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»Es
sind Jahrhunderte vergangen, in denen es sich von selbst verstand, daß man
unter einem Gebildeten den Gelehrten und nur den Gelehrten begriff; von den Erfahrungen
unserer Zeit aus würde man sich schwerlich zu einer so naiven Gleichstellung
veranlaßt fühlen. Denn jetzt ist die Ausbeutung eines Menschen zugunsten
der Wissenschaften die ohne Anstand überall angenommene Voraussetzung: wer
fragt sich noch, was eine Wissenschaft wert sein mag, die so vampyrartig ihre
Geschöpfe verbraucht? Die Arbeitsteilung in der Wissenschaft strebt praktisch
nach dem gleichen Ziele, nach dem hier und da die Religionen mit Bewußtsein
streben: nach einer Verringerung der Bildung, ja nach einer Vernichtung derselben.
Was aber für einige Religionen, gemäß ihrer Entstehung und Geschichte,
ein durchaus berechtigtes Verlangen ist, dürfte für die Wissenschaft
irgendwann einmal eine Selbstverbrennung herbeiführen. Jetzt sind wir bereits
auf dem Punkte, daß in allen allgemeinen Fragen ernsthafter Natur, vor allem
in den höchsten philosophischen Problemen der wissenschaftliche Mensch als
solcher gar nicht mehr zu Worte kommt: wohingegen jene klebrige verbindende Schicht,
die sich jetzt zwischen die Wissenschaften gelegt hat, die Journalistik, hier
ihre Aufgabe zu erfüllen glaubt und sie nun ihrem Wesen gemäß
ausführt, das heißt wie der Name sagt, als eine Tagelöhnerei.«Friedrich
Nietzsche, Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten, 1872, in:
Werke III, S. 193-194 bzw. 901-902 |
»In
der Journalistik nämlich fließen die beiden Richtungen zusammen: Erweiterung
und Verminderung der Bildung reichen sich hier die Hand; das Journal tritt geradezu
an die Stelle der Bildung, und wer, auch als Gelehrter, jetzt noch Bildungsansprüche
macht, pflegt sich an jene klebrige Vermittlungsschicht anzulehnen, die zwischen
allen Lebensformen, allen Ständen, allen Künsten, allen Wissenschaften
die Fugen verkittet und die so fest und zuverlässig ist wie eben Journalpapier
zu sein pflegt. Im Journal kulminiert die eigentümliche Bildungsabsicht der
Gegenwart: wie ebenso der Journalist, der Diener des Augenblicks, an die Stelle
des großen Genius, des Führers für alle, Zeiten, des Erlösers
vom Augenblick, getreten ist. Nun sagen Sie mir selbst, mein ausgezeichneter Meister,
was ich mir für Hoffnungen machen sollte, im Kampfe gegen eine überall
erreichte Verkehrung aller eigentlichen Bildungsbestrebungen, mit welchem Mute
ich, als einzelner Lehrer, auftreten dürfte, wenn ich doch weiß, wie
über jede eben gestreute Saat wahrer Bildung sofort schonungslos die zermalmende
Walze dieser Pseudo-Bildung hinweggehn würde? Denken Sie sich, wie nutzlos
jetzt die angestrengteste Arbeit des Lehrers sein muß, der etwa einen Schüler
in die unendlich ferne und schwer zu ergreifende Welt des Hellenischen, als in
die eigentliche Bildungsheimat zurückführen möchte: wenn doch derselbe
Schüler in der nächsten Stunde nach einer Zeitung oder nach einem Zeitroman
oder nach einem jener gebildeten Bücher greifen wird, deren Stilistik schon
das ekelhafte Wappen der jetzigen Bildungsbarbarei an sich trägt.«Friedrich
Nietzsche, Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten, 1872, in:
Werke III, S. 194-195 bzw. 902-903 |
Hier
erkennen wir die verhängnisvollen Konsequenzen unseres jetzigen Gymnasiums:
dadurch, daß es nicht imstande ist, die rechte und strenge Bildung, die
vor allem Gehorsam und Gewöhnung ist, einzupflanzen, dadurch, daß es
vielmehr bestenfalls in der Erregung und Befruchtung der wissenschaftlichen Triebe
überhaupt zu einem Ziele kommt, erklärt sich jenes so häufig anzutreffende
Bündnis der Gelehrsamkeit mit der Barbarei des Geschmacks, der Wissenschaft
mit der Journalistik. Man kann heute in ungeheurer Allgemeinheit die Wahrnehmung
machen, daß unsere Gelehrten von jener Bildungshöhe abgefallen und
heruntergesunken sind, die das deutsche Wesen unter den Bemühungen Goethes,
Schillers, Lessings und Winckelmanns erreicht hatte: ein Abfall, der sich eben
in der gröblichen Art von Mißverständnissen zeigt, denen jene
Männer unter uns, bei den Literaturhistorikern ebensowohl ob sie nun
Gervinus oder Julian Schmidt heißen als in jeder Geselligkeit, ja
fast in jedem Gespräch unter Männern und Frauen, ausgesetzt sind. Am
meisten aber und am schmerzlichsten zeigt sich gerade dieser Abfall in der pädagogischen,
auf das Gymnasium bezüglichen Literatur. Es kann bezeugt werden, daß
der einzige Wert, den jene Männer für eine wahre Bildungsanstalt haben,
während eines halben Jahrhunderts und länger nicht einmal ausgesprochen,
geschweige denn anerkannt worden ist: der Wert jener Männer, als der vorbereitenden
Führer und Mystagogen der klassischen Bildung, an deren Hand allein der richtige
Weg, der zum Altertum führt, gefunden werden kann.Friedrich
Nietzsche, Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten, 1872, in:
Werke III, S. 207 bzw. 915 |
Jede
sogenannte klassische Bildung hat nur einen gesunden und natürlichen Ausgangspunkt,
die künstlerisch ernste und strenge Gewöhnung im Gebrauch der Muttersprache:
für diese aber und für das Geheimnis der Form wird selten jemand von
innen heraus, aus eigner Kraft zu dem rechten Pfade geleitet, während alle
anderen jene großen Führer und Lehrmeister brauchen und sich ihrer
Hut anvertrauen müssen. Es gibt aber gar keine klassische Bildung, die ohne
diesen erschlossenen Sinn für die Form wachsen könnte. Hier, wo allmählich
das unterscheidende Gefühl für die Form und für die Barbarei erwacht,
regt sich zum ersten Male die Schwinge, die der rechten und einzigen Bildungsheimat,
dem griechischen Altertum zu trägt. Freilich würden wir bei dem Versuche,
uns jener unendlich fernen und mit diamantenen Wällen umschlossenen Burg
des Hellenischen zu nahen, mit alleiniger Hilfe jener Schwinge nicht gerade weit
kommen: sondern von neuem brauchen wir dieselben Führer, dieselben Lehrmeister,
unsre deutschen Klassiker, um unter dem Flügelschlage ihrer antiken Bestrebungen
selbst mit hinweggerissen zu werden dem Lande der Sehnsucht zu, nach Griechenland.Friedrich
Nietzsche, Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten, 1872, in:
Werke III, S. 207-208 bzw. 915-916 |
Von
diesem allein möglichen Verhältnisse zwischen unseren Klassikern und
der klassischen Bildung ist freilich kaum ein Laut in die altertümlichen
Mauern des Gymnasiums gedrungen. Die Philologen sind vielmehr unverdrossen bemüht,
auf eigne Hand ihren Homer und Sophokles an die jungen Seelen heranzubringen,
und nennen das Resultat ohne weiteres mit einem unbeanstandeten Euphemismus »klassische
Bil dung«. Mag sich jeder an seinen Erfahrungen prüfen, was er von
Homer und Sophokles, an der Hand jener unverdrossenen Lehrer, gehabt hat. Hier
ist ein Bereich der allerhäufigsten und stärksten Täuschungen und
der unabsichtlich verbreiteten Mißverständnisse. Ich habe noch nie
in dem deutschen Gymnasium auch nur eine Faser von dem vorgefunden, was sich wirklich
»klassische Bildung« nennen dürfte: und dies ist nicht verwunderlich,
wenn man denkt, wie sich das Gymnasium von den deutschen Klassikern und von der
deutschen Sprachzucht emanzipiert hat. Mit einem Sprung ins Blaue kommt niemand
ins Altertum: und doch ist die ganze Art, wie man auf den Schulen mit antiken
Schriftstellern verkehrt, das redliche Kommentieren und Paraphrasieren unserer
philologischen Lehrer ein solcher Sprung ins Blaue.Friedrich
Nietzsche, Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten, 1872, in:
Werke III, S. 208 bzw. 916 |
»Denn
ich wiederhole es, meine Freunde! alle Bildung fängt mit dem Gegenteile
alles dessen an, was man jetzt als akademische Freiheit preist, mit dem Gehorsam,
mit der Unterordnung, mit der Zucht, mit der Dienstbarkeit. Und wie die großen
Führer der Gefährten bedürfen, so bedürfen die zu Führenden
der Führer: Hier herrscht in der Ordnung der Geister eine gegenseitige Prädisposition,
ja eine Art von prästabilierter Harmonie. Dieser ewigen Ordnung, zu der mit
naturgemäßem Schwergewichte die Dinge immer wieder hinstreben, will
gerade jene Kultur störend und vernichtend entgegenarbeiten, jene Kultur,
die jetzt auf dem Throne der Gegenwart sitzt. Sie will die Führer zu ihrem
Frondienste erniedrigen oder sie zum Verschmachten bringen: sie lauert den zu
Führenden auf, wenn sie nach ihrem prädestinierten Führer suchen,
und übertäubt durch berauschende Mittel ihren suchenden Instinkt. Wenn
aber trotzdem die füreinander Bestimmten sich kämpfend und verwundet
zusammengefunden haben, dann gibt es ein tief erregtes wonniges Gefühl, wie
bei dem Erklingen eines ewigen Saitenspiels, ein Gefühl, das ich euch nur
mit einem Gleichnisse erraten lassen möchte.«Friedrich
Nietzsche, Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten, 1872, in:
Werke III, S. 262 bzw. 279 |
Wir
werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir
nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung
gekommen sind, daß die Fortentwickelung der Kunst an die Duplizität
des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher
Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem
Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. Diese Namen
entlehnen wir von den Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung
zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt
dem Einsichtigen vernehmbar machen.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 20 |
An
ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntnis,
daß in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und
Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen
Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide so verschiedne Triebe gehen
nebeneinander her, zumeist im offnen Zwiespalt miteinander und sich gegenseitig
zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes
Gegensatzes zu perpetuieren, den das gemeinsame Wort »Kunst« nur scheinbar
überbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des
hellenischen »Willens«, miteinander gepaart erscheinen und in dieser
Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen
Tragödie erzeugen.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 20 |
Um
uns jene beiden Triebe näherzubringen, denken wir sie uns zunächst als
die getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches; zwischen
welchen physiologischen Erscheinungen ein entsprechender Gegensatz wie zwischen
dem Apollinischen und dem Dionysischen zu bemerken ist. Im Traume traten zuerst,
nach der Vorstellung des Lukretius, die herrlichen Göttergestalten vor die
Seelen der Menschen, im Traume sah der große Bildner den entzückenden
Gliederbau übermenschlicher Wesen, und der hellenische Dichter, um die Geheimnisse
der poetischen Zeugung befragt, würde ebenfalls an den Traum erinnert und
eine ähnliche Belehrung gegeben haben, wie sie Hans Sachs in den Meistersingern
gibt:»Mein
Freund, das grad ist Dichters Werk, daß er sein Träumen deut' und
merk'. Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn wird ihm im Traume aufgetan: all
Dichtkunst und Poeterei ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.« | Der
schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler
ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden,
einer wichtigen Hälfte der Poesie. Wir genießen im unmittelbaren Verständnisse
der Gestalt, alle Formen sprechen zu uns, es gibt nichts Gleichgültiges und
Unnötiges. Bei dem höchsten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir
doch noch die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins: wenigstens ist
dies meine Erfahrung, für deren Häufigkeit, ja Normalität, ich
manches Zeugnis und die Aussprüche der Dichter beizubringen hätte. Der
philosophische Mensch hat sogar das Vorgefühl, daß auch unter dieser
Wirklichkeit, in der wir leben und sind, eine zweite ganz andre verborgen liege,
daß also auch sie ein Schein sei; und Schopenhauer bezeichnet geradezu die
Gabe, daß einem zuzeiten die Menschen und alle Dinge als bloße Phantome
oder Traumbilder vorkommen, als das Kennzeichen philosophischer Befähigung.
Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit des Daseins, so verhält sich der künstlerisch
erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes; er sieht genau und gern zu: denn
aus diesen Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgängen übt
er sich für das Leben.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 20-21 |
Und
so möchte von Apollo in einem exzentrischen Sinne das gelten, was Schopenhauer
von dem im Schleier der Maja befangenen Menschen sagt, Die Welt als Wille und
Vorstellung 1, § 63, S. 368-369: »Wie auf dem tobenden Meere, das, nach
allen Seiten unbegrenzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn
ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer
Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das
principium individuationis.« Ja es wäre von Apollo zu sagen,
daß in ihm das unerschütterte Vertrauen auf jenes principium und das
ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe,
und man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des principii
individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze
Lust und Weisheit des »Scheines« samt seiner Schönheit, zu uns
spräche. An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen geschildert,
welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnisformen
der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgendeiner seiner Gestaltungen,
eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung
hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis
aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so tun wir einen
Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie
des Rausches gebracht wird.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 22-23 |
Der
Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um
überhaupt leben zu können, mußte er vor sie hin die glänzende
Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes ungeheure Mißtrauen gegen die
titanischen Mächte der Natur, jene über allen Erkenntnissen erbarmungslos
thronende Moira, jener Geier des großen Menschenfreundes Prometheus, jenes
Schreckenslos des weisen Ödipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der
Orest zum Muttermorde zwingt, kurz jene ganze Philosophie des Waldgottes, samt
ihren mythischen Exempeln, an der die schwermütigen Etrurier zugrunde gegangen
sind wurde von den Griechen durch jene künstlerische Mittelwelt
der Olympier fortwährend von neuem überwunden, jedenfalls verhüllt
und dem Anblick entzogen.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 30 |
Um
leben zu können, mußten die Griechen diese Götter, aus tiefster
Nötigung, schaffen: welchen Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, daß
aus der ursprünglichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch
jenen apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Übergängen die
olympische Götterordnung der Freude entwickelt wurde: wie Rosen aus dornigem
Gebüsch hervorbrechen. Wie anders hätte jenes so reizbar empfindende,
so ungestüm begehrende, zum Leiden so einzig befähigte Volk das
Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie
umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 30-31 |
Derselbe
Trieb, der die Kunst ins Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende
Ergänzung und Vollendung des Daseins, ließ auch die olympische Welt
entstehen, in der sich der hellenische »Wille« einen verklärenden
Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie
es selbst leben die allein genügende Theodizee! Das Dasein unter dem
hellen Sonnenscheine solcher Götter wird als das an sich Erstrebenswerte
empfunden, und der eigentliche Schmerz der homerischen Menschen bezieht
sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem auf das baldige Abscheiden: so daß
man jetzt von ihnen, mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte,
»das Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste,
überhaupt einmal zu sterben.« Wenn die Klage einmal ertönt, so
klingt sie wieder vom kurzlebenden Achilles, von dem blättergleichen Wechsel
und Wandel des Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit. Es ist des
größten Helden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterleben zu sehnen,
sei es selbst als Tagelöhner. So ungestüm verlangt, auf der apollinischen
Stufe, der »Wille« nach diesem Dasein, so eins fühlt sich der
homerische Mensch mit ihm, daß selbst die Klage zu seinem Preisliede wird.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 31 |
Hier
muß nun ausgesprochen werden, daß diese von den neueren Menschen so
sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen mit der Natur,
für die Schiller das Kunstwort »naiv« in Geltung gebracht hat,
keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher
Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Kultur, als einem Paradies der Menschheit
begegnen müßten: dies konnte nur eine Zeit glauben, die den
Emil Rousseaus sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen
solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil gefunden zu haben wähnte.
Wo uns das »Naive« in der Kunst begegnet, haben wir die höchste
Wirkung der apollinischen Kultur zu erkennen: welche immer erst ein Titanenreich
zu stürzen und Ungetüme zu töten hat und durch kräftige Wahnvorspiegelungen
und lustvolle Illusionen über eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung
und reizbarste Leidensfähigkeit Sieger geworden sein muß.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 31-32 | )Vielleicht
gewinnen wir einen Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung hinstelle,
daß sich der Satyr, das fingierte Naturwesen, zu dem Kulturmenschen in gleicher
Weise verhält, wie die dionysische Musik zur Zivilisation. Von letzterer
sagt Richard Wagner, daß sie von der Musik aufgehoben werde wie der Lampenschein
vom Tageslicht.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 50 | )Mit
diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum zartesten und schwersten
Leiden einzig befähigte Hellene, der mit schneidigem Blicke mitten in das
furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, ebenso wie in die
Grausamkeit der Natur geschaut hat und in Gefahr ist, sich nach einer buddhistischen
Verneinung des Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet
ihn sich das Leben.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 51 | )Die
leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der unglückselige Ödipus,
ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der zum Irrtum und zum
Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber am Ende durch sein ungeheures
Leiden eine magische segensreiche Kraft um sich ausübt, die noch über
sein Verscheiden hinaus wirksam ist. Der edle Mensch sündigt nicht, will
uns der tiefsinnige Dichter sagen: durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche
Ordnung, ja die sittliche Welt zugrunde gehen, eben durch dieses Handeln wird
ein höherer magischer Kreis von Wirkungen gezogen, die eine neue Welt auf
den Ruinen der umgestürzten alten gründen.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 60 | )Es
ist eine unanfechtbare Überlieferung, daß die griechische Tragödie
in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum Gegenstand hatte,
und daß der längere Zeit hindurch einzig vorhandene Bühnenheld
eben Dionysus war. Aber mit der gleichen Sicherheit darf behauptet werden, daß
niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tragische Held zu sein,
sondern daß alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne,
Prometheus, Ödipus usw. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus
sind. Daß hinter allen diesen Masken eine Gottheit steckt, das ist der eine
wesentliche Grund für die so oft angestaunte typische »Idealität«
jener berühmten Figuren. Es hat -ich weiß nicht wer - behauptet, daß
alle Individuen als Individuen komisch und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen
wäre, daß die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen
Bühne nicht ertragen konnten. In der Tat scheinen sie so empfunden
zu haben: wie überhaupt jene platonische Unterscheidung und Wertabschätzung
der »Idee« im Gegensatze zum »Idol«, zum Abbild, tief
im hellenischen Wesen begründet liegt. Um uns aber der Terminologie Platos
zu bedienen, so wäre von den tragischen Gestalten der hellenischen Bühne
etwa so zu reden: der eine wahrhaft reale Dionysus erscheint in einer Vielheit
der Gestalten, in der Maske eines kämpfenden Helden und gleichsam in das
Netz des Einzelwillens verstrickt. So wie jetzt der erscheinende Gott redet und
handelt, ähnelt er einem irrenden strebenden leidenden Individuum: und daß
er überhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deutlichkeit erscheint,
ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinen dionysischen Zustand
durch jene gleichnisartige Erscheinung deutet. In Wahrheit aber ist jener Held
der leidende Dionysus der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich
erfahrende Gott, von dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von
den Titanen zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus
verehrt werde: wobei angedeutet wird, daß diese Zerstückelung, das
eigentlich dionysische Leiden, gleich einer Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und
Feuer sei, daß wir also den Zustand der Individuation als den Quell und
Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten hätten.
Aus dem Lächeln dieses Dionysus sind die olympischen Götter, aus seinen
Tränen die Menschen entstanden. In jener Existenz als zerstückelter
Gott hat Dionysus die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dämons und
eines milden sanftmütigen Herrschers. Die Hoffnung der Epopten ging aber
auf eine Wiedergeburt des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation
ahnungsvoll zu begreifen haben: diesem kommenden dritten Dionysus erscholl der
brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur in dieser Hoffnung gibt es einen Strahl
von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen zertrümmerten
Welt: wie es der Mythus durch die in ewige Trauer versenkte Demeter verbildlicht,
welche zum ersten Male wieder sich freut, als man ihr sagt, sie könne den
Dionysus noch einmal gebären. In den angeführten Anschauungen haben
wir bereits alle Bestandteile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung
und zugleich damit die Mysterie nlehre der Tragödie zusammen: die Grunderkenntnis
von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes
des Übels, die Kunst als die freudige Hoffnung, daß der Bann der Individuation
zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 66-67 | )»Wenn
ich etwas Trauriges sage, füllen sich meine Augen mit Tränen; ist aber
das, was ich sage, schrecklich und entsetzlich, dann stehen die Haare meines Hauptes
vor Schauder zu Berge, und mein Herz klopft.« Hier merken wir nichts mehr
von jenem epischen Verlorensein im Scheine, von der affektlosen Kühle des
wahren Schauspielers, der, gerade in seiner höchsten Tätigkeit, ganz
Schein und Lust am Scheine ist. Euripides ist der Schauspieler mit dem klopfenden
Herzen, mit den zu Berge stehenden Haaren; als sokratischer Denker entwirft er
den Plan, als leidenschaftlicher Schauspieler führt er ihn aus. Reiner Künstler
ist er weder im Entwerfen noch im Ausführen. So ist das euripideische Drama
ein zugleich kühles und feuriges Ding, zum Erstarren und zum Verbrennen gleich
befähigt; es ist ihm unmöglich, die apollinische Wirkung des Epos zu
erreichen, während es andererseits sich von den dionysischen Elementen möglichst
gelöst hat und jetzt, um überhaupt zu wirken, neue Erregungsmittel braucht,
die nun nicht mehr innerhalb der beiden einzigen Kunsttriebe, des apollinischen
und des dionysischen, liegen können. Diese Erregungsmittel sind kühle
paradoxe Gedanken an Stelle der apollinischen Anschauungen
und feurige Affekte an Stelle der dionysischen Entzückungen
und zwar höchst realistisch nachgemachte, keineswegs in den Äther
der Kunst getauchte Gedanken und Affekte.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 79 |
Haben
wir demnach so viel erkannt, daß es Euripides überhaupt nicht gelungen
ist, das Drama allein auf das Apollinische zu gründen, daß sich vielmehr
seine undionysische Tendenz in eine naturalistische und unkünstlerische verirrt
hat, so werden wir jetzt dem Wesen des ästhetischen Sokratismus schon
näher treten dürfen, dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet:
»Alles muß verständig sein, um schön zu sein«; als
Parallelsatz zu dem sokratischen »nur der Wissende ist tugendhaft«.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 79 |
Das,
was Sophokles von Äschylus gesagt hat, er tue das Rechte, obschon unbewußt,
war gewiß nicht im Sinne des Euripides gesagt: der nur soviel hätte
gelten lassen, daß Äschylus, weil er unbewußt schaffe,
das Unrechte schaffe. .... Euripides unternahm es, wie es auch Plato unternommen
hat, das Gegenstück des »unverständigen« Dichters der Welt
zu zeigen, sein ästhetischer Grundsatz »alles muß bewußt
sein, um schön zu sein«, ist, wie ich sagte, der Parallelsatz zu dem
sokratischen »alles muß bewußt sein, um gut zu sein«.
Demgemäß darf uns Euripides als der Dichter des ästhetischen Sokratismus
gelten.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 82 |
Daß
Sokrates eine enge Beziehung der Tendenz zu Euripides habe, entging dem gleichzeitigen
Altertume nicht; und der beredteste Ausdruck für diesen glücklichen
Spürsinn ist jene in Athen umlaufende Sage, Sokrates pflege dem Euripides
im Dichten zu helfen. Beide Namen wurden von den Anhängern der »guten
alten Zeit« in einem Atem genannt, wenn es galt, die Volksverführer
der Gegenwart aufzuzählen: von deren Einflusse es herrühre, daß
die alte marathonische vierschrötige Tüchtigkeit an Leib und Seele immer
mehr einer zweifelhaften Aufklärung, bei fortschreitender Verkümmerung
der leiblichen und seelischen Kräfte, zum Opfer falle. .... m berühmtesten
ist aber die nahe Zusammenstellung beider Namen in dem delphischen Orakelspruche,
welcher Sokrates als den Weisesten unter den Menschen bezeichnete, zugleich aber
das Urteil abgab, daß dem Euripides der zweite Preis im Wettkampfe der Weisheit
gebühre.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 83 |
Während
doch bei allen produktiven Menschen der Instinkt gerade die schöpferisch-affirmative
Kraft ist, und das Bewußtsein kritisch und abmahnend sich gebärdet:
wird bei Sokrates der Instinkt zum Kritiker, das Bewußtsein zum Schöpfer
eine wahre Monstrosität per defectum!Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 85 |
Wirklich
hat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen Kunstform gegeben,
das Vorbild des Romans: der als die unendlich gesteigerte äsopische
Fabel zu bezeichnen ist, in der die Poesie in einer ähnlichen Rangordnung
zur dialektischen Philosophie lebt, wie viele Jahrhunderte hindurch dieselbe Philosophie
zur Theologie: nämlich als ancilla. Dies war die neue Stellung der
Poesie, in die sie Plato unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 88 |
Schon
bei Sophokles zeigt sich jene Verlegenheit in betreff des Chors ein wichtiges
Zeichen, daß schon bei ihm der dionysische Boden der Tragödie zu zerbröckeln
beginnt. Er wagt es nicht mehr, dem Chor den Hauptanteil der Wirkung anzuvertrauen,
sondern schränkt sein Bereich dermaßen ein, daß er jetzt fast
den Schauspielern koordiniert erscheint, gleich als ob er aus der Orchestra in
die Szene hineingehoben würde: womit freilich sein Wesen völlig zerstört
ist, mag auch Aristoteles gerade dieser Auffassung des Chors seine Beistimmung
geben. Jene Verrückung der Chorposition, welche Sophokles jedenfalls durch
seine Praxis und, der Überlieferung nach, sogar durch eine Schrift anempfohlen
hat, ist der erste Schritt zur Vernichtung des Chors, deren Phasen in Euripides,
Agathon und der neueren Komödie mit erschreckender Schnelligkeit aufeinanderfolgen.
Die optimistische Dialektik treibt mit der Geißel ihrer Syllogismen die
Musik aus der Tragödie: d.h. sie zerstört das Wesen der Tragödie,
welches sich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung dionysischer Zustände,
als sichtbare Symbolisierung der Musik, als die Traumwelt eines dionysischen Rausches
interpretieren läßt.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 89-90 |
Haben
wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende antidionysische Tendenz anzunehmen,
die nur in ihm einen unerhört großartigen Ausdruck gewinnt: so müssen
wir nicht vor der Frage zurückschrecken, wohin denn eine solche Erscheinung
wie die des Sokrates deuteFriedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 90 |
Haben
wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende antidionysische Tendenz anzunehmen,
die nur in ihm einen unerhört großartigen Ausdruck gewinnt: so müssen
wir nicht vor der Frage zurückschrecken, wohin denn eine solche Erscheinung
wie die des Sokrates deute ....Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 90 |
An
diesem ausgeführten historischen Beispiel haben wir klarzumachen gesucht,
wie die Tragödie an dem Entschwinden des Geistes der Musik ebenso gewiß
zugrunde geht, wie sie aus diesem Geiste allein geboren werden kann.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 97 |
Im
Gegensatz zu allen denen, welche beflissen sind, die Künste aus einem einzigen
Prinzip, als dem notwendigen Lebensquell jedes Kunstwerks, abzuleiten, halte ich
den Blick auf jene beiden künstlerischen Gottheiten der Griechen, Apollo
und Dionysus, geheftet und erkenne in ihnen die lebendigen und anschaulichen Repräsentanten
zweier in ihrem tiefsten Wesen und ihren höchsten Zielen verschiedenen Kunstwelten.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 98 |
Apollo
steht vor mir als der verklärende Genius des principii individuationis,
durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist: während
unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt
wird und der Weg zu den Müttern des Seins, zu dem innersten Kern der Dinge
offenliegt.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 98 |
Dieser
ungeheure Gegensatz, der sich zwischen der plastischen Kunst als der apollinischen
und der Musik als der dionysischen Kunst klaffend auftut, ist einem einzigen der
großen Denker in dem Maße offenbar geworden, daß er, selbst
ohne jene Anleitung der hellenischen Göttersymbolik, der Musik einen verschiedenen
Charakter und Ursprung vor allen anderen Künsten zuerkannte, weil sie nicht,
wie jene alle, Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens
selbst sei und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu
aller Erscheinung das Ding an sich darstelle. (Vgl. Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, I, S. 310.) Auf diese wichtigste Erkenntnis
aller Ästhetik, mit der, in einem ernsteren Sinne genommen, die Ästhetik
erst beginnt, hat Richard Wagner, zur Bekräftigung ihrer ewigen Wahrheit
seinen Stempel gedrückt, wenn er im »Beethoven« feststellt, daß
die Musik nach ganz anderen ästhetischen Prinzipien als alle bildenden Künste
und überhaupt nicht nach der Kategorie der Schönheit zu bemessen sei
....Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 98 |
Es
gibt nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sklavenstand, der seine Existenz
als ein Unrecht zu betrachten gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für
sich, sondern für alle Generationen Rache zu nehmen.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 112 |
Das
ist ja das Merkmal jenes »Bruches«, von dem jedermann als von dem
Urleiden der modernen Kultur zu reden pflegt, daß der theoretische Mensch
vor seinen Konsequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt, sich dem
furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen: ängstlich läuft er
am Ufer auf und ab. Er will nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichen
Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das optimistische Betrachten verzärtelt.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 114 |
Genug,
wenn wir erkannt haben, wie der eigentliche Zauber und damit die Genesis dieser
neuen Kunstform in der Befriedigung eines gänzlich unästhetischen Bedürfnisses
liegt, in der optimistischen Verherrlichung des Menschen an sich, in der Auffassung
des Urmenschen als des von Natur guten und künstlerischen Menschen: welches
Prinzip der Oper sich allmählich in eine drohende und entsetzliche Forderung
umgewandelt hat, die wir, im Angesicht der sozialistischen Bewegungen der Gegenwart,
nicht mehr überhören können. Der »gute Urmensch« will
seine Rechte: welche paradiesischen Aussichten!Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 117 |
Der
kunstohnmächtige Mensch erzeugt sich eine Art von Kunst, gerade dadurch,
daß er der unkünstlerische Mensch an sich ist.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 118 |
Aus
dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die
mit den Urbedingungen der sokratischen Kultur nichts gemein hat und aus ihnen
weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Kultur als
das Schrecklich-Unerklärliche, als das Übermächtig-Feindselige
empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen
Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 122 |
Vor
der deutschen Musik aber mag sich der Lügner und Heuchler in acht nehmen:
denn gerade sie ist, inmitten aller unserer Kultur, der einzig reine, lautere
und läuternde Feuergeist, von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des
großen Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreisbahn bewegen:
alles, was wir jetzt Kultur, Bildung, Zivilisation nennen, wird einmal vor dem
untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 122-123 |
Erinnern
wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen strömenden Geiste der deutschen
Philosophie, durch Kant und Schopenhauer, es ermöglicht war, die zufriedne
Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen,
zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eine unendlich tiefere und ernstere Betrachtung
der ethischen Fragen und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die
in Begriffe gefaßte dionysische Weisheit bezeichnen können:
wohin weist uns das Mysterium dieser Einheit zwischen der deutschen Musik und
der deutschen Philosophie, wenn nicht auf eine neue Daseinsform, über deren
Inhalt wir uns nur aus hellenischen Analogien ahnend unterrichten können?Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 123 |
Ja,
meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die Wiedergeburt
der Tragödie.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 122 | )))Die
Musik ist die eigentliche Idee der Welt, das Drama nur ein Abglanz dieser Idee,
ein vereinzeltes Schattenbild derselben.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 133 | )))Das
Drama ... erreicht als Ganzes eine Wirkung, die jenseits aller apollinischen
Kunstwirkungen liegt. In der Gesamtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische
wieder das Übergewicht; sie schließt mit einem Klange, der niemals
von dem Reiche der apollinischen Kunst her tönen könnte. Und damit erweist
sich die apollinische Täuschung als das, was sie ist, als die während
der Dauer der Tragödie anhaltende Umschleierung der eigentlichen dionysischen
Wirkung: die doch so mächtig ist, am Schluß das apollinische Drama
selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit dionysischer Weisheit zu
reden beginnt und wo es sich selbst und seine apollinische Sichtbarkeit verneint.
So wäre wirklich das schwierige Verhältnis des Apollinischen und des
Dionysischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu
symbolisieren: Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schließlich
die Sprache Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst
überhaupt erreicht ist.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 134-135 | )))Ohne
Mythus aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig:
erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung
zur Einheit ab.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 140 | )))Und
gerade nur so viel ist ein Volk wie übrigens auch ein Mensch
wert, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag:
denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewußte innerliche
Überzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d.h. der
metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegenteil davon tritt ein, wenn ein Volk
anfängt, sich historisch zu begreifen und die mythischen Bollwerke um sich
herum zu zertrümmern: womit gewöhnlich eine entschiedene Verweltlichung,
ein Bruch mit der unbewußten Metaphysik seines früheren Daseins, in
allen ethischen Konsequenzen, verbunden ist.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 143 | )))Wir
halten so viel von dem reinen und kräftigen Kerne des deutschen Wesens, daß
wir gerade von ihm jene Ausscheidung gewaltsam eingepflanzter fremder Elemente
zu erwarten wagen und es für möglich erachten, daß der deutsche
Geist sich auf sich selbst zurückbesinnt. Vielleicht wird mancher meinen,
jener Geist müsse seinen Kampf mit der Ausscheidung des Romanischen beginnen:
wozu er eine äußerliche Vorbereitung und Ermutigung in der siegreichen
Tapferkeit und blutigen Glorie des letzten Krieges erkennen dürfte, die innerliche
Nötigung aber in dem Wetteifer suchen muß, der erhabenen Vorkämpfer
auf dieser Bahn, Luthers ebensowohl als unserer großen Künstler und
Dichter, stets wert zu sein. Aber nie möge er glauben, ähnliche Kämpfe
ohne seine Hausgötter, ohne seine mythische Heimat, ohne ein »Wiederbringen«
aller deutschen Dinge, kämpfen zu können! Und wenn der Deutsche zagend
sich nach einem Führer umblicken sollte, der ihn wieder in die längst
verlorne Heimat zurückbringe, deren Wege und Stege er kaum mehr kennt
so mag er nur dem wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen, der
über ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 144 |
Kultur
ist, vor allem, die Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen
eines Volkes.Friedrich
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872 |
In
irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen
Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden.
Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der »Weltgeschichte«;
aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das
Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. So könnte jemand
eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben,
wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig
sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt. Es gab Ewigkeiten,
in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben
haben. Denn es gibt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über
das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer
und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten.
Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden
wir vernehmen, daß auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und
in sich das fliegende Zentrum dieser Welt fühlt.Friedrich
Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn,
1872, S. 3 |
Im Menschen kommt diese Verstellungskunst
auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und
Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im
erborgten Glanze leben, das Maskiertsein, die verhüllende Konvention, das
Bühnenspiel vor anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern
um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, daß fast
nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner
Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.Friedrich
Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn,
1872, S. 4 |
Zwischen zwei absolut verschiedenen
Sphären, wie zwischen Subjekt und Objekt, gibt es keine Kausalität,
keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches
Verhalten, ich meine eine andeutende Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung
in eine ganz fremde Sprache: wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und
frei erfindenden Mittelsphäre und Mittelkraft bedarf. Friedrich
Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn,
1872, S. 11 |
»Wenn ein Handwerker
gewiß wäre, jede Nacht zu träumen, volle zwölf Stunden hindurch,
daß er König sei, so glaube ich«, sagt Pascal, »daß
er ebenso glücklich wäre als ein König, welcher alle Nächte
während zwölf Stunden träumte, er sei Handwerker.« Der wache
Tag eines mythisch erregten Volkes, etwa der älteren Griechen, ist durch
das fortwährend wirkende Wunder, wie es der Mythus annimmt, in der Tat dem
Traume ähnlicher als dem Tag des wissenschaftlich ernüchterten Denkers.
Wenn jeder Baum einmal als Nymphe reden oder unter der Hülle eines Stieres
ein Gott Jungfrauen wegschleppen kann, wenn die Göttin Athene selbst plötzlich
gesehn wird, wie sie mit einem schönen Gespann in der Begleitung des Pisistratus
durch die Märkte Athens fährt und das glaubte der ehrliche Athener
, so ist in jedem Augenblicke wie im Traume alles möglich, und die
ganze Natur umschwärmt den Menschen, als ob sie nur die Maskerade der Götter
wäre, die sich nur einen Scherz daraus machten, in allen Gestalten den Menschen
zu täuschen.Friedrich
Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn,
1872, S. 14 |
Ȇbrigens
ist mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit
zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.« Dies sind Worte Goethes, mit
denen, als mit einem herzhaft ausgedrückten Ceterum censeo, unsere
Betrachtung über den Wert und den Unwert der Historie beginnen mag. In derselben
soll nämlich dargestellt werden, warum Belehrung ohne Belebung, warum Wissen,
bei dem die Tätigkeit erschlafft, warum Historie als kostbarer Erkenntnis-Überfluß
und Luxus uns ernstlich, nach Goethes Wort, verhaßt sein muß - deshalb,
weil es uns noch am Notwendigsten fehlt, und weil das überflüssige der
Feind des Notwendigen ist.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 154 |
Gewiß,
wir brauchen die Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte
Müßiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm
auf unsere derben und anmutslosen Bedürfnisse und Nöte herabsehen. Das
heißt, wir brauchen sie zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr
vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen
Lebens und der feigen und schlechten Tat. Nur soweit die Historie dem Leben dient,
wollen wir ihr dienen: aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben, und eine
Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet: ein
Phänomen, welches an merkwürdigen Symptomen unserer Zeit sich zur Erfahrung
zu bringen jetzt ebenso notwendig ist, als es schmerzlich sein mag.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 154 |
Es
ist wahr: erst dadurch, daß der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend,
trennend, zusammenschließend jenes unhistorische Element einschränkt,
erst dadurch, daß innerhalb jener umschließenden Dunstwolke ein heller,
blitzender Lichtschein entsteht, - also erst durch die Kraft, das Vergangne zum
Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird
der Mensch zum Menschen: aber in einem Übermaße vom Historie hört
der Mensch wieder auf, und ohne jede Hülle des Unhistorischen würde
er nie angefangen haben und anzufangen wagen. Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S.. 160-161 |
Wie
der Handelnde, nach Goethes Ausdruck, immer gewissenlos ist, so ist er auch immer
wissenlos, so vergißt das Meiste, um Eins zu tun, er ist ungerecht gegen
das, was hinter ihm liegt, und kennt nur Ein Recht, das Recht dessen, was jetzt
werden soll.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 162 |
Sie
wissen gar nicht, wie unhistorisch sie trotz aller ihrer Historie denken und handeln,
und wie auch ihre Beschäftigung mit der Geschichte nicht im Dienste der reinen
Erkenntnis, sondern des Lebens steht.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 163 |
Mag
unsere Schätzung des Historischen nur ein okzidentales Vorurteil sein; wenn
wir nur wenigstens innerhalb dieser Vorurteile fortschreiten und nicht stillestehen!
Wenn wir nur diese gerade immer besser lernen, Historue zum Zwecke des Lebens
zu treiben! Dann wollen wir den Überhistorischen gerne zugestehen, daß
sie mehr Weisheit besitzen als wir; falls wir nämlich nur sicher sein dürfen,
mehr Leben als sie zu besitzen: denn so wird jedenfalls unsre Unweisheit mehr
Zukunft haben als ihre Weisheit.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 164-165 |
Die
Geschichte als reine Wissenschaft gedacht und souverän geworden, wäre
eine Art von Lebens-Abschluß und Abrech nung für die Menschheit. Die
historische Bildung ist vielmehr nur im Gefolge einer mächtigen neuen Lebensströmung,
einer werdenden Kultur zum Beispiel, etwas Heilsames und Zu kunfts-Verheißendes,
also nur dann, wenn sie von einer höheren Kraft beherrscht und geführt
wird und nicht selber herrscht und führt.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 165 |
Die
Historie, sofern sie im Dienste des Lebens steht, steht im Dienste einer unhistorischen
Macht und wird deshalb nie, in dieser Unterordnung, reine Wissenschaft, etwa wie
die Mathematik es ist, werden können und sollen. Die Frage aber, bis zu welchem
Grade das Leben den Dienst der Historie überhaupt brauche, ist eine der höchsten
Fragen und Sorgen in betreff der Gesundheit eines Menschen, eines Volkes, einer
Kultur. Denn bei einem gewissen Übermaß derselben zerbröckelt
und entartet das Leben, und zuletzt auch wieder, durch diese Entartung, selbst
die Historie. Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 165 |
Daß
das Leben aber den Dienst der Historie brauche, muß ebenso deutlich begriffen
werden als der Satz, der später zu beweisen sein wird - daß ein Übermaß
der Historie dem Lebendigen schade.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 166 |
In
dreierlei Hinsicht gehört die Historie dem Lebendigen: sie gehört ihm
als dem Tätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden,
ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen. Dieser Dreiheit von
Beziehungen entspricht eine Dreiheit von Arten der Historie: sofern es erlaubt
ist, eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische
Art der Historie zu unterscheiden.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 166 |
Die
Geschichte gehört vor Allem dem Tätigen und Mächtigen, dem, der
einen großen Kampf kämpft, der Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht
und sie unter seinen Genossen und in der Gegenwart nicht zu finden vermag. So
gehörte sie Schillern: denn unsre Zeit ist so schlecht, sagte Goethe, daß
dem Dichter im umgebenden menschlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begegnet.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 166 |
Mit
der Rücksicht auf den Tätigen nennt zum Beispiel Polybius die politische
Historie die rechte Vorbereitung zur Regierung eines Staates und die vorzüglichste
Lehrmeisterin, als welche durch die Erinnerung an die Unfälle Anderer uns
ermahne, die Abwechslungen des Glückes standhaft zu ertragen. Wer hierin
den Sinn der Historie zu erkennen gelernt hat, den muß es verdrießen,
neugierige Reisende oder peinliche Mikrologen auf den Pyramiden großer Vergangenheiten
herumklettern zu sehen; dort, wo er die Anreizungen zum Nachahmen und Bessermachen
findet, wünscht er nicht dem Müßiggänger zu begegnen, der,
begierig nach Zerstreuung oder Sensation, wie unter den gehäuften Bilderschätzen
einer Galerie herumstreicht.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 166 |
Aber
Eines wird leben, das Monogramm ihres eigensten Wesens, ein Werk, eine Tat eine
seltene Erleuchtung, eine Schöpfung: es wird leben, weil keine Nachwelt es
entbehren kann. In dieser verklärtesten Form ist der Ruhm doch etwas mehr
als der köstliche Bissen unsrer Eigenliebe, wie ihn Schopnehauer genannt
hat, es ist der Glaube an die Zusammengehörigkeit und Kontinuität des
Großen aller Zeiten, es ist ein Protest gegen den Wechsel der Geschlechter
und doe Vergänglichkeit.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 168 |
Im
Grunde ja könnte das, was einmal möglich war, sich nur dann zum zweiten
Male als möglich einstellen, wenn die Pythagoreer recht hätten zu glauben,
daß bei gleicher Konstellation der himmlischen Körper auch auf Erden
das Gleiche, und zwar bis aufs Einzelne und Kleine, sich wiederholen müsse:
so daß immer wieder, wenn die Sterne eine gewisse Stellung zueinander haben,
ein Stoiker sich mit einem Epikureer verbinden und Cäsar ermorden und immer
wieder bei einem anderen Stande Kolumbus Amerika entdecken wird. Nur wenn die
Erde ihr Theaterstück jedesmal nach dem fünften Akt von neuem anfinge,
wenn es feststünde, daß dieselbe Verknotung von Motiven, derselbe Deus
ex machina, dieselbe Katastrophe in bestimmten Zwischenräumen wiederkehrten,
dürfte der Mächtige die monumentale Historie in voller ikonischer Wahrhaftigkeit,
das heißt jedes Faktum in seiner genau geschilderten Eigentümlichkeit
und Einzigkeit begehren: wahrscheinlich also nicht eher, als bis die Astronomen
wieder zu Astrologen geworden sind. Bis dahin wird die monumentale Historie jene
volle Wahrhaftigkeit nicht brauchen können: immer wird sie das Ungleiche
annähern, verallgemeinern und endlich gleichsetzen.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 169 |
Jede
der drei Arten von Historie, die es gibt, ist nur gerade auf Einem Boden und unter
Einem Klina in ihrem Rechte: auf jedem anderen wächst sie zum verwüstenden
Unkraut heran. Wenn der Mensch, der Großes schaffen will, überhaupt
die Vergangenheit braucht, so bemächtigt er sich ihrer vermittelst der monumentalischen
Historie; wer dagegen im Gewohnten und Altverehrten beharren mag, pflegt das Vergangne
als antiquarischer Historiker; und nur der, dem eine gegenwärtige
Not die Brust beklemmt, und der um jeden Preis die Last von sich abwerfen will,
hat ein Bedürfnis zur kritischen, das heißt richtenden und verurteilenden
Historie.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 172 |
Wie
könnte die Historie dem Leben besser dienen, als dadurch, daß sie auch
die minder begünstigten Geschlechter und Bevölkerungen an ihre Heimat
und Heimatsitte anknüpft, seßhaft macht und sie abhält, nach dem
Besseren in der Fremde herumzuschweifen und um dasselbe wetteifernd zu kämpfen?Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 174 |
Hier
wird es deutlich, wie notwendig der Mensch, neben der monumentalischen und antiquarischen
Art, die Vergangenheit zu betrachten, oft genug eine dritte Art nötig hat,
die kritische: und zwar auch diese wiederum im Dienste des Lebens. Er muß
die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen
und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, daß
er sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert und endlich verurteilt; jede Vergangenheit
aber ist wert, verurteilt zu werden, denn so steht es nun einmal mit den menschlichen
Dingen: immer ist in ihnen menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen.
Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger
die Gnade, die hier das Urteil verkündet: sondern das Leben allein, jene
dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 177 |
»Denn
Alles, was entlsteht, ist wert, daß es zugrunde geht. Drum besser wär's,
daß nichts entstünde.« Es gehört sehr viel Kraft dazu, leben
zu können und zu vergessen, inwiefern leben und ungerecht sein Eins ist.
Luther selbst hat einmal gemeint, daß die Welt nur durch eine Vergeßlichkeit
Gottes entstanden sei; wenn Gott nämlich an das »schwere Geschütz«
gedacht hätte, er würde die Welt nicht geschaffen haben. Mitunter aber
verlangt eben dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung
dieser Vergessenheit; dann soll es eben gerade klar werden, wie ungerecht die
Existenz irgendeines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum
Beispiel, ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 177-178 |
Dann
wird seine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man mit dem Messer an
seine Wurzeln, dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg.
Es ist immer ein gefährlicher, nämlich für das Leben selbst gefährlicher
Prozeß: und Menschen oder Zeiten, die auf diese Weise dem Leben dienen,
daß sie eine Vergangenheit richten und vernichten, sind immer gefährliche
und gefährdete Menschen und Zeiten. Denn da wir nun einmal die Resultate
früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen,
Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich, sich
ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurteilen und
uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Tatsache nicht beseitigt, daß
wir aus ihnen herstammen.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 178 |
Wir
bringen es im besten Falle zu einem Widerstreite der ererbten, angestammten Natur
und unsrer Erkenntnis, auch wohl zu einem Kampfe einer neuen strengen Zucht gegen
das von alters her Anerzogne und Angeborne, wir pflanzen eine neue Gewöhnung,
einen neuen Instinkt, eine zweite Natur an, so daß die erste Natur abdorrt.
Es ist ein Versuch, sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben,
aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt: immer
ein gefährlicher Versuch, weil es so schwer ist, eine Grenze im Verneinen
des Vergangnen zu finden, und weil die zweiten Naturen meistens schwächlicher
als die ersten sind. Es bleibt zu häufig bei einem Erkennen des Guten, ohne
es zu tun, weil man auch das Bessere kennt, ohne es tun zu können. Aber hier
und da gelingt der Sieg doch, und es gibt sogar für die Kämpfenden,
für die, welche sich der kritischen Historie zum Leben bedienen, einen merkwürdigen
Trost: nämlich zu wissen, daß auch jene erste Natur irgendwann einmal
eine zweite Natur war und daß jede siegende zweite Natur zu einer ersten
wird.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 178 |
Dies
sind die Dienste, welche die Historie dem Leben zu leisten vermag; jeder Mensch
und jedes Volk braucht je nach seinen Zielen, Kräften und Nöten eine
gewisse Kenntnis der Vergangenheit, bald als monumentalische, bald als
antiquarische, bald als kritische Historie: aber nicht wie eine
Schar von reinen, dem Leben nur zusehenden Denkern, nicht wie wissensgierige,
durch Wissen allein zu befriedigende Einzelne, denen Vermehrung der Erkenntnis
das Ziel selbst ist, sondern immer nur zum Zweck des Lebens und also auch unter
der Herrschaft und obersten Führung dieses Lebens.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 179 |
Daß
dies die natürliche Beziehung einer Zeit, einer Kultur, eines Volkes zur
Historie ist - hervorgerufen durch Hunger, reguliert durch den Grad des Bedürfnisses,
in Schranken gehalten durch die innewohnende plastische Kraft - daß die
Kenntnis der Vergangenheit zu allen Zeiten nur im Dienste der Zukunft und Gegenwart
begehrt ist, nicht zur Schwächung der Gegenwart, nicht zur Entwurzelung einer
lebenskräftigen Zukunft: das Alles ist einfach, wie die Wahrheit einfach
ist, und überzeugt sofort auch den, der dafür nicht erst den historischen
Beweis sich führen läßt.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 179 |
Und
nun schnell einen Blick auf unsre Zeit! Wir erschrecken, wir fliehen zurück:
wohin ist alle Klarheit, alle Natürlichkeit und Reinheit jener Beziehung
von Leben und Historie, wie verwirrt, wie übertrieben, wie unruhig flutet
jetzt dies Problem vor unsren Augen! Liegt die Schuld an uns, den Betrachtenden?
Oder hat sich wirklich die Konstellation von Leben und Historie verändert,
dadurch daß ein mächtig feindseliges Gestirn zwischen sie getreten
ist? Mögen Andere zeigen, daß wir falsch gesehen haben: wir wollen
sagen, was wir zu sehen meinen. Es ist allerdings ein solches Gestirn, ein leuchtendes
und herrliches Gestirn dazwischengetreten, die Konstellation ist wirklich verändert
- durch die Wissenschaft, durch die Fordernng, daß die Historie Wissenschaft
sein soll. Jetzt regiert nicht mehr allein das Leben und bändigt das
Wissen um die Vergangenheit: sondern alle Grenzpfähle sind, umgerissen und
alles, was einmal war, stürzt auf den Menschen zu. So weit zurück es
ein Werden gab, soweit zurück, ins Unendliche hinein, sind auch alle Perspektiven
verschoben. Ein solche unüberschaubares Schauspiel sah noch kein Geschlecht,
wie es jetzt die Wissenschaft des universalen Wissens, die Historie, zeigt: freilich
aber zeigt sie es mit der gefährlichen Kühnheit ihre wahlspruches: fiat
veritas pereat vita.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 179-180 |
Der
moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen
mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln,
wie es im Märchen heißt.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 180 |
Der
moderne Mensch leidet an einer geschwächten Persönlichkeit.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 187 |
Der
Wahrheit dienen Wenige in Wahrheit, weil nur Wenige den reinen Willen haben, gerecht
zu sein, und selbst von diesen wieder die Wenigsten die Kraft, gerecht sein zu
können.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 195 |
Wie
unwahrscheinlich ist ... die Häufigkeit des historischen Talentes!Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 197 |
Glaubt
einer Geschichtsschreibung nicht, wenn sie nicht aus dem Haupte der seltensten
Geister herausspringt ....Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 202 |
Wer
nicht Einiges größer und höher erlebt hat als Alle, wird auch
nichts Großes und Hohes aus der Vergangenheit zu deuten wissen.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 202 |
Fragt
nicht bei der Geschichte an, daß sie euch das Wie? das Wohin? zeige. Wenn
ihr euch dagegen in die Geschichte großer Männer hineinlebt, so werdet
ihr aus ihr ein oberstes Gebot lernen, reif zu werden, und jenem lähmenden
Erziehungsbanne der Zeit zu entfliehen, die ihren Nutzen darin sieht, euch nicht
reif werden zu lassen, um euch, die Unreifen, zu beherrschen und auszubeuten.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 203 |
Die
historische Gerechtigkeit, selbst wenn sie wirklich und in reiner Gesiinung geübt
wird, ist ... eine schreckliche Tugend, weil sie immer das Lebendige untergräbt
und zu Falle bringt: ihr Richten ist immer ein Vernichten.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 203 |
Eine
Religion zum Beispiel, die in historisches Wissen, unter dem Walten der reinen
Gerechtigkeit, umgesetzt werden soll, eine Religion, die durch und durch wissenschaftlich
erkannt werden soll, ist am Ende dieses Weges zugleich vernichtet.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 204 |
Was
man am Christentum lernen kann, daß es unter der Wirkung einer historisierenden
Behandlung blasiert und unnatürlich geworden ist, bis endlich eine vollkommen
historische ... Behandlung es in reines Wissen um das Christentum auflöst
und dadurch vernichtet, das kann man an allem, was Leben hat, studieren; daß
es aufhört zu leben, wenn es zu Ende seziert ist und schmerzlich und krabkhaft
lebt, wenn man anfängt, an ihm die historische Sezierübungen zu machen.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 205 |
Alles
Lebendige braucht um sich eine Atmosphäre, einen geheimnisvollen Dunstkreis;
wenn man ihm diese Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein Genie
verurteilt, als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über
das schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbar-Werden nicht mehr wundern. So ist
es nun einmal bei allen großen Dingen, »die nie ohn' ein'gen Wahn
gelingen«, wie Hans Sachs in den Meistersingern sagt.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 206 |
Aber
selbst jedes Volk, ja jeder Mensch, der reif werden will, braucht einen
solchen umhüllenden Wahn, eine solche umschützende und umschleiernde
Wolke; jetzt aber haßt man das Reifwerden überhaupt, weil man die Historie
mehr als das Leben ehrt. Ja man triumphiert darüber, daß jetzt »die
Wissenschaft anfange über das Leben zu herrschen«: möglich, daß
man das erreicht; aber gewiß ist ein derartige beherrschtes Leben nicht
viel wert, weil es viel weniger Leben ist und viel weniger Leben für
die Zukunft verbürgt als das ehemals nicht durch das Wissen, sondern durch
Instinkte und kräftige Wahnbilder beherrschte Leben.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 206 |
So
..., wie der junge Mensch durch die Geschichte läuft, so laufen wir Modernen
durch die Kunstkammern, so hören wir Konzerte. Man fühlt wohl, das klingt
anders als jenes, das wirkt anders als jenes: dies gefühl der Befremdung
immer mehr zu verlieren, über nichts mehr übermäßig zu erstaunen,
endlich alles sich gefallen zu lassen - das nennt man dann wohl den historischen
Sinn, die historische Bildung.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 207 |
Die
gediegene Mittelmäßigkeit wird immer mittelmäßiger, die
Wissenschaft im ökonomischen Sinne immer nutzbarer.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 208-209 |
Schafft
euch den Begriff eines »Volkes«; den könnt ihr nie edel und hoch
genug denken. Dächtet ihr groß vom Volke, so wäret ihr auch barmherzig
gegen dasselbe und hütetet euch wohl, euer historisches Scheidewasser ihm
als Lebens- und Labetrank anzubieten. Aber ihr denkt im tiefsten Grunde von ihm
gering, weil ihr vor seiner Zukunft keine wahre und sicher gegründete Achtung
haben dürft, und ihr handelt als praktische Pessimisten, ich meine als Menschen,
die die Ahnung eines Unterganges leietet und die dadurch gegen das fremde, ja
gegen das eigne Wohl gleichgültig und läßlich werden. Wenn uns
nur die Scholle noch trägt! Und wenn sie uns nicht mehr trägt, dann
soll es auch recht sein: - so empfinden sie und leben eine ironische Existenz.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 210 |
Uns
ziemt jede Ungereimtheit, jener Aberglaube ..., uns, den Spätgekommenen,
den abgeblaßten letzten Sprossen mächtiger und frohmütiger Geschlechter,
und, auf die Hesiods Prophezeiung zu deuten ist, daß die Menschen einst
sogleich graubehaart geboren würden, und das Zeus dies Geschlecht vertilgen
werde, sobald jenes zeichen an ihm sichtbar geworden sei. Die historische Bildung
ist auch wirklich eine Art angeborner Grauhaarigkeit ....Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 211 |
Steckt
nicht ... in diesem lähmenden Glauben an eine bereits abwelkende Menschheit
das Mißverständnis einer, vom Mittelalter her vererbten, christlich
theologischen Vorstellung, der Gedanke an das nahe Weltende, an das bänglich
erwartete Gericht?Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 212 |
Das
Christentum ... erreicht ... doch ebenfalls sein Ziel, wenn es sich mit der historischen
Bildung, meistens sogar ohne deren Mitwissen, verbündet und nun, aus ihr
heraus redend, alles Werdende achselzuckend ablehnt und darüber das Gefühl
des gar zu Überspäten und Epigonenhaften, kurz der angebornen Grauhaarigkeit
ausbreitet. Die herbe und tiefsinnig ernste Betrachtung über den Unwert alles
Geschenen, über das Zum-Gericht-Reifsein der Welt, hat sich zu dem skeptischen
Bewußtsein verflüchtigt, daß es jedenfalls gut sei, alles Geschehene
zu wissen, weil es zu spät dafür sei, etwas Besseres zu tun. So macht
der historische Sinn seine Diener passiv und retrospektiv ....Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 213 |
Ich
glaube, daß es keine gefährliche Schwankung oder Wendung der deutschen
Bildung in diesem Jahrhundert gegeben hat, die nicht durch die ungeheure, bis
diesen Augenblick fortströmende Einwirkung dieser Philosophie, der Hegelischen,
gefährlicher geworden ist. Wahrhaftig, lähmend und verstimmend ist der
Glaube, ein Spätling der Zeiten zu sein: furchtbar und zerstörend muß
es aber erscheinen, wenn ein solcher Glaube eines Tages mit kecker Umstülpung
diesen Spätling als den wahren Sinn und Zweck alles früher Geschehenen
vergöttert, wenn sein wissendes Elend einer Vollendung der Weltgeschichte
gleichgesetzt wird. Eine solche Betrachtungsart hat die Deutschen daran gewöhnt,
vom »Weltprozeß« zu reden und die eigne Zeit als das notwendige
Resultat dieses Weltprozesses zu rechtfertigen; eine solche Betrachtungsart hat
die Geschichte an Stelle der andern geistigen Mächte, Kunst und Religion,
als einzig souverän gesetzt, insofern sie »der sich selbst realisierende
Begriff«, insofern sie »die Dialektik der Völkergeister«
und das »Weltgericht« ist.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 216 |
Man
hat diese Hegelisch verstandene Geschichte mit Hohn das Wandeln Gottes auf der
Erde genannt, welcher Gott aber seinerseits erst durch die Geschichte gemacht
wird. Dieser Gott aber wurde sich selbst innerhalb der Hegelischen Hirnschalen
durchsichtig und verständlich und ist bereits alle dialektisch möglichen
Stufen seines Werdens, bis zu jener Selbstoffenbarung, emporgestiegen: so daß
für Hegel der Höhepunkt und der Endpunkt des Weltprozesses in seiner
eignen Berliner Existenz zusammenfielen. Ja er hätte sagen müssen, daß
alle nach ihm kommenden Dinge eigentlich nur als eine musikalische Coda des weltgeschichtlichen
Rondos, noch eigentlicher, als überflüssig zu schätzen seien. Das
hat er nicht gesagt: dafür hat er in die von ihm durchsäuerten Generationen
jene Bewunderung vor der »Macht der Geschichte« gepflanzt, die praktisch
alle Augenblicke in nackte Bewunderung des Erfolges umschlägt und zum Götzendienste
des Tatsächlichen führt: für welchen Dienst man sich jetzt die
sehr mythologische und außerdem recht gut deutsche Wendung »den Tatsachen
Rechnung tragen« allgemein eingeübt hat.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 216-217 |
Wer
aber erst gelernt hat, vor der »Macht der Geschichte« den Rücken
zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt chinesenhaft-mechanisch
sein »Ja« zu jeder Macht, sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche
Meinung oder eine Zahlen-Majorität, und bewegt seine Glieder genau in dem
Takte, in dem irgendeine »Macht« am Faden zieht. Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 217 |
Enthält
jeder Erfolg in sich eine vernünftige Notwendigkeit, ist jedes Ereignis der
Sieg des Logischen oder der »Idee« - dann nur hurtig nieder auf die
Knie und nun die ganze Stufenleiter der »Erfolge« abgekniet!Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 217 |
Was,
es gäbe keine herrschenden Mythologien mehr? Was, die Religionen wären
im Aussterben? Seht euch nur die Religion der historischen Macht an, gebt
acht auf die Priester der Ideen-Mythologie und ihre zerschundenen Knie! Sind nicht
sogar alle Tugenden im Gefolge dieses neuen Glaubens? Oder ist es nicht Selbstlosigkeit,
wenn der historische Mensch sich zum objektiven Spiegelglas ausblasen läßt?
Ist es nicht Großmut, auf alle Gewalt im Himmel und auf Erden zu verzichten,
dadurch, daß man in jeder Gewalt die Gewalt an sich anbetet? Ist es nicht
Gerechtigkeit, immer Waagschalen in den Händen zu haben und fein zuzusehen,
welche als die stärkere und schwerere sich neigt? Und welche Schule der Wohlanständigkeit
ist eine solche Betrachtung der Geschichte!Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 217 |
So
wird die Geschichte zu einem Kompendium der tatsächlichen Unmoral. Wie schwer
würde sich der irren, der die Geschichte zugleich als Richterin dieser tatsächlichen
Unmoral ansähe! Es beleidigt zum Beispiel die Moral, daß ein Raffael
sechsunddreißig Jahr alt sterben mußte: solch ein Wesen sollte nicht
sterben. Wollt ihr nun der Geschichte zu Hilfe kommen, als Apologeten des Tatsächlichen,
so werdet ihr sagen: er hat alles, was in ihm lag, ausgesprochen, er hätte,
bei längerem Leben, immer nur das Schöne als gleiches Schönes,
nicht als neues Schönes schaffen können, und dergleichen. So seid ihr
die Advokaten des Teufels, und zwar dadurch, daß ihr den Erfolg, das Faktum
zu eurem Götzen macht: während das Faktum immer dumm ist und zu allen
Zeiten einem Kalbe ähnlicher gesehen hat als einem Gotte. Als Apologeten
der Geschichte souffliert euch überdies die Ignoranz: denn nur weil ihr nicht
wißt, was eine solche natura naturans, wie Raffael, ist, macht es
euch nicht heiß, zu vernehmen, daß sie war und nicht mehr sein wird.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 218 |
Über
Goethe hat uns neuerdings jemand belehren wollen, daß er mit seinen 82 Jahren
sich ausgelebt habe: und doch würde ich gern ein paar Jahre des »ausgelebten«
Goethe gegen ganze Wagen voll frischer hochmoderner Lebensläufe einhandeln,
um noch einen Anteil an solchen Gesprächen zu haben, wie sie Goethe mit Eckermann
führte, und um auf diese Weise vor allen zeitgemäßen Belehrungen
durch die Legionäre des Augenblicks bewahrt zu bleiben. Wie wenige Lebende
haben überhaupt, solchen Toten gegenüber, ein Recht zu leben! Daß
die Vielen leben und jene Wenigen nicht mehr leben, ist nichts als eine brutale
Wahrheit, das heißt eine unverbesserliche Dummheit, ein plumpes »es
ist einmal so« gegenüber der Moral »es sollte nicht so sein«.
Ja, gegenüber der Moral!Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 218 |
Dicht
neben dem Stolze des modernen Menschen steht seine Ironie über sich
selbst, sein Bewußtsein, daß er in einer historisierenden und gleichsam
abendlichen Stimmung leben muß ....Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 219 |
Hier
und da geht man noch weiter, ins Zynische, und rechtfertigt den Gang der Geschichte,
ja der gesamten Weltentwicklung ganz eigentlich für den Handgebrauch des
modernen Menschen, nach dem zynischen Kanon: gerade so mußte es kommen,
wie es gerade jetzt geht, so und nicht anders mußte der Mensch werden, wie
jetzt die Menschen sind, gegen dieses Muß darf sich keiner auflehnen.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 220 |
In
das Wohlgefühl eines derartigen Zynismus flüchtet sich der, welcher
es nicht in der Ironie aushalten kann; ihm bietet überdies das letzte Jahrzehnt
eine seiner schönsten Erfindungen zum Geschenke an, eine gerundete und volle
Phrase für jenen Zynismus: sie nennt seine Art, zeitgemäß und
ganz und gar unbedenklich zu leben, »die volle Hingabe der Persönlichkeit
an den Weltprozeß«.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 220 |
Die
Persönlichkeit und der Weltprozeß! Der Weltprozeß und die Persönlichkeit
des Erdflohs! Wenn man nur nicht ewig die Hyperbel aller Hyperbeln, das Wort:
Welt, Welt, Welt hören müßte, da doch Jeder, ehrlicherweise, nur
von Mensch, Mensch, Mensch reden sollte! Erben der Griechen und Römer? des
Christentums? Das scheint Alles jenen Zynikern nichts; aber Erben des Weltprozesses!
Spitzen und Zielscheiben des Weltprozesses! Sinn und Lösung aller Werde-Rätsel
überhaupt, ausgedrückt im modernen Menschen, der reifsten Frucht am
Baume der Erkenntnis! - das nenne ich ein schwellendes Hochgefühl; an diesem
Wahrzeichen sind die Erstlinge aller Zeiten zu erkennen, ob sie auch gleich zuletzt
gekommen sind.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 220 |
So
weit flog die Geschichtsbetrachtung noch nie, selbst nicht, wenn sie träumte;
denn jetzt ist die Menschengeschichte nur die Fortsetzung der Tier- und Pflanzengeschichte;
ja in den untersten Tiefen des Meeres findet der historische Universalist noch
die Spuren seiner selbst, als lebenden Schleim; den ungeheuren Weg, den der Mensch
bereits durchlaufen hat, wie ein Wunder anstaunend, schwindelt dem Blicke vor
dem noch erstaunlicheren Wunder, vor dem modernen Menschen selbst, der diesen
Weg zu übersehen vermag. Er steht hoch und stolz auf der Pyramide des Weltprozesses:
indem er oben darauf den Schlußstein seiner Erkenntnis legt, scheint er
der horchenden Natur rings umher zuzurufen: »wir sind am Ziele, wir sind
das Ziel, wir sind die vollendete Natur.«Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 220-221 |
Überstolzer
Europäer des 19. Jahrhunderts, du rasest! Dein Wissen vollendet nicht die
Natur, sondern tötet nur deine eigne. Miß nur einmal deine Höhe
als Wissender an deiner Tiefe als Könnender. Freilich kletterst du an den
Sonnenstrahlen des Wissens aufwärts zum Himmel, aber auch abwärts zum
Chaos. Deine Art zu gehen, nämlich als Wissender zu klettern, ist dein Verhängnis;
Grund und Boden weicht ins Ungewisse für dich zurück; für dein
Leben gibt es keine Stützen mehr, nur noch Spinnefäden, die jeder neue
Griff deiner Erkenntnis auseinanderreißt. - Doch darüber kein ernstes
Wort mehr, da es möglich ist, ein heiteres zu sagen.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 221 |
Das
rasend-unbedachte Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente, ihre Auflösung
in ein immer fließendes und zerfließendes Werden, das unermüdliche
Zerspinnen und Historisieren alles Gewordenen durch den modernen Menschen, die
große Kreuzspinne im Knoten des Weltall-Netzes - das mag den Moralisten,
den Künstler, den Frommen, auch wohl den Staatsmann beschäftigen und
bekümmern; uns soll es heute einmal erheitern, dadurch, daß wir dies
alles im glänzenden Zauberspiegel eines philosophischen Parodisten
sehen, in dessen Kopfe die Zeit über sich selbst zum ironischen Bewußtsein,
und zwar deutlich »bis zur Verruchtheit« (um Goethisch zu reden),
gekommen ist.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 221 |
Hegel
hat uns einmal gelehrt, »wenn der Geist einen Ruck macht, da sind wir Philosophen
auch dabei«: unsre Zeit machte einen Ruck, zur Selbstironie, und siehe!
da war auch E. von Hartmann dabei und hatte seine berühmte Philosophie
des Unbewußten - oder um deutlicher zu reden - seine Philosophie der
unbewußten Ironie geschrieben. Selten haben wir eine lustigere Erfindung
und eine mehr philosophische Schelmerei gelesen als die Hartmanns; wer durch ihn
nicht über das Werden aufgeklärt, ja innerlich aufgeräumt
wird, ist wirklich reif zum Gewesensein.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 221 |
Anfang
und Ziel des Weltprozesses, vom ersten Stutzen des Bewußtseins bis zum Zurückgeschleudert-Werden
ins Nichts, samt der genau bestimmten Aufgabe unsrer Generation für den Weltprozeß,
alles dargestellt aus dem so witzig erfundenen Inspirations-Borne des Unbewußten
und im apokalyptischen Lichte leuchtend, alles so täuschend und zu so biederem
Ernste nachgemacht, als ob es wirkliche Ernst-Philosophie und nicht nur Spaß-Philosophie
wäre.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 221-222 |
Ein
solches Ganze stellt seinen Schöpfer als einen der ersten philosophischen
Parodisten aller Zeiten hin: opfern wir also auf seinem Altar, opfern wir ihm,
dem Erfmder einer wahren Universal-Medizin, eine Locke - um einen Schleiermacherischen
Bewunderungs-Ausdruck zu stehlen. Denn welche Medizin wäre heilsamer gegen
das Übermaß historischer Bildung als Hartmanns Parodie aller Welthistorie
?Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 222 |
Wollte
man recht trocken heraussagen, was Hartmann von dem umrauchten Dreifuße
der unbewußten Ironie her uns verkündet, so wäre zu sagen: er
verkündet uns, daß unsre Zeit nur gerade so sein müsse, wie sie
ist, wenn die Menschheit dieses Dasein einmal ernstlich satt bekommen soll: was
wir von Herzen glauben. Jene erschreckende Verknöcherung der Zeit, jenes
unruhige Klappern mit den Knochen - wie es uns David Strauß naiv als schönste
Tatsächlichkeit geschildert hat - wird bei Hartmann nicht nur von hinten,
ex causis efficientibus, sondern sogar von vorne, ex causa finali,
gerechtfertigt; von dem jüngsten Tage her läßt der Schalk das
Licht über unsre Zeit strahlen, und da findet sich, daß sie sehr gut
ist, nämlich für den, der möglichst stark an Unverdaulichkeit des
Lebens leiden will und jenen jüngsten Tag nicht rasch genug heranwünschen
kann.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 222 |
Zwar
nennt Hartmann das Lebensalter, dem die Menschheit sich jetzt nähert, das
»Mannesalter«: das ist aber, nach seiner Schilderung, der beglückte
Zustand, wo es nur noch »gediegene Mittelmäßigkeit« gibt
und die Kunst das ist, was »dem Berliner Börsenmanne etwa abends die
Posse« ist, wo »die Genies kein Bedürfnis der Zeit mehr sind,
weil es hieße, die Perlen vor die Säue werfen, oder auch weil die Zeit
über das Stadium, welchem Genies gebührten, zu einem wichtigeren fortgeschritten
ist«, zu jenem Stadium der sozialen Entwicklung nämlich, in dem jeder
Arbeiter »bei einer Arbeitszeit, die ihm für seine intellektuelle Ausbildung
genügende Muße läßt, ein komfortables Dasein führe«.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 222-223 |
Schalk
aller Schalke, du sprichst das Sehnen der jetzigen Menschheit aus: du weißt
aber gleichfalls, was für ein Gespenst am Ende dieses Mannesalters der Menschheit,
als Resultat jener intellektuellen Ausbildung zur gediegenen Mittelmäßigkeit,
stehen wird - der Ekel.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 223 |
Sichtbar
steht es ganz erbärmlich, es wird aber noch viel erbärmlicher kommen,
»sichtbar greift der Antichrist weiter und weiter um sich« - aber
es muß so stehen, es muß so kommen, denn mit dem Allen sind wir auf
dem besten Wege - zum Ekel an allem Daseienden. »Darum rüstig vorwärts
im Weltprozeß als Arbeiter im Weinberge des Herrn, denn der Prozeß
allein ist es, der zur Erlösung führen kann!«Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 223 |
Der
Weinberg des Herrn! Der Prozeß! Zur Erlösung! Wer sieht und hört
hier nicht die historische Bildung, die nur das Wort »werden« kennt,
wie sie sich zur parodischen Mißgestalt absichtlich vermummt, wie sie durch
die vorgehaltne groteske Fratze die mutwilligsten Dinge über sich selbst
sagt! Denn was verlangt eigentlich dieser letzte schalkische Anruf der Arbeiter
im Weinberge von diesen? In welcher Arbeit sollen sie rüstig vorwärtsstreben?
Oder um anders zu fragen: was hat der historisch Gebildete, der im Flusse des
Werdens schwimmende und ertrunkene moderne Fanatiker des Prozesses noch übrig
zu tun, um einmal jenen Ekel, die köstliche Traube jenes Weinberges, einzuernten?
-Er hat nichts zu tun als fortzuleben, wie er gelebt hat, fortzulieben, was er
geliebt hat, fortzuhassen, was er gehaßt hat und die Zeitungen fortzulesen,
die er gelesen hat; für ihn gibt es nur Eine Sünde - anders zu leben,
als er gelebt hat.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 223 |
Es
oll dem Verfasser der Philosophie des Unbewußten stets zum Lobe nachgesagt
werden, daß es ihm zuerst gelungen ist, das Lächerliche in der Vorstellung
des »Weltprozesses« scharf zu empfinden und durch den sonderlichen
Ernst seiner Darstellung noch schärfer nachempfinden zu lassen.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 227-228 |
Wie,
die Statistik bewiese, daß es Gesetze in der Geschichte gäbe? Gesetze?
Ja, sie beweist, wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist: soll man die Wirkung
der Schwerkräfte Dummheit, Nachäfferei, Liebe und Hunger Gesetze nennen?
Nun, wir wollen es zugeben, aber damit steht dann auch der Satz fest: soweit es
Gesetze in der Geschichte gibt, sind die Gesetze nichts wert und ist die Geschichte
nichts wert. Gerade diejenige Art der Historie ist aber jetzt allgemein in Schätzung,
welche die großen Massenbetriebe als das Wichtige und Hauptsächliche
in der Geschichte nimmt und alle großen Männer nur als den deutlichsten
Ausdruck, gleichsam als die sichtbar werdenden Bläschen auf der Wasserflut
betrachtet. Da soll die Masse aus sich heraus das Große, das Chaos also
aus sich heraus die Ordnung gebären; am Ende wird dann natürlich der
Hymnus auf die gebärende Masse angestimmt. »Groß« wird
dann alles das genannt, was eine längere Zeit eine solche Masse bewegt hat
und, wie man sagt, »eine historische Macht« gewesen ist. Heißt
das aber nicht recht absichtlich Quantität und Qualität verwechseln?Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 228 |
Wenn
die plumpe Masse irgendeinen Gedanken, zum Beispiel einen Religionsgedanken, recht
adäquat gefunden hat, ihn zäh verteidigt und durch Jahrhunderte fortschleppt:
so soll dann, und gerade dann erst, der Finder und Gründer jenes Gedankens
groß sein. Warum doch! Das Edelste und Höchste wirkt gar nicht auf
die Massen; der historische Erfolg des Christentums, seine historische Macht,
Zähigkeit und Zeitdauer, alles das beweist glücklicherweise nichts in
betreff der Größe seines Gründers, da es im Grunde gegen ihn beweisen
würde: aber zwischen ihm und jenem historischen Erfolge liegt eine sehr irdische
und dunkle Schicht von Leidenschaft, Irrtum, Gier nach Macht und Ehre, von fortwirkenden
Kräften des imperium romanum, eine Schicht, aus der das Christentum
jenen Erdgeschmack und Erdenrest bekommen hat, der ihm die Fortdauer in dieser
Welt ermöglichte und gleichsam seine Haltbarkeit gab.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 228-229 |
Die
reinsten und wahrhaftigsten Anhänger des Christentums haben seinen weltlichen
Erfolg, seine sogenannte »historische Macht« immer eher in Frage gestellt
und gehemmt; denn sie pflegen sich außerhalb »der Welt« zu stellen
....Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 229 |
Ich
vertraue der Jugend, daß sie mich recht geführt hat, wenn sie
mich jetzt zu einem Proteste gegen die historische Jugenderziehung des modernen
Menschen nötigt, und wenn der Protestierende fordert, daß der Mensch
vor allem zu leben lerne und nur im Dienste des erlernten Lebens die Historie
gebrauche. Man muß jung sein, um diesen Protest zu verstehen, ja man kann,
bei der zeitigen Grauhaarigkeit unsrer jetzigen Jugend, kaum jung genug sein,
um noch zu spüren, wogegen hier eigentlich protestiert wird.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 232-233 |
Ja
als ob man so als flüchtiger Spaziergänger in der Historie den Vergangenheiten
ihre Griffe und Künste, ihren eigentlichen Lebensertrag absehen könnte!
Ja also ob das Leben selbst nicht ein Handwerk wäre, das aus dem grunde und
stätig gelernt und ohne Schonung geübt werden muß, wenn es nicht
Stümper und Schwätzer auskriechen lassen soll!Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 235 |
Das
Übermaß von Historie hat die plastische Kraft des Lebens angegriffen,
es versteht nicht mehr, sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung
zu bedienen.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 237 |
Die
Gegenmittel gegen das Historische heißen - das Unhistorische und das
Überhistorische.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 237 |
Soll
nun das Leben über das Erkennen, über die Wissenschaft, soll das Erkennen
über das Leben herrschen? Welche von beiden ist die höhere und
entscheidende? Niemand wird zweifeln: das Leben ist die höhere, die herrschende
Gewalt, denn ein Erkennen, welche das Leben vernichtete, würde sich selbst
mit vernichtet haben.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 238 |
Und
wie kommen wir zu jenem Ziele? werdet ihr fragen. Der Delphische Gott ruft euch,
gleich am Anfang eurer Wanderung nach jenem Ziele, seinen Spruch entgegen: »Erkenne
dich selbst.« Es sit ein schwerer Spruch: denn jener Gott »verbirgt
nicht und verkündet nicht, sondern zeigt nur hin«, wie Heraklit gesagt
hat. Worauf weist er euch hin?Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 240-241 |
Es
gab Jahrhunderte, in denen die Griechen in einer ähnlichen Gefahr sich befanden,
in der wir uns befmden, nämlich an der Überschwemmung durch das Fremde
und Vergangne, an der »Historie« zugrunde zu gehen. Niemals haben
sie in stolzer Unberührbarkeit gelebt: ihre »Bildung« war vielmehr
lange Zeit ein Chaos von ausländischen, semitischen, babylonischen, lydischen,
ägyptischen Formen und Begriffen, und ihre Religion ein wahrer Götterkampf
des ganzen Orients: ähnlich etwa wie jetzt die »deutsche Bildung«
und Religion ein in sich kämpfendes Chaos des gesamten Auslandes, der gesamten
Vorzeit ist. Und trotzdem wurde die hellenische Kultur kein Aggregat, dank jenem
apollinischen Spruche.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 241 |
Die
Griechen lernten allmählich das Chaos zu organisieren, dadurch, daß
sie sich, nach der delphischen Lehre, auf sich selbst, das heißt auf ihre
ächten Bedürfnisse zurückbesannen und die Schein-Bedürfnisse
absterben ließen. So ergriffen sie wieder von sich Besitz; sie blieben nicht
lange die überhäuften Erben und Epigonen des ganzen Orients; sie wurden
selbst, nach beschwerlichem Kampfe mit sich selbst, durch die praktische Auslegung
jenes Spruches, die glücklichsten Bereicherer und Mehrer des ererbten Schatzes
und die Erstlinge und Vorbilder aller kommenden Kulturvölker.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 241 |
Dies
ist ein Gleichnis für jeden Einzelnen von uns: er muß das Chaos in
sich organisieren, dadurch, daß er sich auf seine echten Bedürfnisse
zurückbesinnt. Seine Ehrlichkeit, sein tüchtiger und wahrhaftiger Charakter
muß sich irgendwann einmal dagegen sträuben, daß inmmer nur nachgesprochen,
nachgelernt, nachgeahmt werde; er beginnt dann zu begreifen, daß Kultur
noch etwas Anderes sein kann als Dekoration des Lebens, das heißt im Grunde
doch immer nur Verstellung und Verhüllung; denn aller Schmuck versteckt das
Geschmückte.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 241 |
So
entschleiert sich ihm der griechische Begriff der Kultur -im Gegensatze zu dem
romanischen - der Begriff der Kultur als einer neuen und verbesserten Physis,
ohne innen und außen, ohne Verstellung und Konvention, der Kultur als einer
Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen. So lernt er aus seiner
eignen Erfahrung, daß es die höhere Kraft der sittlichen Natur war,
durch die den Griechen der Sieg über alle andren Kulturen gelungen ist, und
daß jede Vermehrung der Wahrhaftigkeit auch eine vorbereitende Förderung
der wahren Bildung sein muß; mag diese Wahrhaftigkeit auch gelegentlich
der gerade in Achtung stehenden Gebildetheit ernstlich schaden, mag sie selbst
einer ganzen dekorativen Kultur zum Falle verhelfen können.Friedrich
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 241-242 |
Der
Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören,
gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: »sei
du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst.«Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 6 |
Es
gibt kein öderes und widrigeres Geschöpf in der Natur als den Menschen,
welcher seinem Genius ausgewichen ist und nun nach rechts und nach links, nach
rückwärts und überallhin schielt. Man darf einen solchen Menschen
zuletzt gar nicht mehr angreifen, denn er ist ganz Außenseite ohne Kern,
ein anbrüchiges, gemaltes, aufgebauschtes Gewand, ein verbrämtes Gespenst,
das nicht einmal Furcht und gewiß auch kein Mitleiden erregen kann. Und
wenn man mit Recht vom Faulen sagt, er töte die Zeit, so muß man von
einer Periode, welche ihr Heil auf die öffentlichen Meinungen, das heißt
auf die privaten Faulheiten setzt, ernstlich besorgen, daß eine solche Zeit
wirklich einmal getötet wird: ich meine, daß sie aus der Geschichte
der wahrhaften Befreiung des Lebens gestrichen wird.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 6-7 | )Wie
groß muß der Widerwille späterer Geschlechter sein, sich mit
der Hinterlassenschaft jener Periode zu befassen, in welcher nicht die lebendigen
Menschen, sondern öffentlich meinende Scheinmenschen regierten; weshalb vielleicht
unser Zeitalter für irgendeine ferne Nachwelt der dunkelste und unbekannteste,
weil unmenschlichste Abschnitt der Geschichte sein mag.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 7 | )Ich
gehe durch die neuen Straßen unserer Städte und denke, wie von allen
diesen greulichen Häusern, welche das Geschlecht der öffentlich Meinenden
sich erbaut hat, in einem Jahrhundert nichts mehr steht, und wie dann auch wohl
die Meinungen dieser Häuserbauer umgefallen sein werden. Wie hoffnungsvoll
dürfen dagegen alle die sein, welche sich nicht als Bürger dieser Zeit
fühlen; denn wären sie dies, so würden sie mit dazu dienen, ihre
Zeit zu töten und samt ihrer Zeit unterzugehen, während sie die
Zeit vielmehr zum Leben erwecken wollen, um in diesem Leben selber fortzuleben.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 7 |
Ich
gehöre zu den Lesern Schopenhauers, welche, nachdem sie die erste Seite von
ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, daß sie alle Seiten lesen werden
und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 16-17 | )Mein
Vertrauen zu Schopenhauer war sofort da und ist jetzt noch dasselbe wie vor neun
Jahren. Ich verstand ihn, als ob er für mich geschrieben hätte.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 17 |
Das
war die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs: Vereinsamung.
Die zweite heißt: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden
Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt, vorausgesetzt,
daß er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und
nicht nur eine klappernde Denk-und Rechenmaschine.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 28 |
Denn
so stehe es: die Gründung des neuen Deutschen Reiches sei der entscheidende
und vernichtende Schlag gegen alles »pessimistische« Philosophieren
davon lasse sich nichts abdingen.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 40 |
Es
ist nötig, daß wir einmal recht böse werden, damit es besser wird.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 49 |
Der
Schopenhauersche Mensch nimmt das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich,
und dieses Leiden dient ihm, seinen Eigenwillen zu ertöten und jene völlige
Umwälzung und Umkehrung seines Wesens vorzubereiten, zu der zu führen
der eigentliche Sinn des Lebens ist.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 49 |
Es
gibt eine Art zu verneinen und zu zerstören, welche gerade der Ausfluß
jener mächtigen Sehnsucht nach Heiligung und Errettung ist, als deren erster
philosophischer Lehrer Schopenhauer unter uns entheiligte und recht eigentlich
verweltlichte Menschen trat.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 49-50 |
So
blind und toll am Leben zu hängen, um keinen höhern Preis, ferne davon
zu wissen, daß und warum man so gestraft wird, sondern gerade nach dieser
Strafe wie nach einem Glücke mit der Dummheit einer entsetzlichen Begierde
zu lechzen das heißt Tier sein; und wenn die gesamte Natur sich zum
Menschen hindrängt, so gibt sie dadurch zu verstehen, daß er zu ihrer
Erlösung vom Fluche des Tierlebens nötig ist und daß endlich in
ihm das Dasein sich einen Spiegel vorhält, auf dessen Grunde das Leben nicht
mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint. Doch überlege
man wohl: wo hört das Tier auf, wo fängt der Mensch an? Jener Mensch,
an dem allein der Natur gelegen ist! Solange jemand nach dem Leben wie nach einem
Glücke verlangt, hat er den Blick noch nicht über den Horizont des Tieres
hinausgehoben, nur daß er mit mehr Bewußtsein will, was das Tier im
blinden Drange sucht. Aber so geht es uns allen, den größten Teil des
Lebens hindurch: wir kommen für gewöhnlich aus der Tierheit nicht heraus,
wir selbst sind die Tiere, die sinnlos zu leiden scheinen.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 57-58 |
Jeder
kennt den sonderbaren Zustand, wenn sich plötzlich unangenehme Erinnerungen
aufdrängen, und wir dann durch heftige Gebärden und Laute bemüht
sind, sie uns aus dem Sinne zu schlagen: aber die Gebärden und Laute des
allgemeinen Lebens lassen erraten, daß wir uns alle und immerdar in einem
solchen Zustande befinden, in Furcht vor der Erinnerung und Verinnerlichung.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 59 |
Erst
wenn wir, in der jetzigen oder einer kommenden Geburt, selber in jenen erhabensten
Orden der Philosophen, der Künstler und der Heiligen aufgenommen sind, wird
uns auch ein neues Ziel unserer Liebe und unseres Hasses gesteckt sein
einstweilen haben wir unsre Aufgabe und unsern Kreis von Pflichten, unsern Haß
und unsre Liebe. Denn wir wissen, was die Kultur ist. Sie will, um die Nutzanwendung
auf den Schopenhauerschen Menschen zu machen, daß wir seine immer neue Erzeugung
vorbereiten und fördern, indem wir das ihr Feindselige kennenlernen und aus
dem Wege räumen kurz, daß wir gegen alles unermüdlich ankämpfen,
was uns um die höchste Erfüllung unsrer Existenz brachte, indem es uns
hinderte, solche Schopenhauersche Menschen selber zu werden.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 64-65 |
Mitunter
ist es schwerer, eine Sache zuzugeben als sie einzusehen; und so gerade mag es
den meisten ergehen, wenn sie den Satz überlegen: »die Menschheit soll
fortwährend daran arbeiten, einzelne große Menschen zu erzeugen
und dies und nichts anderes sonst ist ihre Aufgabe.« Wie gerne möchte
man eine Belehrung auf die Gesellschaft und ihre Zwecke anwenden, welche man aus
der Betrachtung einer jeden Art des Tier- und Pflanzenreichs gewinnen kann, daß
es bei ihr allein auf das einzelne höhere Exemplar ankommt, auf das ungewöhnlichere,
mächtigere, kompliziertere, fruchtbarere wie gerne, wenn nicht anerzogne
Einbildungen über den Zweck der Gesellschaft zähen Widerstand leisteten!Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 65 |
Eigentlich
ist es leicht zu begreifen, daß dort, wo eine Art an ihre Grenze und an
ihren Übergang in eine höhere Art gelangt, das Ziel ihrer Entwicklung
liegt, nicht aber in der Masse der Exemplare und deren Wohlbefinden, oder gar
in den Exemplaren, welche der Zeit nach die allerletzten sind, vielmehr gerade
in den scheinbar zerstreuten und zufälligen Existenzen, welche hier und da
einmal unter günstigen Bedingungen zustande kommen; und ebenso leicht sollte
doch wohl die Forderung zu begreifen sein, daß die Menschheit, weil sie
zum Bewußtsein über ihren Zweck kommen kann, jene günstigen Bedingungen
aufzusuchen und herzustellen hat, unter denen jene großen erlösenden
Menschen entstehen können. Aber es widerstrebt ich weiß nicht was alles:
da soll jener letzte Zweck in dem Glück aller oder der meisten, da soll er
in der Entfaltung großer Gemeinwesen gefunden werden; und so schnell sich
einer entschließt, sein Leben etwa einem Staate zu opfern, so langsam und
bedenklich würde er sich benehmen, wenn nicht ein Staat, sondern ein einzelner
dies Opfer forderte.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 65-66 |
Es
scheint eine Ungereimtheit, daß der Mensch eines andern Menschen wegen da
sein sollte; »vielmehr aller andern wegen, oder wenigstens möglichst
vieler!« O Biedermann, als ob das gereimter wäre, die Zahl entscheiden
zu lassen, wo es sich um Wert und Bedeutung handelt! Denn die Frage lautet doch
so: wie erhält dein, des einzelnen Leben den höchsten Wert, die tiefste
Bedeutung? Wie ist es am wenigsten verschwendet? Gewiß nur dadurch, daß
du zum Vorteile der seltensten und wertvollsten Exemplare lebst, nicht aber zum
Vorteile der meisten, das heißt der, einzeln genommen, wertlosesten Exemplare.
Und gerade diese Gesinnung sollte in einem jungen Menschen gepflanzt und angebaut
werden, daß er sich selbst gleichsam als ein mißlungenes Werk der
Natur versteht, aber zugleich als ein Zeugnis der größten und wunderbarsten
Absichten dieser Künstlerin: es geriet ihr schlecht, soll er sich sagen;
aber ich will ihre große Absicht dadurch ehren, daß ich ihr zu Diensten
bin, damit es ihr einmal besser gelinge.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 66 |
Ganz
beglückte Zeiten brauchten den Gelehrten nicht und kannten ihn nicht, ganz
erkrankte und verdrossene Zeiten schätzten ihn als den höchsten und
würdigsten Menschen und gaben ihm den ersten Rang.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 86 |
Und
so hoffe ich auch, daß es einige gebe, welche verstehen, was ich mit der
Vorführung von Schopenhauers Schicksal sagen will und wozu, nach meiner Vorstellung,
Schopenhauer als Erzieher eigentlich erziehen soll.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 91 |
Was
müßte man einem werdenden Philosophen gegenwärtig wünschen
und nötigenfalls verschaffen, damit er überhaupt Atem schöpfen
könne und es im günstigsten Falle zu der, gewiß nicht leichten,
aber wenigstens möglichen Existenz Schopenhauers bringe? Was wäre außerdem
zu erfinden, um seiner Einwirkung auf die Zeitgenossen mehr Wahrscheinlichkeit
zu geben? Und welche Hindernisse müßten weggeräumt werden, damit
vor allem sein Vorbild zur vollen Wirkung komme, damit der Philosoph wieder Philosophen
erziehe? Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 91 |
Die
Natur wirtschaftet nicht klug, ihre Ausgaben sind viel größer als der
Ertrag, den sie erzielt; sie muß sich bei all ihrem Reichtum irgendwann
einmal zugrunde richten. Vernünftiger hätte sie es eingerichtet, wenn
ihre Hausregel wäre: wenig Kosten und hundertfältiger Ertrag, wenn es
zum Beispiel nur wenige Künstler und diese von schwächeren Kräften
gäbe, dafür aber zahlreiche Aufnehmende und Empfangende und gerade diese
von stärkerer und gewaltigerer Art, als die Art der Künstler selber
ist: so daß die Wirkung des Kunstwerks im Verhältnis zur Ursache ein
hundertfach verstärkter Widerhall wäre. Oder sollte man nicht mindestens
erwarten, daß Ursache und Wirkung gleich stark wären; aber wie weit
bleibt die Natur hinter dieser Erwartung zurück! Es sieht oft so aus, als
ob ein Künstler und zumal ein Philosoph zufällig in seiner Zeit
sei, als Einsiedler oder als versprengter und zurückgebliebener Wanderer.
Man fühle nur einmal recht herzlich nach, wie groß, durch und durch
und in allem, Schopenhauer ist und wie klein, wie absurd seine Wirkung!Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 93-94 | )))Nichts
kann gerade für einen ehrlichen Menschen dieser Zeit beschämender sein
als einzusehen, wie zufällig sich Schopenhauer in ihr ausnimmt und an welchen
Mächten und Unmächten es bisher gehangen hat, daß seine Wirkung
so verkümmert wurde. Zuerst und lange war ihm der Mangel an Lesern feindlich
...; sodann als die Leser kamen, die Ungemäßheit seiner ersten öffentlichen
Zeugen: noch mehr freilich, wie mir scheint, die Abstumpfung aller modernen Menschen
gegen Bücher, welche sie eben durchaus nicht mehr ernst nehmen wollen; allmählich
ist noch eine neue Gefahr hinzugekommen, entsprungen aus den mannigfachen Versuchen,
Schopenhauer der schwächlichen Zeit anzupassen oder gar ihn als befremdliche
und reizvolle Würze, gleichsam als eine Art metaphysischen Pfeffers einzureiben.
So ist er zwar allmählich bekannt und berühmt geworden ...: und trotzdem
ist er noch ein Einsiedler, trotzdem blieb bis jetzt die Wirkung aus! Am wenigsten
haben die eigentlichen literarischen Gegner und Widerbeller die Ehre, diese bisher
verhindert zu haben, erstens weil es wenige Menschen gibt, welche es aushalten
sie zu lesen, und zweitens weil sie den, welcher dies aushält, unmittelbar
zu Schopenhauer hinführen; denn wer läßt sich wohl von einem Eseltreiber
abhalten, ein schönes Pferd zu besteigen, wenn jener auch noch so sehr seinen
Esel auf Unkosten des Pferdes herausstreicht?Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 94-95 | )))Ziel
dahin bestimmen ..., die Wiedererzeugung Schopenhauers, das heißt des philosophischen
Genius, vorzubereiten.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 95 | )))Schopenhauer
... hatte das unbeschreibliche Glück, nicht nur in sich den Genius aus der
Nähe zu sehen, sondern auch außer sich, in Goethe: durch diese doppelte
Spiegelung war er über alle gelehrtenhaften Ziele und Kulturen von Grund
aus belehrt und weise geworden. Vermöge dieser Erfahrung wußte er,
wie der freie und starke Mensch beschaffen sein muß, zu dem sich jede künstlerische
Kultur hinsehnt; konnte er, nach diesem Blicke, wohl noch viel Lust übrig
haben, sich mit der sogenannten »Kunst« in der gelehrten oder hypokritischen
Manier des modernen Menschen zu befassen? Hatte er doch sogar noch etwas Höheres
gesehn: eine furchtbare überweltliche Szene des Gerichts, in der alles Leben,
auch das höchste und vollendete, gewogen und zu leicht befunden wurde: er
hatte den Heiligen als Richter des Daseins gesehn.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 99 | )))Es
ist gar nicht zu bestimmen, wie frühzeitig Schopenhauer dieses Bild des Lebens
geschaut haben muß, und zwar gerade so, wie er es später in allen seinen
Schriften nachzumalen versuchte; man kann beweisen, daß der Jüngling,
und möchte glauben, daß das Kind schon diese ungeheure Vision gesehn
hat. Alles, was er später aus Leben und Büchern, aus allen Reichen der
Wissenschaft sich aneignete, war ihm beinahe nur Farbe und Mittel des Ausdrucks;
selbst die Kantische Philosophie wurde von ihm vor allem als ein außerordentliches
rhetorisches Instrument hinzugezogen, mit dem er sich noch deutlicher über
jenes Bild auszusprechen glaubte: wie ihm zu gleichem Zwecke auch gelegentlich
die buddhistische und christliche Mythologie diente.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 99-100 | )))Damit
sind einige Bedingungen genannt, unter denen der philosophische Genius in unserer
Zeit trotz der schädlichen Gegenwirkungen wenigstens entstehen kann: freie
Männlichkeit des Charakters, frühzeitige Menschenkenntnis, keine gelehrte
Erziehung, keine patriotische Einklemmung, kein Zwang zum Brot-Erwerben, keine
Beziehung zum Staate kurz, Freiheit und immer wieder Freiheit: dasselbe
wunderbare und gefährliche Element, in welchem die griechischen Philosophen
aufwachsen durften.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 101 | )))Plato
hielt aus eben den Gründen die Aufrichtung eines ganz neuen Staates für
notwendig, um die Entstehung des Philosophen nicht von der Unvernunft der Väter
abhängig zu machen. Beinahe sieht es nun so aus, als ob Plato wirklich etwas
erreicht habe. Denn der moderne Staat rechnet jetzt die Förderung der Philosophie
zu seinen Aufgaben und sucht zu jeder Zeit eine Anzahl Menschen mit jener »Freiheit«
zu beglücken, unter der wir die wesentlichste Bedingung zur Genesis des Philosophen
verstehen. Nun hat Plato ein wunderliches Unglück in der Geschichte gehabt:
sobald einmal ein Gebilde entstand, welches seinen Vorschlägen im wesentlichen
entsprach, war es immer bei genauerem Zusehen das untergeschobene Kind eines Kobolds,
ein häßlicher Wechselbalg; etwa wie der mittelalterliche Priesterstaat
es war, verglichen mit der von ihm geträumten Herrschaft der »Göttersöhne«.
Der moderne Staat ist nun zwar davon am weitesten entfernt, gerade die Philosophen
zu Herrschern zu machen Gottlob! wird jeder Christ hinzufügen :
aber selbst jene Förderung der Philosophie, wie er sie versteht, müßte
doch einmal darauf hin angesehn werden, ob er sie platonisch versteht,
ich meine: so ernst und aufrichtig, als ob es seine höchste Absicht dabei
wäre, neue Platone zu erzeugen. Wenn für gewöhnlich der Philosoph
in seiner Zeit als zufällig erscheint stellt sich wirklich der Staat
jetzt die Aufgabe, diese Zufälligkeit mit Bewußtsein in eine Notwendigkeit
zu übersetzen und der Natur auch hier nachzuhelfen?Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 102-103 | )))Die
Erfahrung belehrt uns leider eines Bessern oder Schlimmern: sie sagt, daß
in Hinsicht auf die großen Philosophen von Natur nichts ihrer Erzeugung
und Fortpflanzung so im Wege steht als die schlechten Philosophen von Staats wegen.
Ein peinlicher Gegenstand, nicht wahr? bekanntlich derselbe, auf den Schopenhauer
in seiner berühmten Abhandlung über Universitätsphilosophie zuerst
die Augen gerichtet hat. .... Genauer zugesehen ist jene »Freiheit«,
mit welcher der Staat jetzt, wie ich sagte, einige Menschen zugunsten der Philosophie
beglückt, schon gar keine Freiheit, sondern ein Amt, das seinen Mann nährt.
Die Förderung der Philosophie besteht also nur darin, daß es heutzutage
wenigstens einer Anzahl Menschen durch den Staat ermöglicht wird, von ihrer
Philosophie zu leben, dadurch, daß sie aus ihr einen Broterwerb machen können:
während die alten Weisen Griechenlands von seiten des Staates nicht besoldet,
sondern höchstens einmal, wie Zeno, durch eine goldene Krone und ein Grabmal
auf dem Kerameikos geehrt wurden.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 103-104 | )))Weil
jeder Staat sie fürchtet und immer nur Philosophen begünstigen wird,
vor denen er sich nicht fürchtet. Es kommt nämlich vor, daß der
Staat vor der Philosophie überhaupt Furcht hat, und gerade, wenn dies der
Fall ist, wird er um so mehr Philosophen an sich heranzuziehn suchen, welche ihm
den Anschein geben, als ob er die Philosophie auf seiner Seite habe weil
er diese Menschen auf seiner Seite hat, welche ihren Namen führen und doch
so gar nicht furchteinflößend sind. .... Sollte wohl je ein Universitätsphilosoph
sich den ganzen Umfang seiner Verpflichtung und Beschränkung klargemacht
haben? Ich weiß es nicht; hat es einer getan und bleibt doch Staatsbeamter,
so war er jedenfalls ein schlechter Freund der Wahrheit; hat er es nie getan
nun, ich sollte meinen, auch dann wäre er kein Freund der Wahrheit.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 105-106 |
Die
gelehrte Historie des Vergangnen war nie das Geschäft eines wahren Philosophen,
weder in Indien noch in Griechenland; und ein Philosophieprofessor muß es
sich, wenn er sich mit solcherlei Arbeit befaßt, gefallen lassen, daß
man von ihm, bestenfalls, sagt: er ist ein tüchtiger Philolog, Antiquar,
Sprachkenner, Historiker aber nie: er ist ein Philosoph. Jenes auch nur
bestenfalls, wie bemerkt: denn bei den meisten gelehrten Arbeiten, welche Universitätsphilosophen
machen, hat ein Philolog das Gefühl, daß sie schlecht gemacht sind,
ohne wissenschaftliche Strenge und meistens mit einer hassenswürdigen Langweiligkeit.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 107-108 | )))Wie,
wenn dieser Stoßseufzer eben die Absicht des Staates wäre und die »Erziehung
zur Philosophie« nur eine Abziehung von der Philosophie? Man frage sich.
Sollte es aber so stehen, so ist nur eins zu fürchten: daß endlich
einmal die Jugend dahinterkommt, wozu hier eigentlich die Philosophie gemißbraucht
wird. Das Höchste, die Erzeugung des philosophischen Genius, nichts als ein
Vorwand? Das Ziel vielleicht gerade, dessen Erzeugung zu verhindern? Der Sinn
in den Gegensinn umgedreht? Nun dann wehe dem ganzen Komplex von Staats-
und Professoren-Klugheit!Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 109 | )))Solange
das staatlich anerkannte Afterdenkertum bestehen bleibt, wird jede großartige
Wirkung einer wahren Philosophie vereitelt oder mindestens gehemmt, und zwar durch
nichts als durch den Fluch des Lächerlichen, den die Vertreter jener großen
Sache sich zugezogen haben, der aber die Sache selber trifft. Deshalb nenne ich
es eine Forderung der Kultur, der Philosophie jede staatliche und akademische
Anerkennung zu entziehn und überhaupt Staat und Akademie der für sie
unlösbaren Aufgabe zu entheben, zwischen wahrer und scheinbarer Philosophie
zu unterscheiden. Laßt die Philosophen immerhin wild wachsen, versagt ihnen
jede Aussicht auf Anstellung und Einordnung in die bürgerlichen Berufsarten,
kitzelt sie nicht mehr durch Besoldungen, ja noch mehr: verfolgt sie, seht ungnädig
auf sie ihr sollt Wunderdinge erleben!Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 114 | )))Dem
Staat ist es nie an der Wahrheit gelegen, sondern immer nur an der ihm nützlichen
Wahrheit, noch genauer gesagt, überhaupt an allem ihm Nützlichen, sei
dies nun Wahrheit, Halbwahrheit oder Irrtum. Ein Bündnis von Staat und Philosophie
hat also nur dann einen Sinn, wenn die Philosophie versprechen kann, dem Staat
unbedingt nützlich zu sein, das heißt den Staatsnutzen höher zu
stellen als die Wahrheit.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 115 | )))Da
scheint es mir von höchstem Werte, wenn außerhalb der Universitäten
ein höheres Tribunal entsteht, welches auch diese Anstalten in Hinsicht auf
die Bildung, die sie fördern, überwache und richte; und sobald die Philosophie
aus den Universitäten ausscheidet und sich damit von allen unwürdigen
Rücksichten und Verdunkelungen reinigt, wird sie gar nichts anderes sein
können als ein solches Tribunal: ohne staatliche Macht, ohne Besoldung und
Ehren, wird sie ihren Dienst zu tun wissen, frei vom Zeitgeist sowohl als von
der Furcht vor diesem Geiste kurz gesagt, so wie Schopenhauer lebte, als
der Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur. Dergestalt vermag der Philosoph
auch der Universität zu nützen, wenn er sich nicht mit ihr verquickt,
sondern sie vielmehr aus einer gewissen würdevollen Weite übersieht.Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 118-119 |
Schicksal
ich folge dir freiwillig, denn täte ich es nicht, müßte ich es
ja doch unter Tränen tun!Friedrich
Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874 |
Sei
ein Mann und folge mir nicht nach sondern dir! Sondern dir!« Auch
unser Leben soll vor uns selber recht behalten! Auch wir sollen frei und furchtlos,
in unschuldiger Selbstigkeit aus uns selber wachsen und blühen! Und so klingen
mir, bei der Betrachtung eines solchen Menschen, auch heute noch, wie ehedem,
diese Sätze ans Ohr: »daß Leidenschaft besser ist als Stoizismus
und Heuchelei, daß Ehrlichsein, selbst im Bösen, besser ist, als sich
selber an die Sittlichkeit des Herkommens verlieren, daß der freie Mensch
sowohl gut als böse sein kann, daß aber der unfreie Mensch eine Schande
der Natur ist und an keinem himmlischen noch irdischen Troste Anteil hat; endlich,
daß jeder, der frei werden will, es durch sich selber werden muß,
und daß niemandem die Freiheit als ein Wundergeschenk in den Schoß
fällt.Friedrich
Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth, 1875-1876, I, 431 |
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