Endlich
ist mein Entschluß gefaßt, ein Tagebuch zu schreiben, in welchem man
alles, was freudig oder auch traurig das Herz bewegt, dem Gedächtnis überliefert,
um sich nach Jahren noch an Leben und Treiben dieser Zeit und besonders meiner
zu erinnern. Möge dieser Entschluß nicht wankend gemacht werden, obgleich
bedeutende Hindernisse in den Weg treten. Doch jetzt will ich anfangen:Wir
leben jetzt inmitten von Weihnachtsfreuden. Wir warteten auf sie, sahen sie erfüllt,
genossen jene und jetzt drohen sie uns nun schon wieder zu verlassen. Denn es
ist schon der zweite Feiertag. Jedoch ein beglückendes Gefühl strahlt
hell fast von dem einen Weihnachtsabend, bis der andre schon mit mächtigen
Schritten seiner Bestimmung entgegeneilt. Doch ich will mit dem Anfange meiner
Ferien auch den Anfang der Weihnachtsfreuden schildern. Wir gingen aus der Schule;
die ganze Zeit der Ferien lag vor uns und mit diesen das schönste aller Feste.
Schon seit einiger Zeit war uns der Zutritt an einige Orte nicht gestattet. Ein
Nebelflor hüllte alles geheimnisvoll ein, damit dann desto mächtiger
die Freudenstrahlen der Christfest sonne hindurchbrächcn. Wichnachtsgänge
wurden besorgt; das Gespräch wurde fast allein auf dieses geleitet; ich zitterte
fast vor Freude, wenn das Herz jubelnd daran gedachte und ich eilte fort, um meinen
Freund Gustav Krug zu besuchen. Wir machten unsern Empfindungen Raum, indem wir
bedachten, was der morgende Tag für schöne Geschenke mit sich bringen
werde. So verging der Tag in Erwartung der Dinge.Friedrich
Nietzsche, Naumburg, 26.12.1856, in: Werke III, S. 9 bzw. 717 |
Der
Tag erschien!Schon leuchtete das Tageslicht in
mein Schlafgemach, als ich erwachte. Was alles durchströmte meine Brust!
Es war ja der Tag, an dessen Ende einst zu Bethlehem der Welt das größte
Heil widerfuhr; es ist ja der Tag an welchem meine Mama mich jährlich mit
reichen Gaben überschüttet. Der Tag verfloß mit Schneckenlangsamkeit;
Pakete mußten von der Post geholt werden, geheimnisvoll wurden wir aus der
Stube in den Garten vertrieben. Was mag während dieser Zeit dort vorgegangen
sein? Dann ging ich in die Klavierstunden, in welche ich wöchentlich am Mittwoch
einmal gehe. Ich hatte erst eine Sonata facile von Beethoven gespielt,
und mußte jetzt Variationen spielen. Nun fing es schon an zu dämmern.
Die Mama sagte zu mir und meiner Schwester Elisabeth: Die Vorbereitungen sind
fast zu Ende. Wie freuten wir uns da. Nun kam die Tante; wir begrüßten
sie mit einem Gejauchze oder vielmehr Gebrüll, daß das Haus davon bebte.
Das Mädchen meiner Tante folgte ihr, und war noch zu Vorbereitungen dienlich.
Zuletzt vor der Bescherung kamen die Frau Pastor Haarseim mit ihrem Sohn. Da,
wer beschreibt unsern Jubel, öffnet die Mama die Tür! Hell strahlt uns
der Christbaum entgegen und unter ihm die Fülle der Gaben! Ich sprang nicht,
nein ich stürzte hinein und gelangte merkwürdigerweise grade an meinen
Platz. Da erblickte ich ein sehr schönes Buch (obgleich zwei dalagen, denn
ich sollte mir auswählen), nämlich die Sagenwelt der Alten mit vielen
prächtigen Bildern ausgestattet. Auch einen Schlittschuh fand ich, aber nur
einen? Wie würde ich ausgelacht werden, wenn ich versuchen wollte einen Schlittschuh
an zwei Beine zu schnallen. Das wäre doch merkwürdig. Doch sieh einmal,
was liegt denn da noch daneben so ganz ungesehen? Bin ich denn so klein, so gering,
daß du mich kaum ansiehst? sprach da plötzlich ein dicker Folioband,
welcher zwölf vierhändige Sinfonien von Haydn enthielt. Ein freudiger
Schrecken durchzuckte mich wie der Blitz die Wolken; also wirklich der ungeheure
Wunsch war erfüllt; der größte! Nebenan erblickte ich auch den
zweiten Schlittschuh, und wie ich mir diesen näher besehe, da sah ich plötzlich
noch ein paar Hosen. Nun betrachtete ich meinen Weihnachtstisch im ganzen und
fragte nach denen, welche es mir geschenkt hatten. Doch wer mag der sein, welcher
mir die vielen Noten geschenkt hat? Ich erhielt aber keine andre Auskunft als
daß es ein Unbekannter sei, welcher mich bloß dem Namen nach kenne.
Dann wurde Tee und Stolle getrunken und gegessen, und nachdem uns die Gäste
verlassen hatten und uns Müdigkeit ankam, legten wir uns zur Ruhe.Friedrich
Nietzsche, Naumburg, 26.12.1856, in: Werke III, S. 9 bzw. 717 |
|