbildet. Hierher gehört,
was man als das Kentern, aber auch, was man als die Metamorphose des Planes überall
und in unserem Zeitalter im besonderen beobachtet. Es ist zu unterscheiden zwischen
dem Ziel und der Absicht des Planes; das Ziel kann in ganz anderer Richtung und
auch Entfernung liegen, als der planende Geist beabsichtigte. Auch wir verlassen
ein Element. Wir werden Organe einbüßen, andere werden sich umbilden.
Das Kleid der Erde ändert sich. Daß eine Harmonie gestört und
eine neue noch nicht gewonnen ist, verrät sich auch in der antaiischen Beängstigung.
Die Gefahren wachsen; es wächst aber auch Sicherheit zu. Sie kann nur jenem
Potential entspringen, das sich als unsichtbarer Anteil des Weltplans im Menschenplan
verbirgt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 553-554 |
Der faustische Plan
zerstört in seinem Fortschreiten die Hütte von Philemon und Baucismit
den Linden davor. Diese Vernichtung ist hinreichend beschrieben, beklagt, als
unvermeidlich erkannt worden. Wir wissen heute, wie es schon Goethe wußte,
daß auch Philemons Rat sie nicht aufhalten kann: »Laßt uns läuten,
knieen, beten // Und dem alten Gott vertraun.« Fausts Mißbehagen an
der Hütte ist nicht nur rational, es ist spezifisch, ihn verdrießt
die alte Art. Mephisto als sein Gehilfe vernichtet sie. Fausts Absicht ist, anstelle
der alten Linden eine Warte zu errichten, »um ins Unendliche zu schaun«.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 555-556 |
Die antaiische Unruhe
hat weniger mit dem Verlust an historischem Bestand zu tun als mit Veränderungen,
die den faustischen Plan selbst bedrohen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 556 |
Wenn in einem unermeßlichen
Waldgebiet wie dem des Amazonas kahle Stellen erscheinen, auf denen einige Hütten
Platz finden, so ist das für den großen Haushalt bedeutungslos. Eine
einzige Insektenart kann tiefer eingreifen. Wenn diese Flecke sich aber ineiner
Weise ausbreiten, die den Wald verschwinden läßt, so hat die Axt, haben
Werkzeuge das Bild der Oberfläche bestimmt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 558 |
Jenseits der Linie, jenseits
der Zeitmauer kann als Freiheit empfunden werden, was heute als Zwang geduldet
wird, und umgekehrt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 563 |
Es erübrigt sich, die
Symptome der antaiischen Unruhe und ihre Objekte im einzelnen aufzuführen;
Bibliotheken darüber entstehen, und die Zeitungen sind davon erfüllt.
Der Mensch fühlt sich unsicher auf der alten Erde; er traut den klassischen
Elementen nicht mehr. Erde, Wasser und Luft werden verdächtig, das Feuer
wirdfürchterlich. Es ist ein guter ... Gedanke, daß sich hinter der
rastlos gesteigerten Beschleunigung, der Erfindung immer schnellerer Maschinen,
eine Fluchttendenz verbirgt. Man könnte hinzufügen, daßdiese Tendenz
ein fünftes Element, den Äther, sucht.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 565 |
Die Errichtung des ersten
Blitzableiters, 1752, ist, wie gesagt, als wichtiges Ereignis anzusehen. Es ist
nicht nur weltgeschichtlicher, sondern auch erdgeschichtlicher Natur. Die Kontroversen
darüber sind vergessen; die Errichtung würde aber, auch wenn man sie
als theologisches Datum wertet, nicht viel früher denkbar gewesen sein. Mythologisch
gesehen, ist sie ein erstes Signal des titanischen Aufstandes, ein neues Aufbegehren
der Urmutter gegen den Allvater. Warum die Erde sich zu diesem Aufstand der Intelligenz
ihres mächtigen Sohnes bedient, dürfte im Vorausgeschickten hinreichend
deutlich geworden sein. Sie ruft den historischen Menschen, weil diese Wandlung
in jenen Abschnitt der Erdgeschichte fällt, die der Mensch als Weltgeschichte
zu bezeichnen pflegt. Sie ruft aber nicht ihn allein. Architektonisch gesehen,
hat der Blitzableiter am Bild unserer Städte wenig geändert; er ist
kaum wahrnehmbar, obwohl sein symbolischer Rang von nun an den der alten Türme
und Mauern übertrifft. Ein wenig später werden die Stadtmauern geschleift.
Eine neue Großmacht pflanzt ihre Zeichen auf. Ein dynamisches Alter beginnt.
Das unscheinbare Eintreten der Elektrizität und ihrer praktischen Verwendungsteht
in merkwürdigem Gegensatz zu dem der Dampfkraft, deren umwälzender Charakter
sogleich bemerkt wurde. Ihm schlossen sich nicht nur starke Umschichtungen in
der ökonomischen und sozialen Welt, sondern auch politische Theorien und
Fakten an. In diese Betrachtung der Dampfkraft kann man die Explosionstechnik
einbeziehen. Ein Automobilmotor, ein Maschinengewehr, eine Rakete setzen Urheber
voraus, die von der Dampfmaschine bereits einen Begriff hatten als von einern
notwendigen Vorstufe. Den großen Industrierevieren, die in der Nähe
der Kohlen- und Erzlager im Laufe eines Jahrhunderts aufschossen, haftet ein brutal
titanischer Charakter an. Daß hier die Ausbeutung als ein Hauptkennzeichen
auftrat, kann nicht wundernehmen; der rücksichtslose Zugriff trifft nicht
nur die am Werk Beschäftigten: er ruht in der Anlage. Er erstreckt sich auf
die Ausschlachtung der Bodenschätze, die Aussaugung der Landschaft durch
die Dynamisierung ihrer Kräfte, und neue Formen der Konkurrenz. Die Anlage
ist nicht nur häßlich, sondern häßlich sind auch die Theorien,
die in ihrem Umkreis entstehen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 567-568 |
Wir besitzen kein spezielles
Sinnesorgan für elektrische Wahrnehmungen oder gar Sendungen. Die Natur war
bei der Ausstattung der Geschöpfe in dieser Hinsicht überhaupt zurückhaltend,
obwohl die Elektrizität im mikro- und makrokosmischen Haushalt eine Hauptrolle
spielt. Als ein erstaunliches, nicht fortgeführtes, vielleicht in Reserve
gehaltenes Experiment darf man die elektrische Ausrüstung gewisser Fische
auffassen. Es wären Welten denkbar, die auf solchen Organismen aufbauen,
sie auch vergeistigen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 569-570 |
Während die Dampfmaschine
und, ihr folgend, der Motor in jenen Teil der menschlichen und tierischen Tätigkeit
eintreten, der den Muskeln vorbehalten war, offenbart sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
zwingender die Verwandtschaft der elektrischen Einrichtung mit den Nervenbahnen
und Sinnesorganen, mit der feineren organischen Ausstattung. Das fällt in
der Form und Anlage der Apparaturen nicht minder auf als im Unterschied der ihnen
zugewiesenen Aufgaben. Hier werden Last und Weg mit immer größerer
Macht, in immer kürzerer Frist bezwungen, es wird verrichtet, was Hand und
Fuß zu leisten hatten und mit ihnen die einfachen Werkzeuge. Dort ist die
Technik auf feinere Übermittlung und Wahrnehmung gestimmt. Die Apparate ahmen
Augen, Ohren, Kehlköpfe nach. Sie senden Signale, Worte, Bilder, Farben auf
astronomische Entfernungen. Sie machen die Materie in ihren feinsten Strukturen
wirkend und rezeptiv. Hier wird die Muskelkraft, dort werden die Sinnesorgane
bei weitem überflügelt, und zwar auf eine Weise, die ein gemeinsames
Wachstum verrät, als ob den Muskelmassen sich Nerven anlegten. Daher wächst
auch, wo die Mechanik in einen höheren Rang tritt, der Anteil der elektrischen
Ausstattung. Sie führt zu einem Raffinement, zu einer Vergeistigung innerhalb
der technischen Welt sowohl in ihren liliputanischen wie in ihren titanischen
Bildungen, im unsichtbaren wie im sichtbaren Bereich.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 572-573 |
Würden wir, ähnlich
den Lichtaugen, Augen für die Wahrnehmung elektrischer Ströme und Felder
besitzen, so würde uns die große Verwandlung unmittelbar sichtbar sein.
Daß unsere Städte zu Lichtburgen werden, ist nur ein Abglanz, eine
Abzweigung davon. Wir würden sehen, daß die Erdhülle nach kurzer
Dämmerung leuchtend geworden ist. Wir würden unter dieser Aura ein glühendes
Netz sehen und überall webende und rotierende Bewegungen. Ihr Schimmer würde
durchbrochen werden durch die Emanationen einer Unzahl von Vulkanen, die, besonders
von den gemäßigten Gürteln des Planeten, einen immer stärkeren
Glanz, eine blendende Kraftflut aussendeten. Es würde greifbar, daß
hier mehr als Weltgeschichtliches, daß Erdgeschichtliches vor sich geht
und das Geschichtsbild übergreift.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 576 |
Daß der Mensch sich
als historisches Wesen und aus seinem historischen Wesenhinaus verändert,
ist evident. Daher können die aus historischer Erfahrung gewonnenen Begriffe
und Verhaltungsweisen nicht oder nur auf Sektoren ausreichen. Der alte Satz, daß
der Mensch das Maß aller Dinge sei, wird fragwürdig. Er war es übrigens
seit Anbeginn.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 579 |
Es rückt nun die Frage
näher, ob nicht auch in dieser Hinsicht ein Einschnitt erlitten wird und
ob, indem der Mensch sein historisches Wesen verläßt oder aus ihm hinausgepreßt
wird, mehr auf dem Spiel steht als diese seine historische und selbst seine prähistorische
Form ob also die Veränderung ihn darüber hinaus als biologisches
Wesen betrifft. Die Frage rückt nicht nur näher, sie ist auch bereits
mehr oder minder in das Bewußtsein und damit in meßbare Bereiche eingetreten;
sie ist aktuell. In dieser Hinsicht nimmt die antaiische Beunruhigung anthropologischen
Charakter an. Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 579 |
Es wiederholt sich auch
das tragische Bild des Aussterbens der Zeugen versinkender Zeitalter. Dieses Aussterben
hat von jeher ökonomische Züge getragen, es folgt einer neuen Bewirtschaftung
des Erdhaushaltes. Das ist die sichtbare Seite, auf der sich die Ausrottung vollzieht.
Man kann sich schwer vorstellen, wie die mächtigen Saurier bezwungen wurden;
es mußten wohl Erdkräfte mitwirken. Die andere Seite ist die der Dekadenz,
des Alterstodes; ein Blatt der Geologie ist abgeschlossen, die Erde fordert ihre
Geschöpfe wieder ein. Das rührt uns, wie bei der Betrachtung eines Elefanten,
unmittelbar als Trauer an. Neuartig ist das Bestreben, die Lebensdauer dieser
Zeugen zu verlängern, sei es in Gärten oder Territorien. Das kann nur
ein Aufschub sein. Ihr Ende ließe sich verzögern, wenn es gelänge,
ihnen Urzeit zuzuweisen, indem man sie auf unberührte Gründe übersiedelte,
wie sie etwa das Amazonasbecken noch darbietet. Hier wäre Spielraum für
gewaltige Tierherden.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 584 |
Wenn wir den Übergang
der Lebensformen aus dem stationären Zustand in dieBewegung als klimatische
Erscheinung und im Zusammenhang mit einemKlimawechsel betrachten, so besagt das
nichts über die Länge und Dauer der Fahrt.Es handelt sich zunächst
um eine Änderung des Fahrplanes.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 588 |
Die Auffassung über
die Art und Reihenfolge, in der sich die Passagiere ablösen,kann davon unberührt
bleiben. Dem entspricht, daß Darwins Theorie auch heutenoch im wesentlichen
als unerschüttert gilt. Ebenso unerschüttert bleibt die bereits von
Schopenhauer an ihr vollzogene metaphysische Kritik.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 588 |
Die Verfeinerung von Darwins Anschauung, der Einbau von neuen
Elementen in ihr Gerüst, betrifft im wesentlichen nicht den Stammbaum
als solchen, sondern seine Verzweigung und ihren Periodus. Hier wirkt
offenbar ein ähnlicher Wechsel der Auffassung wie jener, der Spenglers
Geschichtsbild zugrunde liegt. Er betrifft weniger die Inhalte als den
Wandel ihrer Abläufe. Hier wie dort fällt die Anwendung von
Vergleichen auf, die dem vegetativen Leben entnommen sind. Die Pflanze
folgt sichtbarer den kosmischen Bewegungen, hat feinere Organe für
ihre Abläufe als Mensch und Tier. Fechner hat das vorzüglich
beobachtet.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 588 |
Daß dieser Wechsel der Anschauung sich alten Universaltheorien
zu nähern scheint, geschichtsphilosophisch Herderschen, zoologisch
Cuvierschen Auffassungen, ist nicht als Rücklauf zu betrachten, sondern
gehört zu den Erscheinungen des Spiralganges, der das Fortschreiten
des menschlichen Denkens kennzeichnet. Die großen Ideen wiederholen
sich in stets erneuter Abwandlung und folgen damit einem Grundprinzip
der organischen Bildung überhaupt, wie denn auch Einzelorgane, etwa
Flossen und Flügel, aus den verschiedensten Stämmen immer wieder
hervortreiben.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 588 |
In diesem Sinne lassen sich neue Erwägungen an Cuviers Katastrophentheorieanknüpfen.
Die Lehre hat demiurgische Züge; der Weltbaumeister reißt hin
und wieder sein Gebäude ein und errichtet es in einer neuen Stilart
unter Anwendung anderer Prinzipien. Ähnlich verfährt schon Jehova
im Alten Testament. Ererwägt immer wieder, ob er den Menschen nicht
ausrotten soll.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 588-589 |
Aus Gründen, die
noch erörtert werden, versperrt sich indessen dem Denkenund auch dem Glauben
das Wort »Schöpfung« immer offensichtlicher. Das ist eine paradoxe,
aber nicht zu leugnende Entwicklung eines Wesens von wachsenderIntelligenz und
einer ausgeprägten Vorliebe für planmäßige Anlagen. Man darf
ihmindessen eher von Genen sprechen als von Genesis. Es zeigt sich weit eher bereit,einen
Ursprung anzunehmen als einen Schöpfungsakt. Im Grunde bleibt das ein Streit
um Worte, um Perspektiven, die sich aber in gewaltigen Verzweigungenrealisieren,
wie in denen der Weltreligionen und ihrer Verschiedenheit.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 589 |
Wenn Heberer, unsere Kapazität
auf dem Gebiete der Hominisation, sagt, daß sich »etwa seit dem Mesolithikum
eine Veränderung in der Kausalität der Phylogenie der Hominiden abzuzeichnen
beginnt«, und sie darauf zurückführt, daß der Mensch immer
entschiedener in seine eigene Evolution eingreift und ihr die Ziele setzt, so
ist das eine treffende Beobachtung an der Grenze paläontologischer, anthropologischer
und historischer Disziplinen, die zu einer neuen Wissenschaft einschmelzen. Und
offenbar ist der Prozeß der Hominisation nicht abgeschlossen, sondern gerade
jetzt in eine Krisis eingetreten, in der Geschichte und Naturgeschichte, Welt-
und Erdhistorie, Freiheit und Determination in Kollision kommen. Der Strom beschleunigt
sich, und unerwartete Figuren, auch »Ungeheuer der Tiefe«, tauchen
auf.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 590-591 |
An den Weltkriegen ist
... nicht der Umfang das Novum, sondern die Qualität, die sie zu Operationen
der Erdbevölkerung macht und uns damit vor die Frage stellt, ob sie rechtlich,
politisch, ethisch überhaupt noch als Kriege im alten Sinne aufzufassen sind.
Wäre die Qualitätsveränderung nicht, sondern nur die des Umfanges,
so würden solche Fragen nicht einmal auftauchen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 599 |
Der Anspruch auf den Vater
geht den Ansprüchen an den Vater voraus. Dieser Anspruch bestand nicht nur
dem Recht, sondern auch der Natur nach; die Stoiker haben das gut zum Ausdruck
gebracht, indem sie sagten, daß die Natur verpflichtet sei, uns einen Vater
zu geben ob einen guten oder schlechten, das gehe bereits über ihre
Verpflichtung und unsere Ansprüche hinaus. Im vorliegenden Falle geht es
weder um einen guten noch um einen schlechten, weder um einen legitimen noch um
einen illegitimen, sondern um den Vater und seine Zeugung überhaupt. Daher
können auch weder moralische noch juristische Erwägungen das Novum befriedigend
angreifen. Der Entscheidung bietet sich keine neue Moral- oder Rechts-, sondern
eine neue Menschenkategorie dar, ein neuer Stand, dessen Entwicklung problematisch
ist. Sie kann aber auch nicht auf diesen Stand beschränkt bleiben. Sein Erscheinen
gehört vielmehr zu den sichtbaren Zeichen dafür, daß der Mensch
als solcher in eine neue Phase eintritt, in eine Phase, in der nicht nur sein
Recht, sondern auch seine Natur sich ändert und in der auch der Anspruch
auf den Vater nicht mehr zu seinen natürlichen Voraussetzungen gehört
sei es, daß er sich seiner im Rahmen des Planes und seiner Willensfreiheit
entäußert, sei es, daß zwingende Gesetze mitwirken.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 601-602 |
Was die Praxis ergibt
und was durch sie gewollt wird, kann sich erst nach Generationen herausstellen.
Vorläufig darf man sagen, daß sie sich im Zwischenfeld, an der Zeitmauer,
bewegt und daß sie reich an unkontrollierbaren und undefinierbaren Zügen
ist. Wie bei den Eisbergen überwiegt der unsichtbare Anteil bei weitem den
sichtbaren.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 602 |
Das genetische Experiment,
auf den Menschen bezogen, beansprucht große Zeiträume. Das hat seine
Vor- und Nachteile. Zu den Nachteilen gehört, daß Unübersehbares
in die Wege geleitet wird und daß es nicht rückgängig gemachtwerden
kann, wie etwa beim Tierversuch, wobei allerdings vorauszusetzen ist, daßdas
wissenschaftliche Denken nicht völlig triumphiert. Ein Vorteil ist, daß
rasanteVeränderungen der Individuen und der Gesellschaft auf diesem Wege
ausgeschlossen sind.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 604 |
Daß das Experiment
verhindert wird, ist zwar nicht möglich, aber vorstellbar. Die Kirche sieht
hier mit Recht eine ihrer Aufgaben, wie denn überhaupt ihr Schicksal davon
abhängt, inwieweit sie sich von den Ergebnissen der Wissenschaftimponieren
läßt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 604 |
Es handelt sich aber bei
der Diskussion über das Experiment nur umSpitzenbegegnungen. Im Hintergrunde
wirkt, unfaßbar und ungesondert, nichtetwa das experimentelle Denken, sondern
die proteushafte Macht, die dieses Denken bewegt. Daher sehen wir die Diskussion
um das Experiment nicht nur auf diesem einen, sondern auf vielen und wechselnden
Gebieten entbrannt. Sie füllt einen Teil der Tagespolemik aus. Hierin liegt
der Grund dafür, daß zahlreiche undverständige Verbote erlassen
werden und daß sie am Schube nichts ausrichten, ihnoft noch beschleunigen.
Er liegt darin, daß das Experiment und die mit ihm verbundene spezielle
Intelligenz bei der Entstehung der neuen Welt nur Hilfestellungleisten, nicht
unmittelbar hervorbringen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 604 |
Das heißt, daß
diese Intelligenzform Merkmal einer Speziesänderung ist, nichtaber ihre Ursache.
Sie ist ein zoologisches Kennzeichen, ist im Grunde unfrei und muß, wo sie
herrschend wird, sei es als Technokratie, sei es als »biologischeWeltanschauung«,
ihrer Natur nach als Widersacherin der Freiheit auftreten.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 604 |
Das gilt natürlich
nicht für die Vernunft, für den menschlichen Geist und seine Residenz
in den obersten Stockwerken. Sonst würde auch die Kritik unmöglich sein.
An ihm liegt es, auf Rangordnungzu halten, sie wiederherzustellen und zu vertiefen,
wo es nottut, und dieser eminenten und notwendigen Bewegung einen Sinn zu geben,
der sie über die bloße Tatsache der zoologischen, technischen und dämonischen
Veränderung erhöht. Ohne Zweifel wird das geschehen. Dafür ist
eine hinreichende Lagebeurteilung,die sich nicht unnötig bei den Symptomen
aufhält, die erste Voraussetzung.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 604-605 |
Aus dem Gesagten geht
hervor, daß die Veränderung auf das Experiment und die mit ihm operierende
spezifische Intelligenz nicht angewiesen ist. Diese ist vielmehr eines ihrer zahlreichen
Kennzeichen. Die verändernde Macht kann unter, mit oder über der Intelligenz
angreifen. Offenbar aber geht sie, wie der Strom durch einen Transformator, durch
sie hindurch. Es sei hier an das erinnert, was über die antaiische und insbesondere
über die atmosphärische Unruhe gesagt wurde.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 605 |
Hinsichtlich des Punktes,
an dem unsere Untersuchung sich befindet, heißt das, daß sich der
Mensch auch unabhängig vom genetischen Experiment verändern wird. Es
wäre müßig, Einflüsse der Umwelt, wie sie soziologisch als
Milieu, faunistisch als Biotop, kulturhistorisch als Stil bezeichnet werden, zur
Erklärung heranzuziehen. Das alles gehört dazu, mit seiner Technik,
seiner Ökonomie. Mit dem, was die Astrologen als den Eintritt in ein Neues
Haus bezeichnen, verändert sich auch die Einrichtung.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 605 |
Gewiß wird das hier
früher, dort später offenbar. Das läßt sich schon bei Ortswechseln
beobachten. In Städten und Landschaften, in denen sich die speziellen Arbeitscharaktere
der Perfektion nähern, verändert sich deutlich außer der Lebensform
und -führung der Habitus, und zwar nicht nur physiognomisch und charakterologisch,
sondern auch auf anthropologisch meßbare Art. Wie etwa im Zuge der Klimaänderung
das Abschmelzen der Gletscher meßbar geworden ist, so sind es hier anatomische
und morphologische Details, vom Psychologischen ganz abgesehen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 605-606 |
Hier wäre nochmals die Frage zu streifen, inwieweit es sich
um Erscheinungen der Spätzeit handelt, um weltstädtische Kennzeichen.
Der Untergang des römischen Reiches hat ja von jeher als Schulbeispiel
gedient. Es gibt allerdings eine Reihe von Merkmalen, die übereinstimmen:
Cäsarismus, Bedrohung des Bauernstandes, Latifundienwirtschaft, Sittenverfall,
wachsende Konzentration und Unwiderruflichkeit der großen Entscheidungen,
hellenistische Kunstwerke und technische Großbauten; das sind Gesichtspunkte.
Verändert sich jedoch der Standort des Beobachters um ein Geringes,
so eröffnen sich Perspektiven, die durchaus nicht in Spenglers System
passen. Hier tauchen nicht weniger zwingende Anzeichen einer Frühzeit
auf. Daß Rußland, dessen Stand er dem des Reiches Karls des
Großen vergleicht, auszuklammern sei, hat Spengler scharfsichtig
bemerkt. Es handelt sich indessen nicht um regionale Unterschiede, sondern
um das Auftreten eines neuen Typus, der die Nationen und selbst die Rassen
formt. Dem entspricht auch das herrschende Welt- und Lebensgefühl,
der wachsende Optimismus des Arbeiters, sein theoretisch so dürftig
gestütztes Vertrauen auf seine zeitwendende Macht, das dennoch von
Grund auf berechtigt ist und prognostischen Wert besitzt.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 606 |
Der Frage des Fortschrittes
gegenüber nimmt der Metaphysiker eine andere Haltung ein als der Geschichtsphilosoph.
Metaphysisch gesehen, bleibt die Potenz des Kosmos ein und dieselbe; kein Vor-
oder Rückschreiten, kein Auf- oder Untergang verändert sie. Sein Wert
bleibt stets der gleiche; er ruht in sich. Auch die Freiheit ist ewig und unzerstörbar,
gleichviel ob sie in der Zeit sichtbar wird oder nicht. Dort wird sie stets hinfällig
sein.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 608 |
Der Geschichtsphilosoph
dagegen beschäftigt sich mit einem Reich, in dem die Zeit gerichtet abläuft;
er muß die Freiheit auf die Zeit beziehen und auf die Art, inder sie sichtbar
wird. Fortschreiten kann für ihn im wesentlichen nur ein Fortschreiten in
der Freiheit sein. Das ist die große Evolution, die das rechtliche, politische,
ökonomische Fortschreiten fundiert. Der Freiheit folgen Freiheiten.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 608 |
Es erhebt sich nun die Frage,
ob die Beleuchtung von Geschichtsvorgängen an der Zeitmauer, also von außergeschichtlichem
Standort aus, die Idee eines solchen Fortschreitens nicht illusorisch macht. Diese
Frage berührt einmal das Verhältnis von Schicksal und Freiheit, das
immer wieder erwogen wurde in der Kontroverse,»ob die Sterne zwingend sind«.
Sie berührt zum anderen das Verhältnis von Freiheit und Instinkt, das
allzu häufig verwischt wird dadurch, daß man den Verstand als Vergleichsmittel
nimmt. Unfreiheit ist möglich bei jedem Stande der Intelligenz.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 608-609 |
Unfreiheit ist möglich
bei jedem Stande der Intelligenz.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 609 |
Während der Revolutionen
wird die Freiheit geringer; der Schub konsumiert. Zunächst war Freiheit als
Ziel gemeint. Dann beschleunigt sich die Entwicklung auf schmalerer Bahn, macht
jähe Wendungen. Das sind die Kurven, in denen dieLiberalen abspringen. Das
Ziel ist stets ein anderes als das gemeinte; in ihm realisieren sich tiefere als
die politischen Absichten. Nun verblassen die konstituierenden Elemente; die Konstitution
tritt hervor. Die beweglichen, verändernden Kräfte werden schwächer;
eine neue Harmonie wird gewonnen, ein neues Gleichgewicht stellt sich her. Dabei
können die sich bildenden Typen den überwundenen recht ähnlich
sein. Das führt zu, oft verblüffenden, Wiederholungen innerhalb der
Stufungen, zu einerAuffrischung alter Prinzipien. Das wiederum ist die Strecke,
auf der die Revolutionäre abspringen oder die Revolution ihre Kinder verschlingt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 609 |
Inwiefern ist der Mensch
für seine Evolution verantwortlich? Inwieweit kann erkontrollieren, ob, vor
allem hinsichtlich der Freiheit, sein Fortschreiten ein Aufwärtsschreiten,
ein Stillstand oder ein Rückschreiten ist? Und woran kann dieseVerantwortung
sich heften inmitten der Einsamkeit der Wüste, im götterleeren Raum?
Erwägungen, Hoffnungen, Befürchtungen, Konzepte dieser Art haben Nietzsche
als ersten bewegt und heftig erschüttert; das war sein Schicksal, bleibt
sein Verdienst. Die Verantwortung behielt er dem »höheren« Menschen
vor.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 609 |
Kehren wir nochmals zum
Bild des Bahnhofes zurück. Es wäre denkbar, daß der Zug ohne den
Menschen weiterfährt, der über seinen Geschäften die Abfahrt versäumt.
Es wäre auch denkbar, daß der Mensch auf ein Nebengeleis geschobenwird.
Das wäre eine Bewegung, wie sie im Lauf der Erdgeschichte schon oftmals stattgefunden.
Befürchtungen in dieser Hinsicht mehren sich - Vermutungen, daß Formen
der Verhärtung, Verholzung, Versteinerung drohen. Das Leben läßt
in solchen Fällen seine Maske zurück. In jedem Tiergarten hat man diesen
Eindruck starrer, oftwundervoller, unwandelbarer Perfektion.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 609-610 |
Erstarrung droht heute
durch die Ratio mit ihrer präzisen, unbarmherzigenMaßgebung, vor allem
im technischen Bereich. Der Vergleich mit dem Insektenreich und insbesondere mit
seinen staatenbildenden Arten liegt daher nah. Er gibt einen guten Beleg für
die erwähnte Wiederkehr der Prinzipien.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 610 |
Auf den verschiedensten
Stufen setzt das Leben zu solchen Lösungen an. Zu den gemeinsamen Kennzeichen
gehören Staaten-, Stock- und Koloniebildung, Schaffung von biologischen Klassen,
die stärker differenzieren als soziale und ökonomische, Spezialisierung
und Sozialisierung des Geschlechtlichen, kollektive Brutfürsorge, Großbauten,
Speicherwirtschaft und anderes. Es muß sich hier um ein großes undständiges
Anliegen handeln, das sich bereits an den frühesten Formen erprobt undmit
ihnen experimentiert.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 610 |
Wir berühren die Gene
der Pflanzen, der Tiere und auch des Menschen vorerst wie Einzelsteinchen, wie
Tasten eines Instruments, doch ist vorauszusehen, daß es bei diesem Spiel
zu ungeahnten Kompositionen kommen wird. Vorerst scheint die Konstanz, die genetische
Unantastbarkeit der Arten nochdurch sehr starke Riegel geschützt. Sie würden
wohl kaum zu brechen sein, wennnicht das Ungesonderte von der anderen Seite der
Mauer aus mit anhöbe. Wenn hier die Sonderungen fallen, werden Dinge möglich,
von denen man sich auchheute noch nichts träumen läßt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 612-613 |
Möglich ist bereits
heute, daß ein Vater mehr Kinder als der König Priamus hat. Die Lösung
ist auch in den Insektenstaaten vorgebildet, wo ein Männchen die Königin
begattet, die Tausende gebiert. Daß nach einem unausgesprochenen, aberstarken
Gesetz der Name des Vaters verheimlicht, tabuiert werden muß, gehört
in eine andere Kette von Erwägungen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 613 |
Zu den Kriterien des Staatsplanes
zählt auch Friedrich Georg Jüngers »Perfektion der Technik«,
ein unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossenes Werk (weil
die Hanseatische Verlagsanstalt die Publikation nicht hatte riskieren wollen,
erschien das Werk erst 1946! HB), das den technischen Fortschritt vor allem
nach der Glücksseite hindurchrechnet.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 613 |
Das Gemeinsame dieser Verwahrungen
liegt darin, daß der musische Mensch aus der ihm eingeborenen Freiheit heraus
gegen die reine Anwendung des logischen Kalküls Einspruch erhebt, wobei er
sich eines starken wissenschaftlichen Rüstzeuges bedient. Hinzu kommt, was
beim Kalkül vermißt wird: die Wahrnehmung des Verlustes und seine Wertung
vom musischen, metaphysischen oder theologischen Standort aus.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 613 |
Wie bei den staatenbildenden
Tieren einige für alle Geschlechttragen, so haben einige für viele Freiheit
im Menschenstand. Sokrates war nicht für sich allein frei; seine Freiheit
wirkte für viele und wirkt bis heute nach.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 615 |
Der Mensch als Spezies bewegt
sich in der unsichtbaren Masse des Eisberges,determiniert, instinkthaft, wobei
im Sinne der Determination auch die Intelligenz,selbst in ihren schärfsten
Ausprägungen, zu den Instinkten zählt. Um das paradox zur Anschauung
zu bringen, hat Dostojewski seinen »Idioten« zur Darstellung des höheren
Typus gewählt. Die Intelligenz kann Freiheit, die viel tiefer und höherwohnt,
nicht schaffen, wohl aber ihr Arsenal füllen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 615-616 |
Geistige Freiheit kennzeichnet
die Menschenart. Man findet sie bei ihr allein. Politisches Wesen, Staatenbildung
dagegen ist kein dem Menschen vorbehaltenes Kennzeichen. Der Mensch hat lange
ohne Staaten gelebt und wird vielleicht wiederdazu fähig sein. Die Fähigkeit
zur Staatenbildung ist an einem gewissen Punkte seiner Entwicklung an ihn als
Bildungsprinzip herangetragen worden, so wie das auch bei anderen Spezies geschehen
ist.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 616 |
Die Bildungsprinzipien wiederholen
sich, wenn sie einmal mit dem Leben verknüpft waren. Sie schweben als Keime,
als Möglichkeiten in seinem ungesonderten Fluß. So erklären sich
die stets wiederholten Ansätze zur Staatenbildung von den Coelenteraten,
ja von den Urtieren an. Freiheit im geistigen Sinne trat erst mit dem Menschen
in den Fluß des Lebens ein. Von nun an kann auch die Freiheit nichtverloren
gehen. In dieser Hinsicht dürfen wir Hegel zustimmen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 616 |
Andererseits ist die Wahrung
der Freiheit menschliche Aufgabe. Sie geht, da sie das Humane stärker kennzeichnet
als die Staatenbildung, der Wahrung des Staates voran. Nicht der Staat kann daher
die Freiheit garantieren, sondern nur der Mensch selbst. Das schließt nicht
aus, daß er sich auch des Staates in dieser Absicht bedient.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 616 |
Wenn der Zug abfährt,
ist es möglich, daß er nur wenige Reisende mitführt nur
jene, die die Stunde nicht versäumt haben. Es wäre auch möglich,
daß die meisten die Stunde versäumen wollen, weil ihnen die Station
angenehmer, heimischer, vertrauter erscheint als die Fahrt. Ein ähnliches
Schema muß Nietzsche vorgeschwebt haben, als er das Bild vom »Übermenschen«
und vom »Letzten Menschen« entwarf. Daß er das Mitleid alsUnterscheidungsmerkmal
einführte, ist ein genialer, weidlich mißverstandener Zug. Terminologisch
gesehen ist das Wort vom Letzten Menschen glücklicher als das vom Übermenschen
gewählt, unter dem wir hier den Typus verstehen, dem der Austritt aus der
Geschichte gelingt. Das ist die Aufgabe, um sie dreht sich die Bewegung an der
Zeitmauer.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 616-617 |
Der Übermensch
kann nicht ohne den Letzten, das heißt: den reduzierten Menschen gedacht
werden. Es kommt darauf an um ein allzu bekannt geworden es Wort Gottfried
Benns zu verwenden was einer aus seinem Nihilismus macht.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 617 |
Um zur Station zurückzukehren:
Der Zug wird abfahren, gleichviel ob wenig inihm sitzen oder viele; die Bremsen
sind gelöst. Er wird auch abfahren, wenn überhaupt kein Mensch in ihm
sitzt. Das entspräche einem Großteil der heutigen Befürchtungen.
Aber dann kann auch von der Station keine Rede mehr sein. Der Geschichtsphilosoph
kann seine Betrachtungen abschließen. Nicht so der Metaphysiker. Sein Standort
kann von bloßen Kategorien der Bewegung, von Fortschritt und Rückschritt,
Revolution und Reaktion, Aufgang und Untergang nicht berührt werden, falls
er seinen Namen verdient. Darin gleicht er dem Christen in seiner besten Zeit.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 617 |
Es konnte nicht ausbleiben,
daß das Verhältnis des »Übermenschen« zu den »Vielzuvielen«
als Versuch einer Wiedereinführung der Sklaverei interpretiert wurde. Abgesehen
davon, daß solche Versuche heute aus ganz anderer Richtung kommen, hat man
über Nietzsche alle Dummheiten gehört, die denkbar sind, und dazu noch
eine Anzahl solcher, die unausdenkbar sind. Daß er durch Deutschlands Schicksalsstunde
in Mitleidenschaft gezogen, nach jeder Richtung verfälscht, verdächtigt
wurde, berührt sein Werk nicht; es bleibt ein Intelligenztest an der Zeitwende,
und noch einiges mehr. Ihn ortet nicht die Kritik, sie rangiert sich an ihm.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 617-618 |
Der neue Typus ist nicht
der kommende Großherr, sondern er gibt den »Vielzuvielen« ihre
Würde, ihre Bedeutung zurück. Ein Gerechter hätte Sodom
gerettet und säße in unserem Zuge nur ein Einzelner, der ein
neues Ziel erreichte, so wäre damit auch Myriaden auf der Station Verbliebener
gedient.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 618 |
Noch einmal zum Eisberg:
Der große Schub findet im Unsichtbaren, im Unbewußten, in der blinden
Masse statt. Das gilt auch dort, wo der Staat als Promotor erscheint. Vielen,
die sich mit Nietzsches Vision beschäftigt haben, wird seine Mißachtung
des Staates aufgefallen sein. Wie kann ein Krieger staatsfeindlich sein? Er sah
im Staat den Drachen, das tausendschuppige Ungeheuer, also Hobbes Leviathan.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 618 |
Indessen gehört die
Rolle, die wir dem Staat zuschreiben, zu den optischen Täuschungen auf der
Station. Es sind nicht die Staaten, die den Schub bewirken, sondern der Schub
treibt auch die Staaten vor. Der Geist erstaunt über die Funktionen und Blendwerke,
die diese Bewegung hervorzubringen scheinen, aber er staunt auchüber die
Wirkungen, und er erschrickt bei dem Gedanken, daß diese Mischung sich im
Weltstaat noch akkumulieren wird.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 618 |
Auch das sah Nietzsche voraus,
und auch die Zersprengung des Weltstaates infolge der Akkumulation. Doch das sind
fernere Sorgen, sie berühren uns nicht. Da sich Wörter wie »Krieg«
und »Frieden« ändern, ist es wahrscheinlich, daß sich jenseits
der Zeitmauer auch Wörter wie »Staat« ändern. Vermutlich
wird der Weltstaat einen Status, eine Station bezeichnen, deren Formen und deren
Dauer nicht abzusehen sind. Die absolute Zeitrechnung kennt längere Rhythmen
als die historische. Es ist zu vermuten, daß die »Große Fahrt«
nur Augenblicke in Anspruch nimmt, zwischen die sich unvorstellbar lange Pausen
einschieben. Die Erde trägt, wie Bohrungen erwiesen haben, Korallenstöcke,
deren Gründung bis auf das Eozoikum (heute nennt man
es Proterozoikum; HB) zurückgeht, die Morgenröte nicht
der Geschichte, sondern des Lebens überhaupt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 618-619 |
Daß Nietzsche
dem Staat abhold sein mußte und darin trifft er sich mit einem Antipoden
wie Rousseau ist eine Frage des Standortes. Im Staate kann und darf nicht
volle Willensfreiheit sein. Wer letzte Dinge zu sagen hat, muß außerhalb
des Staates stehen, das ist sein Kennzeichen. Es ist sein Schicksal und, wo die
Sterne zwingen, sein Untergang.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 619 |
Bei Nietzsche wird das deutlich;
er hat das Leben eines Unbehausten, in Hölderlins Sinne Unstädtischen,
geführt. Er hat sich inmitten des 19. Jahrhunderts in der Landschaft bewegt,
in der erdgeistige Seher wie Chiron und Melampus heimisch gewesen sind. Adler
und Schlange: das ist kentaurischer Geist, ist große, erdgeistige Wiederkehr.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 619 |
Das ist das Schauspiel am
Abgrund, hoch auf der geschichteten Mauer, die »Geschichte« heißt:
daß der Mensch sich nicht nur zum Sprung gezwungen sieht, sondern daß
er ihn sogar wagen will. Damit verändern sich sowohl Determination wie Evolution.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 619 |
Der Mensch fühlt, daß
ihm als Menschen die Vernichtung droht. Oft zeichnete der Mythos dieses Schicksal
vor. Legt aber der Mensch das Menschliche ab wie eine verbrauchte Maske, ein verschlissenes
Gewand, so droht ihm Schlimmeres. Es droht das Schicksal der Ehernen Schlange,
droht die Vererzung in zoologischen, magischen, titanischen Ordnungen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 619 |
Wir sahen, daß von
Willensfreiheit nur auf einer schmalen Kuppe gesprochen werden kann. Doch gerade
hier wird entschieden, was unentbehrlich ist bei der Verwandlung, wertvoller als
Leben, und nicht geopfert werden darf. Solange in dieser Hinsicht Zweifel herrschen,
aber auch solange sie noch nicht geherrscht haben, sind wir noch innerhalb der
nihilistischen Passage, diesseits der Linie.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 619 |
Der Mensch kann nicht darüber
entscheiden, was an archaischer und mythischer Substanz, wohl aber darüber,
was an geschichtlich-humanem Erbe mitgenommen wird. Hier spricht Bewußtsein
mit, und damit Verantwortung. Das kann auch Reinigung bedeuten, indem es zugleich
möglich erscheint, daß historisch-politische Elemente der Selektion
zum Opfer fallen und als überwunden zurückbleiben, vielleicht sogar
der Staat. Darin vollzieht sich mehr und Schmerzhafteres als im bloßen Wechsel
moralischer Anschauungen, wie ihn die Panik erzeugt. Sie ist kein Zoll für
den Eintritt in die transhistorische Welt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 620 |
In einem Hause, das für
tausend Jahr gebaut wird, herrscht größere Sicherheit als in einem
anderen, das kaum ein kurzes Menschenalter währt. Da sind Türme und
starke Gerüste; die Zeit läuft dort langsamer. Man hat es wieder gesehen.
Und wo die Zeit bewegt wird, wo sie, wie an der Zeitmauer, brandet, werfen sich
die Menschen in den Glauben wie auf ein Rettungsfloß. Ob den Kirchen damit
gedient ist, bleibt eine andere Frage; zu ihrem Verdienst gehört es auf jeden
Fall, auch wenn diese neuen Gläubigen nicht für sie in die Arena treten
wie Polykarp.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 624 |
Was Spengler die »Zweite Religiosität« nannte,
ist eng mit der décadence verflochten .... Es gibt nicht nur eine
zweite Religiosität; es gibt auch eine zweite décadence. In
ihrer ersten Phase beschleunigt décadence die Katastrophe, indem
die feineren Geister in ihrer Verantwortung ermatten und sich von den
Führungsdisziplinen abwenden. Sie wenden sich esoterischen und exotischen
Dingen zu und folgen höheren Spieltrieben. Huysmans »A
Rebours« ist dafür eine Fundgrube. Ohne Zweifel hat Plato aus
solchen Gründen den Künstler ungern in seinem Staate gesehen.
Spengler folgt ihm darin. In ihrer zweiten Phase jedoch, nach den Kulminationspunkten,
nimmt die décadence retardierenden Charakter an. .... In ihrer
zweiten Phase sträubt sich die décadence dagegen, daß
alles bis in die letzte Faser politisiert und in Bewegung verwandelt wird.
Sie trägt durch ihr Werk dazu bei. Einfach gesprochen: die Müdigkeit
ist vor Mittag bedenklich, am Abend begrüßenswert.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 624 |
Wo der Arbeiter zur Herrschaft
vordringt, werden die Dinge einfacher. Es sei daran erinnert, daß unter
diesem Worte keine empirisch-historische Größe verstanden wird, sondern
eine metaphysische Gestalt. Sie prägt die neue Welt und ihre Formen in einem
Auftrag, der zunächst nur aus den Übergängen zu erraten ist, aus
der Werkstättenlandschaft, den Plänen der Bauhütte. Oder, um auf
das Bild des Zuges zurückzugreifen: der rasche Wechsel der Perspektive erklärt
sich daraus, daß wir in Fahrt gekommen sind. Ein solches Zeitalter kann
nicht ohne Zerstörung sein. Daher gehört der Schmerz zu seinen Kennzeichen.
Er gibt der Bewegung Widerstand und Schatten, baut Opfer in die Fundamente, erteilt
Sanktionen und tritt auf Strecken in die Stelleder Werte ein.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 631-632 |
Mit Recht hat man im
Rationalismus von jeher die zerstörende Hauptmacht gesehen. Er wirft die
Flutwelle mit dem leuchtenden Kamm, der kein Gebäude standhält und in
der sich Aufklärung und Wissen vereinigen. Von hier aus wird der erste Angriff
geführt, der innere Leere schafft und der Entzauberung, Entweihung, Entheiligung
bringt. Er kann aber nicht aus sich wirken, sondern nur nach erfüllter Zeit,
sowohl abräumend wie voreilend. Die Aufklärung eilt wie eine Luftwelle
dem Materialismus voran, bewegt Danton wie Friedrich, zerstört die feineren
Gefüge; die sichtbaren Gebäude stürzen nach. Es ist nur der erste
Streich, der ... das Standbild des Königs trifft. Die anderen fallen auf
den Marmorblock. Wenn wir heute die herrschende Lehre als Materialismus bezeichnen,
so drückt sich darin aus, daß die Aufklärung im großen und
ganzen ihre Rolle beendet hat. Sie spielt sie auf Randflächen, in »un-
und unterentwickelten Gebieten« in Form blitzschneller Abräumungen
fort. Das ist nicht nur ein Zeichen vorgeschrittener Zeit und der Schwerkraft
von Großräumen, sondern an sich und in sich gesteigerter und ununterbrochen
sich steigernder Macht, von Erdmacht schlechthin. Der Materialismus ist Gürtel
und Gorgonenhaupt des Arbeiters. Die mythischen Bilder sind am Platze; keine historische
Macht kann der Erdmacht standhalten.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 632 |
Auch am Materialismus ist
zu unterscheiden zwischen seiner sichtbaren und seiner unsichtbaren Macht, zwischen
seiner Oberflächen- und seiner Grundströmung, zwischen der Art, in der
er durch Menschen vertreten und begründet wird, und seinem schicksalhaften
Zug. Die große Gewalt, mit der er auf dem Erdkreis »mit dem Hammer«
die alten Gesetze bricht, deutet auf einen stärkeren Auftrag als den rationalen
hin. Daraus eben erklärt sich, daß er mit stets wachsender Gewalt seinen
Siegeszug fortsetzt, obwohl die Theorien, die ihn vertreten, so oft und so gründlich
durch glänzende konservative Geister widerlegt worden sind. Aber widerlegt
man denn ein Erdbeben? Eher baut man die Städte um. Hier wiederholt sich
das Schauspiel, daß der Geist, und insbesondere der gebildete Geist, eine
Veränderung deshalb unterschätzt, weil sie nicht in seine Kategorien
paßt. Aber er kann nicht durchdringen, weil die Kategorien selbst, etwa
seine Kultur oder sein Geschichtsbild, erschüttert sind. Nun greifen die
bewährten Mittel nicht mehr. So sah der Mandarin die weißen Teufel
in den Häfen landen, so sah dergebildete Grieche die ersten Christen, das
Zeichen des Fisches, an.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 634 |
Bei einer Sintflut gewinnt
die Unterhaltung über die Statik historischen Charakter; man muß sich
jetzt mit der Nautik beschäftigen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 634 |
Der Materialismus wird von
seinen Gegnern mit den Beinamen »flach« oder »platt« versehen.
Das gilt auch für seine Oberfläche, seinen sichtbaren Teil, auf dem
er als eine Kategorie des Rationalismus erscheint. Jedoch in der also erkannten
und auch geglaubten Materie verbirgt sich mehr und anderes. Sie scheint notwendig
flacher, wo sie »begründet« wird. Sie spricht durch Tatsachen,
durch Wunder sogar. Der Verstand hat sich hier auf eine Begegnung, auf ein Abenteuer
eingelassen, dessen Folgen unabsehbar sind. Sie sind auch unausweichlich, und
zwar deshalb, weil die Materie, die Erde als Mutter, von sich aus sich zu regen
beginnt und der Mensch als ihr Sohn diese Regung begreift. Diese Regung und dieses
Begreifen dürfen wir nicht in Ursache und Wirkung auflösen. Wir müssen
es eher im spiegelbildlichen Nebeneinander als im zeitlichen Nacheinander sehen.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 635 |
Daß beides den Vater
gefährdet, leuchtet ein. Von hier aus erklärt sich, daß die personalen
Götter auf dem Rückzug sind, und zwar nicht, wie oftmals, in Regionen,
sondern auf dem Erdball überhaupt. Es erklärt sich, daß die wiederhergestellte
Monarchie ein immer schlechteres augurium hat und daß demokratische Formen
auf unabsehbare Zeit vorherrschen werden, vom Weltregiment bis hinab in die kleinsten
Zellen, bis in die Familie. Es erklärt sich, daß die Gefahr der Nationalkriege
sich verringern, die der Bürgerkriege und Rassenzwiste dagegen wachsen wird.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 635 |
Die vaterrechtlichen Bindungen
müssen zugunsten der matriarchalen an Macht verlieren, und das schon deshalb,
weil die Mutter von sich aus den Urgrund verkörpert, aus ihm gebiert. Entsprechend
müssen der Heroenkult und die Bedeutung der geschichtlichen Person abnehmen.
Titanische Kräfte nehmen zu; eines der Anzeichen dafür ist, daß
der Techniker den Soldaten aus seiner Rolle drängt. Die Todesstrafe verliert
ihre Begründung, während der Mord ohne Gründe gedeiht. Mächtige
Mörder tauchen auf.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 635 |
Die Grenzen schwinden, und
damit schmelzen sehr alte Sonderungen ein. Die Menschen werden sich ähnlicher,
nicht nur im Weltstil des Denkens und Handelns, sondern auch im Habitus. Das Wort
»Mensch« gewinnt eine Bedeutung, die ihm bisher nur in der Idee, im
Kultus oder im Mythos zugeteilt werden konnte, auf unmittelbare, tatsächliche
Art. Zugleich verliert es andere, historische Bedeutungen. Die dynamischen, auch
die eruptiven, Vorgänge nehmen zu; die Strahlung dringt tief in den Kosmos
ein. In der Raumfahrt wird die Beschleunigung astronomisch, die Erde zum Mutterschiff.
Überhaupt wird die Erscheinung ambivalent in der Weise, daß statistische
und dynamische Vorstellungen ununterscheidbar werden, wie das besonders in der
Theorie des Lichtes sich vexierend ausdrückt das entspricht der Situation
an der Zeitmauer. Ein Wissen, das sich stündlich ändert, zeugt nicht
für Fortschritt, sondern für Übergang.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 636 |
Um das Nichts zu wollen,
muß man zunächst nicht wollen. Das trifft nicht für unseren Nihilismus
zu. Er will nicht das Nichts, er will ein Etwas nicht: die väterliche Macht.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 636-637 |
Ist der Umsturz gelungen,
so folgt ihm eine kurze, aber bedeutende Spanne, in der alles möglich ist.
Der Urgrund stellt sich als Chaos dar. Dieser Begegnung ist wohl der Anarchist
gewachsen als Sohn der Erde und als Erdverehrer, nicht aber der Nihilist, dessen
Trachten an der Institution haftet, die er ... zu zerstören vermag, doch
die ihn unter ihren Trümmern begräbt. Das ist der Unterschied zwischen
dem Natürlichen und dem Verlorenen Sohn, zwischen Mutter- und Vaterkind.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 637 |
Daß darüber hinaus
der Nihilismus sich sehr wohl mit den entleerten und zu reinen Apparaturen gewordenen
Institutionen verträgt, hat die jüngste Erfahrung gezeigt. Er kann dort
freilich immer nur interimistisch auftreten so lange, wieAbräumung
zum Weltplan gehört. Ist diese vollzogen, so endet auch sein Auftrag
das wird besonders deutlich in jenen Fällen, in denen er sich als Letzten
selbst aus dem Weg räumt und tabula rasa hinterläßt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 637 |
Wir wiederholen das, weil
es hinsichtlich der den Staat als die Institution der Institutionen betreffenden
Prognosen wichtig ist. Wenn es nämlich zutrifft, daß der Urgrund sich
aufwölbt, so müßte notwendig die Bedeutung des Staates, wie die
jeder Heroengründung, im Verhältnis abnehmen. Augenscheinlich ist aber
das Gegenteil der Fall.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 637 |
Der Widerspruch löst
sich, wenn wir die Gebilde, die uns zur Zeit erstaunen und beunruhigen, als Verdichtung
finaler Anstrengungen sehen. Im Augenblick, in dem die Erde als solche ihre Ordnung
findet, muß sowohl die Bedeutung der Grenzen wie auch der Staaten dahinschwinden.
Das Wesen des Staates wird vor allem dadurch bestimmt, daß es andere Staaten
gibt. Das führt, besonders an den Grenzen, zu spiegelbildlichen Erscheinungen.
Wenn wir die planetarische Ordnung den Weltstaat nennen, so ist das ein Name ohne
Inhalt, denn es ist vorauszusehen, daß er mit den historischen Staaten wenig
gemein haben wird.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 637 |
Wenn man den Staat als die
Institution der Institutionen betrachtet, so braucht er deswegen nicht die machina
machinarum zu sein. Die technische Entwicklung ist auf den Staat nicht angewiesen,
vor allem, wenn sie von der Rüstung entlastet wird.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 637-638 |
Daß Nietzsche
in dieser schwierigen Frage schon früh zwischen seinem Übermenschen
und dem Staat als Ungeheuer unterschieden hat, spricht, wie gesagt, für die
Schärfe seines prognostischen Blicks.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 638 |
Wo der Verstand dem Urphänomen
begegnet, stößt er auf Stärkeres. Hier muß er haltmachen;
hier kann ihm ein Damaskus zuteil werden. Erst hier erfährt der Trieb, der
ihn bewegte, die wahre Befriedigung. »Denn alle Lust will Ewigkeit.«
Das gilt auch für das Wissen und seine Unersättlichkeit. Dort endet
die faustische Welt.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 641 |
Die Erde hat aus ihrem Urgrund
schon oftmals neue Gestalten hervorgebracht.Wenn sie sich dazu nun des Menschen
als ihres klügsten Sohnes bedient, ist die Gefahr prometheischer Bildungen
und ihres Schicksals groß. Sie wächst im götterleeren Raum, der
zu den Voraussetzungen eines großen Gestaltwandelsgehört.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 643-644 |
Der echte Partner der Erde ist nicht der Verstand mit seinen titanischen
Plänen, sondern der Geist als kosmische Macht. Bei allen Erwägungen
des Zeitgeschehens spielt daher eine große Rolle die mehr oder minder
ausgesprochene Hoffnung, daß höhere Geisteskräfte die
gewaltige Bewegung zügeln und sich ihrer wohltätig bemächtigen.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 644 |
In diesem Zusammenhange stößt man immer wieder auf
einen der großen Seher des Abendlandes, Joachim von Fiore, und seine
Lehre von den Weltaltern. Joachim von Fiore lebte von 1130 bis 1202. Seine
Weissagung hat auf theologische und geschichtsphilosophische Systeme,
bis zu dem von Spengler, bedeutend gewirkt. Den großen Zeitaltern
des Vaters und des Sohnes soll ein drittes folgen, in dem der Geist als
neue, unmittelbare Manifestation des Göttlichen auf das Geschehen
wirkt. Erst dieser dritten Phase, die große Wirren einleiten, folgt
das Weltende. In dieser joachitischen Dreizeitenlehre beginnt die initiatio
einer Epoche bereits um viele Generationen früher, so die des Geistes
mit den abendländischen Mönchsorden. In der ersten Phase der
Trilogie geschehen die Dinge carnaliter, in der zweiten literalter
und in der dritten spiritualiter. Für die erste gilt das Alte,
für die zweite das Neue Testament, während der dritten Phase
das geschriebene Evangelium fehlt. In unserem Zusammenhang ließe
sich für »literaliter« das Wort »historisch«
einsetzen.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 644 |
Eine neue Phase des Christentums verkündet auch Schubart,
der im letzten Krieg in Rußland verschollen ist. In seinem Buche
»Europa und die Seele des Ostens« entwickelt er die Ansicht,
daß die Ostkirche ein drittes, das johanneische, Christentum hervorbringen
wird. Ein Drittes Testament mit dem Bild einer neuen Erde deutet sich
in der Johannesoffenbarung an. Rußland soll eine große Rolle
dabei spielen; die Namen von unbekannten Märtyrern werden wie Sterne
in der Dunkelheit aufleuchten.
Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 644 |
Desgleichen sind die Astrologen
vom Anbruch einer geistigen Epoche überzeugt. Nach ihnen steht das Zeitalter
des Vaters unter dem Zeichen des Widders, das des Sohnes unter dem der Fische,
während mit dem Zeichen des Wassermannes, in das wir jetzt eingetreten sein
sollen, eine Großzeit des Geistes beginnt. Die Aufklärrung ging ihm
als Morgendämmerung voraus.Ernst
Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 644-645 |
Die Parteien wechseln,
und die Verfolgung bleibt. Die Justiz folgt der Politik wie die Geier den Heerzügen.
Mutig sind alle gegen den, der am Boden liegt.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 323 |
Die Parteien wollen nicht
wissen, was ihnen gemeinsam ist; sie wollen in ihren Irrtümern bestärkt
werden.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 324 |
Die Arbeitswelt erwartet,
erhofft ihre Sinngebung.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 325 |
Nicht die romantische Auflehnung,
sondern die Skepsis innerhalb der Technik wäre ihr Krebsschaden. In irgendeiner
Zukunft beginnen die Naturwissenschaften zu langweilen oder setzen sich andere
Aufgaben. Ein Schleierder Maja verblaßt.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 325-326 |
Der »Weltstaat«
behandelt das Problem des Überganges der Gestalt des Arbeiters von planetarischer
Macht zu planetarischer Ordnung einer Konsolidierung, die sich mit Sicherheit
voraussagen läßt. Sie wird das Zeitalter der kämpfenden Staaten
abschließen.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 332 |
Kant kam über die Bannmeile
von Königsberg nicht hinaus. Schopenhauer wähnte die kantische Philosophie
zuvollenden, indem er den Willen als das Ding an sich setzte. Daher rührt
sein enormer Einfluß auf im klassischen Sinn atypische Geister wie Burckhardt,
Huysmans, Nietzsche, Wagner und zahllose andere, die schon verschollen sind. Ihn
zu zitieren, gehört heute in unserem geistigen Mezzanin zum schlechten Stil.
Das bestätigt unter anderem einige seiner Aphorismen, wie jenen, daß
alle Dummköpfe einig werden, sobald ein Mensch von überlegener Intelligenz
auftaucht.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 343 |
Nach jeder großen
Niederlage meinen die Söhne, daß der Vater sie umsonst geopfert hat.
Der Unmut der deutschen Jugend nach dem Ersten Weltkrieg gegen den »Bürger«
erklärt sich indessen nicht aus der Situation allein. Mehr oder weniger deutlich
wurde gesehen, daß nicht neue Konstellationen, sondern neue Prinzipien nottaten.
Daß sie weder von der Rechten noch von der Linken verwirklicht wurden, gehört
zum deutschen Schicksal und bestätigt die Erfahrung, daß hier seit
jeher die großen Fragen in der Schwebe geblieben sind, wie Nietzsche uns
das in heftigster Weise vorgeworfen hat.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 344 |
Angesichts eines Versagens,
das sich seit den Staufern so offensichtlich wiederholt, wäre zu fragen,
ob hier nicht weniger Eigenschaften des Charakters als solche der Lage mitsprechen.
So wirken die Gesetze der Waage in der Mitte anders als anden Rändern, und
auch verborgener. Viel von dem, was hier geplant, entworfen, entdeckt, erfunden
wurde, sah man an anderen Orten ausgeführt. Dem großen Haushalt kommt
das hier wie dort zugut.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 345 |
Nietzsches »Ecce homo«
vom Jahre 1888 gibt mehr als eine großartige Lagebeurteilung. Ein Schicksal
wird erfaßt, erlitten, nicht nur durch Einsicht, sondern in den Atomen,
auf atmosphärische Art. Die Luft wird dünner, schwerer zu atmen, doch
die Gebirge treten deutlicher heran. Grandiose Fehlurteile halten sich im Stil.
Dazwischen Reminiszenzen an Zeitungskritiken, ein versäumtes Rendezvous.
Das ist ein Erdenrest, ein menschlicher Zug.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 346 |
Man sieht den einen, der
dem tausendfachen Mörder kein Haar zu krümmen wagt, als Zeitgenossen
des andern, dessen Gewissen der tausendfache Mord nicht trübt und
weiß dann, was die Stunde geschlagen hat.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 348 |
Hierher der Heilsarmeestil
der Generale, der Altetantenstil der Philosophen, der Sammethandschuhstil der
Pädagogen in einer Welt der Gewalt, der Gehässigkeit, der unbarmherzigen
Prüfungen als genaue Entsprechung von Nichthandeln und Handeln oder
von Furcht und Schrecken überhaupt. Dies aber sine ira et studio, letzthin
mit Wohlwollen und ohne in Nietzsches Fehler zu verfallen, als Amoralist dreimal
soviel zu moralisieren wie alle anderen. Vor dieser Flut, in dieser Wende handelt
keiner ganz richtig und keiner ganz verkehrt. Viel wichtiger als nachzurechten
ist nachzurechnen wie Forschung der Wertung vorangeht, so topographisches
Bemühen der Rechtsordnung.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 348 |
Man muß entweder eine
Position ausbauen oder im Sprung eine neue erreichen; man kann Zeit gewinnen,
indem man sie dehnt oder indem man sie komprimiert. Nach Clausewitz ist die Verteidigung
die stärkere Form. Diese These gilt jedoch nur von Abschnitt zu Abschnitt,
denn die absolute Zeit läuft weiter, und wohl oder übel muß jeder
nach ihr die Uhr stellen.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 349 |
Es mag als Verlust erscheinen,
daß die geistige Souveränität vereinzelt wurde und daß,
wenn man noch sagen will, daß Denken die Welt regiere, es doch ein sehr
spezielles Denken geworden ist. Die Ausmünzung der Hegelschen Philosophie
und die dominierende, ja schicksalhafte Bedeutung, die die exakten Naturwissenschaften
gewonnen haben, sind Beispiele.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 356 |
Das Denken schafft ohne
Zweifel Tatsachen; aber dann sind es Tatsachen, die zu denken geben und immer
näher rücken, bis ihnen das Denken den Vortritt gibt. Es folgt den Ereignissen,
zuletzt dem Tageslauf. So nehmen die Philosophen das Atom an, wie es ihnen von
den Physikern geliefert wird. Schon Nietzsche überlegte, und zwar in einem
ziemlich späten Abschnitt, ob er nicht noch zehn Jahr Naturwissenschaften
studieren sollte ohne Zweifel in einem schwachen Augenblick. Man zäumt
das Pferd nicht am Schwanze auf.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 356 |
Wenn Overbeck sagte: »Nietzsche
ist als Gelehrter gar nicht ernst zu nehmen, als Denker gar sehr«, so war
das kritisch gemeint. Es ist aber das Beste, was man von einem Geist sagen kann,
der sich nicht von den Texten, sondern aus der Quelle nährt. Entweder bleibt
der Philosoph auf der Grundlinie des Denkens, von der auch die stärksten
Entwicklungen der Wissenschaften nur Seitentriebe sind, oder er degradiert sich
zum bloßen Handlanger von Banausen, zuletzt auch der politischen Freibeuter.
Durch bloßes Wissen hält keiner stand.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 356 |
Geistige Freiheit wird nicht
gewährt; sie ist vorhanden oder fehlt. Geistige Freiheit wird auch nicht
gefordert, sondern sie wird bewiesen, und davon lebt die Welt. Nichts ist einfacher
als dieser Nachweis, doch auch nichts schwieriger. Was jeder könnte, wer
vermags?Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 356 |
Alle drängen sich,
mit Sokrates auf der Bank der Spötter zu sitzen, doch werden die Reihen lichter,
wenn es gilt, ihn wie Xenophon mit Schild und Schwert zu begleiten, und wenn gar
der Becher gereicht wird, leert sich der Saal.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 356-357 |
Daß Einzeldisziplinen
direkt und unkontrolliert eingreifen, ist ein Zeichen dafür, daß sich
das Zentrum der Aktion verschoben hat. Sie läßt sich daher auch mit
den klassischen Mitteln nicht mehr einfangen.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 357 |
In jedem großen Mathematiker
verbirgt sich ein Metaphysiker.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 360 |
Daß Arbeits- und Freizeit,
Produktion und Konsum sich immer weniger auf verschiedene Schichten verteilen,
sondern von ein und demselben Typus getragen werden, ist eine Tatsache, der sich
die Verwendung der Zeit und auch der Mittel allmählich, aber von Grund auf
anpassen wird.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 367 |
Heinrich der Löwe und
Barbarossa, Luther und Erasmus, Ritter und Bauern, Kaiser und Landesfürsten,
Union und Liga, Paulskirche und Krone, Ost und West - alte und neue Fragen, doch
immer zu spät oder ungenügend und nie ohne Einbuße beantwortet.
Jedes Jahrhundert stellt sie auf seine Weise in neuen überraschenden Gewändern
- und die des unseren lautet, ob die Gestalt des Arbeiters überzeugend vertreten
wird oder nicht. Auch sie wurde weder 1918 noch 1933 noch 1945 hinreichend beantwortet.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 373 |
Zunächst muß
das Wort »Arbeiter« neu konzipiert, es muß in und hinter ihm
die Mutation erkannt werden, die viele Begriffe und Einrichtungen des 19. Jahrhunderts
erleiden - eine Verwandlung, die der Entfaltung der Imago aus der Puppe gleicht.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 373 |
Allerdings ist es viel leichter, einem denkenden Menschen
einen neuen Gedanken mitzuteilen als die Ansicht eines Bildes, das überraschend
erscheint. Er sieht dasselbe, doch nicht auf gleiche Art. Das gilt auch
für Köpfe vom Range Oswald Spenglers, wie ich durch einen Brief
vom 25. September 1932 erfuhr, der inzwischen in seiner Korrespondenz
veröffentlicht worden ist. Er beurteilte darin den »Arbeiter«
vom antimarxistischen, also von einem überholten, Standort aus, indem
er sich speziell auf den Bauern und dessen Zukunft berief. Das war wohl
mehr als eine Generationsfrage. Es ist ein Unterschied von Anbeginn, ob
man Ideen oder Gestalten sieht. Dessen haben mich die dreißig Jahre,
die seit dem Erscheinen des Buches verstrichen sind, zur Genüge belehrt.
Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 373 |
Der Hinweis auf den Bauern gab mir insofern zu denken, als er
Spenglers System und dessen Grundzügen widersprach. Jedes imperialistische
Wollen muß sich wohl oder übel mit der Aufopferung des Bauernstandes
abfinden. Weltmacht verwirklicht sich auf dessen Kosten, wie man es in
Rom und England erfahren hat und heute nicht nur in Rußland erfährt,
sondern, der Entwicklung zum Weltstaat gemäß, auch in den entferntesten
Winkeln der Erde, in jedem Hof und jeder Eingeborenenhütte, an jedem
Pflug und jedem Pferd.
Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 373-374 |
Hier stellt sich die Zwischenfrage, auf wen denn im Falle des
Weltstaates die grobe Arbeit abzuwälzen sei? In ihm kann es seiner
Natur nach weder Kolonien noch Ausbeutung eroberter Kornkammern noch den
Unterschied zwischen »weißer« und »farbiger«
Arbeit geben - all jenen Gewinn, den seit der Antike hochentwickelte Staaten
dank ihrer technischen, militärischen und politischen Überlegenheit
aus den Ernten und Produkten eroberter Gebiete ziehen: Vorteile aus schlecht-
oder unbezahlter Arbeit mit einem Wort. In dieser Frage begegnen sich
politische und moralische, technische und wirtschaftliche Systeme; sie
wird noch über den Rest des Jahrhunderts hinaus nicht nur die Geister,
sondern auch den Willen beschäftigen. Als Modell der sich aus ihr
entwickelnden Händel darf man den amerikanischen Sezessionskrieg
betrachten - das macht sein Studium lehrreich, ja fast unumgänglich
auf ähnliche Weise, wie das der Dreyfusaffäre unentbehrlich
ist zur Beurteilung der Imponderabilien innerhalb der modernen Demokratie.
Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 374 |
Daß die Frage der
Abwälzung der Sklavenarbeit auf technische Art gelöst werden wird, und
zwar quantitativ durch die Entwicklung von Robotern und Automaten, qualitativ
durch eine Verfeinerung und Verwandlung der Rohprodukte auf eine Weise, deren
Ziel und Umfang noch kaum zu ahnen sind - das muß als eine der möglichen
Leistungen unter vielen begriffen werden, doch nicht als Absicht, sondern als
eines der Mittel der sich bildenden Welt. Es zählt zum Eingebrachten, zur
Mitgift der Gestalt des Arbeiters. Das Ziel der Technik ist Erdvergeistigung.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 374 |
Die Reduktion des Bauernstandes
ist der spürbarste Ausdruck dafür, daß der angestammte Nomos,
die eingesessene Rasse aufs Spiel gesetzt werden. Jede räumliche Ausdehnung
zehrt an ihr, wie das im Lauf der römischen Geschichte Zug um Zug zu verfolgen
ist.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 374 |
Innerhalb der Arbeitswelt
wird nicht nur die Mechanik, sondern auch die Chemie in ungeahnter Weise zu dieser
Reduktion beitragen - nicht mehr Böden werden erschlossen, sondern Erde schlechthin.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 374-375 |
Die Kriegsverluste,
selbst die von Cannä, fallen weniger ins Gewicht als die Verwässerung
einerseits durch Expansion, andererseits durch das Hereinströmen des Fremdartigen.
Die Besiegten bringen nicht nur ihre Arbeitskraft, sie bringen auch ihre Eigenart,
ihre Sitten, ihre Kulte und ihren Luxus mit. Die Sklaven haben eine eiserne Stirn;
sie beobachten scharf und sind schwer zu durchschauen.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 375 |
Wer erobert, wird selbst
erobert - das ahnten die Makedonen bei Alexanders Hochzeit mit Roxane, in der
er zugleich die Verschmelzung Europas mit Asien feierte.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 375 |
Für die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts sagt Spengler
schwere Kämpfe zwischen Weißen und Farbigen voraus: »Sie
nehmen das Schwert auf, wenn wir es niederlegen. Sie haben den Weißen
einst gefürchtet, sie verachten ihn nun. .... Der Farbige durchschaut
den Weißen, wenn er von Menschheit redet .... Wie, wenn
sich eines Tages Klassenkampf und Rassenkampf zusammenschließen
? .... Das schwarze Frankreich würde in einem solchen Falle nicht
zögern, die Pariser Szenen von 1792 und 1871 zu übertreffen.
Und würden die weißen Führer des Klassenkampfes je verlegen
sein, wenn farbige Unruhen ihnen den Weg öffneten ...?«
Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 375 |
Heute, nach dreißig Jahren, ist nicht zu leugnen, daß
sich in diese Visionen konkrete Züge einzeichneten. Was in Afrika,
vom Nordrand bis zur Südspitze, in Ost- und Südasien, in Nord-
und Südamerika in so kurzer Spanne geschah und geschieht - in China,
Algerien, Indien, Ägypten, am Kongo, auf Kuba, um einige Brennpunkte
zu nennen - das geht weit über eine Reihe von Aufständen und
Befreiungskämpfen hinaus. Das Feuer, das nicht mehr, und vor allem
nicht mit Blut, zu löschen ist, greift indessen auch über den
Gegensatz von Weißen und Farbigen hinaus. Es trägt alle Kennzeichen
des Weltbrandes. Nicht diese oder jene Rasse, die Spezies wird in Frage
gestellt. Diesen seinen wahren Umfang, aus dessen Kenntnis allein nicht
nur richtige Schlüsse, sondern auch Entschlüsse, Entscheidungen,
zu gewinnen sind, hat Spengler nicht gesehen. Er konnte ihn nicht sehen
und würde, wenn er noch lebte, heute weniger denn je dazu imstande
sein. Er sah Symptome, und da diese sich inzwischen krisenhaft verstärkten,
würden sie ihm die Diagnose bestätigen.
Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 375-376 |
Wenn ein so scharfsinniger
Kopf den Umfang eines Phänomens verkennt, so kann das nicht an seiner Intelligenz,
es muß an seiner Position liegen. Er gleicht dem Jäger auf seinem Anstand,
von dem aus er die Ungeheuer früher als die meisten anderen auftauchen sieht
und mit passionierter Schärfe erkennt. Aber sie ziehen in ungeahnter Richtung
vorbei und verlieren sich in unerforschten Dickichten. Trotzdem wurde ein Abschnitt
der großen Jagd in ungewöhnlichem Denkstil erfaßt. Das gilt auch
für Spenglers System. Die Kulturen werden im Nach- und Nebeneininder gesehen,
nicht aber, wie von Herder, Goethe, Hegel, architektonisch und symphonisch oder,
wie von Nietzsche, als Ouvertüre eines neuen Weltalters. Entscheidung, Kampf
um die Vormacht, Zeitalter der kämpfenden Staaten - das alles ist nicht der
Sinn; es sind die Wehen, in denen die Erde eine ihrer großen metahistorischen
Phasen abschließt und eine andere beginnt. Dann werden die Grenzen fallen
und auch räumlich »Orient und Okzident ... nicht mehr zu trennen«
sein.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 376 |
Für die Gestalt des Arbeiters, des mächtigsten Sohnes
der Erde, ist der Aufstand der farbigen Rassen ein antaiischer Akt unter
anderen; er gleicht der Einberufung einer Reservearmee. Gebührend
zu würdigen wird das erst im Ergebnis sein, also innerhalb der Gesamtrechnung.
Verständlich ist, daß zunächst die Negativposten ins Auge
fallen, die Verluste und Einbußen, der Rückfall in primitive
Denkformen, die virulent werden.
Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 376 |
Das gilt auch für andere,
nahe verwandte Erscheinungen, wie das sprunghafte Anwachsen der Erdbevölkerung.
Es hat seine Gründe, warum gerade China sich dem im »Untergang des
Abendlandes« entworfenen Schema der Spätkultur entzieht. Das alles
kann behutsam gedeutet, vielleicht sogar beeinflußt, doch nicht gemeistert,
geschweige denn gehemmt werden.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 376-377 |
Es ist ein Unterschied, ob man mit ererbtem, erspartem, geliehenem
oder fiktivem Geld handelt und ob man die Geschäfte, aus denen man
Gewinn zieht, mit Augen sieht, ob sie entfernt liegen oder in der Luft
hängen.
Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 379 |
Der Konservative, falls
es noch Kräfte gibt, die diesen Namen verdienen, gleicht jemandem, der in
einem immer schneller dahinrollenden Fahrzeug Ordnung schaffen, die Dinge am gewohnten
Ort halten will. Gerade dadurch wird die Gewalt der Katastrophe verstärkt.
Die künstlich befestigten Objekte bilden einewachsende Gefahr. Das gilt besonders
dort, wo der Nationalstaat in seinem Ethos und seinen Einrichtungen erhalten werden
soll, im weiteren Sinn für die Ideen von 1789 überhaupt. Was davor liegt,
ist museal. Darauf beruht die wachsende Sympathie für die Fürsten, auch
dort, wo sie noch regieren, der soziale Natur- und Denkmalschutz überhaupt.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 381-382 |
Die Einebnung, die der
Nationalstaat, verglichen mit der vorrevolutionären Ordnung, bewirkt hat,
betrifft nicht nur die Gesellschaft und ihre Mannigfaltigkeit, sondern auch die
Künste einschließlich der Kriegskunst, die Architektur, die Handwerke,
jede gewachsene Gliederung überhaupt. Hierher gehört die Angleichung
der Landschaften auf Kosten ihrer Eigenart, ihre wachsende Abhängigkeit von
den Zentralen, ihre Durchschneidung mit Bahnen, Kanälen und Heerstraßen.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 383 |
Der Nationalstaat ist vorgeformt,
sowohl geistig wie institutionell. Sein Jahrhundert wiederum formt die Arbeitswelt
mit ihrem Vulkanismus und ihren Titanen vor speziell durch die Wissenschaft.
Auch hier kann kein Ziel sein; das Provisorische bezeugt es hinreichend. Oft wird,
wie beim Aufschlagen von Zeltlagern, bereits auf Abbruch gebaut.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 383 |
Die Vermutung, daß
es noch zu großen Zerstörungen kommen wird, gründet sich weniger
auf die Gewalt der Mittel als auf den Vorrat von abgelebten Ideen und Einrichtungen.
Nicht in der Flamme, im Zunder ruht die Gefahr. Sowohl die historischen als auch
die primitiven Mächte, die sich emanzipieren, durchlaufen nicht nur feurige
Zonen, sondern auch Phasen erhöhter Brennbarkeit. Vergeistigung, die unablässig
den Prozeß begleitet und in toto zu beurteilen sucht, ist dahereiner der
Hauptfaktoren der Auslese.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 383 |
Mit der wachsenden Beschleunigung
muß die Zentralisierung zunehmen. Beide sind voneinander abhängig.
Zugleich muß sich die Eigenart vermindern, gleichviel wo sie auftritt, sei
es in Landschaften, Städten, Kunstwerken oder bei Völkern, Geschlechtern,
Berufen, Individuen. Die formalen Charaktere mindern sich zugunsten dynamischer
Macht.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 383 |
Falls wiederkehrende Zyklen
eine Rolle spielen, so währt ihr Umlauf jedenfalls bedeutend länger
als jeder geschichtlich zu erfassende Zeitraum, auch wenn wir die Vorgeschichte
einbeziehen. Wir müssen den Mythos zu Hilfe nehmen, sodann das geologische,
zoologische, astronomische Wissen, dazu die Astrologie als eben erst sich entfaltende
Wissenschaft.Ernst
Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 384 |
Wo der Liberalismus seine
äußersten Grenzen erreicht, schließt er den Mördern die
Tür auf. Das ist Gesetz!Ernst
Jünger, 1960er Jahre |
Wie hat der deutsche
Soldat zweimal hintereinander unter einer unfähigen politischen Führung
gegen die ganze wider ihn verbündete Welt sich halten können? Das ist
die einzige Frage, die man meiner Ansicht nach in 100 Jahren stellen wird.Ernst
Jünger, im Le-Monde-Interview am 22.02.1973 |
Alles,
was sie heute von sich weisen, wird eines schönen Tages zur Hintertüre
wieder hereinkommen.Ernst
Jünger, im Le-Monde-Interview am 22.02.1973 |
Auf
welches Wagnis ich mich mit der Konzeption eingelassen hatte, konnte ich damals
nicht voraussehen. Die antimarxistische Auslegung muß ich ablehnen. Marx
paßt in das System des Arbeiters, doch füllt er es nicht
aus. Ähnliches läßt sich über sein Verhältnis zu Hegel
feststellen.Ernst
Jünger, Brief vom 24.09.1978, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band
8, S. 390 |
Ich darf vermuten, daß
Hegel mit der »Gestalt« des Arbeiters eher einverstanden wäre
als mit dessen Reduktion auf die Ökonomie, die einer der Sektoren bleibt.
Die »Gestalt« (schon das Wort ist schwer übersetzbar) repräsentiert
den Weltgeist für eine bestimmte Epoche, und zwar herrschend, unter anderem
auch hinsichtlich der Ökonomie. Das Grundproblem ist die Macht; sie bestimmt
das Detail. Das bestätigt sich bereits heute: überall, wo Arbeiterparteien
regieren, von China über Rußland bis zu den Ostdeutschen, haben Machtfragen
den Vorrang vor den ökonomischen. Wenn diesen Staaten, auch von westlichen
Kommunisten, vorgehalten wird, daß sie von Marx abweichen, so ist der Einwand
begründet, doch antiquiert.Ernst
Jünger, Brief vom 24.09.1978, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung,
Band 8, S. 390 |
Hinter der Repräsentation
des Weltgeistes steht die Materie, nicht die Idee. Die Theorie bestimmt nicht,
wie Hegel oft und entschieden betont, die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit
gebiert Ideen und ändert sich aus sich selbst. Sogar die technische Erfindung
folgt ihrem Zwang. Sie ist letzthin weder erdacht noch zufällig.Ernst
Jünger, Brief vom 24.09.1978, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band
8, S. 390 |
Dem entspricht eine Auffassung
der Materie, die hinter Plato zurückführt sie ist nicht materialistisch,
sondern materiell. Ich gehe darauf in der »Zeitmauer« ein. Die Gestalt
ist der Monade von Leibniz verwandter als der platonischen Idee, und Goethes Urpflanze
näher als Hegels Synthesis.Ernst
Jünger, Brief vom 24.09.1978, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band
8, S. 390 |
Der Arbeiter ist ein Titan und
damit Sohn der Erde; er folgt, wie Nietzsche es ausdrückt, ihrem Sinn, und
zwar auch dort, wo er sie zu zerstören scheint. Der Vulkanismus wird zunehmen.
Die Erde wird nicht nur neue Arten, sondern neue Gattungen hervorbringen. Der
Übermensch zählt noch zu den Spezies.Ernst
Jünger, Brief vom 24.09.1978, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band
8, S. 390-391 |
Was den »Arbeiter«
angeht, so ist das von Ihnen berührte Problem oft bedacht worden, nicht nur
von mir und meinen Freunden, sondern auch von anderen. Es stehen Publikationen
bevor, die sich auch mit dem Seminar beschäftigen, das Martin Heidegger über
das Buch gehalten hat. Wohin das führen wird, weiß ich nicht.Ernst
Jünger, Brief vom 24.03.1980, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band
8, S. 393 |
Wichtig ist an der Konzeption
nur der Augenblick der Sicht auf die »Gestalt« als mythische Größe,
die in die Geschichte eintritt, zunächst als Titan, sie zerstörend vielleicht.Ernst
Jünger, Brief vom 24.03.1980, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band
8, S. 393 |
Nach Heidegger hat die Metaphysik
ihr Ende erreicht. Das von ihr Gemeinte oder Anvisierte kann indessen nicht verschwinden;
ein Indiz dafür ist die gesteigerte Bedeutung der Physik, die ihrerseits
irrational zu werden beginnt.Ernst
Jünger, Brief vom 10.10.1980, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band
8, S. 395 |
Der Mensch könnte einen
Fehlsprung gewagt haben wie Nietzsches Seiltänzer. Es wäre aber verfehlt,
den Arbeiter als den Übermenschen zu sehen oder als platonische Idee
eher schon als Gestalt im Sinne von Goethes Urpflanze. Sie ist auch kein Typus,
sondern hat typenbildende Kraft.Ernst
Jünger, Brief vom 10.10.1980, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band
8, S. 395 |
Von der Gestalt aus, die selbst
ruht, wird die Welt als Bewegung begriffen, von den Atomen bis zu den Galaxien.
Wir sehen, was Maß und Zahl betrifft, die Einzelheiten ungemein scharf,
während Sinn und Ziel des Ganzen uns immer mehr zu entgleiten scheint. Doch
gerade Präzision und Ineinandergreifen der Einzelheiten lassen vermuten,
daß etwas »dahinter steckt«, nicht etwa im Sinn von »Hinterwelten«,
sondern des »Innern der Natur«.Ernst
Jünger, Brief vom 10.10.1980, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band
8, S. 395 |
Die Gestalt steht in ihren titanischen
Anfängen. Wer sich mit ihr beschäftigt,muß sich über jedes
historische System hinauswagen. Die Umwertung der Werte genügt dazu nicht
mehr. Die alte Moral vermag die Tatsachen nicht zu bewältigen, doch vor einer
neuen Moral, die den Tatsachen entspräche, schrecken wir mit Recht zurück.
Das führt in ein fatales Zwielicht etwa im Hinblick auf Krieg und
Frieden, die Atomkraft, die Geburtenbeschränkung, das gute Gewissen überhaupt.Ernst
Jünger, Brief vom 10.10.1980, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band
8, S. 395-396 |
Mit diesen Notizen will ich
andeuten, daß sich in dem, was ich als Gestalt bezeichnet habe, noch viel
Ahnung verbirgt. Sie ist also schwer festzulegen, nicht historisch und noch weniger
politisch wo sich dort anknüpfen läßt, dürfte ich
mich noch nicht genügend von überkommenen Vorstellungen gelöst
haben. Die Entwicklung seit 1932 verläuft programmatisch, wenn auch nicht
angenehm.Ernst
Jünger, Brief vom 10.10.1980, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band
8, S. 396 |
Ich bin ja nie mit Staatsformen
zurechtgekommen, sondern schon als Unterprimaner in die Fremdenlegion ausgerissen,
offenbar, weil mir die bürgerlichen Umstände nicht zusagten, und das
ist eben mein Elend bis heute. Aber im Zusammenhang mit dem Goethe-Preis habe
ich zahllose Briefe bekommen, und da heißt es immer weider, mit dem Preis
gerade an mich deute sich eine »Tendenzwende« an. Daher wohl auch
die Aufregung. Ich wünsche aber gar keine Tendenzwende.Ernst
Jünger, im Spiegel-Interview aus Anlaß der Verleihung des
Goethe-Preises, 1982 |
Was darf man denn heute? Die Sachen, die man darf, sind doch,
sagen wir mal, dem Barock gegenüber, gewaltig reduziert. .... Zum
Beispiel dürfen Sie heute nicht mehr sagen: »Ich bin ein Faschist.«
Dann sind Sie schon gleich der Unterste.
Ernst
Jünger, im Spiegel-Interview aus Anlaß der
Verleihung des Goethe-Preises, 1982 |
Wilflingen, 4. Februar 1991. - An Hans Crome: »Für
Ihre Erinnerungen herzlichen Dank. ich dachte bei der Lektüre auch
an unsere gemeinsame Zeit in Paris. Sie haben dort am 20. Juli gefehlt.
Gewiß hätten Sie damals die Dinge besser in den Griff bekommen
.... Wir haben während Ihrer Langen Gefangenschaft oft von Ihnen
gehört und den Widerstand bewundert, den Sie sowohl den Drohumngen
der Sieger wie den Verlockungen der Besiegten gegenüber leisteten.
- Ich glaube mich zu entsinnen, daß wir noch kurz miteinander telephoniert
haben, während ich bei Kleist im Kaukasus war: Sie aus Stalingrad,
ich aus Woroschilowsk. Gerade jetzt während des widrigen Golfkrieges
werden diese Erinnerungen wider aktuell auch engesichts der Gefangenen,
die vin beiden Seiten präsentiert werden. .... - Es ist zu bedauern,
daß uns ein Clausewitz des Bürgerkrieges fehlt, spezielle des
Weltbürgerkrieges, in dem wir seit 1917 begriffen sind. Der klassische
Krieg ist degeneriert. Zum Beispiel ist ein Ultimatum eher schädlich
als angebracht. Auch meine ich, daß der Soldat für den Fall
der Gefangenschaft vom Fahneneid zu entbinden ist. Anstand im alten Sinne
darf bis zu einem gewissen Punkt erwartet werden, nicht aber Matyrium.
- Ich würde gern meinen beiden Büchern Der Waldgang
und der Gordische Knoten einen dritten Band anfügen -
das wird ein Wunsch bleiben. - Die Ambivalenz unserer Pariser Jahre bestand
darin, daß wir halb in einen National- und halb einen Bürgerkrieg
verwickelt waren - der eine wurde tagsüber im Majestic,
der andere nachts im Raphael geführt. In dieser Hinsicht
war unsere Lage schwieriger als die aller anderen kriegführenden
Parteien.«
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 15-16 |
Wilflingen, 30. März 1991. - Im 21. jahrhundert wird
der Drogenkosum noch zunehmen. Diese Voraussage stützt sich auf den
Rückzug der Götter und den Triumph der Titanen über den
Olymp. Wähend der Herrschaft der »Eisernen« wächst
d8ie Sehnsucht nach dem zeitlosen Sein. Apoll rückt ferner, und das
Gedicht wird schwächer; Dionysos erscheint als Titan und spendet
Erscheinungen. - Zu erwarten ist aber auch eine Domestizierung der Räusche
gleich jener des Weines und seiner Ekstasen, als er aus Indien kam. -
Der Adept wird »eingestellt« von Ärzten und Pharmakologen
udn andererseits von Gurus und Traumführern durch Tabus gehemmt.
Er wird zu höherer Einsicht geleitet wie einst durch die Hierophanten
der Eleusinen. So wurde auch der Wein dem Exzeß entzogen - dakramental.
- Dabei sind Verluste nicht zu vermeiden; sie sind seit jeher normal.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 22 |
Wilflingen, 13. Mai 1991. - Nachmittags bei aufklarendem
Wetter zum Spezgarter Tobel mit Gesprcäh über die Sorge, die
uns bedrückt. Wir sahen Spezgart leigen; dort hatte Ernstel die Schule
besucht. Als er dann in Wilhelmshaven als Flakhelfer verhaftet wurde,
kamen wir knapp am Todesurteil vorbei. Erschwerend war noch, daß
er und sein Freund Wolf Jobst Siedler während der Verhandlung »keine
Reue gezeigt hatten«. Auch seine Lehrer waren über ihn entrüstet;
ich bewahre noch ihre Briefe auf. - Als er dann be Carrara fiel, bekam
ich trotz meiner Bitte keine Auskunft über die näheren Umstände.
Es mußten doch Kameraden dabei gewesen sein. Nach dem Kkriege fragte
ich Gretha, ob wir uns Klarheit verschaffen sollten - sie meinte, wir
heimsten dadurch vielleicht nur einen zweiten Treffer ein. - Nun ist es
Alexander; eine mißglückte Untersuchung verursachte einen Schlaganfall,
dem linksseitige Lähmung nachfolgte.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 25-26 |
Wilflingen, 15. Juni 1991. - Meine Gedanken kreisen um
meinen Sohn Alexander, der nach einem Schlaganfall darniederliegt.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 30 |
Wilflingen, 2. August 1991. - Der »Figaro«
bringt einen Artikel ... über meine Pariser Jahre während der
Okkupation. Er ist in freundlicher Absicht ein wenig zeitgemäß
frisiert. So sage ich nur »Nationalsozialismus« und nicht
»Nazis« - wie auch »Sozis« und »Stasi«
nicht zu meinem Vokabular zählen.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 36 |
Wilflingen, 21. August 1991. - Da unserem Zeitalter die
Technik essentiell ist, könnte sie sehr lange, bis zur Begegnung
mit der Mutter, wie seine Waffe dem Urjäger, vorhalten. Ein ausführlicher
Bericht Max Himmelhebers an Hans Jonas regt mich zu dieser Vermutung an:
»1935 hatte ich als leitender Technischer Offizier einer Luftwaffeneinheit
eine Aufgabe von außerordentlicher Bedeutung zu erfüllen, die
mich ständig zwischen Werkstatt, Flugplatz und Dienstzimmer in Bewegung
hielt. Die Arbeit begann am Montag früh um 6 Uhr und endete am Mittwoch
gegen 11 Uhr. In denmehr als 50 Stunden habe ich zunächst, einfach
aus Zeitmangel, keine Nahrung zu mir genommen, sondern nur Kaffee. ....
- Ich erhielt am 6. September 1940 bei einem Luftkampf südlich von
London einen Kühlertreffer, so daß die Kühlflüssigkeit
meines Motors langsam ausfloß und die Temperatur stieg. ich versuchte
im gestreckten Motorflug noch bis zu einem der Rotkreuzrettungsflöße
zu gelangen, die damals vor den Einsätzen über dem Kanal abgeworfen
wurden. Dann aber spürte ich die Geschoßeinschläge auf
der Rückenpanzerplatte und erkannte im Rückspiegel zwei feindliche
Jäger, vor denen es kein Entkommen mehr gab. Ich warf das Kabinendach
ab, ging in Rückenflug und ließ mich herausfallen bzw. versuchte
es. Dabei ging die Maschine in senkrechten Sturzflug, für den mir
bis zum Aufschlag, wie ich heute schätze, etwa 30 Sekunden blieben.
Ich suchte den Fallschirm, der an der linken Hüfte sein mußte,
fand ihn aber nicht. - In diesem Augenblivk verließ meine Seele
(»Seele«?!; HB) den Körper.
Obwohl ich abstürzend die Augen geschlossen halten mußte, sah
ich weiterhin optisch eindeutig die überflogene englische Landschaft
mit braunen Äckern und grünen Wiesen. Ferner sah ich genau im
rechten Winkel von mir auf gleicher Höhe in schätzungsweise
500 Meter Entfernung rechts eine abstürzende ME 109 auch ganz genau
in fotographischer Deutlichkeit. Es bestand keinerlei Verbindung mehr
mit meinem körperlichen Ich, weder Schmerz noch Angstgefühle.
Die Trennung ging so weit, daß ich einmal in der dritten Person
von mir dachte,etwa: Der soll das doch bleiben lassen.
Zugleich dachte ich: ob man den Aufschlag wohl spürt?
und sagte mir, der dauert eine Millionstel Sekunde, und in der Zeit gelangt
kein Nervenreiz vom Rückenmark bis ins Gehirn. Nun aber kommt das
Entscheidende: Ich war von einem nie vorher erlebten Glücksgefühl
erfüllt. Wenn für irgend etwas der Ausdruck Glückseligkeit
paßt, dann für den Zustand, in dem ich (»ich«!?;
HB) mich befand. Ich kann das heute nur erzählen, ohne auch
nur irgendwie mir auch nur eine Ahnung jenes Glücks wieder vergegenwärtigen
zu können, aber daß es durch nichts jemals übertroffen
werden kann, ist fürmich seither Gewißheit. - Mein Ich (»Ich«!?;
HB) war also weit von meinem Körper getrennt in vollem Unterbewußtsein
mit vollem Seh- und Denkvermögen und eindeutig ohne jegliche Verbindung
mit meinem Körper. - Was dieser inzeischen tat, habe ich erst Sekunden
später erfahren. Mein physisches Ich suchte nach dem Fallschirmgriff
an der linken Hüfte, fand ihn dort nicht und sagte sich, dann muß
er nach hinten verrutscht sein. Ich suchte mit der linken Hand an der
Gürtellinie, fand den griff, faßte mit dem Daumen darunter
und zog die Leine. In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl
(»Gefühl«?!; HB), wunderbar
weich zu liegen, das heißt, der Schirm hatte sich entfaltet, und
im gleichen Augenblick war die Seele (»Seele«?!;
HB) in den Körper zurückgekehrt.«
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 38-40 |
Wilflingen, 14. September 1991. - Zu den Notizen über
Nietzsches wachsendes Mißbehagen an Descartes und insbesondere an
dessen Fehlgriff, daß die Tiere belebte Maschinen seien, kommt mir
zufällig bei Leibniz eine bezügliche Stelle vor Augen - freilich
gibt es kaum einen Zufall ihne Bezug. - Leibniz erwähnt, daß
sich in Holland selbst das Volk über die cartesianischen Narren amüsiere,
»weil sie sich einbilden, daß ein Hund, den man schlägt,
aufschreie wie etwa ein Dudelsack, auf dem man spielt«. - Auch Nietzsches
Verhältnis zu Leibniz wird, freilich nicht in dem Maße wie
jenes zu Descartes, mit der Zeit ambivalent. Zwar bewundert er die »unvergelichliche
Einsicht«, mit der Leibniz sich gegen die Cartesianer durchsetzt,
erkennt in ihm aber als typischen Deutschen ... eine Vermittlerrolle zwischen
dem Platonismus und dem Christentum. (Wir sollten
aber nicht vergessen, daß Nietzsche zu dieser Zeit schon vom Wahnsinn
beherrscht wurde, auf dem Wege war zum völligen Versagen seines
Geistes, zur geistigen Umnachtung, wie man auch sagt; HB.)
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 44 |
Wilflingen, 3. Oktober 1991. - Zum ersten Mal wird der
enue Nationalfeiertag begangen ....
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 45 |
Wilflingen, 3. Oktober 1991. - Auch eine Art von Parasitismus:
den Achtungsverlust eines anderen, besonders bei tiefem Sturz, ausbeuten.
Die meisten reiben sich die Hände, viele leben davon. Das war schon
immer so und selbst bei den Hühnern, wenn eines sich mauserte. Merkwürdig
ist es angesichts einer Gesellschaft, in der die Menschenwürde angeblich
den Vorrang genießt. Dazu der »Schutz der privaten Sphäre«
zu einer Zeit, in der man noch nie so gründlich durchleuchtet werden
konnte wie jetzt und hier. Die Angst vor den Schnüfflern und Ausgräbern
ist verständlich, vielleicht prophetisch sogar. Siehe Orwells Vision.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 45-46 |
Wilflingen, 5. November 1991. - Sein oder Nichsein? Eher
beides. Unsere Scheinwelt wird auf der Rückseite eines Spiegels beobachtet.
Dieser Spiegel ist die Zeitmauer.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 48 |
Wilflingen, 20. November 1991. - Beim Blick in die Morgenzeitung
beschleicht diesen und jenen das Gefühlt, der letzte Deutsche zu
sein.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 50 |
Wilflingen, 20. November 1991. - Die Zeitmauer als Spiegel
im Sinne des Korintherbriefes wird durchsichtig und auch schon durchlässig.
Ist hier noch Ironie möglich? Rückwärts gewendet wohl.
Sie findet sich nicht selten in den »Letzten Worten«, doch
vor der Brandung: dem »heiligsten der Stürme«, den Hölderlin
erhofft. Und mit ihm Novalis:
»Ich fühle
des Todes
Verjüngende Flut
Und harrin den Stürmen
Des lebens voll Muth.« |
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 50 |
Wilflingen, 1. Januar 1992. - Genese des Kreises.
1. Der Punkt hat sich erweitert, realisiert.
2. Die Gerade hat sich gebogen und sich wiederentdeckt.
Das war der schwächere Weg insofern, als der Punkt, wenn er zu atmen
beginnt, auch eine Kugel bilden kann.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 52 |
Wilflingen, 1. Januar 1992. - Um Alexander bin ich immer
besorgt.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 53 |
Wilflingen, 3. Januar 1992. - Gespräche über
Gesundheit, vor allem Alexanders, der dieser Tage nach berlin fliegen
wird.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 53 |
Wilflingen, 11. Januar 1992. - »Ansonsten«.
Auch eines der Modewörter. Warum nicht einfach »sonst«.
Ähnlich auch »zögerlich«.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 56 |
Wilflingen, 11. Januar 1992. - Ich lese jetzt, selbst bei
Philosophen: »das macht Sinn«. Bedeutung wird zugemessen und
zugebilligt, doch Sinn wird nicht »gemacht«. Sinn existiert.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 56 |
Wilflingen, 10. Februar 1992. - Und kein Tag ohne einen
mindestens ein-, beseer noch: zweistündigen Gang. Gern gehe ich von
der Goldbacher Höhe durch die Felsschlucht zur Gletschermühle
und über die tausendjährige Kapelle zurück. Gut ist auch
der Weg zwischen dem See und der Felswand entlang, der 1846 für die
Eisenbahn gesprengt wurde, wodurch ein Teil der Heidenhöhen verloren
ging. Auf der Sipplinger Straße rollen fast pausenlos die Autos;
ich zähle gestern deren in fünf Minuten über hundert -
aber ich entdecke auch immer neue Seitenpfade und Unterführungen.
Dabei ist das Fernglas unentbehrlich - sowohl der Vögel, die auf
dem See schwimmen, als auch jener wegen, die im Fels nisten. Die Landschaft
bietet also sowohl historisch als (immer noch) ornithologisch reiche Ausbeute.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 57 |
Wilflingen, 10. Februar 1992. - Wolfgang Dufner ist jetz
Generaldirektor der Welt-Pfadfinderstiftung, die nun, »nach Gorbi«
(für die Jüngeren unter den Lesern: »nach
Gorbatschow«; HB), neu zu organisieren ist (ja,
und die Gründe dafür sind bekannt;
HB).
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 58 |
Wilflingen, 14. Februar 1992. - Sklaverei gibt es in jedem
Jahrhundert, wenn gleich unter verschiedenen Namen ....
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 61 |
Wilflingen, 23. Februar 1992. - Beim Gegensatz von Staat
und Gesellschaft vergißt man allzuleicht den Einzelnen. Theoretisch
wird er von beiden gehätschelt, praktisch um die Wette gerupft. Selbst
von den Anarchisten wird er angezapft. Jedes neue System beginnt mit einem
Aderlaß. Es bleibt eine Sache, wie er sich zwischen all dem hindurchschwindet.
Als Hauptproblem wird es zwar von denmeisten ampfunden, doch nur von wenigen
erkannt. In dieser Hinsicht hat Stirner merh zu bieten als Karl Marx.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 63 |
Wilflingen, 7. März 1992. - The Times Lierary Supplement,
No 4638,21. Februar 1992, S. 11:
Ultima Ratio
From the German of Friedrich Georg Jünger |
Wie der Titanenwitz
Hinweg nun siedet,
Wie alles rostig wird,
Was er geschmiedet.
Sie hoffen töricht toll,
Daß es gelänge.
Nun brechen überall
Blech und Gestänge.
Die Uniform liegt umher
In rohen Haufen.
Geduld! Auch dieser Rest
Wird sich verlaufen.
Sie schaffen stets ja mit,
Was sie vernichtet,
Und fallen mit der last,
Die sie errichtet. |
|
Like vapour, the titanic scheme
is dissapated,
everything grows rusty now
that they created.
They hoped to make their craze
the lasting plan,
now it falls apart everywhere,
sheet steel and span.
Raw chaos lies heaped up
on wide display.
Be patient. Even the fag endes
will crumble away.
Everything they made contained
what brought their fall
and the great burden they wear
crushes them all. |
Eines der Gedichte des Bruders, das ich seit langem schätze - die
»Perfektion der Technik« in einige Verse konzentriert.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 64 |
Wilflingen, 29. April 1992. - Bei der dritten Verleihung
des Ernst-Jünger-Preises für Entomologie im Wilflinger Schloß
....
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 65 |
Wilflingen, 1. Mai 1992. - Ernstels Geburtstag.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 68 |
Leisnig, 31. Mai 1992. - Nach fast genau 50 Jahren stand
ich wieder am Grab des Vaters, neben dem inzwischen die Mutter und Bruder
Physikus beerdigt worden sind. Seit Tagen beschäftigt mich die ordnung
von Papieren, die ich aus Sachsen heimholte. Wir fuhren im Wagen und waren
außer in Leisnig auch in Dresden, Meißen und Moritzburg, Dresden
machte mir einen stattlicheren Eindruck als ich befürchtet hatte;
es präsentierte sich wie jede andere Großstadt auch. Die Masse
von Automobilen mochte dazu beitragen. Wenn mich mein Instinkt nicht trügt,
wird das »Elbflorenz« sich im nächsten Jahrhundert zu
einer bedeutenden Kapitale des Ostens, vielleicht sogar zur zentralen,
entwickeln - sowohl der geographischen Lage wie seiner Geschichte nach.
Die Konstellation ist in jeder Hinsicht günstig; die Stadt hat sich
nach den Kriegen Friedrichs (gemeint ist Friedrich
der Große; HB), Napoelons und Bismarcks kräftiger entfaltet
- diesmal wird es nicht anders sein trotz einer Katastrophe, die Hiroshima
an Opfern noch übertrifft.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 69-70 |
Wilflingen, 1. Juni 1992. - In Montezuma und Cortez messen
sich auch Stein- und Eisenzeit. Das setzt ein Datum ex negativo für
die vermutete Einwanderung über dei Beringstraße - die Neulinge
haben noch nicht einmal über Kupfer verfügt. Und welche Götter
brachten sie mit?
Höchst seltsam erscheint mir diese Ausbildung einer sich von allen
anderen unterscheidenden Hochkultur, die jede Vorstellung und selbst jeden
Tarum übertrifft. Wir sind unerschöpflich, und wenn es hundert
Kontinente gäbe, erwüchse aus jedem eine andere Kultur.
Das gibt auch Hoffnung angesichts der Jahrtausendwende - selbst mit dem
Untergang des Abendlandes wäre längst nicht alles vorbei.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 72 |
Wilflingen, 2. Juni 1992. - Es gibt nur eine Sünde,
der alle möglichen entwachsen wie dem Kopf der Hydra und der sie
entfliegen wie der Büchs der Pandora, wenn sie geöffnet wird.
Das ist Undankbarkeit.
Und es gibt nur eine Tugend: Dankbarkeit. Sie zelebriert der Säugling,
wenn er schlummert, nachdem er sich an der Brust genährt hat, und
die Sonnenblume, die ihr Haupt zum Licht wendet.
Ernst Jünger, Siebzig
verweht, Band V, 1997, S. 73
|
Wilflingen, 12. Juni 1992. - Roon zählt wie auch Moltke
zu jebnen Generälen, für deren Laufbahn der Vermessungsdienst
mit der topographischen Ausbildung günstig gewesen ist.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 74 |
Péronne, 16. Juli 1992. - Wir folgten der Einladung
zur Eröffnung eines Museums, das der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg
gewidmet ist. der vulkanische Beginn des Jahrhunderts ist hier gründlich
und würdig von den ersten Telegrammen bis zum Waffenstillstand dokumentiert.
Das ist nur möglich, weil sich die Wunden schließen und das
Erlebnis historisch zu werden beginnt. (Vor allem
aber deshalb, weil genug Gelder von Deutschland an die Sieger, die sich
druch Kriegsanleihen extrem verschuldet hatten, und also noch mehr an
die Gewinner geflossen sind; HB.)
Péronne bildet auch für mich persönlich den Mittelpunkt
der Landschaft, in der ich mich, abgesehen von auf Urlaub oder in Lazaretten
verbrachten Wochen, währende jener Jahre habe. ich hatte ein Wiedersehen
bislang vermieden und fand sie unverändert bis auf die Neubauten
und die riesigen Friedhöfe.
Die Stimmung war harfmonisch; unter den französischen und deutschen
Freunden konnten wir auh Hans Speidel begrüßen, der wie einst
sein Vater als Militär-Attaché in Paris Dienst leistet. Er
war in Uniform; wir gingen mit ihm am Abend, ohne aufzufallen, durch die
Stadt und blieben in Amiens über Nacht, nachdem wir unterwegs noch
lange auf einem der Friedhöfe geweilt hatten.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 75 |
Wilflingen, 16. August 1992. - Am Weiher. Die Schwalben
netzen im Fluge ihre Brust. Die Reduplikation des Wortes steht nur Göttinnen
und der Menschenfrau zu.
Ich esse eine Pfirsich, werfe den Kern ins Wasser - er versinkt. Die Kokosnuß
higegen bringt ein nautische Ausrüctung für Ozean-Überquerungen
mit, ein Kontiki-Modell, genial konstruiert. Das mit Millionen Jahren
ins System zu zwängen fiele selbst darwin schwer. Doch nichts gegen
ihn. Auch ihn zu konstruieren war ein Meisterstück.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 76 |
Wilflingen, 16. August 1992. - Im Busen bewahre ich unter
anderem auch Aussprüche von Mächtigen, die ich gehört habe
und deren Notierung ihr Ansehen nochmehr schmälern würde als
ohnehin.
Gewalttaten sind mir nicht vor Augen gekommen. Anfängen habe ich
gewehrt. Wie kam mein Feldwebel, sonst ein redlicher Niedersachse, dazu,
sich vor mir aufzustellen und zu sagen »herr Hauptmann - der Führer
wünscht, daß die Franzosen hart behandelt werden.«? Es
hatte ihm vor Laon mißfallen, daß ich Gefangene verpflegen
und mit Fuhrwerk versehen ließ. Dem schob ich einen Riegel vor.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 76-77 |
Wilflingen, 16. August 1992. - »Nehem Sie Haltung
an!« Das war bei den Preußen mehr als ein Befehl - nämlich
der Hinweis auf eine außer Diskussion stehende Rangordnung.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 77 |
Magadino, 23. August 1992. - Lektüre während dieser
Tage: das Journal, das Drieu la Rochelle von 1939 bis 1945 geführt
hat, zumeist in Paris. Julien Hervier hat die Eidtioen besorgt und mit
Anmerkungen versehen. Sie ist bei Gallimard erschienen - einer der Gründe,
aus denen der Verlag sie Hervier anvertraute, war dessen »Thèse
sur Jünger et Drieu«, deren Existenz ich entweder vergessen
habe oder die mir unbekannt geblieben ist. Der Vergleich liegt nahe, da
ich mich zur seIben Zeit wie Drieu und auch in Paris mit Aufzeichnungen
beschäftigte, die nach dem Kriege unter dem Titel »Strahlungen«
publiziert worden sind.
Ich lese den Text einmal als Muster schonungsloser Selbstkritik, die Rousseau
übertrifft, dann als bewußte Annäherung an die Transzendenz
und meditative Vorbereitung des Freitodes, der nach einigen Versuchen
endlich gelungen ist. Auch begegne ich fast auf jeder Seite Bekannten,
da wir uns während dieser Jahre im gleichen Milieu bewegt haben.
Ich vermute, daß Drieus Antisemitismus, der ihm jetzt aus triftigen
Gründen mit besonderer Schärfe verübelt wird, sich aus
den Kontroversen um Dreyfus entwickelt hat. Sie wurden damals auch am
Familientisch geführt. Das hinderte ihn nicht, ein reiches jüdisches
Mädchen zu heiraten, dessen Vermögen er während der kurzen
Ehe verschwendete. Er erwähnt, daß er seine Frau nie geküßt
habe, auch verschweigt er weder seine Exzesse in Bordellen noch seine
Syphilis.
Drieus politischen Standort zu bestimmen ist einfach, ihn zu präzisieren
dagegen schwer. Zeitströmungen haben stark, doch diffus auf ihn gewirkt.
Gewiß hat er in der Geschichte des Faschismus eine Rolle gespielt.
Dessen Katastrophe war auch die seine - er wollte sie nicht überleben,
obwohl ihm das mit Hilfe Malraux und anderer Freunde leicht gewesen
wäre - er zog den Selbstmord vor. Zunächst ist Drieu von Hitler
begeistert, doch wechseln im Verlauf des Krieges seine Wertungen, bei
denen letzthin Nietzsches Einfluß überwiegt. Er hält es
für wichtig, »den Grund der Dekadenz zu erreichen« -
damit kehre man zur Erde zurück. Ähnlich sagt Nietzsche, er
habe den Nihilismus hinter sich gebracht (hat
er aber nicht! HB).
Obwohl Drieu seine Hoffnung auf die Nordvölker setzt, wird Stalin,
als sich die Wende andeutet, für ihn zur Leitfigur. Der Wille zur
Macht und das Gelingen wird entscheidend für ihn. Das klingt nach
Nietzsche, führt aber hinter ihn zurück, für den Darwin
als Beispiel »englischer Mittelmäßigkeit« mit billigen
Wahrheiten hausiert. Ich notiere aus diesem Zusammenhange einen Gedanken
Drieus, der auch mich nächtlich beschäftigt und betrübt:
»Das Verbrechen gegen Europa ist das anglo-deutsche Duell. - Der
Bruderkampf der beiden nordischen und germanischen Völker kommt den
Slawen zugute. Hitler ist ebenso schuldig wie Churchill.«
Hier müssen wir schon auf Wilhelm II. und das verhängnisvolle
Karzinom Friedrichs III. zurückgreifen. Wilhelms Haß auf seinen
Onkel ist ein Shakespeare-Drama im Jugendstil. Daß die Seerüstung
scheitern würde, haben viele, unter anderem auch Bebel, früh
erkannt. Sie führte am Skagerrak zu einem Schauspiel, das den Einheriern
behagt hätte, doch beiden Partnern Wunden zufügte, die nie wieder
geheilt wurden.
Drieu berührt von Dreyfus bis Stalingrad die Wunden unseres Jahrhunderts
und läßt sie offen, auch seines labilen Charakters wegen; der
Selbstmord ist programmiert. Drieu hat ihm ein gutes Kapitel gewidmet:
Er spielte mit dem Gedanken, sich zu töten, schon als Kind.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 77-79 |
Wilflingen, 8. September 1992. - Am Vormittag begrub ich
Idris, der gestern abend gestorben ist. Er weilte elf Jahr lang im Haus.
Die Redpoints sind ein vornehmes Geschlecht. Idris war zutraulich. Seine
Schwester A'ischa, mit der er wie ein Pharao Kinder zeugte, wollte wenig
von uns wissen; sie hatte Scheu vor uns. In unserer Nähe stellte
sie sich immer so, daB sie die Tür im Rücken hatte, und wenn
sie sich einmal auf den Schoß bequemte, hielt sie das Pfötchen
nicht unter, sondern über unserem Arm. So konnte sie jederzeit abspringen.
Auch ihr Abschied war nobel; als es zum Letzten kam, verschwand sie und
starb so einsam, daB wir sie nicht wiederfanden, obwohl wir das Haus und
die Nachbarschaft absuchten.
Idris dagegen wurde während seiner langen Krankheit täglich
zärtlicher. Er magerte durch Monate hin ab. Die späten Lesestunden
der Hausfrau am Kachelofen - das war seine Lieblingszeit.
Er zog sich »stufenweise aus der Erscheinung zurück«:
Er sonnte sich noch im Garten, aber wir mußten ihn auf das Geländer
heben, an dem er die Krallen zu schärfen pflegte, endlich auch auf
den Schoß. Dort konnte er nicht einmal mehr schnurren, aber noch
den Kopf wenden.
Ich begrub ihn unter dem Haselbusch. Er hatte sich dort in den Schatten
gelegt, wenn ihm die Sonne zu warm wurde. Er bekam Zinnien und einen Grabstein
aus der Schwäbischen Alb. Monika Miller, die neben mir stand, fand
den Aufwand gut. Ich sagte:
»Idris kommt auch eher in den Himmel als wir.«
»Wieso denn das?«
»Kein Umweg über die Erbsünde.«
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 79-80 |
Wilflingen, 8. September 1992. - Descartes Behauptung,
daß die Tiere belebte Maschinen seien, hat selbst seine Freunde
verstimmt. Es taucht dann leicht der Verdacht auf, daß nicht nur
dieser Satz, sondern das ganze System schief sein könnte - daß
also etwa das berühmte »cogito« den Grundstein zu einem
Turm von Pisa darstelle.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 80 |
Wilflingen, 8. September 1992. - Und: »Was Männer
denken, möchte ich mit dem ganzen Körper tun.« Sie wollte
Tänzerin werden. (Die verstorbene Frau Henri Thomas'.) Wilflingen,
15. September 1992 Cezanne will im Bild eine neue Wirklichkeit schaffen
»parallel zur Natur«. Gut. Der Kritik liegt dann ob, zu prüfen,
ob seine Parallelen sich im Unendlichen schneiden oder nicht.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 81 |
Wilflingen, 16. September 1992. - Im Garten. Admirale und
Tagpfauenaugen wetteifern am Fliederspeer. Ich esse Weintrauben und werfe
hin und wieder eine Beere den Schildkröten vor. Sie greifen zu und
heben dankbar den Kopf. Daß sie den Cargo-Kult nicht kennen, steigert
noch ihre Dankbarkeit. Auf ihrem Studium ließe sich ein System errichten
- doch wozu ?
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 83 |
Wilflingen, 16. September 1992. - Das Dunkelfeld belebt
sich auf neue Art und Weise, seitdem die Befruchtung in vitro möglich
geworden ist. An sich ist diese Paarung von Ei und Samen nichts Neues;
sie findet in jedem Tümpel statt. Wird sie in die Technik und dann
in die menschliche Praxis einbezogen, übertrifft sie Huxleys Vision.
Sie stellt ein Kapitel der Erdrevolution dar. Die Erdrevolution ist ein
titanisches Ereignis, das die tote und die organische Natur bewegt. Damit
ist auch der Mensch betroffen, nicht nur in seiner historischen, sondern
auch in seiner zoologischen Existenz. Er spielt insofern eine besondere
Rolle, als ihm der Hebel der Erdrevolution zugewiesen ist: die Naturwissenschaft,
die zunächst gegen die Kulte angesetzt wird (Lamettrie, Voltaire,
Darwin). Dann gegen die Gesellschaft (Marx, Lenin) und endlich gegen die
Art an sich (Atom- und Gentechnik).
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 83-84 |
Wilflingen, 16. September 1992. - Der Kampf zwischen Göttern
und Titanen hat begonnen, als es weder Geschichte noch Naturgeschichte
gab - ja selbst vor der Schöpfung, die erst durch diesen Zwiespalt
möglich geworden ist. Er wiederholt sich in der Zeit. Das Schauspiel
der Gegenwart ist der verzweifelte Kampf gegen den Triumph der Naturwissenschaft,
der sich mehr oder minder heimlich in den Laboratorien vorbereitet und
mit dem neuer Wein in die alten Schläuche gegossen werden wird. Der
Überwindung des klassischen Krieges folgt jene der klassischen Moral.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 84 |
Wilflingen, 24. September 1992. - Je weiter wir im Alter
fortschreiten, desto mehr bewegen wir uns im Urteil über die Vergangenheit
zurück, und zwar in drei Schritten - im Tripudium. Der dritte Schritt
ist stärker, doch umsonst. Wir holen den Augenblick nicht wieder
ein.
Zum Beispiel die Kolonien: Ich war Vorschüler, als wir uns am Herero-Krieg
begeisterten. Fünfzig Jahre später stand er in üblem Geruch.
Auch Cortez und selbst Kolumbus werden demontiert.
Dann kündet sich wieder eine Wendung an. Mißstände lassen
sich trotz großem Optimismus nicht verschweigen, nicht übersehen.
Ganz Indien soll, als die Engländer abzogen, nach Leichen gerochen
haben, an denen sich die Geier mästeten. In Afrika und Asien fielen
befreite Stämme übereinander her. Mißwirtschaft, Krankheiten
und Hungersnöte breiteten sich aus. In Sarajewo geht es zur Zeit
schlimmer als einst unter den Türken zu: ein vergebliches Heimweh
nach dem Habsburger Osterreich erwacht.
Die Polemik der Söhne richtet sich gegen die Väter und das,
was sie anrichteten. Dafür gewinnen die Großväter an Ansehen.
Und umgekehrt ziehen die Großväter die Enkel vor. Das hörte
ich einmal persönlich von einem unserer großen Historiker,
Eduard Meyer, als ich kurz vor seinem Tode (1930) zwischen ihm und Hans
Blüher am Tische saß.
Ich komme darauf durch die Bemerkung Drieus, in der er die britisch- deutschen
Kriege als Ursache der Vernichtung des Abendlandes beklagt. Der Kaiser
hatte, als er die Regierung antrat, gute Karten in der Hand. Die alte
Queen liebte ihren Enkel; sie fand ihn großartig ....
Ich glaube, es war Houston Stewart Chamberlain, der sagte, daß durch
ein Bündnis von England, Deutschland und Amerika der Weltfriede nicht
zu erschüttern sei. Andererseits ist der Bruderkrieg ein germanisches
Erbübel. (Das
Geld verfolgt allerdings eine ganz andere Zweckursache - das Geld hat
ein mächtiges Interesse an Kriegen, insbesondere an modernen Kriegen;
HB.)
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 84-85 |
Wilflingen, 1. Oktober 1992. - Die Gräfin denkt über
ein Schmetterlingsparadies nach, das sie einrichten möchte, und frug
mich um Rat. Dazu wären Vorbereitungen in den Tropen und ein großes
Treibhaus nötig, das rege besucht werden würde, nach allem,
was ich darüber gehört habe. Es sollte aber nicht auf der Insel
stehen, die jetzt schon überlaufen ist. Selbst ihre einheimischen
Falter werden rar. Mein Prüfstein ist ein dunkler Rosenkäfer:
Liocola. Wenn ich früher mit dem Bruder von Überlingen aus die
Insel besuchte, sahen wir die schöne Art nicht selten; 1957 finde
ich sie in meinen Notizen zum letzten Mal erwähnt.
Tischgespräch mit dem Leitenden Gärtner über Natur und
Welt. Die apokalyptische Stimmung der Jahrtausendwende verführt zur
Schwarzmalerei. Viel ist leider begründet, wie der Artenschwund beweist.
Aber die Erde hält unerschöpfliche Reserven im Hintergrunde
- heilende Kräfte auch. Das Ozonloch soll sich bedrohlich vergrößert
haben; katastrophale Folgen der planetarischen Erwärmung werden vorausgesagt.
Andererseits wird die Bewölkung zunehmen und einen Teil der Strahlung
abfangen. Vielleicht wiederholt sich das Klima der Steinkohlenzeit mit
ihrem Wachstum, das uns noch heute zugute kommt. Dann über Aids.
»Die Schlange wird sich, auch ohne Medizin, in den Schwanz beißen.«
Das ist wie jede Prophezeiung zweideutig. Auch für unsere Ulrich
von Huttens kein Trost.
Paläontologen vermuten, daß der Stammbaum der Wirbeltiere viel
weiter zurückreicht als bislang gelehrt wurde. Die Annahme stützt
sich auf die Conodonten, winzige Fossilien, die eine Art von Rückenstrang
aufweisen oder denen er zugesprochen wird. Damit wäre der Lanzettfisch
entthront, den ich in Leipzig seziert habe.
Warum verstimmen mich solche Mitteilungen? Weil sie am Lehrgebäude
rütteln, das in mir errichtet worden ist. Der Amphioxus hat mir genügt.
Er stand als Denkmal dicht neben dem Archaeopterix in meinem inneren Tiergarten.
Dort lasse ich ihn auch stehen.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 85-86 |
Wilflingen, 2. Oktober 1992. - Die Zeitungslektüre
wird mit jedem Monat widriger. Die Differenz zwischen den Nachrichten
und dem Feuilleton wird paradox. Tatsachen und Meinungen stimmen immer
weniger überein.
Im Maß, in dem die Grenzen sich verwischen, nimmt die regionale
und epochale Entfremdung zu. Man rückt sich auf den Leib - und leider
nicht nur freundlich, wie es, unter vielen auch von mir, gehofft wurde.
Das alte Haus, durch zwei Erdbeben rissig geworden, wird weiterhin geschüttelt;
in den Stockwerken werden Tapeten gewechselt, nur in den Kellern ist Betrieb.
Das Ungefähre wirkt sich von der Physik in jeder Richtung aus. Das
ist keine Entdeckung, sondern eine seismographische Wahrnehmung, der Entdeckungen
nachfolgen. Das Experiment, das die Griechen den Banausen Überließen,
entscheidet; die Materie wird abgehorcht. Newton brauchte den Apfel nicht
fallen zu sehen; das ist der Unterschied zwischen ihm und Otto Hahn.
Mit dem Triumph der Titanen wird auch das politische Gewicht der Massen
zunehmen, die ihrerseits dem Chaos gegenüber auf Eliten angewiesen
sind. Auch in dieser Hinsicht war unser Jahrhundert experimentell.
Fachleute fordern die Abschaffung der Großschreibung. Eine Konferenz
ist für 1995 geplant. Falls der Heckenschnitt und der Primat der
Verkehrsordnung fortschreiten, ist das Ergebnis vorauszusehen. Damit entfiele
der Respekt vor den Hauptwörtern, der unsere Rechtschreibung auszeichnet.
Man liest dann schneller über sie hinweg. Sie hemmen die Bewegung
durch eine besondere Qualität.
Deshalb gelten sie als überflüssig und sogar schädlich
wie für den Autofahrer die Alleebäume.
Der Autor wird sich damit abfinden - um so mehr, als der eigentliche Konflikt
erst nach dem eventuellen Erfolg der Reform zu erwarten ist. Ein Zwang
zur Orthographie kann nur auf der Schule ausgeübt werden - sonst
darf jeder so schreiben, wie er will. Er stellt sich damit vor.
Auch ein Verleger kann in jeder beliebigen Schriftart drucken lassen,
und es ist möglich, daß es dabei zur Konkurrenz oder auch zu
einer Auslese auf dem Buchmarkt kommt. Desgleichen steht jedem Autor frei,
nicht nur die Type, sondern auch die Grammatik zu wählen, die ihm
behagt.
Die klassischen Texte lesen sich am besten so, wie sie gedruckt wurden.
Das trägt zur Zeitstimmung bei. So gefällt mir bei Nietzsche
sein schon veraltetes th.
Dagegen, daß die Brüder Grimm in ihrem Wörterbuch die
Kleinschreibung bevorzugten, ist nichts einzuwenden - wohl aber dagegen,
daß sie in ihr zitiert haben. Ein vertrautes Gedicht verliert die
Frische, mit der es aus der Feder floß.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 87 |
Wojciech Kunicki schrieb mir in einem seiner Briefe: » Wir
Slawen sind Genies des Leidens« ....
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 88 |
Wilflingen, 28. Oktober 1992. - An Frank Schirrmacher:
».... War mir der Eifer, mit dem Marschall Keitel darauf gedrungen
hatte, daß ich meinen Abschied nehmen solle, um so seltsamer vorgekommen,als
ich das nicht beabsichtigte und mich gesund fühlte. Es war aber schon
ein Arzt bestellt, und in zwei Stunden war ich Zivilist.
Warum aber das und in solcher Eile dazu? Wollte man mich unbedingt loswerden,
hätte ein Kommandierung an die Ostfront genügt. Der Brief nun
erklärte mir Keites Eifer - er hatte Angst vor einer unmittelbar
gegen mich bevorstehenden Prozeß und wollte sich und die Armee aus
drer Affäre heraushalten. Im Falle meines Ordensbruders Rommel wurde
das problem mit einer Pille und einem Staatsbegräbnis gelöst.
Aber so wichtig war ich nun auch wieder nicht. Übrigens hatte Rommel
meine Friedensschrift gelesen und gesagt: Damilt läßt
sich arbeiten.
.... Hätte ich mich damals zurückgehalten und die Leute an sich
selbst zugrunde gehen lassen, würde vielleicht mein Sohn noch am
Leben sein. Doch das ist ein Kapitel für sich, und hoffentlich bleibt
es das auch - - -. Zum Verhalten im Bürgerkriege gebe ich im Waldgang
einige Ratschläge, und meiner Prognose kommender Dinge in der Schere
füge ich nichts mehr hinzu«
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 92-94 |
Wilflingen, 1. November 1992. - Historisch gesehen, geht
dem Weltstaat ein »Actium« voraus. Darin sind sich die Auguren
einig, und diese Erwartung hat zu den ungeheuren Rüstungen der Großreiche
während der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts geführt.
Allerdings scheint sich die Vermutung, die ich vor kurzem in der »Schere«
notiert habe, daß Actium vielleicht »flach ausfallen«
werde, durch die überraschende Beendigung des »Kalten Krieges«
zu bestätigen.
Das könnte bedeuten, daß der Übergang zum Weltstaat, ohne
daß er wahrgenommen wurde, bereits stattgefunden hat. Die Politik
ist durch die Naturwissenschaft überholt und durch die Technik uniformiert
worden. »Die Technik ist die Uniform des Arbeiters« (»Der
Arbeiter«, 1932).
Daß ein Actium, nicht nur zur See, auf dem Lande und in der Luft,
sondern auch im Universum uns hoffentlich erspart bleiben wird, setzt
freilich nicht der Gewalt ein Ende, sondern verlagert sie. Das ist ein
Kapitel für sich.
Einer der Gründe für Nietzsches Wahnisinn könnte darin
liegen, daß ihm die Vision des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu
stark wurde.
Neben der Geschichtsperiodik in Spenglers Sinne gibt es auch rein kausale
Einschübe. Die Begegnung mit einem riesigen Boliden soll sich innerhalb
einer Million von Jahren wiederholen, wenn man den Astronomen gluaben
darf. Selbst Meteore von mittlerer Größe verändern schon
die Natur. Ebensowenig läßt sich das Auftreten von Genies und
Propheten voraussagen, von Göttern ganz abgesehen. Wo die Geschichte
endet, führt sie zur Natur oder zum Mythos zurück . mit oder
ohne menschliche Präsenz.
Bis zur Erschöpfung geführten Bürgerkriegen folgt brutalisierende
Konformität mit dynamischen Effekt. In dieser Hinsicht ist das heutige
Europa chronologisch dem Rom vor Actium, doch morphologisch dem Griechenland
nach dem Peleponnesischen Kriege verwandt.
Er hat die Polis, insbesondere Athen und Sparta, politisch und moralisch
ruiniert. Für Alexander und dann für Cäsar was das Feld
planiert. Unsere heutigen Händel entsprechen den Diadochenkriegen
- sie werden als Bürgerkriege in einem zwar nicht politisch, doch
bereits praktisch bestehenden Weltstaat geführt - zum Teil noch unter
nationalen Vorzeichen. Das ließe ich bis zu den kämpfenden
Staaten ud sogar personell ausführen.
Oswald Spengler beschränkt seine zyklische Betrachtung auf die Geschichte
und im besonderen auf die Kulturen - also auf eine winzige Spanne, verglichen
mit jenen der belebten oder gar unbelebten Natur. Es ist aber möglich
und sogar wahrscheinlich, daß größere Zyklen rotieren
....
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 95-96 |
Wilflingen, 1. Januar 1993. - »Lieber Eric Jacolliot,
Sie bitten mich um quelques mots de votre main als Vorwort
zu meiner Schrift Über die Linie, deren Übersetzung
bei Christian Bourgois erschienen ist und deren Neuausgabe Sie beabsichtigen.
Um diesem Wunsche wenigstens in bescheidenem Maß entsprechen zu
können, mußte ich mich zunächst bei mir selbst informieren
und meinen Text von 1950 nebst den ihn betreffenden bibliographischen
Notizen zu Rate ziehen. Schließlich sind über vierzig Jahr
verflossen seit jener Zeit. Und sie waren an Ereignissen reich.
Die Lektüre war weniger eine Wiederholung als eine Neuentdeckung
verlorener Zeit. Der Essay war mir so weit aus dem Gedächtnis entschwunden,
daß ich ihn für den kurzen Beitrag zu einer Festschrift gehalten
hatte, wie man sich dessen unter Autoren mehr oder minder pflichtgemäß
unterzieht - diesmal anläßlich des 60. Geburtstages von Martin
Heidegger.
Vielleicht hatte ich mir besondere Mühe gegeben, denn die Angriffe
gegen den Philosophen gewannen bereits an Form. Daß er vor dem Kriege
ein Seminar über meinen Arbeiter gehalten hatte, war
mir damals noch nicht bekannt.
Immerhin verwunderte mich der Umfang der Linie im Vergleich
zum vergänglichen Anlaß - es handelte sich dabei also wohl
auch um ein eigenes Anliegen.
Läßt sich dieses Anliegen nun in einen einzigen Satz fassen?
Vielleicht als den Versuch eines Betroffenen, der nach zwei Erdbeben wieder
festen Fuß fassen will. Das Besondere an diesem Versuch ist seine
optimistische Natur. Nicht, daß es mir letzthin an Optimismus
mangelte. In meinen Maximen finde ich: 'Was mich nicht umbringt,
macht mich stärker' - und was mich umbringt, macht mich äußerst
stark. Hierzu die Formel, die ich nach einem mit Heisenberg, dem
Bildhauer Hans Wimmer und meinem Bruder Friedrich Georg verbrachten Abend
zum Selbstgebrauch notierte:
X  |
(X als das Beliebige, etwa eine Amöbe, ein Embryo, der Bäckermeister
Meier oder selbst ein Leonardo bei der Exposition über die Zeitmauer:
).
Im Grunde kann also nichts schief gehen. Die schiefe Ebene
ist die Zeit. Die Kugel rollt auf ihr beliebig, doch über die ultima
ratio hinaus. Der Kopf der Schlange ist ein Sinnbild auf dem Weg. Hier
führt die Hoffnung weiter als die Furcht.
Zum Pessimismus war reichlich Grund vorhanden - um so mehr, als sich neue
Konflikte abzeichneten. Es fehlte daher bald nach dem Erscheinen der Linie
nicht an Einwänden so meinte Gerhard Nebel, daß es sich hier
um einen persönlichen Optimismus handle, der nicht zu verallgemeinern
sei. Wenn ich diesen Einwand zunächst akzeptiere, muß ich hinzufügen,
daß jene Lagebeurteilung sich für mich persönlich offenbar
befruchtend auswirkte. Im chronologischen Verzeichnis meiner Schriften,
das ich meiner lieben Frau und Hausarchivarin verdanke, finde ich bald
nach dem Erscheinen der Linie den Waldgang und
den Gordischen Knoten - die eine behandelt das Verhalten des
Einzelnen innerhalb der Diktaturen, die andere die historischen Konfrontationen
zwischen Ost und West.
1959: Die Zeitmauer. Wir befinden uns nicht nur am Ende einer
Welt-, sondern im Beginn einer Erdrevolution im Sinne von Cuviers Katastrophentheorie.
Die Mittel der klassischen Physik, Politik und Moral sind unzureichend
geworden; notwendig ist, zu wissen, was die Erde will.
Damals hatte ich mich noch nicht gründlich genug mit Hölderlin
beschäftigt, und die vortreffliche Studienausgabe der beiden Italiener,
Colli und Montinari, von Nietzsches Werken, insbesondere der nachgelassenen
Fragmente, konnte mir noch nicht bekannt sein, da sie erst 1967 erschienen
ist. Sie waren mir wichtig zur Konzeption der Schere, deren
Übersetzung durch Julien Hervier abgeschlossen ist.
Die aphoristisch gefaßte Vision der Schere führt
die Linie Hölderlin-Schopenhauer-Nietzsche fort. Sie richtet sich
im wesentlichen auf das nächste Jahrhundert, das im Triumph des Titanismus
unerhörte Überraschungen zeitigen wird. Die Herrschaft der in
eherner Wiege Gewachsenen wurde von Hölderlin, als dem Dichter
feindlich, gefürchtet, von Schopenhauer pessimistisch betrachtet,
von Nietzsche, der das 21. Jahrhundert als seine geistige Heimat ansah,
mit Leidenschaft bejaht.
Hölderlin geht um ein weiteres Jahrhundert über Nietzsche hinaus.
Er hält die dürftige Zeit für notwendig, weil
göttliche Fülle der Mensch nur selten erträgt.
Aber er weiß, daß sie wiederkehren wird - zur richtigen
Zeit. Inzwischen tröstet der Dichter sich im Schlaf, das heißt:
mit den Träumen, und mit dem Wein.
Dionysos ist für Hölderlin vor allem im Interim mächtig,
für Nietzsche als Festherr absolut. Für ihn ist, wenn Apollo
schließlich die Sprache des Dionysos redet, das höchste Ziel
der Kunst erreicht (Geburt der Tragödie).
Die Befürchtung, daß von den Titanen nur Unheil drohe, liegt
nahe, doch sie wird selbst von Hölderlin nicht geteilt. Prometheus
ist Götterbote und menschenfreundlich; bei Hesiod ist das titanische
das Goldene Zeitalter. Die Ablösung der Eisenzeit durch die Strahlung
findet zunächst in den Naturwissenschaften statt. Die Macht ihrer
Formeln erweist sich in der Technik und ihrer Apparatur. Sie wird von
einer Vergeistigung begleitet, welche die Astrologen dem Sternzeichen
Wassermann zuschreiben. Der Energiehunger wird wachsen; die
Kern- und Gentechnik wird die Gesellschaft in einer Weise formen, die
selbst Huxley nicht vorausgesehen hat. Jules Vernes Utopien sind maschinell
- und inzwischen weit überholt. Nur in der Idee des Doktor
Ox wird eine Geistesänderung erwogen, die an unsere Drogenszene
gemahnt. Die eigentliche Frage ist nicht, wie die Neue Welt
zu bewältigen wäre, sondern wie sie sich formiert. Sie schafft
Einblicke kultischen Ranges, so in den Dualismus des Lichtes - philosophisch
ebenbürtig Leibniz' Monaden und theologisch der Transsubstantiation.
Das ist prometheischer Stil.
Auf Auguren und ihre Auspizien ist wenig Verlaß. Kopf oder
Wappen? Beides kann stimmen, je nachdem, wie die Münze fällt.
Das hängt jetzt von dem ab, was die Erde will, und von der Tiefe
des Einblicks in die Materie. Die Hoffnungen am Neujahrstage unseres Jahrhunderts
waren glänzend, doch sie sind enttäuscht worden. Die Welt hat
sich verdüstert, während der Zustrom an Energie fortwährend
und bedrohlich schwillt. Und doch ist es möglich, daß Phoebus
nach den Wolken erscheint. Die Aufgaben sind planetarisch - wohl zu groß
für nur eine Generation.
Doch zur Linie zurück. Selbstkritisch muß ich sagen,
daß der Text für mich nicht einfach zu lesen war. Über
manche Sätze leuchten Maximen wie Glühwürmchen hilfreich
hinweg. Dabei nimmt mich wunder, daß diese Schrift eine Reihe von
Auflagen erlebt hat und immer noch gelesen wird. Ähnliche Erfahrungen
wurden mir jetzt mit der Schere zuteil. Eine Leserin schreibt
mir, daß ihre alte Mutter, eine einfache Frau, sich noch vor dem
Hinscheiden an dem Buch tröstete. Das höre ich von manchem meiner
Texte, so von der Zollstation - und damit sollte ich zufrieden
sein.
Trotz allem scheint mir auch nach vierzig Jahren die zuversicht auf das
nächste Jahrhundert begründet, wenngleich sich die Perspektive
geändert hat. Die Schlange als Sinnbild der Erkenntnis ist erdmächtig
geworden, und die Frage erhebt sich, ob sie sich hinter der Wissenschaft
verbirgt. Das entspricht ihrem titanischen Charakter - ob es dem Menschen
nützt oder ihn schädigt, bleibt ein Kapitel für sich.«
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 97-101 |
Wilflingen, 16. Januar 1993. - Das Jahr beginnt wie in
einem Fahrzeug, dessen Bremsen erheblich gelockert sind. Es schlottert
auf den Geraden, wird in den Kurven riskant. Säße man im Ballon,
müßte man Ballast abwerfen - Ansprüche, die zu Unrecht,
Urteile, die zu Vorurteilen geworden sind.
Zum Geleit: »Impavidum ferient ruinae«. Das zur Umwelt. Und
als beständiger Trost: Vom Zeitlosen trennt uns nur ein Atemzug.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 101 |
Wilflingen, 5. Februar 1993. - »Die Politik ist die
Lustseuche der Autorschaft.« Paul Morand. Eine gute Maxime, die
er, und merh noch seine gattin, nicht beachtet hat. Ich hatte sie gewarnt.
Als sie gegen Ende der Okkupation Paris verließen, notierte ich:
»Rs wird Herbst; die Schwalben ziehen davon.«
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 102 |
Wilflingen, 8. Februar 1993. - Ein Wandel, außergeschichtlich
und (zum mindesten!) naturgeschichtlich im Sinne der Cuvierschen Katastrophentheorie,
bedeutet auch, daß er mit politischen, ja selbst geschichtlichen
Kräften nicht mehr zu bremsen ist.
Zum Beispiel kann die elektronische Ummantelung und Ausstrahlung des Erdballs
nicht ohne Konsequenz bleiben. Ihr gegenüber sind die Inhalte, etwa
die Bilder und Nachrichten, sekundär.
Eine politisch-moralisch schwankende Gesellschaft verfügt über
Uhren, Fernrohre und Mikroskope von unübertrefflicher Präzision.
Auch von der Moral abgesehen, die häufig als lästiger Hemmschuh
empfunden wird, hat sich das Urteil über den reinen Nutzen noch nicht
stabilisiert. Die Atombombe etwa (auch sie ein Kind des Vaters aller Dinge)
hat wenigstens den klassischen Krieg ad absurdum geführt. Daß
dem so bleibe, macht allerdings den Weltstaat notwendig.
Daß mit der Abschaffung des Krieges die Gewalt nicht beendet, sondern
verlagert wird, versteht sich am Rand. Siehe dazu das Gespräch, das
ich hier im Hause darüber mit Moravia geführt habe.
Die Präzision der Meßkunst erstreckt sich auf viele Gebiete
und fördert Mängel zutage, die man seit jeher gehabt hat und
denen man wie der Alzheimerschen Krankheit oder dem Ozonloch erst einen
Namen geben muß.
An der Veränderung des Klimas ist der Mensch unbeteiligt und weniger
schuldig, als er denkt. Allerdings ist er unentbehrlich, freilich nur
wie im Kampf der Götter und Titanen Prometheus unentbehrlich war.
Das heißt wiederum, daß er auf seinen Einsatz (dabei denkt
er vor allem an die Technik) nur bescheiden rechnen darf, obwohl er dazu
verpflichtet ist.
Diese Konfrontation ist vor-adamitisch und nicht nur irdischem, sondern
kosmischem Walten gemäß. Sie wird das nächste Jahrhundert
beschäftigen. Zudem regt sie zur Frage an, ob nicht die Erde das
einzige Gestirn ist, auf dem ein diesem Walten adäquates Bewußtsein
besteht. Die bisherigen Ergebnisse der Raumfahrt widersprechen dem nicht.
Um auf das »Ozonloch« zurückzukommen: wir wissen nicht,
ob es derartiges in der Witterung schon einmal gegeben hat, oder ob es
sich rhythmisch wiederholt. Jedenfalls ist es die Folge einer Eruption.
Die Erde verausgabt und verwandelt den Vorrat ihrer Energie. Ihr Haushalt
wird sich dem anpassen.
Der Energiehunger wird zunehmen. Er ist sowohl naturwie kulturfeindlich
und wird bei jeder Entscheidung den Ausschlag geben, gleichviel in welchem
Umfang er das Recht und die Moral transformiert. Abzuwarten ist, inwieweit
er sich selbst reguliert.
Unterentwickelt ist, wer technisch nicht mithalten kann. Das schließt
die Bildung kleiner und mächtiger Eliten nicht aus, erfordert sie
sogar.
Die Freiheit schwindet im Maß, in dem die Motorik wächst. Der
Verlust wird kaum bemerkt, ja begrüßt und zugleich nostalgisch
gefühlt.
Wenn die Erde der einzige von »fühlender Brust« bewohnte
Planet ist, wird sie wieder in vorkopernikanischem Sinne zur Mitte der
Welt.
Jede Jahrtausendwende bringt apokalyptische Visionen -diesmal, dem Zeitalter
entsprechend, technischer Natur.
Astrologisch gesehen, ist das Zeitalter der Fische abgeschlossen -hat
Golgatha seine Aufgabe erfüllt?
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 110-111 |
Saulgau, 4. Mai 1993. - Magnifizenz, lieber Alfred Toepfer,
meie sehr geehrten Damen und Herren, die Verleihung des Robert Schumann-Preises
der Stiftung F.V.S. bedeutet für mich eine hohe Auszeichnung. Mein
herzlicher Dank gilt dem großherzigen Stifter, den Mitgliedern des
Kuratoriums dieses Preise, der Universität Bonn und allen, die sich
zur mehr oder minder weiten Reise hierher bemüht haben. - Schon der
Ort unserer Zusammenkunft hat eine diesbezüglcihe Bedeutung: das
Hotel, einstens Poststation, befindet sich seit über dreihundert
Jahren im Besitz der Familie Kleber, der auch der berühmte napoleonische
General dieses Namens angehört hat. .... Der Schuman-Preis wird verliehen
für markante Verdienste um die europäische Vereinigung. Sie
basiert in erster Linie auf der deutsch-französischen Verständigung
oder, besser gesagt: Freundschaft, da die Erbfeindschaft seit langem begraben
ist. .... Ich danke den Mitgliedern des Kuratoriums dafür, daß
sie nach einer Reihe hervorragender Politiker und Wirtschaftler nun mich,
einen Schiftsteller, auszeichnen. Im Vergleich zu den Leistungen der Vorgänger
ist mein Beitrag zu Europa bescheiden und eher symbolischer Natur. Zudem
frage ich mich, wie weit wir mit unseren Bemühungen inzwischen gediehen
sind - gewiß nicht so weit, wie wir gehofft hatten. In meiner Jugend,
vor 1914, gab es für Reisende keine Grenzen. Nur für Rußland
brauchte man einen Paß. ....
.... Ich denke beim heutigen Anlaß an ein Gespräch zurück,
das ich vor fast genau 50 Jahren, am 13. Juli 1943, mit meinem Freund
Alfred Toepfer geführt habe .... Die Schrift, die Alfred Toepfer
Ihnen hier überreichen läßt, hat eine lange Geschichte;
sie geht mehr als ein Jahr hinter das Gespräch zurück, das ich
soeben erwähnt habe. Persönlich hatte ich sie zunächst
nur als Stütze für meinen Optimismus gedacht. Ich mußte
mich kurz fassen, beendete sie vor einem Kommando in den Kaukasus und
verschloß sie mit anderen Geheimsachen in meinem Panzerschrank.
Nun, auf Drängen Toepfers, nahm ich sie wieder vor.
Man versuchte auch auf andere Weise an mich heranzutreten. Erst jetzt,
nach Öffnung der russischen Archive, ist mir der Aufruf bekannt geworden,
den Johannes R. becher, später Kulturminister der ehemaligen DDR,
mir aus meiner Berliner Zeit bekannt, am 23. Oktober 1943 von Moskau aus
durch Rundfunk an mich gerichtet hat. Er forderte mich auf, im Westen
daruf hinzuwirken, daß der Krieg beendet werde, er wolle es im osten
tun. Darin der Satz: »Getrennt sind wir marschiert viele Jahre lang,
nur gilt es, vereint zu schlagen.« Damit überschätzte
er freilich meine Möglichkeiten. Schon der Aufruf kam mir nicht zu
Ohren, und die Generäle im Osten, deren Stimmung ich während
meines Kaukasus-Kommandos zu erkunden beauftragt gewesen war, kämpften
damals schon ums nackte Überleben ihrer Truppen und waren, auch bei
negativer Einstellung zum Regime, in einer solchen Situation nicht zum
Aufstand bereit. Wäre es dazu gekomen, hätten wir heute ein
sowjetisches Europa, oder auch schon wieder keines mehr.
Ich beschränke mich hier auf meine Beziehung zu Frankreich, weil
es mir das früheste Erleben seit meinem Aufenthalt als Austauschschüler
in Buironfosse im Jahre 1909 ist (das Programm für
Austauschschüler war also schon lange vor dem Beginn des 1. Weltkrieges
gängige Praxis! HB). Doch bschränkt sich meine Zuneigung
nicht auf dieses nachbarland. Was wäre ich ohne die Landschaften
des Mittelmeeres, dessen Küsten ich wieder und wieder besucht habe,
was ohne die Dichtung Italiens, Spaniens, Rußlands, Englands, Skandinaviens?
ich hoffe, daß das, was ich von überall her empfangen durfte,
durch meine Bücher zurückwirkt, die in diese Sprachen übersetzt
sind.
Dem Autor kommt ein hohes Alter insofern zugute, als er ein Fazit ziehen
kann. .... Doch es fragt sich, was bleibt. Von meinen drei Leuchttürmen:
Hölderlin, Schopenahuer, Nietzsche - war nur dem mittleren der Blick
auf eine postume Morgenröte gewährt.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 112-116 |
Wilflingen, 3. April 1993. - Auf dem Sessel neben dem Kamin
ein helles Kissen mit schwarzem Muster - es verwandelt sich in Idris auf
diesem Platz, den er im Winter bevorzugte. - Ein Augentrug? Gewiß
- dooch andererseits nur möglich als Gruß des platonischen
idris - nicht das Kissen hat ihn: er hat das Kissen belebt.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 117 |
Wilflingen, 5. April 1993. - Bei der französischen
Post ein Brief mit einer Marke, die mein Photo trägt. Sie ist gestempelt
- dazu die Unterschrift: »Ernst Jünger, Chasseur subtil«.
- Ich hatte das Kuriosum zunächst übersehen, wurde aber durch
ein Zitat des Adressanten darau aufmerksam hemacht: »Heute gibt
es nichts SChädlicheres als Ehrungen. wenn man erst auf den Hund
gekommen ist, kommt man auch auf die Briefmarken (E. J. am 17. November
1973).«
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 118 |
Wilflingen, Anfang Juni 1993. - Im Weltstaat wird sich
die gegenseitige Befruchtung fortsetzen; er ist undenkbar ohne sie.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 119 |
Wilflingen, Anfang Juni 1993. - Hölderlin sieht im
Zeitalter der Titanen, die er die Eisernen nennt, eine Ermattung der Künste,
und vor allem der Dichtkunst, voraus. Die Rüstung der Titanen ist
vor allem technischer Natur. Doch Hölderlin ist von der Rückkehr
der Götter überzeugt.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 120 |
Wilflingen, Anfang Juni 1993. - Der Anarch ist autark.
Er ist weder Anarchist noch Nihilist und von der Gesellschaft unabhängig,
obwohl e. um seine Ruhe zu haben, deren Sitten und Riten befolgt. Als
Bäcker z.B. wird er guetes Brot backen, und dann ist Feierabend für
ihn. Sollte er zufällig ein Genie sein, so wird der anarch inkeine
Stilrichtung eintreten, sondern einen eigenen Stil gründen. In diesem
Sinne war Goethe zugleich Minister und Anarch.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 120 |
Wilflingen, 21. Juni 1993. - »Die beste Monarchie
ist jene, die der Republik, und die beste Republik jene, die der Monarchie
am ähnlichsten ist.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 122 |
Wilflingen, 28. Juni 1993. - Zu Schopenhauers handschriftlichem
Nachlaß zählen die »Cogitata«, die anfangs 1830
in Berlin begonnen worden sind. Indem ich sie aufschlug, stieß ich
auf die Notizen des Philosophen zu Kerners »Seherin von Prevorst«.
Der Eindruck, den dieser Bericht auf ihn geübt oder, wie zeitgenössische
Kritiker meinten, verübt hat, ist bedeutend; gewisse Absonderlichkeiten
legt er der »Leichtgläubigkeit und dem schwachen Urtheil«
Kerners zur Last.
Ich entsinne mich, daß ich, durch die »Parerga« angeregt,
das Buch vor sehr langer Zeit gelesen, aber nicht beendet habe - wahrscheinlich
weil mich der christliche Weihrauch à la Görres störte,
von dem auch Schopenhauer abrückte. Er bezeichnet den Text als höchst
verfänglich, geht aber unbeirrt auf den Kern ein - inwiefern Geistererscheinungen
beachtlich und ernstzunehmen sind. Dabei entlastet er sich in rationaler
Hinsicht, indem er sie an das Gangliensystem delegiert. Die Seherin meint,
daß die Begegnungen in ihrern »inneren Ringe« oder in
ihrer »Herzgrube« stattfänden. Dabei konnte sie in ihren
täglichen Gewohnheiten fortfahren - etwa ihre Suppe essen, während
eine Erscheinung sie in Anspruch nahm. Ihr Zustand läßt sich
also, auf die Moderne übertragen, dem eines Reisenden vergleichen,
der im Flugzeug sein Menü verzehrt, während er durch das Fenster
auf eine phantastische Landschaft blickt.
Es versteht sich, daß Schopenhauers Notizen zum »Geistersehen«
zu ihrer Zeit und irn Jahrhundert, das folgte, eher als feuilletonistische
Exkurse gewertet worden sind. Der Philosoph wagte eine Grenzüberschreitung
unter gebotener Vorsicht, nicht aber den Abweg zum populären Mystizismus,
wie es ihm vorgeworfen wird.
Was mich nun nach eigenen Erfahrungen daran fesselt , das ist die besondere
Form der Wahrnehmung, die ich weder dem Traum noch dem Wachsein zurechne
und den »Dritten Gang« nenne. Von beiden unterscheidet sich
ein Sehen durch die geschlossenen Augenlider, in dem selbst belanglose
Dinge eine außerordentliche Schärfe annehmen. Um auf die Moderne
zurückzukommen: nach einem Blick durch das Fenster auf die Alpen
gewinnen Messer und Gabel eine schattenlose Plastik - die Turbulenz kontrastiert.
Daher die Vorliebe für Stilleben. Die Dinge, seien es auch nur ein
Bleistift und eine Streichholzschachtel, schmücken sich zum Fest.
Allmählich leuchten sie schwächer, als ob eine Batterie sich
erschöpfte oder eine Erwartung ermüdete. Erscheinungen künden
sich an, doch sie lassen sich nicht erzwingen - sie sind autonom.
Schopenhauer selbst wirkt in seinem Werk, als ob der Leser immer wieder
auf einen Ganglienknoten stieße; das reicht über die bloße
Lektüre hinaus. Der Meister ist anwesend. Daher stiftet er nicht
nur Gemeinden, sondern auch Freundschaften. Man erkennt sich dank ihm.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 125-127 |
Wilflingen, 27. Oktober 1993. - Trouvaillen beim Ablegen
von Zeitungen:
»Ich, Daniela K., nehme am Mittwoch, den 24. März 1993, amläßlich
meines 30. Geburtstages trostspendende Worte, die mich mein hohes Alter
vergessen lassen, ganztägig entgegen.
P.S.) Suche Anschluß an aktive Seniorengruppe!«
Soll ich mich melden? .... Der dreißigste Geburtstag ist eine Wegmarke;
in der Tat rückt das Alter heran.
....
Ferner: Ein vierzehnjähriger Gymnasiast in der Zeitschrift »Neue
deutsche Schule«:
»Lesen muß der Mensch erst lernen, Fernsehen ist eine angeborene
Fähigkeit. Also ist Fernsehen viel natürlicher als das umständliche
Lesen.« (Das Im-Wald-vor-sich-hin-Dösen
ist auch viel natürlicher als das umständliche Im-Gymnasium-Pauken
für einen späteren hochbezahlten Beruf; ich schlage daher vor,
diesen vierzehnjährigen Gymnasiasten des umständlichen Gymnasiums
zu verweisen, ihn überhaupt von jeder Art von Schule zu »befreien«,
also auch von jeder Art von Hilfsschule [Sonderschule], Privatschule und
Unterricht in der Familie, damit er endlich nur gemäß seiner »angeboren Fähigkeit« für den Rest seines Lebens ausschließlich im Wald
leben kann; HB.)
Der Gedanke ist gut. Er berührt nicht nur eine neue Methode der Unterrichtung,
sondern auch einen fundamentalen Unterschied der Wahrnehmung.
Dazu Goethe: »Der Dichter bringt seine Werke nur vor die Phantasie,
der Maler unmittelbar vor die Sinne« (Ich verdanke das Zitat einem
Leserbrief von Sofie Nabholz, Ravensburg).
Goethe setzt hinzu: »Was einem Dichter erlaubt ist, ist einem Maler
noch lange nicht erlaubt«.
Dieser Maxime widerspricht das Fernsehen täglich und nächtlich
zu jeder Stunde: Im Fernsehen ist alles erlaubt.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 127-128 |
Wilflingen, 23. Dezember 1993. - Daß Titanisches
unvermeidlich heransteht, wird täglich deutlicher. Es versagen nicht
nur die politischen Formen, sondern die historischen auch.
Wie sollen wir uns die Reihenfolge göttlicher und titanischer Entfaltung
vorstellen, die uns nur am Rande betrifft? Ist sie zyklischer oder linearer
Natur? Wenn wir mit Hesiod das Chaos als Anfang setzen, muß der
Titan dort stehen. Doch vor dem Wüsten und Leeren muß noch
ein anderes gewesen sein: Zeitlosigkeit. in ihm ist Göttliches anwesend.
Imsofern ist anzunehmen, daß Göttliches, sei es bemerkt oder
unbemerkt, verehrt oder verachtet, immer vorhanden ist. Sein Ort bleibt
der Traum, der wein und das Gedicht.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 129-130 |
Wilflingen, 9. Mai 1994. - Johannes Gross im »Frankfurter
Allgemeine Magazin« vom 6. Mai 1994:
Zwei Bundespräsidenten, Walter Scheel und Karl Carstens, haben als
Protektoren des Ordens Pour le mérite [für Wissenschaft und
Künste] die Anregung gegeben, Ernst Jünger, unsereb größten
lebenden Schriftsteller, aufzunehmen; Jünger war im Ersten Weltkrieg
der militärische Pour le mérite für hervorragende Tapferkeit
verliehen worden. Bisher ist nur eine vergleichbare Zelebrität Mitglied
beider Orden, des zivilen wie des miltärischen, gewesen, Helmuth
von Moltke (d.Ä.; HB), gleich ausgezeichnet
als Feldherr wie als Schriftsteller (Träger
dieser beiden Orden ist aber nicht nur dieser eine, sondern es
sind vier: [1. ] Helmuth von Moltke, [2.] Otto von Bismarck, [3.]
Julius de Verdy du Vernois, [4.] Hermann von Kuhl; HB). Der Orden
ist der Anregung der Präsidenten nicht gefölgt. Ernst Jünger
darf sich sagen: der heutige Orden hätte auch Molke abgelenht.
An Johannes Gross: »Ihre Glosse zum Pour le Mérite
trifft ein Paradoxon meiner Existenz insofern, als ich der Letzte bin,
der zur preußischen Krone noch ein legitimes Verhältnis besitzt.
Deshalb haben Heuss und Speidel mich seinerzeit auch befragt.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 138 |
Wilflingen, 12. Juni 1994. - Gerd Tellenbach stellte die
Frage,ob »nichtgeschehene Ereignisse« sich auf lange Sicht
oder gar weltgeschichtlich hätten auswirken können - also etwa
ein Freispruch Jesu Christi durch Pontius Pilatus oder die Vernichtung
des fränkischen Heeres 712 durch die Araber bei Tours und Poitiers?
DAs ist eine Frage, die auch mich allnächtlich bewegt. Ganz allgemein
ist zu sagen, daß der Schicksalsdruck so stark werden kann, daß
er, wenn nicht zur gleichen, so doch zu ähnlichen Lösungen führt.
Um das jahr Null war die Ablösung der Götter durch den Menschen
fällig, und ein Sieg der Araber über Karl Martell hätte
nur ein Datum innerhalb ihres unvermeidlichen Rückzuges aus Europa
gesetzt.
Mich behelligen eher Quisquilien. Wie wäre es, wenn Wilhelm II. statt
der Animösität gegen seinen Onkel sich auf die englische Verwandtschaft
gestützt oder wenn Hitler einen Juden wie Valeriu Marcu als Graue
Eminenz gehabt hätte?
Das sind Gedankenspiele für schlaflose Nächte - in der Geschichte
gelten nur Tatsachen. Dazu gehört die Mittellage eines reiches, das
nicht nur durch eigene Spaltungen bedroht ist, sondern auch durch fremde
Heere, die auf seinem Boden Krieg führen. Aus jeder Himmelsrichtung
lädt man den Unrat darauf ab.
Diese Lage kann sich verschieben und (wahrscheinlich nach Osten) delegiert
werden.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 144 |
Wilflingen, 18. Juni 1994. - Zur »Zeitmauer«.
Konsequenzen:
Fische
Sohn
Eisenzeit
Zweites Testament
Merkur
Nationalstaaten
Demos
Chaos
Titanen
Prometheus
Zyklopen
Ewig |
Wassermann
Heiliger Geist
Strahlungszeit
Drittes Testament (Beginn mit Apokalypse)
Uranos
Weltstaat
Chaos
Ordnung
Götter
Zeus
Odysseus
Zeitlos |
und so fort. |
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 144-145 |
Wilflingen, 19. Juni 1994. - Mein Verhältnis zur Autorschaft
ist dürftig - ich vergesse meine Bücher bis auf den Titel: »denn
alles, was entsteht, ist ert, daß es zugrunde geht«. Was aber
ist der Grund? Wichtig ist einmal die Konzeption, also der Einfluß
oder die Eigabe aus der Umwelt, wenn man sie bis zur Grenze der Zeitmauer
begreift. Dem entspricht vom Eigenen her die Intuition. Wir existieren
nicht nur im Realen, sondern auch in einer Welt, in der wir möglich
sind. Wir schöpfen mit einem Becher aus dem Meer und werfen den Becher
zurück.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 145-146 |
Wilflingen, 19. Juni 1994. - Ein Leser aus Kanada bedankt
sich bei mir. In einem meiner Bücher habe ich ein Gebirge beschrieben,
in dessen Labyrinthen und Katakomben ein Unternehmer Gräber mit »ewiger
Ruhe« verspricht. Da das Bedürfnis danach eminent ist, macht
er ein gutes Geschäft. Dieser Leser, Inhaber einer Bestattungsfirma,
schreibt mir, daß er, dadurch angeregt, mit großem Profit
Gräber im arktischen Permfrost anbiete.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 146 |
Wilflingen, 20. Juni 1994. - Das Werk »Der Arbeiter.
Herrschaft und Gestalt« erschien im Herbst 1932, also kurz vor dem
Dritten Reich, weshalb es auch gern der » Wegbereitung zum Nationalsozialismus«
bezichtigt wird.
Daß einem Buche, welches nach über sechzig Jahren auch heute
noch nicht seinen Stellenwert gefunden hat, eine so fulminante Wirkung
zugeschrieben wird, scheint um so merkwürdiger, als es von der Partei
und ihren Gremien entweder unbeachtet geblieben oder unfreundlich aufgenommen
worden ist. Das versteht sich angesichts von Sätzen wie:
»Der Nationalismus und der Sozialismus sind zu erkennen als Prinzipien,
die dem 19. Jahrhundert zugeordnet sind.
Die Ordnungen der nationalen Demokratie treiben in demselben Maße,
in dem sie an Allgemeingültigkeit gewinnen, Zuständen der Weltanarchie
zu.
Ebenso ist der Sozialismus außerstande, gültige Ordnungen zu
verwirklichen.
Diese beiden Prinzipien scheitern an sich selbst, indem jede beliebige
Macht sich ihrer Spielregeln bedient.« (»Der
Arbeiter«, 1932, S. 316; HB).
Abgesehen davon, daß der »Arbeiter« zu den Büchern
gehört, die mehr kritisiert als gelesen werden, paßten solche
Thesen weder in den Rahmen des Nationalsozialismus noch der Weimarer Demokratie.
Sie stießen aber auch auf das Befremden von Geistern, auf deren
Urteil ich Wert legte. Sowohl Carl Schmitt wie Oswald Spengler lehnten
die Gestalt des Arbeiters als eine »Lobpreisung des Proleten«
ab. Das war insofern ein Mißverständnis, als sie ihr den marxistischen
Maßstab anlegten. Marx hat den Begriff der Arbeit für eine
Klasse usurpiert. Als Gestalt repräsentiert der Arbeiter jedoch weder
eine ökonomische Klasse noch eine biologische Rasse, sondern bildet
in planetarischer Auslese einen Typus aus. Sein Reich ist die Erde mit
der Technik als Weltsprache.
Diese Gestalt durchdringt und zerstört die alten Stände, also
das Priester-, Krieger- und Bauerntum. Es hat mich verwundert, daß
ausgerechnet Spengler sich in seinem Brief auf den Bauern als Gegenfigur
berief. Ihm, der den Cäsarismus wiederkehren sah, konnte die Verwandtschaft
der Kollektive mit den antiken Latifundien nicht entgangen sein. Allerdings
ist das Wort »Arbeiter« im bürgerlichen Zeitalter zu
einem Stigma geworden, das auch dieser geniale Historiker nicht überwunden
hat.
Als einzige Koryphäe hat Martin Heidegger der »Gestalt«
von Anfang an Beachtung gezollt. Er hat auch ein Seminar darüber
abgehalten; ich hörte davon nur die Tatsache. Nicht vergessen will
ich jedoch ein bedeutsames Gespräch mit Leopold Ziegler in Überlingen;
die Zustimmung des Philosophen (»Gestaltwandel der Götter«)
berührte den Kern.
Die Aufnahme des Buches durch kleine Zirkel von jungen und älteren
Lesern war impulsiv. Sie beschränkte sich zunächst auf Debatten
und Briefe - so von meinen Brüdern Hans und Friedrich Georg, Hugo
Fischer, Gerhard Nebel, Friedrich Hielscher, Paul Weinreich und Benno
Ziegler von der Hanseatischen Verlagsanstalt. Einen besonderen Fürsprecher
gewann »Der Arbeiter« in Ernst Niekisch im » Widerstand«.
Im großen und ganzen blieb das Echo verworren, obwohl es bald zu
einer zweiten Auflage kam.
An speziell dem Thema gewidmeten Büchern sind zu erwähnen Marcel
Decombis »Le Travailleur« (Paris 1943) und ein gründliches
Werk von Erich Brock, dem, wie er sagte, »Der Arbeiter« die
Augen öffnete. Es wurde kurz nach Stalingrad in Basel veröffentlicht
und vom Verleger als die »endgültige Entlarvung eines Faschisten«
präsentiert. So schwanken die Meinungen.
Habent sua fata libelli - das erfuhr ich auch von Freunden in diesem Fall.
Heinrich von Stülpnagel, der das Buch für nationalbolschewistisch
hielt, sagte mir vor meinem Kommando an die Ostfront, das ich aus verschiedenen
Gründen antreten sollte: ich würde nun auch erfahren, wie das
in Wirklichkeit aussehe.
Auch heut hat sich, wie gesagt, das Urteil nicht präzisiert. Ich
möchte das eigene nicht ausschließen. Damals bin ich mehr einer
Ahnung als einem Plan gefolgt. Wie ist die Drohung apokalyptischer Katastrophen
mit einem Fortschritt, der in der Naturwissenschaft und der Technik jede
Utopie übertrifft, zu vereinigen? »Ist es auch Wahnsinn, hat
es doch Methode« - es muß eine ordnende Kraft dahinterstehen.
Hier bietet sich dem Denken die neuplatonische Wendung an.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 146-148 |
Wilflingen, 14. August 1994. - Andererseits ist nicht zu
leugnen, daß das Geburtsdatum zu unserem Karma gehört.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 149 |
Wilflingen, 6. September 1994. - Leonardo ist, wie jeder
Große, zeitlos, zeitgemäß unf unzeitgemäß.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 151 |
Wilflingen, 16. September 1994. - Umwelt. .... Der Geldfluß
wird rasant. Das ist eine Tatsache. Ideen laufen nebenher.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 153 |
Wilflingen, 20. September 1994. - »Als Carl Schmitt
Statsrat werden sollte, habe ich ihm abgeraten .... Noch auf dem Sterbebette
habe er gesagt: »Ernst Jünger ist ein zuverlässiger Freund.
.... Obwohl katholisch, wurde er Alexanders Taufpate. Wenn er mich in
Goslar besuchte - er hatte natürlcih eine Freikarte -, standen die
Beamten an der Sperre stramm. Professoren sind für dergleichen besonders
anfällig. Seine gesitige und seine persönliche Ausstrahlung
waren für mich belebend - er bleibt in meinem Gedächtnis ein
guter und unergründlicher Freund.«
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 154 |
Wilflingen, 14. Oktober 1994. - Schachautomaten. Wie mancher
unserer frühen Träume ist auch der Philodor realisiert. Die
Enttäuschung kann nicht ausbleiben.
Das Spiel ist halbautomatisch geworden, als ob man Tennis gegen die Wand
spielte. Die Technik entmythisiert.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 155 |
Wilflingen, 17. Dezember 1994. - Seitdem ich lesen konnte,
ist kaum ein Tag vergangen, in dem mich nicht ein Buch oder deren mehrere
beschäftigten. Ich war ein schlechter Schüler, weil ich bis
spät in die nacht und manchmal bis zum Morgengrauen Bände verschlang,
wie sie mir in die Hand fielen, seien es Schundromane oder klassische
Werke, sogar solche, deren Inhalt ich nicht verstand. Das Lesen war für
mich eine kultische Handlung, wie es als solche geehrt wurde, als es innerhalb
der Völker nur kleine Eliten von Schriftkundigen gab.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 156 |
Wilflingen, 17. Dezember 1994. - Die Schrift kristallisiert
das Mannigfaltige; sie macht es begreiflich, bringt es in Griff.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 156 |
Wilflingen, 17. Dezember 1994. - Die platonische Kraft
einer Dichtung ist stärker als die historische Realität.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 156 |
Wilflingen, 17. Dezember 1994. - Der Arbeiter, Herrschaft
und Gestalt. Der neuplatonische Versuch, die Technik als zeitgemäße
Form des Titanismus zu begreifen und entsprechend einzustufen; ohne kultisches
Äquivalent würde der Weltstaat nur eine Seifenblase sein.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 157 |
Wilflingen, 25. Dezember 1994. - Gegen zwei Uhr morgens
erwachend, brauche ich zum Wiedereinschlafen etwas Gemütliches. Etwa:
Wilhelm II. (*1859) lädt August Bebel (*1840) zu einer Teestunde
ein.
Freundliche Unterhaltung; der Kaiser fragt seinen Gast, warum er unsere
Kolonien nicht nur für unnötig, sondern sogar für schädlich
hält. Gerade ihn sollte die Hottentottenwahl doch belehrt haben.
Wilhelm raucht Zigaretten; Bebel nimmt von ihm eine Havanna an. lehnt
aber eine gefüllte Zigarrentasche ab.
Ein gutes Schlafmittel.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 157 |
Wilflingen, 4. Mai 1995. - An Frank Schirrmacher: »Unsere
Wünsche für 1995 zuvor.
Wenn ich, wie jetzt durch Ihre Feder, meine Vita erfahre, kommt sie mir
selbst fast unglaubwürdig vor. Der Nativität wäre hinzuzufügen,
daß in meinem Geburtsjahr Röntgen die nach ihm benannten Strhalen
entdeckte und Dreyfus degradiert war.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 160 |
Wilflingen, 10. Januar 1995. - Friedrich Nietzsche fühlte
sich, wie er sagte, im 21. Jahrhundert zu Haus, vor dessen Schwelle wir
stehen. Dort ist auch das Zeitalter des Übermenschen zu erwarten,
dessen Ankunft sein Prophet verkündete.
Vom Übermenschen ist keine Annäherung an das Göttliche
zu erhoffen, wie sie Leonardo als Künstler oder Alexander als Feldherr
verkörperte. Der Übermensch ist ein Titan. In ihm triumphiert
der Wille zur Macht. Seine Lust will Ewigkeit, aber sie reicht nicht an
das Zeitlose hinan. Die Weltgeschichte wird von Menschen und ihren Völkern
ausgetragen; sie stellt im geologischen Maßstab nur eine winzige
Spanne dar. Die Erdgeschichte dagegen übergreift den Zeitraum, in
dem es Menschen gab und geben wird. Und vor ihr wechselten sich Götter
und Titanen in der Herrschaft ab. Ihr Kampf greift immer wieder in die
Geschichte ein. Im Übermenschen zeichnet sich wieder einmal eine
der Wenden dieses Streites ab.
Nietzsche hat sich gründlich mit Darwin beschäftigt - er kommt
zu dem Schluß, daß dieser den Typus »der englischen
Mittelmäßigkeit« repräsentiert: »Es gibt Wahrheiten,
die nur von mittelmäßigen Köpfen erkannt werden können
- wir wollen die Nützlichkeit davon, daß solche Geister zeitweilig
herrschen können, nicht anzweifeln.«
In diesem Sinne hat Darwins »Entstehung der Arten« Nietzsche
wohl den Anstoß zur Konzeption des übermenschen gegeben, ihm
jedoch letzthin nicht genügt. Der Übermensch ist für ihn
keine Variante, sondern eine neue Spezies. Er ist weniger eine zoologische
als eine geistige Mutation. Mit ihr verknüpfen sich große Erwartungen.
Das 21. Jahrhundert wird nach der Ablösung der Götter (»Gott
ist tot«) ein titanisches Zeitalter sein. Heimat und Spielraum des
Übermenschen ist der Kosmos; er ist ein Raumfahrer. Und auch als
Art wird er zu einem neuen Geschöpf der Erde; sie streift wieder
einmal die Haut ab und wechselt ihr Kleid. Dabei leistet der Mensch mit
seinem Wissen ihr Beistand - das ist sein Schicksal -, er kann, ob es
ihm nützt oder schadet, nur zu dem beitragen, was die Erde will.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 163-164 |
Wilflingen, 20. Februar 1995. - An Dr. Domenico Conte:
»Ich danke Ihnen für die Zusendung Ihrer wichtigen Schrift.
Sie haben recht in der Vermutung, daß Oswald Spengler einen bedeutenden
Einfluß auf meine geistige Entwicklung ausgeübt hat. Meinem
Bruder Friedrich Georg, der nach seiner schweren Verwundung Muße
zum Lesen gefunden hatte, verdanke ich den ersten Hinweis auf den Untergang
des Abendlandes. Auch mich hat die Lektüre fasziniert. Die
Folge war ein Brief an den Autor, dem ich auch mein Kriegstagebuch sandte
- er lud mich daraufhin nach München ein. Ich war damals sehr beschäftigt
- daß ich der Einladung nicht gefolgt bin, bedauere ich noch heut.
Im Herbst 1932 kam es noch zu einem kurzen Briefwechsel anläßlich
meines Buches »Der Arbeiter«. Spengler hat das Wort im Sinn
des 19. Jahrhunderts, also des Klassenkampfes, verstanden - damit war
ihm, ähnlich wie Carl Schmitt, schon der Titel suspekt. Beide hielten
die Absicht des Werkes für ein Lob des Proleten im marxistischen
Sinne - für mich ist es ein neuplatonischer Rückgriff auf die
prometheische Substanz. Das wird mir erst heute deutlicher. Dazu empfehle
ich Ihnen die Lektüre des großartigen Kapitels, das mein Bruder
Friedrich Georg in seinen Griechischen Mythen dem Prometheus
gewidmet hat. Die Götter schöpfen aus der Fülle - Prometheus
schafft. Prometheus ist stolz auf die Werke seines Geistes und seiner
Hand, und dieser Stolz kehrt bei dem prometheischen Menschen wieder, bis
in die Verkrümmung hinein, bis in jene Selbsteinschätzung der
Arbeit und des Arbeiters, die den Sisyphismus wieder in das Leben einführt.«
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 165-166 |
Wilflingen, 24. Februar 1995. - An Albrecht Kiel: »Zu
Ihrer Anfrage: Karl Jaspers bin ich nur einmal begegnet - war es in Basel
oder in Konstanz?
Das Datum kann ich bestimmen, weil er mir damals seine Psychopathologie
schenkte: am 5. Oktober 1949.
Seine Äußerung bezog sich auf Schüler und auf Sekretäre
speziell. Damit war aber nicht Armin Mohler gemeint, dessen Promotion
er ja gegen den Widerstand der Fakultät durchsetzte.
Wir unterhielten uns in einem ziemlich großen Raume, und Jaspers
setzte sich in eine Ecke - vielleicht, weil er eine Ansteckung befürchtete.
Der allgemeine Eindruck: timid. Auch darin ein Gegensatz zu Heidegger,
der annäherungsfreudig war.«
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 166 |
Wilflingen, 14. März 1995. - Die Post kommt des herandrohenden
Hundertsten wegen in Körben - zahllose Erinnerungen flechten sich
ein. Manche davon würden erdrücken - in der Menge stützen
sie sich ab. Inge Dahm fischte den Brief eines von Ernstels Kameraden
heraus, der am Gefecht teilgeommen hat, in dem der Sohn gefallen ist.
Gefallen oder ermordet - das ist im Weltbürgerkrieg die Frage, die
sich stellt, wenn die Todesnachricht kommt. Der Kompanieführer hat,
angeblich wegen Überlastung, keine näheren Angaben gemacht.
Ich war mit Gretha der Meinung, daß wir nicht näher nachforschen
sollten. - und das nicht ohne Grund. Ernstel hatte sich bei dem Regiment
gemeldet, das die Tradition der Gibraltar - Füsiliere übernommen
hatte - das war jedoch, wie wir nachträglich erfuhren, dem berüchtigten
Heinrich Himmler unterstellt worden.
Dem Brief dieses Kameraden kann ich nun entnehmen, daß an jenem
29. November eine Abteilung deutscher Soldaten in einem Winkel des Marmorgebirges
eingeschlossen und verlustreich beschossen worden war.
Also doch gefallen - daß der unvergeßliche Henry Furst ihn
in seinem Sarg nach Wilflingen brachte, war besonders für Gretha
ein ungemeiner Trost.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 166-167 |
Saulgau, 29. März 1995. - »Verehrte Gäste,
liebe Freunde, die Sie hier zu meinem Hundertsten versammelt sind: Ein
solches Alter zu erreichen, hat mir selbst in meinen Träumen fern
gelegen - es schien mir nicht einmal wünschenswert. Ich habe mein
Leben unter anderen Auspizien geführt.
Ich bin 1895 geboren - in einem Jahrhundert, von dem Valeriu Marcu mir
auf einem unserer Berliner Spaziergänge sagte, daß man sich
nach ihm noch alle zehn Finger lecken wird. Trotzdem begann das unsere
mit großen Hoffnungen - besonders hinsichtlich der technischen und
politischen Fortschritte. Darin sind wir auch nicht enttäuscht worden.
Im Jahr 1895 hat Röntgen die nach ihm benannten Strahlen entdeckt,
die bislang Unsichtbares sichtbar machten und damit neue Messungen innerhalb
der anorganischen und der organischen Welt ermöglichten.
Das Jahr ist auch insofern bedeutend, als in ihm die Dreyfus-Affäre
noch hohe Wogen schlug, die entscheidende Begegnung der konservativen
Mächte mit der Demokratie.
Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, so scheint mir, daß ich
es als Leser verbracht habe. Das mag verwunderlich klingen - doch habe
ich von Werken und Taten zuerst durch Bücher erfahren, also platonisch
- den Ariost habe ich in der Kartentasche mitgeführt - , und bin
dann durch die Realität enttäuscht worden. So auch durch die
Kriege. Karl Marx hat es auf die Formel gebracht: Ist eine 'llias'
möglich mit Schießpulver? Das ist mein Problem.
Die Zahl Zwei hat in meinem Leben eine besondere Rolle gespielt. Ich habe
zwei Weltkriege erlebt, zwei Mal den Halleyschen Kometen gesehen. Ich
habe zwei Söhne überlebt. Mein geistiger Zwillingsbruder war
Friedrich Georg. Vor allem zwei Ehen - ich wurde mit Gretha in der Leipziger
Thomaskirche, mit Liselotte im oberschwäbischen Heiligkreuztal getraut.
Nun hat sich für mich der Zyklus von fünfzig Jahren wiederholt.
Kurz vor seinem Anfang, Ende März 1945, hat Joseph Goebbels die Presse
angewiesen, von meinem Geburtstag keine Notiz zu nehmen - wenige Wochen
vor seinem Tod. Das hat sowohl politisch wie privatim eine Vorgeschichte
gehabt.
Noch einmal zur Ambivalenz. Hundert Jahre wiederholen sich nicht. Aber
es darf gefragt werden, ob sich das Leben wiederholt. Das wäre eine
Wiedergeburt. Dank meinen Freunden, und meinen Gegnern auch. Beide gehören
zum Karma - ohne sie kein Profil.«
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 168-169 |
Wilflingen, 1. Mai 1995. - Einer setzt Marken. Ob Paulus,
ob Kant, ob Thomas von Kempen (Thomas Hemerken;
HB) - alle führen auf Plato zurück.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 173 |
Wilflingen, 8. Mai 1995. - Ich lese als Anzeige in der
»Welt«:
»
VAE |
VICTIS |
8. Mai
1945 |
8. Mai
1995 |
Zum Gedenken an alle Landsleute, die als Folge
der Befreiung von Hab und Gut, Heimat und in vielen
Fällen auch von ihrem Leben befreit wurde. Merke: Die Würde
eines jeden Menschen ist unantastbar.
August Kaiser
|
«
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 174 |
Wilflingen, 4. Juli 1995. - Ich habe im Escorial zu tun
- Verleihung des zweiten Ehrendoktorhutes in Spanien, diesmal der Universität
Complutense Madrid-Alcalá, der ältesten im Land.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 175 |
Wilflingen, 4. Juli 1995. - »Vielmehr haben die beiden
Male, während deren ich in Frankreich als Soldat weilte, Freundschaften
gestiftet, die sich bis zum heutigen Tage bewährt haben. Das gilt
nicht nur für meine Quartierwirte, sondern auch für den Maire
der Stadt (Paris; HB), der mich zum fünfundsiebzigsten
Jubiläum der Schlacht einlud, die ihren Namen trägt: Combrai.
Dazu schrieb er; Als Autor der ,Orages D'Acier behalten Sie
einen unvergessenen Ruhm in unserer Stadt, Deshalb wurde schon im Jahre
1987 eine Allee des Stadtgartens auf Ihren Namen getauft, einer öffentlichen
Anlage, in der Sie damals spazierengegangen sind und die Sie in Ihrem
Buch erwähnt haben.
Die Frucht zweier Kriege war für mich meine Friedensschrift, in
der ich ein künftiges Europa und selbst den Weltstaat als notwendig
gefordert habe. Längst schon war mir klar geworden, daß mir
ein gelungener Satz wichiger war als ein gewonnenes gefecht.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 180 |
Wilflingen, 18. August 1995. - Carl Schmitt ist in meiner
und ich bin in seiner Biographie unvermeidlich, er unter andere, als Alexanders
Taufpate.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 186 |
Wilflingen, 20. August 1995. - Die Triebe der Schlingpflanzen
führen kreisförmige Bewegungen aus. Sie suchen, um sich anzuheften,einen
Halt.
Ich frage mich, ob sie außerdem ein Gefühl, etwa eine magnetische
Wahrnehmung, besitzen, die sie dem Halt zustreben läßt. Nach
Mesmer ist der tierische Magentismus universal.
Allgemein betrachtet, führen wir alle diese zyklische Bewegung aus
- im Tages-, Jahres- und Lebenslauf. Das Datum wiederholt sich an den
Geburtstagen.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 187 |
Wilflingen, 25. August 1995. - Gleichzeitig mit Karl May
entdeckte ich Ariost. Orlando hat sich erhalten, Old Shatterhand ist verblaßt.
Der »Orlando furioso« in der kongenialen Übersetzung
von Hermann Kurz und Paul heyse, illustriert von Gustav Doré, stand
als Prachtwerk in der Rehburger Bibliothek. Das Buch war so schwer, daß
ich es nur kniend lesen konnte, wie es sich gebührt. Während
des Ersten Weltkrieges war der »Orlando« meine Einführung
in die heroische Welt.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 18-189 |
Wilflingen, 24. September 1995. - Wenn ich als Anarch auf
mein Verhalten im Dritten Reich zurückblicke, fällt mir ein,
daß ich nie mit »Heil Hitler« gegrüßt habe.
Das war ein Fehler, der mir nur Scherereien einbrachte. Einmal, als wir
im Harz die Waldluft genossen, kam ein Wanderer vorbei, dessen kräftigen
Heilgruß ich mit einem freundlichen »Guten Morgen« erwiderte.
Vor dem Bahnhof sahen wir uns wieder - er deutete mit dem Finger auf mich
und rief: »Habt Ihr schon mal einen gesehen, der dem Führer
die Ehre verweigert hat?« Ein anderes Mal kam in Kirchhorst der
Gendarm ins haus und beschwerte sich darüber, daß Ernstel ihn
unvorschriftsmäßig gegrüßt habe. Die Leibziger Arbeiter
waren klüger - sie sprachen sowieso undeutlich und antworteten mit
einem »Drei Liter«, daß die Wandeln wackelte. Heut gil
es löblich, gegen den Strom zu schwimmen (obwohl,
nein weil ein noch viel höherer Prozentsatz an Menschen als
früher mit dem Strom schwimmen; HB), aber das sind nur Pißrinnen.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 193 |
Sigmaringen, 30. September 1995. - Nachmittags im Sigmaringer
Staatsarchiv. »Preußen ín Hohenzollern«. In den
Dokumenten manche Beziehungen zu meinem Lebenslauf - nicht nur als Ritter
des Hohenzollernschen Hausordens, den ich nach Cambrai bekam.
Nachher an der Donau entlang. Abgesehen von den Schwänen und Bläßhühnern
fallen dort verschiedene Entenarten ein. Am häufigsten ist die Stockente.
Auf den Kalk eines Brückenpfeilers waren mehr oder weniger obszöne
Sgrafitti gepinselt - darunter:
»Warum sagt deine Frau immer Ludwig zu dri?«
»Weil ich ihr Vierzehnter bin.«
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 194 |
Wilflingen, 9. Oktober 1995. - Prometheus im »Arbeiter«
....
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 195 |
Wilflingen, 3. November 1995. - Das Denken kennt keine
Pause, nicht einmal im Schlaf. Doch gibt es zeitlose Augenblicke wie einen
Stromausfall. Sie führen vor das Nichts, den größten Türöffner.
Orgasmus und Ekstase vor dem Tod.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 197 |
Wilflingen, 3. November 1995. - In Braunschweig führte
mein Schulweg durch die Sperlingsgasse, in der Wilhelm Raabe (1831-1910)
noch lebte, von seinen beiden Schwestern betreut. Sie hatten noch nicht
sein letztes Wort (»Is he noch nich dode?«) gehört.
Ich kam auch an der Bäckerei vorbei, in der Eulenspiegel Eulen und
Meerkatzen buk.
In Hameln durchquerte ich die Straße, in der die Inschrift eines
Erkers an den Auszug der Kinder erinnerte. »Unter dem Koppen verloren.«
Ein Pfeifer in macherlei farben hatte sie verführt.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 198 |
Wilflingen, 9. November 1995. - Heideggers »Gestell
möchte ich das »Geschirr« zuordnen. Das Sein in der Ruhe
und in der Bewegung.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 198 |
Wilflingen, 20. November 1995. - Ich war in der Fremdenlegion
13 314 - so wurde ich zum Dienst aufgerufen, und wenn ich Post bekam.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 199 |
Wilflingen, 20. November 1995. - Hugo reicht in der Schilderung
des satanisch Bösen fast an Klopstock heran ....
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 200 |
München, 26. November 1995. - Im Grunde kommt nichts
leichter zusammen als ein alter Priester und ein alter Soldat. Der eine
hat sich für das Vaterland unen, der andere für das oben aufgeopfert;
kein weiterer Unterschied.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 200 |
München, 26. November 1995. - Hugo sagt: »....
Was uns fehlt, zieht uns an.«
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 201 |
Wilflingen, 14. Dezember 1995. - Jeder Punkt ist auch ein
Ziel, wenigstens potentiell. Wir können in jedem Moment umfallen.
Ein Dahlschlag, wie man in Niedersachsen sagt.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 202 |
Wilflingen, 14. Dezember 1995. - Meine speziellen Anreger, man
könnte sie auch Erwecker nennen, die den Charakter formen und sich
ihm einprägen:
Rimbaud als Dichter |
Schopenhauer
als Denker |
Hamann als Magier |
Die Bekanntschaft mit dem Magus war unsausweichlich; ich schloß
sie in Leipzig während meines Studiums. Vor dem Zoologischen Institut
begegnete ich dem Sohn des Leisniger Gutsbesitzers, der einen Sack Kartoffeln
auf der Schulter trug. Ich hörte von ihm, daß er ihn einem
Philosophen bringen wolle, der in der Nähe wohne - da machte mich
neugierig; ich begleitete ihn. Auf diese Weise lernte ich Hugo Fischer
kennen, der zusammen mit seiner Freundin und späteren Frau Alma in
der Dachwohnung eines Arbeiterhauses, was damals in Deutschland noch ungewöhnlich
war. .... In der Mansarde lagen Hamanns »Brocken« auf dem
Tisch. Einige Stichproben genügten zur Einstimmung.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 202-203 |
Wilflingen, 15. Dezember 1995. - Titanen und Götter
lösen einander ab. Das war längst vor uns und wird nach uns
sein. .... Prometheus hat sich von den Ketten befreit.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 203 |
Wilflingen, 15. Dezember 1995. - Der Tag beginnt mit Autogrammen;
da Stierlein sortiert die Desiderata aus der post. Die Briefe haben das
doppelte Gewicht. Die Handschrift ist noch präsentabel - »ein
alter Kriegr zittert nicht«.
Ernst
Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 204 |
|