In meiner Analyse des leiblichen Befindens setze ich
mir - soviel ich sehe, zum ersten Mal in der Weltliteratur - das Ziel,
ein abgerundetes Begriffssystem allein auf das Zeugnis des eigenleiblichen
Spürens zu gründen, also dessen, was der Mensch, wie man sagt,
am eigenen Leibe spürt.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, 1964 |
Was das große Unternehmen eines Systems der Philosophie
gegenwärtig zu rechtfertigen scheint, ist nicht allein theoretisches,
spekulatves Interesse, sondern hauptsächlich das Bedürfnis nach
Überwindung der Introjektion der Gefühle, d.h. der Neigung,
Gefühle als subjektive, private Seelenzustände der einzelnen
Menschen aufzufassen, statt als erregende, ergreifende Mächte, die
von sich aus wirken und über die Menschen nicht bloß
über einzelne, sondern ebenso über Mengen und Gruppen
kommen, ohne der Heimstatt in einem Subjekt zu bedürfen und bloß
dessen Ausgeburten, Inhalte oder Eigenschaften zu sein. Die Alten waren
dieser Introjektion noch nicht oder weniger als wir verfallen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, System der Philosophie, 1. Band:
Die Gegenwart, Vorrede, 1964, S. XI-XII |
Ludwig Klages schreibt: »Kurz, in der Vorzeit waren die
Gefühle, um den von den Griechen bevorzugten Namen zu wählen,
Dämonen (daimones), mit denen der Mensch
sich auseinanderzusetzen hatte als mit den seinem Weltbild innewohnenden
Wesen.«. (Ludwig Klages, Die Sprache als Quell der Seelenkunde,
1948, S. 226).
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, System der Philosophie, 1. Band:
Die Gegenwart, Vorrede, 1964, S. XI-XII |
Die bloße Versicherung der Eigenmacht der Gefühle hat
aber kaum Aussicht, sich gegen das Selbstbewußtsein einer sich überlegen
dünkenden aufklärerischen Psychologie durchzusetzen, solange
ihr wesentlicher Inhalt die negative Beteuerung ist, daß Gefühle
keine subjektiven Zustände seien. Es bedarf einer positiven, aus
umfassender phänomenologischer Besinnung geschöpften Charakteristik,
um der Introjektion einen Riegel vorzuschieben. Dazu soll die Einsicht
dienen, daß Gefühle nicht subjektiv, sondern räumlich
sind. Die Räumlichkeit der Gefühle widerspricht aber so sehr
der heute gewöhnlichen, überwiegend von Mathematik und Naturwissenschaft
diktierten Meinung über das Räumliche, daß durch jene
Einsicht eine weitreichende Untersuchung des Wesens der Räumlichkeit
überhaupt erforderlich wird. Diese Untersuchung erzwingt den Rückgang
zur Leiblichkeit, denn Räumlichkeit und Leiblichkeit sind an der
Wurzel mit einander verwachsen; gemeinsam werden sie erst im Rückgang
auf Gegenwart verständlich.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, System der Philosophie, 1. Band:
Die Gegenwart, Vorrede, 1964, S. XIII |
Das Eingehen auf die Gegenwart und den Leib wird durch
die Überwindung der Introjektion der Gefühle auch noch in anderer
Weise motiviert. Das Wesen des Menschen muß nämlich neu durchforscht
werden, um einen Begriff davon zu gewinnen, wie die Gefühle aus seiner
Subjektivität herausgenommen werden können, ohne daß er
aufhört, Mensch zu sein und als solcher im Bann der Gefühle
zu stehen. Für die herkömmliche Anthropologie mit ihrem dualistischen,
psycho-somatischen Ansatz ist es ja ausgeschlossen, den Menschen ohne
die Subjektivität der Gefühle, die das Kernstück seines
seelischen Lebens bilden, zu denken. Wer den Gefühlen solche Subjektivität
bestreitet, ist also verpflichtet, die Anthropologie neu zu begründen.
Das gelingt höchstens durch Besinnung auf die zentrale Bedeutung
der Leiblichkeit und Gegenwart für den Menschen, auch sofern er Person
ist. Der Mensch als eingekörperter Leib mit fünffältig
entfalteter Gegenwart, der Gefühlen ausgesetzt ist fähig,
durch sie erschüttert zu werden , erweist sich als ein Wesen,
dem in der europäischen Geschichte eigentlich nur die vorphilosophische
Anthropologie Homers, die noch in der angeführten Rede Sapphos von
ihren frenes gegenwärtig ist, gerecht
wird, während die spätere, namentlich dem Diktat Platons unterworfene
Anthropologie mit allen ihren Folgen revidiert werden muß.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, System der Philosophie, 1. Band:
Die Gegenwart, Vorrede, 1964, S. XI-XII |
Im Westen entdeckte er für die
Menschheit Amerika und damit den Raum als Ortsraum. Diese absichtlich
überspitzte Formulierung soll besagen, daß Kolumbus - und später
der Weltumsegler Magellan als Vollstrecker seiner Initiative - durch ihre
Erfolge auf der Westroute eine chocartige Umwälzung der menschlichen
Raumvorstellung erzwangen, die m.E. den Eintritt in die spezifisch neuzeitliche
Bewußtseinsweise tiefer als irgendein anderer Übergang markiert.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, System der Philosophie, 3. Band:
Der Raum, 1969 |
In unser Lebenserfahrung sind die Gefühle und das
leibliche Befinden die Faktoren, die merklich dafür sorgen, das irgend
etwas uns angeht oder nahegeht. Denken wir sie weg, so wäre alles
in gleichmäßige, neutrale Objektivität abgerückt.
Sogar der einzelne für sich selbst wäre dann nur ein Objekt
unter Objekten. Er hätte keinen Anlaß mehr, die erste grammatische
Person zu gebrauchen, um eine Nuance seines Lebens auszudrücken,
hinter der jede Beschreibung in der dritten Person zurückbleibt.
(Wie Lichtenberg meinte: ,Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt,
es blitzt (Georg Christoph Lichtenberg, Vermischte Schriften,
Band I, S. 99). Damit wäre die Möglichkeit entfallen, sich selbst
als etwas zu verstehen und dem Gedanken, daß ein Subjekt - z.B.
ich und jeder Mensch - fühlt und will oder auch nur denkt und glaubt
und zweifelt, Sinn und Gewißheit zu verleihen. Erst Gefühle
und leibliche Regungen bringen Subjektivität in die Welt. (Vgl. §
148 meines Systems der Philosophie, Band III, 3: Der Gefühlsraum,
1969, S. 91-98.) Die Tradition sucht diese Sonderstellung zu würdigen,
indem sie diesen Bestandteilen der Lebenserfahrung einen besonderen intimen
Platz in der sogenannten Innenwelt des einzelnen zuweist, einer privaten,
von der Umwelt abgesonderten, obwohl durch Intentionalität darauf
bezogenen, oft merkwürdigerweise als unräumlich gedachten Sphäre
names ,Geist, ,Seele ,Gemüt ,Bewußtsein
usw., worin jedermann ursprünglichen Reichtum oder Schätze,
die er im Zug seiner Erfahrung eingesammelt hat, speichern kann. Ich habe
umständlich und sorgfältig nachgewiesen, daß es so etwas
gar nicht gibt, daß diese Annahme die Beschreibung von Phänomenen
nicht fördert und ihr Aufstieg zu kanonischer Geltung im Lauf der
nachhomerischen Geschichte auf bestimmte praktische Bedürfnise zurückgeht.
(Vgl ebd. Band III, 3, S. 527-545, Band III, 2, Kapitel 1, Band II, 1,
Kapitel 7.) Subjektivität ist nicht eine Eigenschaft von Subjekten,
Eigenschaften oder Zuständen von Subjekten, sondern eine Eigenschaft
von Tatsachen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Das leibliche Befinden und die Gefühle,
Vortrag, 1974, S. 1 |
Ich will beschreiben, wie die Welt sich zeigt, wenn ihr
zurückgegeben wird, was man fälschlich in die vermeintlich private
Innenwelt einzelner Subjekte (Seele, Bewußtsein, Gemüt pp.)
hineingesteckt hat.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Mein System der Philosophie, 1977 |
Mit Hilfe des Spürens am eigenen Leib (Leiblichkeit)
und des Fühlens (Gefühle) und der durch die Neue Phänomenologie
ermöglichten kategorialen Erschließung der so wahrgenommenen
Gegenstände kann erstmals der jahrtausendealte Psychologismus überwunden
werden. Die Eichung von Worten an Phänomenen schafft die Voraussetzung
dafür, daß die Menschen in die Lage versetzt werden, über
Erfahrungen zu sprechen, die ihnen wichtig werden, wenn sie nach durchdringender
Enttäuschung des Lebens in Projektionen und Utopien Gelegenheit und
Bedürfnis haben, ihren Lebenswillen in der Gegenwart zu verankern.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Mein System der Philosophie, 1977 |
Nach Platon ist das Lebewesen - Mensch oder Tier - yuch
kai swma pagen, Seele und Körper zusammengefügt. ....
Keine zwei Jahrzehnte ist es her, daß der Psychologe Albert Wellek
warnte: Durch die Rede von der ,Ganzheit der Person droht
das Leib-Seele-Problem verdunkelt zu werden. . . . Der Monismus ist Theorie,
der Dualismus Erfahrung. (A. Wellek, Das Leib-Seele-Problem und
die Ganzheit der Person, in: Seelenleben und Menschenbild -
Festschrift zum 60. Geburtstag von Philipp Lersch, 1958, S. 25).
Als Warnung vor ganzheitlichem Wunschdenken ist das mit Recht gesagt;
andererseits genügt schon ein geringes Maß unbefangener Überlegung,
um die dagegen aufgebotene Zerteilung des Menschen in einen körperlichen
und einen seelischen Anteil nicht minder suspekt zu machen. Die leiblichen
Regungen - um das einfachste und vielleicht wichtigste Gegenbeispiel zu
wählen - passen nicht in dieses Verteilungsschema. Hunger, Durst,
Schmerz, Kitzel, Wollust, Ekel, Frische, Müdigkeit und vielerlei
Benanntes oder noch Namenloses dieser Art aus dem Gegenstandsgebiet des
Spürens am eigenen Leibe ohne Vermittlung durch Sehen, Hören
oder Tasten ist unverkennbar auf eigentümliche Weise räumlich
ausgedehnt und kann schon deshalb nicht der als raumlose Innenwelt gemeinten
Seele zugerechnet werden; ebenso wenig darf es als Bestandteil des Körpers,
als körperlich im herkömmlichen Sinn, gelten, da man sonst mittelbaren
oder unmittelbaren Zugang durch Sehen und Tasten zu ihm verlangen müßte.
Ich kenne nur einen Fall, in dem eine fremde leibliche Regung so unmittelbar
geradezu wie Köprer oder Farben gesehen werden kann, nämlich
als begegnender Blick. Die dualistische Tradition sucht sich die leiblichen
Regungen als Organempfindungen zurechtzulegen; ,Organ soll die körperliche,
,Empfindung die seelische Hälfte sein, in die das schlichte
Phänomen zerrissen wird. Es gibt keine Organempfindungen, wie ich
gezeigt habe. (In meinem Buch: Der Leib, a.a.O., s. Register s.
v. ,Organempfindung). Erst indem ich die leiblichen Regungen aus
diesem Versteck am Rande der herkömmlichen Wissenschaftssystematik
befreite, konnte es mir gelingen, das große und wichtige Gegenstandsgebiet
des Spürens am eigenen Leib von der Wurzel her begrifflich-kategorial
zu rekonstruieren und in seiner Bedeutung für das Menschsein zu bestimmen.
Unräumlichkeit versagt also als Kriterium des Seelischen beim Versuch
einer Aufgliederung des Menschen in Körper und Seele. Nicht besser
steht es mit der Privatheit, die von denen, die jedem Menschen eine private
Innenwelt im Gegensatz zur öffentlichen Außenwelt reservieren
möchten, als Kennzeichen des Seelischen empfohlen wird. Einerseits
ist zu fragen, warum Körper nicht als mindestens ebenso privat gelten
sollen wie Gedanken und Gefühle; gibt es doch schlechterdings keine
Möglichkeit, sich dessen zu vergewissern, daß ein Mensch z.
B. Farben oder Formen ebenso sieht wie ein anderer. Andererseits können
auch viele Menschen dieselben Gedanken und Gefühle haben; die Situation
ist hier durchaus nicht prinzipiell anders als angesichts von Körpern
oder in Bezug auf das spürbare Wetter oder Klima, das als räumlich
ergossene, aber nicht lokal dem Menschen gegenübertretende Atmosphäre
gleich anderen Atmosphären - etwa Morgen-, Abend-, Frühlings-
und Gewitterstimmung, Atmosphäre kollektiver Aufgeregtheit, Verlegenheit,
Albernheit, Niedergeschlagenheit usw. - gleichsam ein Niemandsland füllt,
das in der herkömmlichen Scheidung des Körperlichen und Seelischen
nicht vorgesehen ist, obwohl sich Menschsein in seinen wesentlichsten
Zügen (z. B. in religiöser oder andersartiger Ergriffenheit)
vornehmlich gerade in diesem Niemandsland abspielt. Ich habe die Innenwelthypothese,
den Glauben an die Realität einer (z. B. seelischen) Innenwelt des
einzelnen Menschen und die Introjektion der Gefühle, Gedanken usw.
in sie einerseits prinzipiell widerlegt (in meinem Buch: Der Gefühlsraum
[System der Philosophie, Bd. III, Teil 2, 1969], besonders Kap.
1: Bewußtsein und Subjektivität) und andererseits aus dieser
Widerlegung fruchtbare Konsequenzen in detaillierter und vielseitiger
phänomenologischer Analyse zu ziehen gesucht. (In allen meinen systematischen
Publikationen, namentlich in allen bisher erschienenen Teilen meines Werkes:
System der Philosophie; einen kurzen Abriß einiger wichtiger
Ergebnisse, namentlich aus Bd. II und Bd. III, Teil 2, gebe ich in dem
Aufsatz: Das leibliche Befinden und die Gefühle, in: Zschr.
für Philos. Forsch., Bd. 28, 1974, S. 325-338.) Auf diese systematischen
Ergebnisse und Probleme kann ich jetzt nicht eingehen: der Hinweis auf
sie dient mir an dieser Stelle nur dazu, die Frage zu motivieren: Wie
konnte es überhaupt geschehen, daß die Annahme einer seelischen
Innenwelt des einzelnen Menschen und seiner Aufgliederung in die Hälften
Körper und Seele sich mit solcher Macht durchsetzte und zu solcher
Plausibilität verfestigte, daß das menschliche Selbstverständnis
in Wissenschaft und Leben fast oder noch bis heute davon gegängelt
worden ist?
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen
Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 221-223 |
Es stellt sich heraus, daß die psychosomatische Anthropologie,
die den Menschen als einen wie immer organisierten Komplex von Körper
und Seele versteht, ihr für die gesamte Folgezeit maßgebliches
Gepräge spätestens bei Platon erhalten hat. Die fruchtbare Phase
der Prägung dieses Dogmas ist also die für das menschliche Selbstverständnis
in den folgenden Jahrtausenden schlechthin entscheidende Entwicklung zwischen
Homer und Platon .... Ich werde drei Motive für die Durchsetzung
der Seelenvorstellung erörtern: das praktisch-pädagogische der
Selbstermächtigung des Menschen als mündige Person gegen die
unwillkürlichen Regungen; den Physiologismus der Wahrnehmungslehre;
die Objektivierung der Außenwelt. Später hat es nur noch zwei
geschichtsmächtige Versuche gegeben, die bei Demokrit und Platon
gewonnene psychosomatische, an Introjektion und Innenweltglauben orientierte
Prägung der Anthropologie rückgängig zu machen: einerseits
den urchristlichen von Autoren wie Paulus, Johannes, Ignatius und Hermas,
der sich am Platonismus rasch totgelaufen hat, und andererseits den aristotelisch-averroistischen
Aufstand, der sich viel zäher und undeutlicher entwickelt und nach
seinem Gipfel im hohen Mittelalter allmählich verebbt, bis in unser
Jahrhundert Nachwellen schlagend. Ich werde auch diese beiden Krisen der
psychosomatischen Anthropologie besprechen und anschließend darauf
hinweisen, wie wenig Bewegendes und Grundsätzliches die Neuzeit -
auch mit ihren kritizistischen, idealistischen und existenzphilosophischen
Impulsen - bei der Weiterarbeit an dieser Prägung des menschlichen
Selbstverständnisses hinzugebracht hat. Daß ich dieses für
dringend revisionsbedürftig halte, und im welchem Sinn, habe ich
inzwischen durch die Tat der Ausführung eines diesem Bedürfnis
angemessenen Programms in umfangreichen Publikationen deutlich gemacht.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen
Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 223 |
Bei Platon ist der Kampf zwischen tumos
und yuch zu Gunsten der zweiten entschieden
.... Unter folgenden Gesichtspunkten ist Platons ... Kennzeichnung des
Nachdenkens revolutionär und prägend für die Folgezeit:
1. Die Person hat als Seele die Initiative der Überlegung. 2. Sie
ist dabei, sich ansprechend, allein und ,Herr im Haus, ohne daß
ein Regungsherd nach Art des homerischen tumos
eine Rolle spielte. 3. Was sie denkt, ist ihrem eigenen Urteil unterworfen,
denn im stummen Dialog ist ihr ja auch die antwortende Stellungnahme zum
eigenen Zuspruch überlassen. 4. Der Sprecher und Adressat des Gesprächs
ist zugleich der Raum, in dem sich dieses abspielt: die Seele als Innenwelt.
Nirgends wird deutlicher als an dieser paradoxen Identifizierung, in der
sich im Gefolge Platons die spätere Erkenntnistheorie bis hin zu
Nicolai Hartmanns Buch Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis
(1921 erschienen; HB) verhaspelt hat, daß
die Seele als Burg der sich gegen ihre Regungen ermächtigenden Person
erfunden worden ist, um diese Regungen, die dem Menschen in der Ilias
als überwältigende Eingebungen von den leiblich spürbaren
Regungsherden oder den Göttern her begegnen, dem emanzipierten Subjekt
so anzueignen, daß sie seine eigenen und damit seiner Botmäßigkeit
unterworfen werden; zu diesem Zweck werden sie in die Seele als von der
Außenwelt sich abspaltende Innenwelt eingefangen und durch Identifizierung
dieser Innenwelt mit dem Subjekt diesem einverleibt, wobei der paradoxe
Doppelsinn in Kauf genommen wird, daß die Seele einerseits als das
Subjekt selbst gilt, andererseits als das Haus, in dem dieses Herr ist.
Konsequente Entfaltung dieses Doppelsinns ist die Identifizierung der
Seele mit dem Menschen und eines Teils der Seele (der steuernden Besonnenheit)
mit dem Menschen im Menschen. Die geschichtsmächtige Prägung
dieses Doppelsinns, der zur Wurzel des Humanismus als der Proklamation
eines wahren oder eigentlichen Menschen im wirklichen geworden ist, geht
gleichfalls auf Platon zurück (vgl. Politeia, 588c-589b).
Ihr entspricht eine ebenso doppelsinnige Einordnung der personal zu beherrschenden
unwillkürlichen Regungen: Einerseits versammelt Platon diese im Inneren
der Seele, der steuernden Besonnenheit als dem Menschen im Menschen gegenüber,
in den beiden inferioren Seelenteilen, den Rössern seines Phaidros-Gleichnisses,
und andererseits schiebt er sie mit eifernder Abwertung dem Körper
als dessen Begierden zu, während er die Seele gegen den Körper
als den eigentlichen Menschen, der durch die Gemeinschaft mit jenem geschändet
wurde, ausspielt. Für Homer ist, wie das Prooemium der Ilias
zeigt, der Mensch sein Körper; Sophokles beginnt ihn mit der Seele
zu identifizieren, und Platon stellte diese neue Ortung des Menschen kraß
heraus. Damit ist die psychosomatische Anthropologie vollendet, für
die schon Sophokles eine schwungvolle, fast an Schiller gemahnende Devise
in der isoliert überlieferten Verszeile findet: ,Ist auch der Körper
Sklave, bleibt der Geist doch frei (Fragment, 940).
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen
Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 225-227 |
Der Innenweltglaube und die psychosomatische Anthropologie bieten
dem Menschen Gelegenheit, ... Regungen sich zu unterstellen, statt sie
als eigenständige Mächte - Winden gleich, so wie Sappho und
Ibykos den Eros erfahren - sich begegnen zu lassen. Die Umdeutung der
Gefühle durch Reduktion auf Lust und Leid dient diesem Ziel, aber
das alte Selbstverständnis, das bei Euripides mit dem bei Platon
siegreichen neuen kämpft, war damals noch so mächtig, daß
diese Chance nicht gleich unverkürzt wahrgenommen werden konnte:
Im frühen Sokratismus und in der mittleren Komödie, also etwa
bis zur Zeit der platonischen Spätdialoge, gibt es eine Phase, in
der die Lust hauptsächlich als andrängende und ergreifende Macht,
die den Menschen zu besiegen droht, verstanden wird, nicht viel anders
als Eros bei den alten Lyrikern und den großen Tragikern. Damals
triumphierte das Ringen um Selbstermächtigung gegen diese unwillkürliche
Regung Lust in der Devise des vermeintlichen Hedonikers Aristipp: ,Ich
habe, aber ich werde nicht gehabt. Dieses Streben ist nach Ausweis
der überlieferten Zeugnisse in erster Linie dafür verantwortlich,
daß der europäische Mensch sich in der fruchtbarsten und plastischsten,
die Folgezeit beherrschenden Phase seines Selbstverständnisses -
in Griechenland zwischen Homer und Platon - eine Innenwelt und eine Seele
zugelegt hat. Die philosophische und populärphilosophische Theorie
wurde dabei von einem Impuls gesteuert, der weit über alle gedanklichen
Konstruktionen hinaus für die Selbstbehauptung des einzelnen Menschen
und der Menschheit praktisch wichtig war und deshalb in die Folgezeit
- z. B. in Kants Moralphilosophie - weit und mächtig auszustrahlen
vermochte, bis der Augenblick kam, in dem der gebildete Mensch endlich
formal vernünftig und emanzipiert, eben deshalb - welch grausame
Ironie! - aber inhaltlich ratlos geworden war (dazu mein Buch: Der
Rechtsraum [System der Philosophie, Bd. III, Teil 3, 1973], S. 681
f.); das ist etwa der Standpunkt unserer Zeit, in der mir daher eine erneute
Umwälzung des menschlichen Selbstverständnisses auch von vortheoretischen
Bedürfnissen her geboten zu sein scheint. Mächtigen Auftrieb
gewannen psychosomatische Anthropologie und Innenweltdogma zur Zeit ihrer
Entstehung im 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert darüber hinaus
aber aus einem theoretischen Mißverständnis über die Wahrnehmung,
dem Physiologismus ....
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen
Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 228 |
Die Bedeutung der physiologistischen Verkürzung des Spektrums
der Gegenstände natürlicher Wahrnehmung für die Verfestigung
der psychosomatischen Anthropologie läßt sich leicht an den
Gefühlen zeigen. Der Physiologismus gestattet nicht mehr, von diesen
zu sagen, sie würden wahrgenommen, wie die Liebe von Empedokles oder
Eros, von dem Ibykos sagt, jener habe ihn mit schmelzenden Augen unter
dunklen Lidern angeblickt. Dieses Wegdeuten der Wahrnehmbarkeit von Gefühlen
kommt der Introjektion zugute: Das Gefühl kann nicht mehr mit der
Wahrnehmung einströmen, sondern wird in der Seele angesiedelt, als
privater Bestandteil einer persönlichen Innenwelt, und sei es auch
der heilige Geist des pfingstlichen Enthusiasmus christlicher Liebe und
Freude (dazu mein Buch: Das Göttliche und der Raum [System
der Philosophie, Bd. III, Teil 4, 1977], S. 25-33). Nicht weniger kommt
die Verdrängung der Sachverhalte aus dem Bereich des Wahrnehmbaren,
allenfalls mit dürftigen Resten an dessen Rand, der Tendenz zugute,
die Seele dem Körper gegenüber zu ermächtigen. Auf Sachverhalte
kann bei Beschreibung der Welt und des Verhaltens zu ihr nämlich
nicht verzichtet werden; Regentropfen z. B. hätten für uns keine
oder eine ganz andere Bedeutung, wenn wir nicht merken könnten, daß
es regnet. Die Wahrnehmung darf solche Sachverhalte laut physiologistischem
Dogma nicht mehr geradezu präsentieren; daher wird die Seele dazu
berufen, als Geist oder Verstand die fehlenden Sachverhalte in der subjektivierten
Form von Urteilen nachzuliefern und in den rohen Stoff der Wahrnehmung
hineinzulegen. Gleich nachdem Platon im Theätet durch Deutung
der Augen, Ohren usw. als Sinnesorgane, d. h. Werkzeuge der Wahrnehmung
von Qualitäten wie Weiß, Schwarz usw., den Physiologismus endgültig
etabliert hat, begründet er den Rationalismus, indem er die Sachverhalte,
daß etwas ist, was es ist und wie es sich zu etwas verhält,
aus der Wahrnehmung verweist und der Einsicht des Verstandes oder Urteilsvermögens
überträgt. Im aristotelisch-scholastischen Lehrgebäude
übernimmt der intellectus componens et dividens diese Aufgabe. Schließlich
bringt Kant den abenteuerlichen Gedanken vor, erst der Verstand trage
durch eine Synthesis an Hand von Urteilsformen Verbindung in die sonst
chaotische Wahrnehmung hinein. Durch die physiologistisch von körperlichen
Sinnesorganen her verstandene Wahrnehmung ist die Seele nach dieser Denkart
dem Körper verbunden, während sie als urteilende, Sachverhalte
zur Wahrnehmung hinzubringend, sich über den Körper erhebt und
so einen eigenen, unerläßlichen Beitrag zum Weltbild leistet.
Auf diese Weise hat der Physiologismus durch seinen Sprößling,
den Rationalismus, der Verfestigung des psychosomatischen Dualismus nachhaltig
Vorschub geleistet.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen
Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 230-231 |
Die Gefühle werden in private Seelenzustände umgedeutet.
Atmosphären anderer Art, wie das Klima und die klimatisch-optischen
Atmosphären, werden heimatlos. Sie scheinen zu sehr an den Körpern
zu haften, um die Übersetzung in Seelenzustände zu vertragen,
und sind nicht körperlich genug, um im Zeichen des Physiologismus
als Gegenstände der Wahrnehmung anerkannt zu werden. Die Folge ist,
daß eine der wichtigsten alltäglichen Wahrnehmungen, die klimatische,
von der Wahrnehmungslehre bis in unsere Zeit nicht prägnanter Typ
abgehoben worden ist. Der Physiologismus benötigt als Gegenstände
der Wahrnehmung Körper, die den körperlichen Sinnesorganen entsprechen.
Er begünstigt das sonst keineswegs selbstverständliche Körpermodell
bei der Vorstellung von Gegenständen überhaupt. Im 5. Jahrhundert
v. Chr., als er sich durchsetzte, gewann dieses Modell noch zusätzliche
erkenntnistheoretische Bedeutung. Der eleatische Zweifel am wahren Sein
der wahrnehmbaren, veränderlichen Gegenstände traf sich damals
mit der wiederauflebenden archaischen Skepsis gegen die Leistungsfähigkeit
der menschlichen Erkenntnis. Empedokles suchte diesen Bedenken mit dynamischen
Invarianten des Weltlaufs (Liebe und Groll) zu begegnen. Demokrit hatte
den genialen Gedanken, zu diesem Zweck vielmehr das vom Physiologismus
empfohlene Körpermodell aufzubieten, das sich der Skepsis entgegenhalten
läßt, weil sich feste Körper mit den Eigenschaften, die
sich im zentralen Gesichtsfeld zählen lassen, beharrlich und intersubjektiv
unzweideutig zu präsentieren pflegen. Wenn jemand feste Körper
im zentralen Gesichtsfeld zählt oder mißt - auch das Messen
ist ein Zählen - und dann er selbst oder ein anderer die Operation
wiederholt, pflegt das Ergebnis nicht so zu schwanken, wie das Urteil
über Farben oder gar über atmosphärische Stimmungen, es
sei denn, daß Veränderungen gewisser bekannter Typen mit deutlich
erkennbaren Ursachen eingetreten sind; diese lassen sich dann aber gedanklich
beherrschen und vom Ergebnis abziehen. Nur was diesem Standardmodell rigoroser
Vergegenständlichung mit Hilfe des Zählens fester Körper
im zentralen Gesichtsfeld sich fügt, läßt Demokrit als
objektive Außenwelt gelten; alles andere, namentlich die sogenannten
sekundären Sinnesqualitäten, wandert als ,bloß subjektive
Abfall in die vom menschlichen Selbstermächtigungsstreben bereitgestellte
Seele, die damit zum Sammelbecken des Scheinhaften, des nicht ganz ernst
und nicht als wirklich zu Nehmenden, herabsinkt. Noch für Kant ist
,objektive Realität fast synonym mit empirischer Wirklichkeit.
Die Disziplinierung der Person durch das Bedürfnis nach Ermächtigung
gegen die unwillkürlichen Regungen hat die Seele als Innenwelt geschaffen
und dem Körper entgegengesetzt; die Disziplinierung der Außenwelt
durch rigorose Objektivierung füllt diese Seele mit dem dabei abfallenden
Material, das sich so schroffem Anspruch nicht fügt, wie mit dem
weichen Nebel des schwankenden Subjektiven im Gegensatz zur Härte
objektiver, auf intersubjektiv übereinstimmende Ergebnisse des Zählens
und Messens gegründeter Tatsachen. Erst die Neuzeit, in gleichem
Maß auf den Schultern Platons und Demokrits sich erhebend, hat mit
ihrer Naturwissenschaft und Technik aus dieser doppelten Disziplinierung
alle Konsequenzen gezogen. Der moderne Ingenieur, der mit nüchterner
Selbstdisziplin alles Begegnende auf das Zähl- und Meßbare
reduziert, schließt so den Bogen zwischen diesen beiden Säulen
der psychosomatischen Anthropologie: der Selbstermächtigung der Person
und der Objektivierung der Außenwelt.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen
Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 231-232 |
Empedokles hat ein Reinigungsgedicht geschrieben, das als Seelenwanderungslehre
mißverstanden wird, doch ist in seinen wörtlichen Fragmenten
von einer Seele nicht die Rede, und ich glaube nicht, daß er als
Vertreter der psychosomatischen Anthropologie in Anspruch genommen werden
darf. Der Mensch, wie er ihn sieht, ist vielmehr leibliches Resonanzzentrum
für räumlich ausgedehnte, mächtig auf ihn und aufeinander
wirkende Atmosphären, die ihn umhüllen und durchdringen, in
erster Linie für den trennenden Groll und die zusammenführende
Liebe, von der Empedokles sagt, daß sie, für waches Bemerken
gleich lang wie breit zu sehen, unter den Namen der Freude und der Aphrodite
als den sterblichen Gliedern eingepflanzt in Geltung stehe und das sei,
worin die Wesen zu einander streben, wie andererseits im Groll aus einander.
Im kosmogonischen Prozeß verdrängt die Liebe nach Empedokles
den Groll und erfüllt den Raum, in dem sich dann unter ihrem Einfluß
die Geschöpfe bilden und mischen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen
Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 233 |
Im 1. Johannesbrief heißt es: ,Gott ist Liebe, und wer
in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm. Auch diese
Liebe ist also einerseits eine umgreifende Atmosphäre und andererseits
etwas, das die Betroffenen in sich spüren, wovon sie durchdrungen
werden. Wie nach dem 1. Johannesbrief jeder Liebende aus Gott (der Liebe)
geworden ist, bilden sich nach Empedokles erst aus der siegreichen Liebe
die sterblichen Geschöpfe. Ähnlich, wie bei Johannes Gott in
seinem Wesen als Liebe, werden im paulinischen oder pseudopaulinisdien
Kolosserbrief die Leidenschaften als ausgedehnte Atmosphären verstanden:
Begierde, Habsucht, Zorn und das Pathos schlechthin sind nach den Worten
des Verfassers etwas, worin die Christen vor ihrer Bekehrung herumgingen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen
Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 233 |
Paulus kennt keine Seele, und auch nicht die Tendenz menschlicher
Selbstermächtigung, die die Seele zustande gebracht hat. Er sagt
im Römerbrief: ,Wenn ich tue, was ich nicht will, dann tue nicht
ich das, sondern die Sünde, die in mir wohnt. .... Für
sich hat der paulinische Mensch bloß seinen Leib, seine Glieder,
aber dieser Leib ist nicht der Körper, den der psychosomatische Dualismus
der Seele, der Innenwelt und damit der Person selbst entgegensetzt, sondern
Herd und Sitz der Regungen, die Tun und Leiden des Menschen bestimmen.
In erster Linie ist er für Paulus der Schauplatz des Kampfes zwischen
Geist und Fleisch. Diese beiden überpersönlichen atmosphärischen
Mächte nach Paulus gleichen dem Paar Liebe-Groll des Empedokles.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen
Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 234 |
Im Zeichen der psychosomatischen Anthropologie wäre kaum
der eigene Leib des Menschen, sondern eher die vermeintliche seelische
Innenwelt dazu ausersehen worden, den göttlichen Geist zu empfangen;
dessen Tempel ist für Paulus aber jener, nicht diese.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen
Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 234-235 |
In der Geschichte der abendländischen Philosophie, soweit
sie mit Leib und Seele befaßt ist, bleibt die urchristliche Episode
jedenfalls dadurch denkwürdig, daß hier einmal so radikal wie
sonst nie mehr bis auf unsere Zeit versucht worden ist, das Rad zurückzudrehen,
hinter die Innenwelthypothese und den psychosomatischen Dualismus, und
dabei auch zwei vorhin analysierte Hauptmotive dieser Prägung des
menschlichen Selbstverständnisses außer Kraft zu setzen, nämlich
die Ermächtigung der Person gegen ihre unwillkürlichen Regungen
und die Objektivierung der Außenwelt.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen
Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 235 |
Parmenides lebt und denkt vor der Introjektion und versteht menschliche
Überzeugung daher nicht als persönlichen Vollzug, sondern als
Besessenheit von Mächten, denen der Mensch folgt und die ihn steuern,
namentlich von der ihrerseits der Wahrheit folgenden Überzeugung
(Fragment 2 Z. 4 nach Diels-Kranz) oder von Ratlosigkeit (Fragment 6 Z.
5 nach Diels-Kranz). Diese frühe Erkenntnisanthropologie ist zunächst
ohne Wirkung untergegangen. Sie taucht aber in verwandelter Gestalt bei
Aristoteles wieder auf, als dieser als Erster in seiner Seelenlehre gegen
den platonischen, psychosomatischen Dualismus rebelliert.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen
Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 236 |
Die dramatische Geschichte des Averroismus, der dem Christentum
im hohen Mittelalter als tödliche Bedrohung entgegentrat und durch
das große Pariser Anathema von 1277 nur unzulänglich ausgerottet
wurde, dann in Padua weiterblühte, erneut die kirchliche Reaktion
und 1513 das Verdammungsurteil Leos X. in der 8. Sitzung des 5. Laterankonzils
auf sich zog, ist so bekannt, daß ich darauf nicht näher einzugehen
brauche. Bonaventura, einer der schärfsten Rufer im Streit, faßt
seine Vorwürfe gegen den Averroismus so zusammen, daß man in
ihrem Mittelpunkt die Sorge um die Verantwortlichkeit des Menschen erkennt,
also auch um die Ermächtigung der Person ihren unwillkürlichen
Regungen gegenüber, die nach meiner Feststellung die wichtigste Quelle
des psychosomatischen Dualismus gewesen ist.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen
Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 238 |
In unserem Jahrhundert hat der Averroismus eine unerwartbare,
vermutlich dem Autor selbst nicht bewußte Wiedergeburt in der Metaphysik
von Ludwig Klages erhalten, der die Seele mit einer an die aristotelische
Seelendefinition erinnernden Wendung als den Sinn des Leibes ausgibt und
den transzendenten, einzigen Geist von außen einbrechen läßt,
nun aber nicht mehr als höchste Vollendung und Beglückung, sondern
als böse, katastrophale Lebensstörung. Klages verteidigt das
unwillkürlich strömende, schauend empfängliche Leben gegen
die Willkür geistigen Tuns; abermals tritt in seinem Werk also der
Averroismus in Gegensatz zu der seit Jahrtausenden in der abendländischen
Philosophie herrschenden Strömung, die die Ermächtigung des
Menschen gegen seine unwillkürlichen Regungen verlangt und dafür
auch den psychosomatischen Dualismus in Kauf zu nehmen bereit ist.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen
Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 239 |
Zum Erben der Seele wird nun das Bewußtsein; schon in Hegels
Phänomenologie des Geistes tritt es wie eine selbständige
Person auf, macht Erfahrungen usw.. Husserl geht so weit, für das
von ihm konstruierte reine oder transzendentale Bewußtsein die Descartessche
Definition der Seelensubstanz expressis verbis wieder in Anspruch zu nehmen.
(Vgl. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie, 1. Buch, § 49). Dagegen gewöhnen sich die Psychologen
des 19. Jahrhunderts daran, vom Bewußtsein zu reden, als seien sie
dabei im Reich gesitteter Empirie, frei von allen Schlacken des ausgebrannten
Feuers der Metaphysik. Sie ahnen nicht, daß sie auf diese Weise
die metaphysische und höchste problematische, sogar theoretisch unhaltbare
Innenwelthypothese weiterschleppen, und sorgen sich statt dessen höchstens
um die Realität der Außenwelt. Erst um 1900, im Zeichen des
von Avenarius und Mach eingeleiteten Empiriokritizismus, tritt diese metaphysische
Hypothese ins Licht möglicher Bedenklichkeit; 1912 veröffentlicht
William James, der vorher vom Bewußtseinsstrom gefabelt hatte, eine
Art Palinodie in seinem kritischen Essay: Does consciousness exist?
Ich habe die Innenwelthypothese und die Introjektion nicht nur widerlegt,
sondern aus dieser Widerlegung auch produktive Folgerungen gezogen, indem
ich in detaillierten phänomenologischen Analysen gezeigt habe, wie
sich die Züge der Welt und der menschlichen Natur in weiten Gebieten
verändern, wenn die alten Vorurteile fallen gelassen werden. Vielleicht
beginnt damit ein drittes Zeitalter menschlichen Selbstverständnisses,
nach dem vorplatonischen und dem zweiten, das mit den besprochenen Ausnahmen
von Platon bis zur Gegenwart reicht.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen
Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 240-241 |
Kommunikation ist in unserer Zeit ein Modewort bis an
den Rand des Erträglichen. Darin ... verrät sich eine Überschätzung
der ... Einstellung der Menschen aufeinander. .... Menschen sind aber
wichtig als Medien der Darbietung von etwas, das an un mit ihnen geschieht,
dem sie dienen oder sich widersetzen können, nicht dadurch, daß
sie sich wichtig nehmen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, System der Philosophie, 1964-1980,
3. Band: Die Aufhebung der Gegenwart, 1980 |
Philosophie ist: Sichbesinnen des Menschen auf sein
Sichfinden in seiner Umgebung.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand,
1990 |
Wenn ich vom Leib spreche, denke ich nicht an den menschlichen
oder tierischen Körper, den man besichtigen oder betasten kann, sondern
an das, was man in dessen Gegend von sich spürt, ohne über ein
Sinnesorgan wie Auge oder Hand zu verfügen ....
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand,
1990, S. 115 |
Die Physiologie ist eine wunderbare Sache, nur der Physiologismus
ist mit einigen Fragezeichen zu versehen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität,
Tagung, 1993 |
Es ist eigentlich immer nur der Versuch, halbgebildet aus den
naturwissenschaftlichen Ergebnissen Dogmen zu machen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität,
Tagung, 1993 |
Die Wohltaten der modernen Technik, die Wohltaten der modernen
Naturwissenschaft sind ganz gewaltig und den Leuten,... die uns das erfunden
haben, ist nichts anderes vorzuwerfen, als daß sie gar zu naiv und
gutgläubig hinter den Philosophen hergelaufen sind, hinter den großen
Philosophen, die ihrerseits die Aufgabe meines Erachtens nicht adäquat
bewältigt haben.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität,
Tagung, 1993 |
Freges Zahlbegriff. Sitz der Zahl im Leben ist das Zählen,
Frege erkannte, daß das Zählen seinem abstrakten Typ nach ein
umkehrbar eindeutiges Abbilden ist, Zuordnung einer Menge zu einer Menge
- es kann auch dieselbe sein -, so daß jedem Element der Ausgangsmenge
genau ein solches der Zielmenge entspricht, also etwa von Münzen
und Zahlworten oder dergleichen. Frege also erkannte, daß das Zählen
seinem abstrakten Typ nach ein umkehrbar eindeutiges Abbilden ist, und
er konstruierte über der Möglichkeit umkehrbar eindeutiger Abbildung
zwischen Mengen seinen Zahlbegriff.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität,
Tagung, 1993 |
Das Neue an der Neuen Phänomenologie beruht auf
dem Durchbruch durch die Abstraktionsbasis der traditionellen europäischen
Intellektualkultur. Der Reduktionismus, die Introjektion und das Innenweltdogma
werden überwunden. Dadurch verliert die Subjektivität ihren
traditionellen Platz: die Seele. Sie kann nicht mehr damit abgefunden
werden, daß ein Stück der objektiven Welt einem Inhaber, dem
Subjekt, als das Haus, in dem er Herr sein soll, und zugleich der Reduktion
als Abfallgrube für das reduktionistisch Weggeschnittene reserviert
wird. Vielmehr muß die Subjektivität, wodurch es zum Beispiel
dazu kommt, daß gerade ich es bin, der ein gewisses Ding,
Hermann Schmitz, ist, neu bestimmt werden, und zwar nicht als Eigenschaft
von Subjekten, zum Beispiel von mir, sondern als Eigenart des Milieus
der für jemanden subjektiven Sachverhalte, Programme und Probleme.
Subjektiv sind Sachverhalte, die höchstens einer im eigenen Namen
aussagen kann, während die anderen wohl darüber sprechen, sie
aber nicht aussagen können. Diese kommen zu den Objektiven, die jeder
bei genügend Kenntnis und Sprachfähigkeit aussagen kann, nicht
etwa ergänzend hinzu, sondern die Welt der objektiven Tatsachen ist
selbst der Abfall einer Reduktion, nämlich der Abfall der Abschälung
von Subjektivität, wodurch entsprechend wie die Sachverhalte und
Tatsachen auch subjektive Programme und Probleme wie Wünsche und
Sorgen zu ihren bloß noch objektiven Gegenstücken werden. Subjekte
gibt es nur dank subjektiver Tatsachen. Keineswegs aber setzt die Subjektivität
für jemanden schon diesen Jemand als Subjekt voraus. Vielmehr ist an
der Wurzel, nämlich im affektiven Betroffensein die Subjektivität
für mich so beschaffen, daß das Wort mich weniger als
Pronomen zu verstehen ist, sondern eher als Adverb wie hier und
jetzt, nicht einen Gegenstand benennend, sondern ein Milieu charakterisierend,
so wie ja auch mit dem Wort hier nicht auf einen Gegenstand - das
Hier - Bezug genomnmen wird, sondern auf das, was hier ist, nämlich
im Milieu der nächsten Nähe. Die Subjektivität nun kommt
nicht zur Welt hinzu, sondern sie entspringt mit ihr, mit der Welt, aus
derselben Quelle, in die der erwachsene und besonnene Mensch eintaucht,
wenn er die Fassung verliert, zum Beispiel im elementar leiblichen Betroffensein,
ganz banal auch schon oder fast schon im Lachen und im Weinen. Ich bezeichne
diese Quelle als die primitive Gegenwart. In ihr sinken die fünf
Hauptdimensionen menschlicher Orientierung in der Welt - 1. Absoluter
Ort gegen Weite; 2. Absoluter Augenblick gegen Dauer; 3. Sein
gegen Nichtsein; 4. Dieses gegen chaotische Mannigfaltigkeit;
5. Ich gegen das Fremde -, in ihr, in der primitiven Gegenwart,
sinken die fünf Hauptdimensionen dadurch zusammen, daß Hier,
Jetzt, Sein, Dieses, Ich mit engem Horizont verschmelzen, bis sich
dieser Ursprung wieder nach den fünf Richtungen entfaltet. Bloß
durch solche Entfaltung wird das Dieses, die Form der Identität
und Verschiedenheit, frei zu beliebiger Projektion in den Weltstoff, der
erst dadurch zur Welt wird. Die Welt ist der Horizont des freien Dieses.
Für den Weltstoff läßt sich phänomenologisch keine
Erzeugung ermitteln, aber die Welt als Form, als Horizont des freien Dieses
entspringt zusammen mit der Subjektwerdung, der Subjektivität aus
der Entfaltung der Gegenwart, die nach einer Seite durch Emanzipation
des Dieses die freie Verteilung von Identität und Verschiedenheit
an den chaotisch mannigfaltigen Weltstoff ermöglicht und zugleich
nach einer anderen Seite durch personale Emanzipation die Bildung der
persönlichen Situation eines Subjektes einleitet. So hängen
Subjekt und Welt von vornherein zusammen, ohne einen Brückenschlag
durch die Intentionalität eines Erkennens, Strebens und Handelns
oder eines dagegen auf das Subjekt gerichteten Einwirkens oder sonstigen
Widerstandes zu benötigen. Zuvor gibt es allerdings schon ein Leben
in primitiver Gegenwart, wie es dank leiblicher Kommunikation die Tiere
nuancenreich führen und oft auch die Menschen, zum Beispiel als kleine
Kinder, aber noch ohne Welt, mit beliebig fortsetzbarer Durchgliederung
der Zukunft, der Vergangenheit und der Weite des Raumes, ohne Freiheit
des Dieses vom Sein, wodurch gar erst durch diese Freiheit erst Phantasie,
Zwecke, Wünsche, Sorgen und ein Verhältnis zum Tode möglich
werden, und ohne Explikation einzelner Sachverhalte, Programme und Probleme
aus Situationen, worin nämlich, in dieser Explikation nämlich,
der Überschuß der Leistung menschlicher Rede über die
tierische besteht, die nur Situationen ansprechen, aber nicht explizieren
kann. Erst mit diesen Klärungen nun ist der Standpunkt der Neuen
Phänomenologie so präzisiert, daß die prinzipiellen Mängel
der älteren Phänomenologie bei deren Hauptvertretern übersichtlich
werden.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität,
Tagung, 1993 |
Husserl ist ein Klassiker des Innenweltdogmas und der Introjektion.
Er ahnt nichts von Subjektivität, geschweige denn etwas von deren
Verwurzelung in primitiver Gegenwart und der daraus resultierenden ursprünglichen,
jede Konstitution durch ein Subjekt unterlaufenden Zusammengehörigkeit
von Subjekt und Welt. Keine der vier Verdrängungen mit den Titeln
Leib, Gefühl, Situation und Gegenstandsbereich der Wahrnehmung,
woran ich den Bedarf einer Korrektur unserer kulturspezifischen Abstraktionsbasis
durch die Phänomenologie verdeutlicht habe, wird von Husserl auch
nur ansatzweise behoben. - Bei Scheler ändert sich daran nicht viel.
Sein Persongedanke ist ganz hohl. Sein angebliches Leibphänomen ist
ein unsicherer Kompromiß monistischer und dualistischer Motive.
Nur durch zwei eher beiläufige Lehrstücke arbeitet er der Neuen
Phänomenologie zu: durch seinen Begriff des Milieus, eines Vorläufers
des Situationsbegriffs, und durch seine Unterscheidung zwischen
vitalen und sinnlichen Gefühlen, an deren Stelle ich den Unterschied
zwischen ganzheitlichen und teilheitlichen leiblichen Regungen setze.
- Heidegger dringt weiter vor. Sein Weltbegriff trifft zwar nicht
das, was ich eben die Welt als Singularetantum genannt habe - die
Welt, die nicht mehrere Welten sein kann, sondern der Horizont des
freien Dieses ist -, aber dieser Weltbegriff Heideggers kommt meinem
Situationsbegriff in manchen Zügen nah, wie seine Jemeinigkeit
der Subjektivität in meinem Sinn. Die Polemik gegen die traditionelle
Erkenntnistheorie im Zeichen des In-der-Welt-Seins ist ein Durchbruch
durch das Innenweltdogma. Der Motivkomplex der Geworfenheit
und Befindlichkeit spielt zwar noch undeutlich und gärend,
aber doch merklich auf Gefühle als Atmosphären, affektives
Betroffensein und primitive Gegenwart an. Gerade bei diesem
Thema hat aber Heideggers frühe, fast allein in seinem ganzen Werk
phänomenologisch fruchtbare Konzeption - denn das spätere ist
so nicht mehr fruchtbar - ihre Archillisverse, während andere Mängel
eher heilbar sind. Heidegger weiß nichts und will nichts wissen
von Leiblichkeit, primitiver Gegenwart, elementar leiblichen
Betroffenseins, leiblicher Kommunikation. Heideggers Mensch
mit Jemeinigkeit, das sogenannte Dasein, ist gleich erwachsen
und bleibt es, ob er nun zum Tode vorläuft, oder die Angst
- und das ist bei Heidegger ein hochstufiges, personale Emanzipation
voraussetzendes Entfremdungserlebnis -, diese Angst verdrängt.
Seine Seinsweise ist die Subjektivität oder Jemeinigkeit
in entfalteter Gegenwart. Daher fehlt bei Heidegger jedes Verständnis
für den Menschen als Tier, zum Beispiel im Schreck, dessen Möglichkeit
das Leiblichsein und damit das Menschsein von Grund aus bedingt. Mit dieser
Verdrängung der elementaren Leiblichkeit verharrt Heidegger
im Bann der diese Leiblichkeit spätestens seit Platon degradierenden
europäischen Intellektualkultur und versperrt sich den Zugang zu
den Grundlagen des In-der-Welt-Seins. - Die französischen
Phänomenologen bleiben Dualisten wie Sartre, der Situationen in meinem
Sinn nur dem Namen nach kennt, oder sie geraten wie Merleau-Ponty durch
die sehnsüchtige Hoffnung, mit den Mitteln der Phänomenologie
den kartesischen Dualismus loszuwerden, in eine verschwommene Zwischenstellung
begrifflich ungeklärter Ambiguität.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität,
Tagung, 1993 |
Die Phänomenologie aller dieser Denker (der
älteren Phänomenologie; HB) verharrt noch im Bann
der Tradition und wird daher nicht frei für die Fruchtbarkeit, die
den Ring bloß philosophischer Reflexion und Spekulation aufbrechen
könnte. Dazu aber ist nun die Neue Phänomenologie berufen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität,
Tagung, 1993 |
Der Begriff Horizont des freien Dieses meint ja
nur: die Welt ist die universale Erlaubnis an alles, daß es dieses
oder jenes sein darf, ein Einzelnes sein darf.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität,
Tagung, 1993 |
Etwas anderes ist selbstverständlich das Zugehören eines
Horizontes, den man auch Welt nennen kann, den zum Beispiel Heideger
so nennt. Man hat ja gerade in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts
eine Inflation des Weltbegriffs, zum Teil auf biologischer Grundlage
bei Uexküll ... und eben auch in dem alten Sinn, wie es ja schon
bei Goethe heißt .... Hier haben wir selbstverständlich mit
der persönlichen Situation eine persönliche Welt.
... Das ist ein Begriff, den ich selbst so eingeführt und verwendet
und differenziert habe: die persönliche Welt. Da hat jeder
seine persönliche Welt. Nur ist das ein anderer Begriff von Welt.
Den finden Sie zum Beispiel bei Heidegger .... Selbstverständlich
gibt es so etwas. Aber es ist eine Äquivokation, wenn man beides
Welt nennt - das kann man machen, ich tue es auch, aber dann sollte
man in einem Fall einen Zusatz machen, etwa persönliche Welt
oder meinetwegen Welt eines Volkes .... Das sind Situationen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität,
Tagung, 1993 |
Der Mund ist ein Leib im kleinen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität,
Tagung, 1993 |
Die Neue Phänomenologie widmet sich der Aufgabe,
die Abstraktionsbasis der Theorie- und Bewertungsbildung tiefer in die
unwillkürliche Lebenserfahrung hineinzulegen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 11 |
Unter der Abstraktionsbasis einer Kultur verstehe
ich die zäh prägende Schicht vermeintlicher Selbstverständlichkeiten,
die zwischen der unwillkürlichen Lebenserfahrung einerseits, den
Begriffen, Theorien und Bewertungen andererseits den Filter bildet. Die
Abstraktionsbasis entscheidet darüber, was so wichtig genommen wird,
daß es durch Worte und Begriffe Eingang in Theorien und Bewertungen
findet. Deshalb sind gegensätzliche Theorien und Bewertungen auf
derselben Abstraktionsbasis möglich.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 11 |
Die Abstraktionsbasis einer Kultur wird teilweise durch die Suggestionskraft
sprachlicher Strukturen, zum anderen Teil durch epochale geschichtliche
Prägungen bestimmt. Wir stecken gleichsam in einem Urwald geschichtlicher
Vorprägungen, der nicht durch den bloßen Entschluß zur
Unbefangenheit in freies Feld verwandelt werden kann. Vielmehr muß
man sich durch den Urwald durchschlagen, um ererbte vermeintliche Selbstverständlichkeiten
zu durchschauen und in hinglänglichem Maß Herr der eigenen
Voraussetzungen zu werden. Deswegen ist Phänomenologie nur im Zusammenhang
mit kritisch-historischer Einstellung sinnvoll. Diese muß für
die Zwecke der Neuen Phänomenologie hauptsächlich den für
die Prägung der dominanten europäischen Intellektualkultur entscheidenden
Paradigemnwechsel bei den Griechen der 2. Hälfte des 5. vorchristlichen
Jahrhunderts ins Auge fassen. Die meisten Versuche, sich durch das Labyrinth
der Verkünstelungen des Denkens und Wollens historisch zurückzutasten,
berchen viel früher ab, nämlich bei den großen Barockphilosophen
des 17. Jahrhunderts wie Francis Bacon, Hobbes, Galilei, Descartes und
Leibniz. Diese Denker haben keine neue Abstarktionsbasis gelegt, sondern
auf der ererbten weitergebaut, um durch Formulierungen des Prinzips und
der Methode der Weltbemächtigung das in der längst etablierten
Perspektive schlummernde Potential zu derr folgenden Explosion des naturwissenschaftlich-technischen
Fortschritts zu befreien. Indem an sich davon mitreißen ließ,
ist die Verkünstellung inzwischen so weit gediehen, daß das
Denken den Spezialisten der Comutermanipulation und das Zeugnis vom Sich-Befinden
und Zumutesein der Menschen dem nahezu ausgestorbenen Volk der Dichter
überlassen werden muß.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 11-12 |
In der 2. Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, kurz
vor Platon und Aristoteles, ereignet sich im europäischen, d.h. hier
griechischen, Denken ein Bruch, durch den sich an die Stelle eines archaischen
Paradigmas für das menschliche Welt- und Selbstverständnis ein
neues Paradigma setzt, das seither die dominante europäische Intellektualkultur
bestimmt. Das alte Paradigma bezeichne ich als archaischen Dynamismus.
Seine Abstraktionsbasis besteht in vielsagenden Eindrücken, die typisiert
und in einem polarisierten Schema von Kräften mit leiblich gespürter
Grundlage geordnet werden. In Griechenland handelt es sich dabei namentlich
um das Gegensatzpaar des flink Beweglichen, Flammenhaften auf der einen
und des Schwerfälligen, Sperrigen auf der anderen Seite, z.B. bei
Parmenides, Empedokles und alten Pythagoreern ....
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 12-13 |
Das menschliche Erleben ist im archaischen Paradigma weder zentralisiert
noch abgegrenzt; die Person, die »ich« sagt, steht ohne Hausmacht
in einem Konzert von Regungsherden - unserem Gewissen, das Stimme und
Biß hat, ungefähr vergleichbar -, die meist leiblich lokalisiert
sind, und ist dem Einbruch ergreifender Mächte - Erregungen wie Eros
und Wut oder Göttern - ausgesetzt. Allerdings setzt schon im Herrschaftsbereich
des archaischen Paradigmas eine energische und konsequente Entwicklung
ein, die zur Abgrenzung und Zentralisierung des Erlebens drängt.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 13 |
Das neue Paradigma, das in reiner Form zuerst bei Demokrit hervortritt,
ist durch Psychologismus, Reduktionismus und Introjektion im Zeichen des
Innenweltdogmas charakterisiert.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 13-14 |
Das Innenweltdogma kann so formuliert werden:
Für jeden Bewußthaber zerfällt die Welt in seine Außenwelt
und seine Innenwelt mit der Maßgabe, daß ihm ein Gegenstand
seiner Außenwelt höchstens dann zu Bewußtsein kommt,
wenn dieser Gegenstand in seiner Innenwelt mindestens einen Vertreter
hat.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 14 |
Der Psychologismus besteht in der Einquartierung
des gesamten Erlebens eines Menschen in seine Innenwelt wie in ein Haus
mit Mauern und Stockwerken, worin er als Vernunft Herr sein kann; dieses
Haus führt jahrtausendelang den Namen »Seele« (»Psyche«;
HB) und dient der Abgrenzung und Zentralisierung des Erlebens im
Interesse des Verfügenkönnens über die eigenen unwillkürlichen
Regungen. Diesem Vorteil steht ein als Nachteil dem Psychologismus anhängendes
Problem gegenüber: Wie kommt man aus der eigenen Innenwelt wieder
heraus, z.B. zum verläßlichen Erkennen?
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 14 |
Der Reduktionismus besteht in der Abschleifung
der Außenwelt schlechthin - d.h. der Außenwelt nach Abzug
aller Innenwelten - bis auf wenige Klassen besonders leicht (intermomentan
und intersubjektiv) identifizierbarer, manipulierbarer und quantifizierbarer
Merkmale, die an der Oberfläche fester Körper abgelesen werden
können und noch heute die ganze Abstraktionsbasis der Physik bilden;
nach Aristoteles und Demokrit handelt es sich um Größe, Gestalt,
Zahl, Ruhe, Bewegung, Lage und Anordnung, die später sogenannten
primären Sinnesquellen. Ihnen wird zur Ersatz für die Einbettung
in vielsagende Eindrücke, die bei der Abschleifung zerschlagen worden
sind, das Anhängen an Träger, die nach Art fester Körper
vorgestellt werden, sogenannten Substanzen, gewährt.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 14 |
Die Introjektion ist die Ablagerung des vom Reduktionismus
abgeschliffenen Abfalls in der im Dienst der Selbstbemächtigung bereitgestellten
Innenwelt. Situationen - darunter die erwähnten vielsagenden Eindrücke
- und Atmosphären werden zerschlagen; ihre Bedeutsamkeit, die in
einer nach außen ganzheitlich abgehobenen, im Innern aber diffusen
und nicht durchgängig vereinzelten Mannigfaltigkeit von Sachverhalten,
Programmen und Problemen besteht, wird subjektiviert und zu Aggregaten
von Gedanken, Urteilen, Entschlüssen usw. in der Seele umgedeutet;
Atmosphären, die den Menschen leiblich spürbar ergreifen oder
beschleichen, werden in private Gefühle umgedeutet oder - wie im
Fall des Wetters - in einen psychischen Anteil und einen physikalischen
Zustand der Luft, eines der Lebenserfahrung konstruktiv unterlegten Gases,
zerrissen; der spürbare Leib wird ganz vergessen oder, soweit man
Restbestände wie den Schmerz nicht vergessen kann, in einen Zustand
des sezierbaren Körpers und eine unausgedehnte Empfindung in der
Seele, die später auch andere Namen wie »das Gemüt«,
»the mind« oder »das Bewußtsein« erhält,
aufgelöst.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 14-15 |
Meine Neue Phänomenologie soll keineswegs das archaische
Paradigma wiederherstellen, wohl aber die offenkundigen Mängel und
Verkünstelungen der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen
Vergegenständlichung der Welt beseitigen und dadurch eine Abstraktionsbasis
bereitstellen, die in der Lebenserfahrung tiefer verankert ist als die
seit Demokrit, Platon und Aristoteles die dominante europäische Intellektualkultur
beherrschende.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 15 |
Unter dem eigenen Leib eines Menschen verstehe
ich das, was er in der Gegend seines Körpers von sich spüren
kann, ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne (Sehen, Hören,
Tasten, Riechen, Schmecken) und des perzeptiven Körperschemas (d.h.
des aus Erfahrungen des Sehens und Tastens abgeleiteten habituellen Vorstellungsbildes
vom eigenen Körper) zu stützen. Der Leib ist besetzt mit leiblichen
Regungen wie Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Atmung, Behagen, affektives
Betroffensein von Gefühlen. Er ist unteilbar flächenlos ausgedehnt
als prädimensionales (d.h. nicht bezifferbar dimensioniertes, z.B.
nicht dreidimensionales) Volumen, das in Engung und Weitung Dynamik besitzt.
Man macht sich das leicht am leiblich spürbaren Einatmen klar. Es
wird in Gestalt einer Insel in der Brust- oder auch Bauchgegend gespürt,
in der simultan Engung und Weitung konkurrieren, wobei anfangs die Weitung
und später, gegen Ende des Einatmens, die Engung überwiegt;
diese Insel ist voluminös, aber weder von Flächen umschlossen
noch durch Flächen zerlegbar und daher auch nicht dreidimensional,
da die 3 als Dimensionszahl nur im Aufsteigen von der 2 her sinnvoll eingeführt
werden kann. Solch ein prädimensionales Volumen kommt auch in anderen
Erfahrungsbereichen vor .... Der Leib ist fast immer - außer z.B.
im heftigen Schreck - von solchen Leibesinseln besetzt, ein Gewoge verschwommener
Inseln, die sich ohne stetigen Zusammenhang meist flüchtig bilden,
umbilden und auflösen, in einigen Fällen aber auch mit mehr
oder weniger konstanter Ausrüstung beharren, dies besonders im oralen
und analen Bereich und an den Sohlen. Solche Leibesinseln kommen auch
außerhalb des eigenen Körpers vor, z.B. als Phantomglieder
der Amputierten. Seine Haut kann man sehen und betasten, aber nicht am
eigenen Leib spüren; die Weckung von Aufmerksamkeit auf die eigene
Haut in der Vorstellung anhand des perzeptiven Körperschemas kann
allerdings die Sensibilität für das Spüren von Leibesinseln
steigern.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 15-17 |
Dynamik ..., deren Hauptsache die Dimension von Enge
und Weite ist. Leiblich sein heißt, zwischen reiner Enge und reiner
Weite irgendwo in der Mitte zu sein und weder von Enge noch von Weite
ganz loszukommen, solange das bewußte Erleben dauert. Diese Mittellage
beruht auf dem Ineinandergreifen zweier antagonistischer Tendenzen: der
expandierenden Weitung und der sie hemmenden Engung. Miteinander bilden
sie den vitalen Antrieb, gleichsam den Dampf, unter dem ein Mensch wie
ein Kessel steht. In diesem Zusammenhang bezeichne ich die Engung als
Spannung, die Weitung als Schwellung, wobei an dynamische Schwellung im
Sinne des stark flektierten Partizips »geschwellt«, nicht
an bloß quantitative Schwellung im Sinne des Partizips »geschwollen«
zu denken ist. Der vitale Antrieb bedarf der antagonistischen Konkurrenz
von Spannung und Schwellung. Wenn die Engung aus der Weitung aushakt,
wie bei heftigem Schreck, ist der Antrieb weg. Ebenso erschlafft er nach
der anderen Seite, wenn die Schwellung die Mauer hemmender Spannung durchbricht
und die Weitung widerstandslos wird, wie bei der Ejakulation im Geschlechtsakt.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 18-19 |
In der leiblichen Dynamik über die Dimension von
Enge und Weite hinaus eine weitere, der ersten nahestehende Dimension,
die ich durch das Gegensatzpaar von protopatischer und epikritischer Tendenz
abstecke. .... Ich beziehe sie auf alle leiblichen Regungen und darüber
hinaus auf Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere, die
ebenso am eigenen Leib gespürt wie an Gegenständen wahrgenommen
werden. Protopathisch ist das Dumpfe, Diffuse, verschwommen Ausstrahlende,
epikritisch das Spitze, Scharfe. So ist z.B. das Jucken protopathisch,
das Kitzeln epikritisch, der Höhepunkt des Orgasmus epikritisch,
das Verströmen im geschlechtlichen Rausch protopathisch. Ein schwerer,
schleppender Gang und ein dunkler Vokal haben protopathische, ein federndes
Hüpfen und ein schrilles Geräusch haben epikritische Züge.
Es liegt nahe, epikritisches Tendenz auf Engung und protopathische Tendenz
auf Weitung zurückzuführen, aber damit kommt man nicht durch,
denn es gibt auch protopathische Engung, z.B. als benommenen Kopf im Kater
nach reichlichen Alkoholgenuß, und auch für epikritische Weitung
ließen sich Beispiel finden.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 22-23 |
Gefühle sind räumlich, aber ortlos, ergossene
Atmosphären.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 23 |
Gefühle sind anspruchsvolle Atmosphären, die dank ihrer
ortlosen Ergossenheit in der jeweils aktuellen Umgebung einen totalen
Anspruch stellen und zum Konflikt führen, wenn konträre Atmosphären
zusammenprallen ....
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 25 |
Während die Gefühle räumlich ergossene Atmosphären
sind, ist das Fühlen der Gefühle, soweit es sich nicht um Ergriffenheit
von ihnen und nicht um bloßes Wahrnehmen der Atmosphäre handelt
- wie wenn ein ernsthafter Beobachter in ein albernes Fest gerät
-, stets ein leibliches Betroffensein von ihnen. Diese kann in teilheitlichen
oder in ganzheitlichen leiblichen Regungen bestehen ....
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 26 |
Wahrnehmung als leibliche Kommunikation (leibliche
Sprache; HB). Im motorisierten Straßenverkehr
kommt es häufig zu gefährlichen Konstellationen, in denen ein
Lenker sein Fahrzeug nur durch augenblickliches Ausweichen, Bremsen oder
Beschleunigen vor einem Unfall durch Zusammenstoß bewahren kann.
Sein Verhalten ist dann keine routinierte Standardreaktion, sondern bedarf
des intelligenten Maßnehmens an unvorhersehbaren Details. Die herrschende,
von der Naturwissenschaft und der Psychologie bestimmte Auffassung zerlegt
dieses Geschehen, soweit es am Lenker abläuft, in die Kaskade körperlicher
und seelischer Vorgänge: Physikalisch definierte Reize treffen die
peripheren Sinnesorgane, ebenso definierte Reize anderer (elektrischer
und chemischer) Art wandern von dort auf vorgezeichneten Bahnen im Nervensystem
und im Gehirn, bis sie als Empfindungen ins Seelenleben springen (!
HB) und dort einer intelligenten Verarbeitung unterworfen werden
(! HB); diese besteht in der Koordination
zu einem Bild der Lage (ungefähr so wie beim
Anwendungsprogramm namens Photoshop! HB), der Abschätzung
der Gefahr (rein rechnerisch natürlich - in
Bits ! HB) und dem Entwurf eines strategischen Plans zur Rettung
(so wie man programmiersprachlich eine Programmiersprache
textet; HB); dieser Plan springt dann ins Gehirn zurück (!
HB) und wandert darin durch periphere Nerven in Gestalt elektrischer
und chemischer Reize zu den Muskeln, wo diese Reize Zuckungen auslösen,
die sich auf das Steuer und die Pedale so übertragen (!
HB), daß bei erfolgreicher Ausführung des Plans (!
HB) der drohende Zusammenstoß vermieden wird. Bei nüchterener
Überlegung dieser Rekonstruktion des Vorgangs wird man sich sagen,
daß alles vernünftig ist, solange es sich um naturwissenschaftlich
analysierte Körpervorgänge handelt, aber mit dem sogenannten
Seelenleben (dem sogenannten »Psychologischen«!
HB) phantastische und kontrafaktische Spekulationen dazwischentreten.
Phantastisch ist der zweifache Sprung vom Nervensystem ins Seelenleben
und zurück, kein Mensch hat je so etwas beobachtet oder eine Ahnung
davon, wie es geschehen könnte. Kontrafaktisch ist die Konstruktionb
einer komplizierten Reihe intellektueller Prozesse im Seelenleben, wo
doch keine Zeit zur Überlegung bleibt; man muß dafür Zuflucht
zu einem großen Gebäude unbewußter Schlüsse im Sinne
von Schopenhauer und Helmholtz nehmen, obwohl die Besinnung auf das Erfahrene
nichts davon verrät. Das ganze Luftschloß verdankt seinen Kredit
dem verkehrten Dogma des Physiologismus, wonach für jeden Menschen
- gemäß dem Innenweltdogma - die Welt in in seine Außenwelt
und seine Innenwelt so zerfällt, daß Informationen von seiner
Außenwelt nur durch Transport und Transformation physischer Signale
(physischer Sprache! HB) durch die Sinnesorgane
und das Nervensystem in seine Innenwelt gelangen, motorische Reaktionen
in diese Außenwelt aber nur durch umgekehrten Export über nervöse
Kanäle. Die beobachtbare Grundlage dieses Dogmas besteht allein darin,
daß physische Reize und nervöse Vorgänge in erheblichem
Umfang sowohl notwendige als auch zureichende Bedingungen für die
Wahrnehmungen und den Erfolg motorischer Absichten sind. Es verhält
sich damit ähnlich, wie wenn von einer nicht abstellbaren Schallplatte
die Stimme einer Sängerin zu passender Klavierbegleitung erschallt.
Dann ist diese Begleitung sowohl notwendig als auch zureichend für
die Stimme, aber (! HB) es gibt weder Import
von der Klaviermusik in die Stimme noch Export aus dieser in jene. Solche
Improt-Export-Beziehungen dichtet der Physiologismus (und,
von der anderen Seite, auch der Psychologismus; HB) zu der notwendig
zureichenden »Begleitmusik« hinzu, als die nach Maßgabe
naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse nervöser Vorgänge
in Korrelation mit Wahrnehmung und motorischem Verhalten ablaufen. Der
Vergleich ist dehalb nicht genau, weil Klavier- und Stimmenschall erkenntnistheoretisch
auf derselben Ebene liegen, Wahrnehmung und wahrgenommenes oder am eigenen
Leib gespürtes motorisches Verhalten einerseits, Gegnstände
naturwissenschaftlicher Instrumentemessung und Theoriebildung andererseits
aber auf sehr verschiedenen Ebenen, weil im zweiten Fall die reduktionistische
Abstraktionsbasis der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen
Denkweise nebst theoretischen Kostruktionen und Hypothesen, die die Ausfälle
durch reduktionistische Abschleifung wettmachen sollen, vorausgesetzt
werden müssen. Trotzdem ist der Vergleich lehrreich. Für das
Studium des Gesangs, seiner qualitativen Eigenart und prozessualen Eigengesetzlichkeit,
darf man sich nicht auf die Analyse der Klaviermusik verlassen, und ganz
verkehtr wäre es, dieses Studium durch Belauern eines vetrmeintlichen
Imports vom Klavier in die Stimme oder von der Stimme ins Klavier ersetzen
zu wollen. Entsprechend kann die Frage, was Wahrnehmung ist, welche Struktur
und welche Merkmale sie hat, nur von Phänomenologen beantwortet werden,
während der Physiologe die zugehörigen Begleitvorgänge
im reduktionistisch präparierten Körper des wahrnehmenden Bewußtseins
untersucht. Beide Forscher können harmonisch und ergiebig zusammenarbeiten,
aber Übergriffe stören und verwirren die Einsicht.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 28-30 |
Durch diese Überlegungen zu unbefangener Phänomenologie
ermutigt, kehre ich zur Wahrnehmung des einen Unfall gerade noch vermeidenden
Autolenkers zurück. Was er vor und um sich sieht, ist nicht eine
Konstellation von Sinnesdaten, sondern die Gefahr. .... Das ist eine Beispiel
für Wahrnehmung als leibliche Kommunikation (leibliche
Sprache; HB), und zwar vom Typ der Einleibung, dem ich einen anderen,
aber wesentlich seltener hervortetenden Typ an die Seite stellen werde.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 30-31 |
Ludwig Klages schreibt: »Die feinfühlige Frau aus dem
Volke, die dem heimkehrenden Gatten mit einem Blick leichte Gereiztheit,
dem Sohn leise Verstimmung ansieht, wäre, wenn darum befragt, völlig
außerstande anzugeben, wie die Veränderung z.B. der Gesichtszüge
beschaffen war, aif die sie Urteil stützte. Sie würde sagen,
sie habe leichte Gereiztheit und leise Verstimmung gesehen; das
aber wüßte sie nicht, welche Verschiebung beweglicher Gesichtszüge
mit dem gesehenen Gemütszuständen einherging«
(Ludwig Klages, Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, 1935,
S. 52). So richtig das - bei großzügigem Verständnis der
Rede von Gemütszuständen - auch ist, so möchte ich jetzt,
wo gerade die Deutung des Sehens in Frage steht, der fingierten Frau lieber
eine andere, ebenso gängige Auskunft in den Mund legen: Sie könnte
auf die Frage, wie sie das gesehen habe, antworten, sie habe sich »eigentümlich
berührt gefühlt«, so wie man sich von feierlicher oder
unheimlicher Stille, vor einer eigenartigen Naturstimmung, von der befremdenden
Kühle des Blicks und der Stimme eines Menschen, von einem fesselnden
Proträt »eigentümlich berührt fühlt«.
Dann handelt es sich um leibliche Kommunikation (leibliche
Sprache; HB). Man spürt am eigenen
Leibe, was der vielsagende Eindruck zu sagen hat. So verstehen wir in
der Wahrnehmung durch Einleibung auch andere Menschen vor jeder Deutung
oder Einfühlung, indem wir am eigenen Leibe etwas spüren, was
ihm nicht angehört, hier den anderen, oder was dank der leiblichen
Kommunikation gewissermaßen von ihm ausgeht, nicht viel anders als
das Wetter, die im drohenden oder geschehenden Sturz uns niederreißende
Schwere, den Wind oder den elektrischen Schlag, die gleichfalls am eigenen
Leibe - in diesem Fall sogar nur an ihm, ohne Chance der Ausgrenzung und
Abgrenzung - gespürt werden, aber keineswegs als etwas vom eigenen
Leibe, sondern als etwas, das über ihn kommt, ihn durchzieht oder
auch in sich aufnimmt.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 37-38 |
Einleibung kann man sich als erweiterte Gestalt des vitalen Antriebs
zurechtlegen. Dieser ist durch die antagonistische Konkurrenz von Spannung
und Schwellung schon am eibenen Leib im Keim dialogisch und entfaltet
sich zum Dialog in den rhythmischen Ausprägungen dieser Konkurrenz,
wie bei genügend starker Angst und Wollust. Eine darüner hianusgehende,
beinahe schon echte, aber zwiespältige leibliche Kommunikation tritt
mit dem Schmerz ein, denn dieser ist in paradoxer Spreizung sowohl eigener
Zustand des Gepeinigten als auch ein auf diesen eindringenden Widersacher.
Man sthet gegen seinen Schmerz, muß sich mit ihm auseinandersetzen,
kann nicht in ihm aufgehen wie in panischer Angst und maßloser Wollust.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 43 |
Die Raumstrukturen, die für eine phänomenologische
Durchleuchtung in Betracht kommen, lassen sich auf vier Titel verteilen:
1. Der leibliche Raum. Das ist der
Raum, der ganz von Strukturen der leiblichen Dynamik und leiblichen
Kommunikation bestimmt wird, der elementare, ursprüngliche
Raum, ohne den es keinen Zugang zu erfahrbarer Räumlichkeit
in irgendeinem Sinn gibt. Er wird keineswegs nur im Spüren
am eigenen Leib erfahren, sondern auch das Gehörte, das Gerochene
und zu einem beträchtlichen Teil das Gesehene und das Getastete
haben in ihm Platz. |
2. Der Gefühsraum, in dem sich
Gefühle als räumlich ortlos ergossene, leiblich ergreifende
Atmosphären ausdehnen. Über dieses Vermögen der Gefühle,
im affektiven Betroffensein sich leiblich fühlen zu lassen,
steht der Gefühlsraum in Verbindung mit dem leiblichen Raum. |
3. Der dem Leib durch Fläche
entfremdete Raum, der von mir so genannte Ortsraum, bestehend aus
wechselhaft besetzbaren, relativen, d.h. nur durch ihr gegenseitiges
Verhältnis nach Lage und Abstand bestimmten Orten, die den
Raum vollstädig ausfüllen. Das ist der bereits skizzierte,
die gängige Raumvorstellung leitende, der der Mathematik und
Naturwissenschaft allein bekannte Raum. |
4. Die Wohnung als Kultur der Gefühle
im umfriedeten Raum. In Ihr finden sich alle drei genannten Formen
der Räumlichkeit zusammen. |
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 46-47 |
Gefühle als ortlos ergossene, leinlich ergreifende Atmosphären
sind nicht nur überhaupt räumlich, sondern bilden miteinander
einen Raum eigentümlicher Struktur, die der Struktur des leiblichen
Raumes darin parallel ist, daß sie in der Unterschicht gleichfalls
ungegliederte Weite besitzt, die dann in einer zweiten Schicht von Richtungen
überformt wird. Alle Gefühle bezeichne ich, sofern sie weit
sind, und weil sie als Atmosphären sämtlich weit sind, als Stimmungen,
als reine Stimmungen aber insofern, als sie nichts als weit (d.h.
frei von Richtungen) sind. Gefühle als Atmosphären, die von
Richtungen oder Vektoren durchzogen werden, nenne ich Erregungen,
mit einem Fremdwort könnte man auch von »Emotionen« sprechen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 57 |
Es gibt nur zwei reine Stimmungen: reines erfülltes Gefühl
(Zufriedenheit) und reines leeres Gefühl (Verzweiflung).
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 58 |
Den reinen Stimmungen fügen die reinen Erregungen eine Gerichtetheit
hinzu, die nicht strukturlos, aber diffus ist, Ihre Richtungen unterscheiden
sich konträr von den leiblichen, die unumkehrbar aus der Enge in
die Weite führen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 59 |
Die - erst durch die Modellvorstellungen der Quantenphysik
überholte - Neigung, alle Körper als feste Körper und auch
Flüssigkeiten und Gase als Aggregate kleiner fester Körnchen
(z.B. Moleküle) vorzustellen , geht auf die phantasierte Wunschvorstellung
zurück, überall - gegebenenfalls durch Schnitte - Flächen
finden zu können. Dieses Verlangen nach Flächen mit der Bereitschaft,
Flächen in alles Räumliche hineinzusehen und hineinzudeuten,
entspringt einem tiefen Bedürfnis und einem großartigen Angebot
der Fläche an den Menschen. Mit der Fläche beginnt die Entfremdung
des Raumes vom Leib und damit die Chance einer Orientierung, sich von
den Verstrickungen leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation einschließlich
des Ergriffenseins von Gefühlen so zu lösen und darüber
hinwegzusetzen, daß alles im Raum, was die Vergegenständlichung
übrig läßt, einschließlich des sich findenden Menschen
selbst, hinsichtlich seiner räumlichen Anordnung gleichmäßig
objektiviert und verfügbar gemacht werden kann.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 65-66 |
Wie sehr flächenlose Räume hinter diesem Angebot
zurückbleiben, kann man sich an der Räumlichkeit des Schalls
klar machen. Man kann Richtungen und unumkehrbare Entfernungen vom eigenen
absoluten Ort - daß etwas näher oder weiter weg ist - hören,
aber nicht umkehrbare Abstände, weder der Schallquellen voneinander
noch von sich zu diesen: Man hört zwar, ob etwas mehr oder weniger
nah erschallt, aber man hört nicht ebenso, wie nah man selbst am
Gehörten ist; das kann man sich, aus Quellen des Sehens, des Tastens
und der Eigenbewegung schöpfend, höchstens überlegen, während
man beim Sehen unmittelbar - auch ohne sich selbst zu sehen - mit wahrnimmt,
wie nah man selbst am Gesehenen ist, wie das erörterte geschickte
Wegspringen bei drohender Annäherung einer wuchtigen Masse zeigt.
Eine zusammenhängende Aufgliederung des Raumes nach Lagen und Abständen
ist durch bloßes Hören nicht möglich.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 66 |
Schon unabhängig von der Begegnung mit Flächen können
leibliche Richtungen, die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führen,
bei einem Ziel gleichsam landen und dadurch begrenzt (terminiert) werden.
So etwas geschieht z,B., wenn man auf einen durch Richtung und Entfernung
bestimmten Schall horcht oder einen Feuerschein oder etwas Funkelndes
erblickt. Solche Ziele, durch die Richtungen leiblicher Zuwendung begrenzt
(temliniert) werden, können durch Netze paarender Verbindungen verknüpft
werden, z.B. wenn man sich aus Konstellationen am klaren nächtlichen
Himmel Sternbilder zurechtlegt. Das ist der Ursprung der den Zug der leiblichen
Richtungen in die Tiefe querenden Breite, längst bevor eine dem Menschen
frontal gegenüberstehende Ebene in Betracht kommt. Wenn es in dieser
Breite keine Fläche gäbe, müßten die Netze zwischen
den Termen der terminierten Richtungen immer neu geknüpft werden,
sobald diese Richtungen selbst sich verändert haben, etwa durch Bewegung
oder veränderte Körperhaltung. Sobald in der Breite aber Flächen
auftauchen, gewinnt das Knüpfen der Netze Gelegenheit zur Konstanz
seiner Resultate gegenüber solchen Variationen. Flächen sind
nämlich Spielräume für Auf-, Ab- und Umbau von Netzen paarender
Verbindungen zwischen Termen von Richtungen des leiblichen Richtungsraums,
worin jene Terme der Abhängigkeit von den Besonderheiten und Veränderungen
leiblicher Richtungen weitgehend entzogen sind; und zwar sind sie unter
allen solchen Spielräumen diejenigen, die keine anderen voraussetzen.
Mit der Schlußklausel nehme ich Rücksicht darauf, daß
auch dreidimensionale Gebilde als solche Spielräume fungieren können,
aber nur, wenn sie Wände haben, d.h. unter der Voraussetzung von
Flächen. In die Flächen oder von Flächen berandete Gebiete
können die Richtungsterme und ihre Verbindungen so eingetragen werden,
daß sie wiedergefunden werden können, wenn die terminierten
leiblichen Richtungen durch andere ersetzt werden, z.B. bei Drehung des
Körpers, der den sich richtenden Leib beherbergt. Dadurch entsteht
die für den Übergang vom Richtungsraum zum Ortsraum entscheidende
Möglichkeit, die paarenden Verbindungen nach beiden Seiten abzulesen,
d.h. die unumkehrbaren Entfernungen in umkehrbare Abstände zu überführen,
womit dann auch umkehrbare Lagebeziehungen verbunden sind. Piaget hat
an seinem wenig mehr als einjahr alten Töchterchen eine hübsche
Beobachtung gemacht, die als Zeugnis für diesen dramatischen Fortschritt
der räumlichen Orientierong gedeutet werden kann: »Jacqueline,
mit 1; 1 (7), sitzt auf der Erde und hält einen Stab in den Händen.
Sie schafft ihn hinter sich, indem sie ihren Arm auf den Rücken legt,
und dreht sich dann, um ihn zu suchen. Während der ersten Versuche
sucht sie ihn in der Richtung, in die sie ihn befördert hat. [...]
Aber während der folgenden Versuche wendet sie sich in die andere
Richtung: Wenn sie den Stab befördert hat, indem sie den linken Arm
auf den Rücken legte, wendet sie sich nach rechts, um ihn zurückzuerlangen,
und umgekehrt. - Dieses Verfahren wiederholt sich viele Male während
der folgenden Wochen.« (Jean Piaget, a.a.O.).
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 66-68 |
Mit der Konstruktion zweiseitig ablesbarer Abstände und Lagebeziehungen
zwischen Richtungstermen ist der Ortsraum noch keineswegs erreicht, denn
die Abstände und Lagen in ihm betreffen nicht irgendwelche Objekte,
die sich zufällig einmal als Terme für Richtungen leiblicher
Zuwendung anbieten, sondern relative Orte, deren System invariant gegen
den Wechsel solcher Objekte ist. Um von den Richtungstermen zu den relativen
Orten überzugehen, bedarf es der mathematischen Operation der Restklassenbildung
nach einer Äquivalenzrelation, d.h. einer zweistelligen, symmetrischen
(d.h. mit a Rb auch l:mmer b Ra) und transitiven (d.h. mit a Rb und b
R c auch immer a R c) Relation, die, wie man leicht zeigen kann, einen
Gegenstandsbereich, den sie überdeckt, vollständig in elementefremde
Restklassen einteilt, so daß kein Objekt des Bereichs zu mehr als
einer solchen Klasse gehört. Man mag staunen, daß jedermann
so abstrakte Objekte wie Restklassen sehen kann, wenn er den Ort sieht,
an dem sich irgendein Objekt befindet, aber nicht anders verhält
es sich mit den Zahlen, die jemand sieht, wenn er etwas abzählt,
oder auch ohne Zählen auf einen Schlag sieht, daß da z.B. 2
Leute sind; denn auch Zahlen beruhen auf Restklassen nach einer Äquivalenzrelation,
die in der Möglichkeit umkehrbar eindeutiger Abbildung zwischen Mengen
besteht. Restklassen sind Umfange von Gattungen, und das Sehen von Gattungen
ist trivial, wenn auch vom grundfalschen Dogma des Nominalismus geleugnet,
und sogar Voraussetzung dafür, daß irgendwelche Einzelwesen
gesehen werden; nur freilich handelt es sich um vorbegriffliche Gattungen,
deren explizite Darstellung Sache künstlicher Theorie ist. (Vgl.
mein Buch: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, 1994, S. 40-49
und 92-96.) Ich habe die Äquivalenzrelation, die den Übergang
von den zufallig wechselnden Objekten zu den konstanten relativen Orten
als Beziehungsgliedern der Lage- und Abstandsbeziehungen ermöglicht,
im Anschluß an Überlegungen von Leibniz in seinem 5. Schreiben
an Clarke (1716) explizit angegeben; es handelt sich um die Gleichheit
der Lage- und Abstandsbeziehungen zu mehreren ruhenden Objekten. (Vgl.
von mir: Was ist Neue Phänomenologie?, 2003, S. 54-62: Raum
[dort S. 61, Anmerkung 35 der Ortsdefinition]; Situation und Konstellation.
Wider die Ideologie totaler Vernetzung, 2005, S. 186-217: Der erlebte
und der gedachte Raum. Die Dimensionierung des Raumes.) Ohne ruhende Sachen
in Anspruch zu nehmen, läßt sich gar nicht sagen, was ein Ort
des Ortsraums ist. Daraus kann man die Abkünftigkeit des Ortsraums
erweisen, und zwar in dem Sinn, daß er schon rein logisch nur gleichsam
als Parasit des leiblichen Richtungsraums möglich ist. Ruhe setzt
die Unterscheidbarkeit von Ruhe und Bewegung voraus. Die ist aber im Ortsraum
nicht gegeben, weil Bewegung in diesem Rahmen nur als Ortswechsel und
dieser nur als Lage. und Abstandsänderung aufgefaßt werden
kann; eine solche Änderung im Verhältnis zwischen A und B kann
aber ebenso z.B. als Annäherung von A an B wie von Ban A, entsprechend
für Entfernung voneinander, aufgefaßt werden, so daß
es beliebig ist, ob die Ruhe bzw. Bewegung dem A oder dem B zugeschrieben
wird. Diese Relativität, die schon Kant in seiner frühen Schrift
Neuer Lehrbegriff der Ruhe und Bewegung herausgearbeitet und Einstein
nur fortgeschrieben hat, wurzelt in Ablesbarkeit der Abstände und
Lagen an umkehrbaren Verbindungsbahnen. Die Unterscheidbarkeit von Bewegung
und Ruhe ist Bedingung für den Ortsraum, kann in ihm selbst aber
nicht hergestellt werden und weist ihn daher auf eine tieferliegende Raumstruktur
zurück. Diese ist faktisch, wie sich aus den Darlegungen zur Genese
des Ortsraums ergibt, der leibliche Richtungsraum, in dem die Bewegung
in der Tat unabhängig vom Ortswechsel heimisch ist, wie die dargelegte
große Bedeutung der Bewegungssuggestionen für den Richtungsraum
zeigt.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 68-70 |
Die kinderpsychologische Beobachtung von Piaget, und nicht allein
sie, legt die Vermutung nahe, daß der durch das Auftauchen der Fläche
ermöglichte Übergang der Orientierung vom Richtungsraum zum
Ortsraum ein Reifungsschritt ist, wichtig für die Entwicklung der
Persönlichkeit, die personale Emanzipation aus den tierhaften Anfangsstadien
des Menschenlebens. Diese Vermutung läßt sich präzisieren
durch Angabe von drei für die personale Emanzipation wichtigen Konsequenzen
des Vorkommens von Flächen: Dieses Vorkommen
1. |
entlastet von leiblicher Kommunikation, |
2. |
gewährt einen Spielraum für beliebige,
auf diese Weise entlastete Kombinationen und |
3. |
gestattet dem Wahrnehmenden, sich selbst als
räumliches Objekt unter Objekten dem Ortsraum einzuordnen. |
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 70 |
Zu 1.: Leibliche Kommunikation kommt in zwei Gestalten
vor, als Ausleibung und als Einleibung. Ausleibung ist leibliche Kommunikation
mit prädimensionaler Tiefe, z.B. jedes Raumes, des Glanzes, der Wärme,
hintergründiger Aromen usw., ein tranceartiges Ausfließen;
sie wird als Zug in die Tiefe des Raumes durch die querende Fläche
abgeschnitten. Einleibung spielt sich mit Bewegungssuggestionen auf dem
Netz- und Fächerwerk der unumkehrbaren leiblichen Richtungen ab,
namentlich als suggestiver und aggressiver Sog von Dingen und Halbdingen.
Diese Dynamik wird durch die das Gefalle der leiblichen Richtungen schneidende
Fläche gebremst, so daß der Bann, mit dem die Umgebung den
Wahrnehmenden leiblich in Anspruch nimmt, gedämpft und gelockert
wird. Ein sprechender Beleg dafür ist der von Wölfflin aufgedeckte
Gegensatz zwischen dem barocken Tiefenstil, der nach meiner Auslegung
(vgl. System der Philosophie, a.a.O.) einer Dramatisierung des
leiblichen Befindens und der leiblichen Kommunikation in der Dimension
von Engung und Weitung entspricht - als engendes Andrängen aus der
Tiefe und weitender Sog in die Tiefe des Raumes -, und dem kühleren,
dem Betrachter mehr Abstand und leibliche Neutralität gewährenden
Flächenstil der Kunst des 16. Jahrhunderts, die den Bildraum scheibenartig
durch quer sich bereitende Flächen in verschiedene Gründe zerlegt.
(Vgl. Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe,
1915, S. 91-143.)
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 70-71 |
Zu 2.: Diese entlastende Wirksamkeit der Fläche wird darin
fruchtbar, daß diese sich als Spielraum für beliebige Aus-
und Umgestaltung von Netzen paarender Verbindung zwischen Termen leiblicher
Richtung (z.B. Blick- und Greifzielen) anbietet. Flächen verbinden
solche Terme pauschal, indem sie diese aus den Richtungen leibliche Kommunikation
in ihr leibfremdes Element übernehmen, worin beliebig, ohne den Druck
der suggestiven Einleibung, Verbindungen jener Terme geknüpft und
gelöst werden können. Die Fläche wird damit zum Laboratorium
der kombinatorischen Phantasie. Kinder nützen diese Chance mit ihrem
frühesten Zeichnen von Kritzellinien, die den »Maccaronilinien«
in paläolithisch bearbeiteten Höhlen mehr oder weniger ähneln
und sich schließlich durch Konzentration auf Punkte zu bewußt
gestalteten Formen entwickeln. In der Gabe, zeichnend etwas darzustellen,
meldet sich die Fähigkeit, sich in der Fläche sozusagen ein
leibfremdes Sondervermögen anzulegen statt durch Einleibung Sklave
der Dinge und Halbdinge, überhaupt der Reize zu bleiben.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 71-72 |
Zu 3.: Dazu kommt die spiegelnde Leistung der querenden Fläche,
so daß der absolute Ort an der Quelle der unumkehrbaren leiblichen
Regungen einen reflektierenden Partner gewinnt. Indem die Richtungsterme
in dieses leibfremde Sammelbecken Fläche aufgenommen werden,
treten sie dem Wahrnehmenden so gegenüber, daß die Verbindungsbahnen
gleichmäßig nach beiden Seiten ablesbar werden, statt daß
sich nur, wie beim Tausch der Blicke, eine unumkehrbare leibliche Regung
mit einer entgegnenden anderen deckt. So erst lernt der Mensch, in einem
buchstäblichen Sinn zu reflektieren, d.h. in der räumlichen
Orientierung auf sich zurückzukommen und sich seinen Platz unter
den Dingen, seinen relativen Ort, anzuweisen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 72 |
Noch einen weiteren wichtigen Beitrag zur Ausgestaltung des Ortsraums
leistet die Fläche als Quelle der Dimensionierung, nämlich mit
der Möglichkeit, Stufen der Ausdehnung im Raum durch Dimensionszahlen
zu unterscheiden, wobei die Eindimensionalität der Linie oder der
Strecke, die Zweidimensionalität der Fläche und die Dreidimensionalität
dem Körper zugewiesen wird. Diese Dimensionierung ist aber auch nach
Einführung der Fläche nicht selbstverständlich. Die Verbindungen
zwischen den Richtungstermen in der Fläche könnten statt linear
auch prädimensional wie die Flächenfarben nach' Katz sein. Ein
Punkt wäre dann kein Raumgebilde nullter Dimension, sondern so etwas
wie das »Pünktchen«, als das uns ein sehr ferner, am
Horizont auftauchender Gegenstand erscheint, prädimensional oder
dimensional unentschieden. Glatte Flächen sind ohne weiteres sinnfallig;
es trifft nicht zu, daß man sich erst mit Körpern befassen
rnüßte, um sie als deren Zubehör zu entdecken. Dagegen
kommen Strecken und Punkte nur als Kanten an Flächen bzw. als Ecken
an Kanten zum Vorschein. Ob ein Abstieg von der Fläche zu diesen
niedriger-dimensionalen Gebilden gelingt, wird also davon abhängen,
ob ein sinnfälliges Kennzeichen der Kanten und Ecken angegeben werden
kann, das sie als Brüche im Aufbau der dimensional übergeordneten
Gestalten erkennen läßt; nur dann läßt sich der
Verdacht abwehren, daß es sich bei strikt ein- bzw. nulldimensionalen
Strecken und Punkten um unsinnliche Idealisierungen prädimensionaler
Übergänge nach Art der Flächenfarben und des Pünktchens
am Horizont handle.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 72-73 |
Welches Merkmal kommt für die Kanten in Frage? Ich fasse
zunächst kantenlose Flächen ins Auge. Diese sind entweder eben
und dann (außer bei besonderer Stellung im Raum) leiblich charakterlos
oder gekrümmt und dann durch ihren leiblich charaktervollen Gestaltverlauf
dem Regenschirmprinzip in irgendeiner Variante unterworfen, also auf ein
in1aginäres Zentrum bezogen, das entweder stabil oder in stetigem
Gleiten begriffen ist. An einer Kante verschiebt sich dagegen ruckartig
der Gestaltverlauf, und zwar in1 Verhältnis zu Ebenen, indem er deren
leibliche Charakterlosigkeit in die Darstellung epikritischer Tendenz
umschlagen läßt, und im Verhältnis zu gekrümmten
Formen, indem er eine ruckartige -nicht, wie vielfach schon bei kantenloser
Krümmung, stetig sich verschiebende -Umorientierung bei Anwendung
des Regenschirmprinzips erzwingt. Dieser Umstand gestattet eine phänomenologische
DefInition der Strecke: Die Strecke (als Kante) ist das Gestaltmerkmal
einer beschränkten Fläche, das für eine über diese
hingleitende (optische oder taktile) Zuwendung eine ruckartige, plötzliche
Änderung des Gestaltverlaufs der Fläche mit sich bringt. Ob
dieses Gestaltmerkmal vollständig breitenlos ist, wird damit nicht
präjudiziert. Strecken, die keine Kanten sind, können als phantasierte
Kanten phantasierter Flächen aufgefaßt werden.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 73-74 |
Die Punkte als Ecken können entsprechend als Kanten zweiter
Stufe eingeführt werden, die sich zu den Kanten erster Stufe verhalten,
wie diese zu den Flächen. Solche Punkte haben, wenn von den Kanten
erster Stufe abgesehen wird, keine eigenen Gestaltverläufe (Bewegungssuggestionen)
mehr, so daß das Verfahren des Abstiegs von den Flächen durch
Brüche in den Gestaltverläufen nicht mehr fortgeführt werden
kann. Das ist nicht selbstverständlich. Der Abstieg könnte durch
mehr als zwei Stufen möglich sein; dann wäre die Fläche
mehr als zweidimensional. Nun aber kann, vom Punkt mit O beginnend, die
Bezifferung so aufsteigen, daß sie mit 2 bei der Fläche und
dann mit 3 beim Körper anlangt, wobei der Abstieg vom Körper
zur Fläche in derselben Weise möglich ist wie derjenige von
der Fläche zur Kante, von der Kante zur Ecke als dem Punkt, der wirklich
Ecke oder phantasierte Ecke phantasierter Flächen eines phantasierten
Körpers ist. Das prädimensionale Volumen ist damit, soweit die
Fläche dazu Gelegenheit gibt, zum dimensionalen weitergebildet worden.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 74 |
Leiblicher Raum, Gefühlsraum und dem Leib entfremdeter
Ortsraum wechseln sich im Erleben, Verhalten und Verständnis des
normalen Erwachsenen ohne Ordnung ab und durchdringen einander in zufälliger
Mischung. Eine ausgezeichnete Gelegenheit, alle drei Gesichter des Raumes
in gestalteter Integration beisammen zu finden, ist das Wohnen. Es findet
zumeist in Bauten statt, die konstruktiv dem Ortsraum abgewonnen sind,
und durch Bewohner, die unvermeidlich dem Weiteraum und dem leiblichen
Richtungsraum angehören; das Spezifische des Wohnens besteht aber
in der Weise, wie der Gefühlsraum in diesem Medium geformt wird.
Wohnen ist nicht nur Leben in einem Haus; wer in Geschäften viel
unterwegs ist, lebt nicht weniger unter einem Dach als ein seßhafter
Familienvater, aber er wohnt nicht, solange er hastig die Quartiere wechselt.
Wohnen ist Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum, wobei sich der
Mensch mit den abgründigen Atmosphären, die diesen durchziehen,
so arrangiert, daß er zu ihnen ein Verhältnis findet, in dem
er mit einem gewissen Maß an Harmonie und Ausgeglichenheit leben
kann. Zur Wohnung in diesem Sinn gehört nicht einmal die Sorge für
die täglichen Verrichtungen des Essens, Schlafens, Ausscheidens usw.
Diese Sorge ist spezifisch nur für die häusliche Wohnung; in
noch reinerem Maß als diese sind aber die Kirche und der Garten,
auch das japanische Teehaus Wohnungen im angegebenen Sinn.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 74-75 |
Die Räumlichkeit der Gefühle tritt eindringlich daran
hervor, daß Menschen immer wieder solcher Wohnungen statt bloßer
Unterbringungen unter Dach und Fach -bedürfen, um die Gefühle
in gewisser Weise einzufangen, zu verwalten und an ihnen zu gestalten.
Wie das gelingen kann, ist allerdings schwer zu begreifen. Gefühle
sind als Erregungen abgründig ergreifende Atmosphären, deren
Abgründigkeit ebenso wie die ungegliederte Weite der ebenso ergreifenden
reinen Stimmungen eine umfriedende Hegung auszuschließen scheint.
Aber man braucht sich nur entspannt in einen Sessel zu setzen, dessen
Rückwand und seitliche Armlehnen den Körper auf drei Seiten
umgeben, die Arme aufzulegen und die Augen zu schließen, als ob
ein Vorhang nach vorn fiele; dann lernt man so etwas wie ein Urphänomen
des Wohnens im angegebenen Sinn kennen. Man hat sich aus dem Ortsraum
zurückgezogen; dafür öffnet sich eine von diesem sonst
verdeckte Weite, in die man den sogenannten Blick nach innen richten kann,
der so heißen mag, obwohl die Rede vom Innern vielen irreführenden
Assoziationen ausgesetzt ist. Dieses sogenannte Innere ist eine von Richtungen
durchzogene Weite, in der Gefühle und leibliche Regungen freier steigen
und der Sitzende ihnen offener steht als sonst, während sie ihm,
vielleicht mit Erinnerungen und Erwartungen, durch den Sinn gehen. Dabei
gibt ihm die Umfriedung durch Sitz und Augenschluß eine Gestaltungskraft
der Besinnung, in der sich diese Impulse klären und ausgleichen können.
Um solcher Gunst des Augenschlusses willen halten Beter die Hände
vor die Augen, so wie die Römer mit verhülltem Haupt zu beten
pflegten, sicherlich auch im Interesse der Umfriedung. Dabei handelt es
sich nicht nur um ein Abschalten äußerer Reize; dem würde
das Verstopfen der Gehörgänge mit den Fingern im allgemeinen
besser dienen, da Geräusch den Menschen noch mit jeder Wendung seines
Körpers verfolgt, während er optischen Reizen oft schon ausweichen
kann, indem er sich oder auch nur den Kopf dreht. Entscheidend für
die Gestaltungskraft, die dem Menschen durch den Anteil des Augenschlusses
an der Umfriedung im Gefühlsraum zuwächst, ist vielmehr das
Abziehen des Blicks aus der Richtung nach vorn, aus dem Gesichtsfeld,
das ortsräumlich und dimensional gegliedert ist; zum Blick, dieser
starken und ständigen leiblichen Regung, gibt es an den Ohren keine
Entsprechung.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 75-76 |
Das Experiment des Augenschlusses im entspannten, umfriedeten
Sitzen zeigt, daß sich das Abg'ründige der Umfriedung fügen
kann, freilich nicht so, daß es in deren Rahmen fest verschlossen
wäre, aber in einem Kommen und Gehen, das verweilende Verdichtung
in einem umgrenzten Raum zuläßt, in dem das menschliche Gestalten
für das Verfügen an Atmosphären eine Chance hat, während
jenseits der Umfriedung, im abgründigen Draußen, auf der Straße,
im Wald, auf dem Wasser, die gleichsam rohen Mächte des Gefühls
ihr mehr oder weniger unheimliches Wesen treiben. Jedes Wohnen sucht diese
Chance zu nutzen. Wohnen ist ein Verfügen über Atmosphärisches,
sofern dem Verfügen durch die Umfriedung ein Spielraum gewährt
wird; daher ist die Wohnung ein geschützter Raum, in dem der Mensch
dank der filternden Umfriedung in gewissem Maß Gelegenheit hat,
sich mit den reinen Stimmungen und den abgründigen Erregungen zu
arrangieren, indem er sie in einer Hinsicht züchtet, in einer anderen
dämpft und so im günstigen Fall für ein schonendes, aber
auch intensives und nuancenreiches Klima des Gefühls sorgt. Dafür
gibt es Techniken, die spontan entstanden sind und mehr oder weniger unabsichtlich
beherrscht werden. Zu den raffiniertesten gehört die in Deutschland
ausgebildete Gemütlichkeit. Gemütlich wird eine Wohnung u.a.
durch milde Wärme, mildes, weiches, schwimmendes Licht oder Halbdunkel,
sonores, dunkles Hintergrundgeräusch wie Knistern und Knarren; zu
einem Inbild ausgezeichneter Gemütlichkeit finden sich diese Züge
am Kamin zusammen, in dem ein offenes Holzfeuer brennt. Auch schwere,
massige, gefurchte Dinge mit eigenwilliger Physiognomie begünstigen
die Gemütlichkeit, mit der dagegen das Frostige, Bleiche, Schrille
und Grelle unverträglich sindDiese Umstände gemütlichen
Wohnens sind unerläßlich für die weiche, fließende
Einbettung des Menschen in einen gefühlsträchtigen Hintergrund,
der etwas vom abgründigen, nicht ganz geheuren, nicht durchgeformten
Draußen in die Wohnung einschleppt, aber so, daß diese durch
ihre Umfriedung gegen ein massiv fremdes, unwirtliches, unheimliches Draußen
abgehoben ist. Gemütlichkeit ist etwas Nordisches; sie wächst,
wenn es draußen kalt und dunkel ist, wenn z.B. am Weihnachtsabend
draußen Schnee liegt. Auf solche Weise kommt etwas Zwiespältiges
in die Gemütlichkeit; die hintergründige Weite ist zweimal da,
aber mit verschiedenen Funktionen: einmal als die abgründige Weite
des Draußen, die durch die Umfriedung ausgeschlossen wird, und sodann
als einbettender, bergender Hintergrund in der Wohnung, die mit dem Abgründigen
gleichsam geimpft ist. Durch diesen Kunstgriff, mit der Umfriedung das
Abgründige zu entzweien, gewinnt dieses eine Epiphanie, in der es
vertraut und verfügbar wird, während die unheimliche, rohe Windnatur
der Erregungen ins Draußen gebannt ist. Ihr aber verfällt der
Mensch bei plötzlichem Verlust der Abschirmung durch die Wohnung.
Ein tiefsinniges Symbol dieser Katastrophe zeichnet die isländische
GrettirSage. Grettir kämpft zunächst im Haus mit dem Riesen
Glam, der ihm dort nicht gewachsen ist, ihn aber beim Fall rückwärts
durch die Tür mit nach draußen reißt: »In dem Augenblick
nun, da Glam fiel, zog eine Wolke von dem Mond fort, und Glam stierte
mit den Augen dagegen. Und so hat Grettir selbst gesagt, daß dies
der einzige Augenblick war, der ihn mit Entsetzen erfüllt habe. Da
wurde ihm so elend zumute, daß er aus Erschöpfung und weil
er sah, wie Glam seine Augen rollen ließ, nicht vermochte, sein
Schwert zu brauchen, sondern fast zwischen Leben und Sterben lag.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 76-78 |
Bisher wurde nur die häusliche Wohnung in Betracht gezogen.
Es gibt aber auch andere Wohnungen in meinem Sinn, also umfriedete Stätten
einer Kultur der Gefühle, die nicht Seelenzustände sind, sondern
abgründig ergreifende Atmosphären. Vorhin habe ich dafür
schon 'die christliche Kirche und den Garten benannt. Eine angemessene
WÜrdigung der anthropologischen Bedeutung des Gartens ist nur möglich,
wenn er als Stätte einer Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum
verstanden wird. Maßgebend für das Gelingen einer solchen Kultur
ist die umfriedende Grenze; sie behält ihre Bedeutung für den
Garten sogar da, wo Zaun und Mauer im englischen Landschaftsgarten des
18. und 19. Jahrhunderts entfallen, denn das wird nur möglich durch
die kulturspezifische Erziehung zu einem die objektive Rahmung entbehrlich
machenden rahmenden Sehen der Landschaft als Bild, wodurch in anderer
Weise auch die Würdigung der ästhetischen Vorzüge des Anblicks
des Hochgebirges eingeleitet wird. Statt darauf einzugehen, will ich nur
noch ein Beispiel für die Gestaltung ungefllterter Atmosphären
zur gefilterten Wohnung im heiligen Raum der Kirche geben: Unter den sinnlichen
göttlichen Atmosphären ist vielleicht die mächtigste der
Himmel, der im christlichen Sprachgebrauch zur Phrase abgeschliffen ist,
während er bei den antiken Heiden, aber auch bei den tibetischen
Lamas eine ungeheure numinose Eindringlichkeit besitzt, die sicherlich
mit seiner stärkeren Farbigkeit und Strahlung im Süden bzw.
im Gebirge zusammenhängt; es handelt sich eigentlich nicht um das
in einem beträchtlichen Abstand wie der Rand einer konkaven Halbkugel
gesehene blaue Gewölbe, sondern, wie ich mich ausgedrückt habe,
um die »Autorität des Leuchtenden in der Weite und Tiefe des
Raumes«. (Hans Sedlmayer, Die Entstehung der Kathedrale,
1950, S. 53.) Wie diese Autorität des Leuchtenden im umfriedeten
Raum der Kirche der Kultur göttlicher Gefühle zugeführt
wird, beschreibt Sedlmayr an den gotischen Kirchenfenstern mit bunter
Glasmalerei so: »[ ...] das Licht, das die Kathedrale erhellt, scheint
überhaupt nicht von außen zu kommen. Wenn man den Eindruck
ganz unbefangen beschreibt, muß man sagen: das Licht geht von den
Wänden aus, die Wände leuchten. Der Eindruck rührt davon
her, daß die Glasscheiben zwar lichtdurchlässig, aber durch
ihre starke Färbung undurchsichtig sind. Der Eindruck ist zwingend
bei diffusem Außenlicht und besonders in der Dämmerung. Dann
kann nicht einmal das Wissen darum, daß das Licht von außen
kommt, das Erlebnis der geheimnisvoll selbsdeuchtenden Wände ändern.«
(Ebd..) Die Atmosphären werden im Kirchenraum durch dieselben Brückenqualitäten
kultiviert, die auch Wahrnehmung durch Einleibung vermitteln, weil sie
ebenso an wahrgenommenen Gestalten aufscheinen wie am eigenen Leib gespürt
und dort von den leiblich ergreifenden Gefühlen mobilisiert werden:
Beim Leuchten der Glasfenster heften sich die Atmosphären, die Gefühle
sind, an einen synästhetischen Charakter; welche enorme Bedeutung
andererseits die Bewegungssuggestionen für die Leibverwandtschaft
kirchlicher Bauformen besitzen, habe ich, nach Kunststilen differenzierend,
für byzantinische, barocke, romanische und gotische Innenräume
nachgewiesen, indem ich die betreffenden Bewegungssuggestionen mit der
schon erläuterten Methode im Hinblick auf leibliche Dynamik analysiert
habe. (Vgl. System der Philosophie, a.a.O..) Indem die Bewegungssuggestionen
als Gestaltverläufe in den Kirchenräumen ausgebildet werden,
stellen sie je nach ihrer leiblich dynamischen Bedeutung eine spezifische
leibliche Empfanglichkeit für Gefühle dar und kultivieren damit
die Gefühle im umfriedeten Raum der Kirche.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 78-80 |
Das affektive Betroffensein von Gefühlen ist immer leiblich.
In Gestalt leiblicher Regungen lassen sich Gefühle als ergreifende
Atmosphären im Leib nieder und geben ihm mit erstaunlicher Sicherheit
angemessene Gebärden ein. Das geschieht durch Bewegungssuggestionen
und synästhetische Charaktere. Diese sind Brückenqualitäten,
die ebenso am eigenen Leib gespürt wie an Gestalten wahrgenommen
werden. Wo immer sie an Gestalten aufscheinen, können die Gefühle
sich in diesen wie in Leibern niederlassen, und zwar als objektive, nicht
gespürte Gefühle, wie der »sanfte Geist des Ernstes«,
der nach Mörikes Gedicht Auf eine Lampe an der schönen
Lampe im fast vergessenen Lustgemach lachend und reizend um die ganze
Form ergossen ist; von da aus gehen sie durch leibliche Kommunikation,
Einleibung oder auch Ausleibung, als ergreifende Mächte dem kommunizierenden
Leib spürbar »unter die Haut«. Das ist der Mechanismus
der unmittelbaren, nicht assoziativ geweckten Gefühlsmächtigkeit
begegnender Gestalten, egal, ob sie von Natur aus oder durch Zufall oder
als Kunstwerk von Menschenhand vorliegen. So werden Atmosphären des
Gefühls durch Dinge und Halbdinge vermittelt, z.B. durch Gewitterwolken
am Himmel, die Färbung des Sonnenuntergangs, das Mondlicht mit seiner
vielbesungenen verzaubernden Kraft, ein stolz schreitendes Pferd, ein
holdes oder tückisches Lächeln, einen Klang. Die Beispiele sind
ubiquitär.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 84 |
Alle wahrnehmbaren Gestalten, in denen sich durch Gestaltverläufe
und synästhetische Charaktere objektive Gefühle niedergelassen
haben, bereit, durch leibliche Kommunikation in das affektive Betroffensein
fühlender Wesen einzugreifen, bezeichne ich, bloß um einen
Namen zu haben, als ästhetische Gebilde. Ich gebe zu, daß
dieser Name etwas Irreführendes hat, weil er den Anschein nahelegen
kann, daß die Brisanz dieser Gebilde bloß ästhetisch
und damit mehr oder weniger unverbindlich sei, wie das freie Spiel der
Gemütskräfte in der ästhetischen Urteilskraft nach Kant.
Hier ist der Name motiviert durch den Zusammenhang mit Erörterungen,
die traditionell in den Themenbereich der Ästhetik gehören.
Der Sache nach könnte man, freilich verkehrte Assoziationen anregend,
ebenso gut von ethischen Gebilden sprechen. Gefühle stellen nämlich
Ansprüche, haben Autorität. Darauf wurde schon eingegangen,
als ich vom sozialen Gefühlskontrast sprach, der dadurch entsteht,
daß konträre Atmosphären mit ihren entgegengesetzten Ansprüchen
in einer gemeinsamen Situation in Konflikt geraten. Das habe ich an der
Autorität der Trauer, die Respekt gebietet, aufgewiesen. Noch energischer
kann die Autorität der Scham sein, die den Beschämten (im Sinne
des von Scham Ergriffenen) nötigt, der Demütigung durch die
ergreifende Macht des Gefühls zuzustimmen, und als Atmosphäre
auf die beim Beschämten (im Sinne des Verdichtungsbereichs der Scham)
anwesenden feinfühligen Mitmenschen eventuell so ausstrahlt, daß
es ihnen schon peinlich ist, dabei zu sein. Die Autorität des Zorns
fordert Vergeltung und gewinnt dabei unter umständen als Empörung
moralischen Rang. Die Autorität der Freude ist ein mitreißender
Impuls, der alles zur Einstimmung in den gemeinsamen Aufschwung herausfordert,
wie Schiller in seinem von Beethoven vertonten Hymnus rühmt. Alle
Gefühle haben Autorität und stellen Ansprüche. Ästhetische
Gebilde strahlen sie aus, wie heilige Innenräume, die den Eintretenden
unter das Gesetz der Ehrfurcht stellen; ein geflügeltes Wort wurde
die Botschaft, die Rilke aus seiner feinfühlig nachspürenden
Vertiefung in einen archaischen Torso Apollos mitbrachte: »Du mußt
dein Leben ändern.« Wie diese Forderung konkretisiert werden
kann, verdeutlicht Adolf Heckel mit dem Schwung der Rilkezeit an der Kunstform
des romanischen runden Bogens mit seinem Tragwerk: »Daß Stolz
nicht Demut ausschließt, Erdentüchtigkeit nicht metaphysische
Hingabe, daß Freiheit möglich ist in Gebundenheit: solche umfassende
Ordnungswelt kündet uns die Ruheformel des Runden Bogens. Deutsche
Jugend weiß sie zu deuten.« (Der Runde Bogen.) »Mißtrauisch
gegen barocken Prunk, zweifelnd vor der Logik gotischer Konstruktionen,
weiß deutsche Jugend in Paulinzella oder Alpirsbach sich daheim.
Diese schmucklosen Säulen, diese Würfelkapitelle: So müßte
man sein! So sollte man leben!.« (Ebd..)
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 84-86 |
Solche Ansprüche ergreifender Atmosphären werden
zur Irritation, wenn sie in nicht oder nur prekär ausgleichbaren
Widerspruch geraten. Das haben die Griechen an ihren Göttern, die
konkretisierende Figuren solcher Atmosphären sind, und an der Tragik
oder Zerrissenheit von Menschen, die im Bann des Konflikts solcher Götter
stehen, mehrfach in Mythos und Dichtung herausgearbeitet: Orestes zwischen
Apollon und den Erinnyen, Hippolytos zwischen Aphrodite und Artemis. Um
sich im Konzert der Ansprüche konkurrierender Gefühlsmächte
zu behaupten, ohne die Ergriffenheit zu verleugnen - was verlogen und
steril wäre -, bedarf der Mensch einer Distanz in der Ergriffenheit,
die ihm in der ästhetischen Andacht geschenkt wird. Er bedient
sich dabei eines Distanzierungsvermögens, das ich als personale Emanzipation
durch Entfaltung der primitiven Gegenwart bezeichne. Es handelt sich um
einen Begriff von Gegenwart, der nicht auf einen Zeitpunkt und nicht einmal
auf einen bloß zeitlichen Sinn abzielt. Vielmehr
gehe ich davon aus, daß sich das wache, besonnene Leben des Erwachsenen
normalerweise in der Orientierung an fünf Dimensionen abspielt, die
jeweils durch ein polares Paar abgesteckt werden: das räumliche Hier
und die Weite, das zeitliche Jetzt und die gleitende Dauer des Dahinlebens
und Dahinwährens, Sein und Nichtsein, Identität und Verschiedenheit,
das Eigene und das Fremde. Alle Ereignisse eines plötzlichen Betroffenseins,
z.B. durch Schreck, Schmerz, Erschütterung, lassen diese Entfaltung
der Gegenwart nach fünf Seiten schwinden, indem die ersten Glieder
der fünf Polaritäten verschmelzen: Hier, Jetzt, Sein, Identität
und die Subjektivität, daß es sich um mich selbst handelt,
fallen auf der Spitze des Plötzlichen zusammen, die durch den Einbruch
des Neuen aus der gleitenden Dauer abgerissen wird. Diese primitive Gegenwart
ist ein seltener Ausnahmezustand, übt aber als Verankerungspunkt
des vitalen Antriebs ständig einen unentbehrlichen Einfluß
auf die leibliche Dynamik aus, wodurch sich Tiere und Menschen aus dem
bloß vegetativen Dahinleben in gleitender Dauer erheben. Sie ist
nämlich die Enge des Leibes, auf die hin die Spannung im vitalen
Antrieb gegen die Weitung den Leib zur Einheit zusammenhält, und
ist daher auch im Latenzzustand noch spürbar oder vorgezeichnet als
Verankerungspunkt der Beklommenheit, von der der Mensch, solange er bei
Bewußtsein ist, nie ganz loskommt, wohl aber teilweise durch privative
Weitung, die als Erleichterung, als Freiwerden im beflügelten Schwärmen,
gespürt wird und gerade durch solche Privation die primitive Gegenwart
als das Wovon der Abgelöstheit offenbart. Während das tierische
Erleben, und das kindliche im frühen Säuglingsalter, ganz von
gleitender Dauer, primitiver Gegenwart, leiblicher Dynamik und leiblicher
Kommunikation ausgefüllt wird - für die Eingeschlossenheit in
diese Tetrade habe ich den Namen: Leben in primitiver Gegenwart -, entfaltet
sich für den normalen Menschen etwa vom Ende des ersten Lebensjahrs
an die primitive Gegenwart zu jenen fünf Dimensionen, von denen eine
die Subjektivität des Eigenen ist; diese bildet sich durch Prozesse,
unter denen personale Emanzipation aus primitiver Gegenwart und personale
Regression auf diese hin die wichtigsten sind, zu einer persönlichen
Situation - der Persönlichkeit - einer Person aus, und das spezifische
Merkmal der Person ist die Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, sich
selbst für etwas oder etwas für sich selbst zu halten. Solange
sie nicht in personaler Regression versinkt, hält sich die Person
auf mindestens einem Niveau personaler Emanzipation über der primitiven
Gegenwart, aber nicht stabil - wie das reine Ich nach. Husserl und die
autonome Vernunft nach Kant -, sondern in labiler und ambivalenter Vielbödigkeit,
zusammengefaßt durch den Entwurf auf einen Stil personaler Emanzipation.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 86-88 |
Jede lebhafte Ergriffenheit erschüttert das Niveau
personaler Emanzipation, auf das die Person mit ihrem Entwurf sich festgelegt
hat, und führt daher zu personaler Regression. Im Fall des Ergriffenseins
beim Betreten kirchlicher Innenräume, die durch Kunst zum ästhetischen
Gebilde der Heiligkeit geworden sind, handelt es sich um den von Rudolf
Otto beschriebenen numinosen Schauer des mysterium tremendum et fascinosum,
der das Niveau personaler Emanzipation wie den Boden unter den Füßen
des Personseins erschüttert. Hier wie im Bann der Ergriffenheit durch
ästhetische Gebilde anderer Art gerät die Person in Gefahr,
in den ergreifenden Gefühlen ganz unterzutauchen oder auch von deren
unverträglichen Ansprüchen zerrissen zu werden. Zur Selbstbehauptung
mit personaler Emanzipation verhilft ihr dann das Vorgefühl von einer
Art schamhafter Scheu, die die Griechen aidws;
nannten, ein mahnendes Vorgefühl der katastrophischen Scham, wie
die Furcht im bösen Gewissen ein Vorgefühl der Atmosphäre
unpersönlichen Zorns ist und wie Mitleid und Mitfreude, die Sympathiegefühle,
Vorgefühle der originalen Trauer bzw. Freude sind.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle,
1998, S. 88-89 |
Die Neue Phänomenologie, die ich konzipiert und
ausführlich entwickelt habe, verfolgt die Aufgabe, den Menschen ihr
wirkliches Leben begreiflich zu machen, das heißt, nach Abräumung
geschichtlich geprägter Verkünstelungen die unwillkürliche
Lebenserfahrung zusammenhängender Besinnung wieder zugänglich
zu machen. Unwillkürliche Lebenserfahrung ist alles, was Menschen
merklich widerfährt, ohne daß sie es sich absichtlich zurechtgelegt
haben. Das Nachdenken der Menschen ist heute durch vermeintliche Selbstverständlichkeiten
aus Konventionen und aus Hyopthesen, die im Dienst irgendwelcher Konstruktionen
stehen, dermaßen gefesselt, daß die Freilegung der unwillkürlichen
Lebenserfahrung umfangreicher Anstrengungen bedarf; sie ist aber von großer
Wichtigkeit, weil sie zum Ausweg aus gefährlichen Verengungen und
Verstrickungen des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses, damit
aber auch der Lebensführung, verhelfen kann.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 7 |
Philosophie ist Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden
in seiner Umgebung.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 9 |
Normale Wissenschaften fahnden nach objektiven Tatsachen zur Lösung
objektiver Probleme. Philosophie fahndet nach objektiven Tatsachen zur
Lösung subjektiver Probleme.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 10 |
Die Definition des Phänomens im Sinne der Neuen Phänomenologie
lautet ...: Phänomen für jemanden zu einer Zeit ist ein Sachverhalt,
dem der Betreffende dann nicht im Ernst den Glauben verweigern kann, daß
es sich um eine Tatsache handelt.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 12 |
Manche Wissenschaften stehen unter starkem Druck der experimentellen
und statistischen Methodik der Naturwissenschaft und brauchen eine phänomenologische
Ergänzung ihrer Empirie, weil jene Methodik zu viel davon abstreift;
andere eignen sich nicht für naturwissenschaftliche Durchdringung,
bedürfen aber statt dessen einer festeren Anbindung, die die Neue
Phänomenologie liefern kann.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 15-16 |
Im Gegensatz zu anderen philosophischen Ansätzen orientiert
sich die Neue Phänomenologie grundsätzlich an Erfahrung und
Anwendbarkeit.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 17 |
Die unwillkürliche Leebnserfahrung kann nur freigelegt werden,
wenn ihre Vorstellungen und Verzerrungen durch geschichtliche Prägungen,
die im Normalbewußtsein der heutigen Menschen zu Selbstverständlichkeiten
verkrustet sind, auf- und abgearbeitet werden.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 19 |
Das naturwissenschaftlich-technische und singularistische
Denken objektiviert und vereinzelt alles Erfahrbare, auch in der Erfahrung
des Menschen von sich. Hume findet sich nur noch als ein Bündel von
Perzeptionen. Ihnen ist nicht anzumerken, daß es sich um mich handelt.
Wo bleibe ich in einer solchen Welt neutraler Elemente? Diese Frage stellt
als Philosoph Johann Gottlieb Fichte. Er gelangt damit dicht in die Nähe
der Entdeckung de subjektiven Tatsachen, versäumt sie aber und mauert
das Ich in eine Tathandlung ein, die nur sich selber tut. Da er diese
Isolierung nicht halten kann, opfert er sie dem Kompromiß der Einbildungskraft,
die zwischen und über allen Tatsachen im Zwiespalt von Abhängigkeit
und Unabhängigkeit schwebt. Daraus macht Friedrich Schlegel die romantische
Ironie als das Vermögen, sich von jedem Standpunkt zurückziehen
und deshalb auch jeden einnehmen zu können. Damit eröffnete
er das ironistische Zeitalter, das bis heute anhält. Kehrseite der
Ironie ist die Angst als Höhenschwindel des Schwebens über den
eigenen Möglichkeiten (Kierkegaard). Im 19. Jahrhundert bedurfte das
ironische Schweben noch aktiver Leistung; dadurch entwickelte sich der (gelebte und literarische) Typ des Dandys, verbunden mit dem
Weltschmerz der Heimatlosigkeit. Der Dandy trägt Masken, unter denen
er sich nicht finden läßt; er verharrt mit apathischer Starrheit
und gekonnt vorgeführter Gleichgültigkeit am Randes des Treibens
der Menschen, nicht mit der Festigkeit des Stoikers, sondern zur Absicherung
gegen ein Verfallen, das ihn binden würde. Aus dieser Randlage stößt
er in unvermittelter Provokation zu einer Stellungnahme vor, aus der er
sich unberechenbar wieder zurückzieht. Diese Anstrengung des Durchhaltens
der ironischen Schwebelage hat der Ironist des 20. Jahrhunderts und der
Folgezeit nicht mehr nötig. Seine ironische Haltung ist passiv und
volkstümlich geworden. Er ist cool. Während das Streben des
Christen durch sein Glücks- und Heilsideal straff geschient war (erst
recht als Kriegsdienst für Christus im Calvinismus) und diese Führung
noch in der Aufklärung nachwirkte, steht der Mensch des ironistischen
Zeitalters inzwischen ohne vorgezeichnete Bahn vor dem Angebot unzähliger
technischer Möglichkeiten, die ihn vereinnahmen, wenn er sich auf
sie einläßt. Sie sind untereinander konstellationistisch vernetzt,
für sein Belieben aber isoliert und ausgestreut. Er bringt zur Steuerung
durch das ausgestreute Angebot kein Rückgrat, keine Linie mit, da
er ironistisch darauf eingestellt ist, sich von allem abwenden und allem
zuwenden zu können. Sein Ironismus ist erschlafft zur Passivität
der Selbstverstrikcung in die Führung durch vernetzte Angebote mit
Scheinsouveränität beliebigen Wählens aus ihnen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 26-27 |
Außer der antagonistischen Einleibung gibt es die
solidarische, bei der ein gemeinsamer vitaler Anrtrieb mehrere verbindet,
ohne daß einer sich dem anderen zuwendet. So etwas geschieht bei
stürmischem Mut und panischer Flucht einer Truppe, bei rhythmischem
Rufen, Klatschen, Trommeln durch den Rhythmus als die Bewegungssuggestion,
die einer Sukzession durch ihre Sukzessivität anhaftet, beim gemeinsamen
Singen, Musizieren, Rudern oder Sägen, in Massenekstasen usw.. Außer
der leiblichen Kommunikation im Kanal des vitalen Antriebs, der Einleibung,
gibt es leibliche Kommunikation im Kanal der privativen Weitung; ich bezeichne
diese als Ausleibung. Es handelt sich um Trancezustände, in
denen die von der Engung aufrecht erhaltene Enge des Leibes in die Weite
gleichsam ausläuft. Das kann durch den Blick als unumkehrbare leibliche
Richtung in die Tiefe des Raumes geschehen, etwa auf eintönig geraden
Straßen, wobei der Autolenker, dessen vitaler Antrieb wenig aktiviert
wird, in Gefahr ist, die Kontrolle über sein Fahrzeug zu verlieren,
oder gleichsam schmelzend, wie beim Dösen in der Sonne oder beim
Starren in Glanz. Das ist eine Kommunikation, in der der Leib absorbiert
wird, ein Rückfluß aus der Zugänglichkeit der primitiven
Gegenwart in die maßlose Weite, die durch das Ereignis der primitiven
Gegenwart zerrissen wird.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 40-41 |
Aus der gleitenden Dauer des Dahinlebens und Dahinwährens,
ungeschieden nach Dauer und Weite, weiter der sie zerreißenden primitiven
Gegenwart, der leiblichen Dynamik und der leiblichen Kommunikation bildet
sich eine Lebensform, auf die die Tiere, die Säuglinge und die Dementen
ganz und gar angewiesen sind, so daß sie nicht darüber hinauskommen.
Ich sage das mit Vorbehalt bezüglich der höheren Wirbeltiere,
z. B. der Menschenaffen; allenfalls der empirische Zoologe, vielleicht
nicht einmal er, kann Übergangszonen abstecken, in denen die Schwelle
verschwimmt. Ich bezeichne diese Lebensform als das Leben aus primitiver
Gegenwart. Diese ist nämlich die Quelle, aus der nicht nur die
Subjektivität des Sichfindens ohne Identifizierung im affektiven
Betroffensein, sondern auch die Identität über die Breite des
unübersehbar reichen Lebens aus primitiver Gegenwart ausstrahlt.
Auch wir personalen Menschen leben zum großen Teil aus primitiver
Gegenwart, nämlich bei allen routinierten, unwillkürlich ablaufenden
Verrichtungen, die wir zum großen Teil mit den Tieren gemein haben.
Dabei sind wir im Ablauf der Bewegung vor Verwechslungen geschützt,
im Gegensatz zu den Kranken, die nach einem Gehirnschaden an Apraxie leiden.
An diesem Schutz zeigt sich, daß wir dabei mit Identität -
hier erst mit absoluter - und Verschiedenheit vertraut sind. Noch aber
fehlt die Einzelheit. Einzeln ist, was eine Anzahl um vermehrt.
Identität ohne Einzelheit läßt sich am glatten Kauen fester
Nahrung aufzeigen. Der Kauer, Mensch oder Tier, ist beim Kauen mit der
Identität der Zunge und ihrer Verschiedenheit von der Nahrung vertraut;
deswegen unterläßt er, seine Zunge zu zerbeißen. Einzeln
wird ihm beim unwillkürlichen Kauen etwas aber erst, wenn sich ein
Bissen als zäh erweist, und auch das wohl nur, wenn er schon eine
Person ist. Die Gliederbewegung würde ihre Flüssigkeit verlieren,
wenn die Abschnitte einzeln würden, statt ineinander überzugehen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 41-42 |
Gleichzeitig mit der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen
Vergegenständlichung (II) entwickelt sich die griechische Geometrie,
die den Raum primär als Fläche, in der sie mit Zirkel und Lineal
konstruiert, zum Thema macht. Damit legt sie den Grundstein zu der bis
heute üblichen Raumvorstellung, der Vorstellung eines dreidimensionalen
Raumes, in dem es außer Flächen Punkte, Linien (Strecken) und
dreidimensionale Körper gibt. Alle diese Figuren werden an Flächen
gefunden und nur von der Fläche her zugänglich: die Linie als
Kante bei Berührung von Flächen oder durch Einzeichnung in Flächen,
der Punkt bei Brechung oder Zusammentreffen von Linien, der dreidimensionale
Körper, indem berandende Flächen aneinander gesetzt werden und
der umfaßte Raum durch Schnittflächen geteilt wird. Das gilt
aber nur für den Körper als dreidimensionales Gebilde; die eigentliche
Körperlichkeit, die Voluminosität, wird anders (unabhängig
vom Dimensionsgrad) erfahren, wie sich gleich zeigen wird. Die Dreidimensionalität
kann an gesehenen und getasteten Körpern nur mit Hilfe von Punkten
und Strecken bestimmt werden (*), üblicherweise
durch Kreuzung dreier gerader Strecken in einem Punkt. (*
Das gilt auch für die Anwendbarkeit des abstrakten topologischen
Dimensionsbegriffes [von Menger] auf anschauliche Körper; vgl. Hermann
Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 1, 1967, S. 373-391).
Während Punkte, Linien und Dreidimensionalien von der Fläche
her zugänglich werden, sind Flächen unmittelbar präsent.
Zwar werden sie meist als Oberflächen an Körpern gefunden, aber
das ist Zufall. Sonne und Mond sind optisch als (wenn auch nicht glatte)
Flächen gegeben wie der Regenbogen, und der modernen Technik wird
es nicht schwer fallen, glatte Lichtflecken als Flächen ohne Hintergrund
in Körpern darzustellen. Die übliche Raumvorstellung geht also
von der Fläche aus.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 71-72 |
In der Fläche gibt es Stellen (z. B. Punkte), die
durch umkehrbare Bahnen (z. B. Strecken) verbunden werden können.
An diesen Bahnen kann man Lagen und (umkehrbare) Abstände ablesen
und darüber ein System von Orten konstruieren, die sich gegenseitig
durch die Lagen und Abstände an ihnen befindlicher Objekte bestimmen,
d. h. identifizierbar machen. Der Raum wird verstanden als ein beliebig
verdichtbares Netz solcher Orte nach dem Muster eines Koordinatensystems.
Es stellt sich heraus, daß er genau dreidimensional ist, d. h. keine
höherdimensionalen Gebilde als Punkte, Strecken, Flächen und
Körper faßt. Bewegung wird als Wechsel des Ortes bestimmt,
Ruhe als Beharren am Ort. Von der Geometrie übernehmen die Naturwissenschaft
und der Alltagsverstand diese Raumvorstellung. - Sie ist aber logisch
fehlerhaft, weil sie auf einem Definitionszirkel beruht. Die Orte, die
durch Lagen und Abstände bestimmt sind, müssen durch Lagen und
Abstände zu ruhenden Objekten bestimmt sein. Wenn diese sich nämlich
bewegten, würden sich die Lagen und Abstände zu ihnen verändern.
Der Ort wäre also ein anderer geworden, und die an ihm befindlichen
Objekte hätten den Ort gewechselt, auch wenn sie in Ruhe geblieben
wären. Da Ruhe als Beharren am Ort bestimmt wird, wären sie
also in Ruhe und nicht in Ruhe gewesen. Sie hätten den Ort gewechselt,
sich definitionsgemäß also bewegt, ohne sich zu bewegen. Um
diese Widersprüche zu vermeiden, müssen ruhende Bezugsobjekte
für die Eichung von Orten durch Lagen und Abstände zu ihnen
gewählt werden. Der Ort setzt also Ruhe voraus, Ruhe aber den Ort,
wenn sie als Beharren am Ort verstanden wird. Das ist ein Definitionszirkel,
der die im vorigen Block skizzierte Raumvorstellung entwertet. Man kann
ihn durch Definition des zu Grunde liegenden Ortsbegriffs - eine Aufgabe,
die bisher merkwürdig vernachlässigt wurde - noch schärfer
herausarbeiten. Ein Ort der angegebenen Art ist ein relativer, durch Beziehungen
zu Bezugsobjekten bestimmter Ort. Ich spreche von relativen Orten. Ein
System relativer Orte, die sich gegenseitig durch Lagen und Abstände
bestimmen, bezeichne ich als einen Ortsraum. F sei die Frist, während
deren ein Ortsraum besteht. Wenn es sich um einen absoluten Universalraum
im Sinne von Newton und Euler handelt, ist F die Dauer des Universums;
wenn der Ortsraum relativ auf ein Koordinatensystem nach Galilei oder
Einstein ist, handelt es sich um die Frist, für die das Koordinatensystem
festgehalten wird. Ein Objekt ist während einer Frist an einem Ort.
Das wäre eine dreisteIlige Beziehung. Da es bequemer ist, das Amortsein
als zweistellige Beziehung zu behandeln, drücke ich mich so aus,
daß das geordnete Paar (g; f), bestehend aus einem Gegenstand als
erstem und einer Frist als zweitem Glied, an dem Ort ist. Ich sage, daß
das geordnete Paar eine Lage und einen Abstand zu einem Objekt hat, wenn
sein erstes Glied sie hat. Der relative Ort des Paares (g; f), wobei feine
Teilfrist von F (eventuell F selbst) ist, kann dann bestimmt werden als
die Menge aller derjenigen geordneten Paare mit einem Gegenstand als erstem
und einer Teilfrist von F (die gleich F sein kann) als zweitem Glied,
die zu allen während der ganzen Frist F ruhenden Objekten gleiche
Lage- und Abstandsbeziehungen haben wie (g; f), d.h. wie g während
f. Da dies eine Äquivalenzrelation im mathematischen Sinn ist, wird
durch sie dafür gesorgt, daß sich kein Objekt gleichzeitig
an mehr als einem Ort befindet. (Zu Äquivalenzrelationen vgl. Hermann
Schmitz, System der Philosophie, Band III, Teil 1, 1967, S. 490-496)
Von zwei Orten sage ich, daß sie sich in einer Lage und einem Abstand
zueinander befinden, wenn dies für erste Glieder an ihnen befindlicher
geordneter Paare gilt. Dann gilt für alle Orte des betreffenden Ortsraumes,
daß sie sich durch die Lagen und Abstände an ihnen befindlicher
Objekte gegenseitig bestimmen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 72-74 |
Die übliche Raumvorstellung ist also logisch fehlerhaft.
Was ist schiefgelaufen ? Offenbar muß, was Ruhe ist, bei zirkelfreier
Einführung einer Raumstruktur von der Fläche aus als schon bekannt
vorausgesetzt werden und läßt sich nicht erst danach als Beharren
am Ort einführen. Daran zeigt sich, wie irreführend die ausschließliche
Orientierung der Raumvorstellung an flächenhaltigen Räumen war.
Unter diesen, gemessen an der Komplikation der Struktur, gibt es nämlich
die flächenlosen Räume und in diesen eine Ruhe, die nicht von
Orten abhängt. Flächenlos ist z. B. der Raum des Schalls, in
dem sonore und dumpfe Klänge weit ausladen, schrille Pfiffe sich
scharf und schmal zusammenziehen, Bewegungssuggestionen wie der Rhythmus
und andere Schallgebärden (Aufstrahlen der Trompete u.a.) Bewegungen
vorzeichnen, die mehr oder weniger auf den hörenden Leib überspringen,
Höhe und Tiefe der Töne sich ebenso ereignen wie eine Entfernung
ohne umkehrbaren Abstand, da man spontan zwar hört, ob ein Schall
weiter weg ist als ein anderer, aber nicht wie beim Sehen unmittelbar
mitbemerkt, wie weit man selbst weg von ihm ist. Flächenlos ist ebenso
der Raum der feierlichen oder drückenden Stille; jene ist weiter,
diese schwerer, aber beide sind dichter als die gleichfalls weite zarte
Morgenstille. Flächenlos ist auch der Raum des Windes, von dem man
getroffen wird, mit einer Bewegung, die frei von Ortswechsel ist, es sei
denn, man deutet den erlebten Wind, ein Halbding, in bewegte Luft, ein
Vollding, um. Flächenlos ist das unauffällige Rückfeld,
das man bei vorwärts gerichteter Tätigkeit durch Zurücklehnen,
Dehnen, Biegen unaufhörlich in Anspruch nimmt. Flächenlos ist
der Raum des Wetters, den man z. B. erfährt, wenn man aus dumpfer,
überfüllter Stube mit befreiendem Aufatmen ins Freie tritt,
in eine Atmosphäre, in der sich der spürende Leib reicher als
zuvor entfalten kann. Er vollbringt es mit frei sich entfaltender Gebärde,
und deren Raum ist ebenfalls flächenlos. Flächenlos ist auch
der Raum der spürbaren leiblichen Regungen, z.B. des benommenen Kopfes,
des Ein- und Ausatmens; der Frische und Müdigkeit. Schließlich
ist flächenlos der Raum des Wassers, wie es dem Schwimmer und Taucher
begegnet, sofern er sich nicht optisch orientiert und auch nicht Vorstellungsbilder
des eigenen Körpers oder anderer, etwa berandender, Festkörper
in das Begegnende projiziert. Im Wasser gibt es keine Flächen, Punkte,
Linien, daher auch keine dreidimensionalen Körper, wohl aber erlebtes
Volumen, das dem Schwimmer mehr oder weniger Widerstand leistet, gegen
den er sich durchkämpfen muß, wenn es ihn nicht sanft trägt.
Wasser hat Volumen, das aber nicht dreidimensional ist, sondern dynamisch
aus Spannung und Schwellung, die, wenn es sich als sanft tragendes Element
darstellt, von privativer Weitung durchsetzt sind. Es ist ein Volumen
derselben Art wie das beim Einatmen gespürte, mit einer dem Ausatmen
vergleichbaren Chance des Ausgleitens in privative Weitung. Die Übereinstimmung
beruht auf dem gemeinsamen vitalen Antrieb antagonistischer Einleibung.
Dieses dynamische, nicht dreidimensionale Volumen ist die spontan erfahrene
Körperlichkeit, die dem Festen wie dem Flüssigen, aber auch
dem Schall und dem spürbaren Leib (z. B. in gespürter Schwere
der müden Glieder) eigene Massivität, die zu den geometrischen
Eigenschaften dreidimensionaler Gebilde hinzukommen muß, damit sie
als vollständige Körper imponieren.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 74-75 |
In flächenlosen Räumen gibt es mangels Flächen
keine Punkte, Strecken und dreidimensionalen Gebilde, auch keine umkehrbaren
Verbindungsbahnen, an denen Lagen und Abstände abgelesen werden könnten,
wohl aber dynamisches Volumen mit Bewegungssuggestionen und Richtungen,
die nicht umkehrbar sind, sich aber auf den absoluten Ort des spürbaren
Leibes beziehen, indem sie von ihm ausgehen oder ihn treffen, wie z. B.
die Richtungen von Blicken. Als absoluten Ort bezeichne ich einen Lebensort,
sofern er nicht wie der eben difinierte relative Ort in einem Ortsraum
durch gegenseitige Bestimmung mit Hilfe von Lagen und Abständen identifizierbar
wird, sondern an sich selbst eindeutig als hier im Umfeld bestimmt ist.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 75-76 |
Das Fühlen als affektives Betroffensein von einem Gefühl
ist eine leibliche Ergriffenheit, beid er die Atmosphäre am vitalen
Antrieb angreift.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 86 |
Alle Gefühle sind Stimmungen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 89 |
Gefühle haben Autorität, wie ich am feierlichen Ernst,
an der Scham und an der Trauer schon belegt habe. Ebenso gebietet Zorn
Vergeltung mit einer Aotorität, deren Wucht Kleist an Michael Kohlhaas
herausgearbietet hat, die Achtung Zurückhaltung trotz un d mit Zuwendung,
tiefes Glück eine (eventuell unadressierte) Dankbarkeit.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 92 |
Die Moral unterscheidet sich vom Recht durch eine Verschärfung
der Autorität der Gefühle zu unbedingtem Ernst. Der Ernst einer
Autorität und dee von ihr gestifteten Verbindlichkeit von Normen
bemißt sich an den Niveaus personaler Emanzipation.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 96 |
Mit der Moral ist die Religion verwandt. Man kann die Moral ebenso
als eine spezielle Religion auffassen wie als ein spezielles Recht.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 97 |
Gott ist eine Figur immer nur in der Perspektive einer Person,
für die Autorität eines Gefühls durch die Ergriffenheit
davon unbedingten Ernst hat, und diese Ergriffenheit ist eine für
den Betreffenden subjektive Tatsache. In diesem Sinn ist jeder Gott, wie
Luther sagt, mein oder »dein Gott« (Martin Luther, Großer
Katechismus, Textausgabe mit Kennzeichnung seinner Predigtgrundlagen,
a.a.O., S. 39).
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 98 |
Nun ist noch ein Wort über die Fläche zu sagen. Die
Fläche ist leibfremd. Am eigenen Leib, in Gestalt leiblicher Regungen,
kann man keine Flächen spüren. Gerade deshalb leistet die Fläche
wichtige Dienste für die Erhebung der Person aus dem Leben aus primitiver
Gegenwart. Indem sie sich in der Breite querend dem Blick in die Tiefe
des Raumes entgegenstellt, entlastet sie von der Verstrickung in leibliche
Kommunikation mit dem Blick. Sie bietet diesem eine Unterlage für
die Eintragung von umkehrbaren Verbindungen zwischen Blickzielen. Solche
können schon ohne Flächen gezogen werden, z.B. bei der Konstruktion
von Sternbildern am Nachthimmel, ohne exakt linear (breitenlos) zu sein,
denn breitenlose Strecken tauchen erst zwischen Flächen (als scharfe
Kanten) auf. Solange, wie z. B. am Nachthimmel, für die Netze umkehrbarer
Verbindungen keine Fläche zur Verfügung steht, ändert sich
deren Anordnung bei jedem Wechsel der Zuwendung; erst durch den Eintrag
der Netze in eine Fläche wird sie invariant. Damit ist die Möglichkeit
zur Konstruktion eines stabilen Ortsraumes gegeben. In diesen kann dann
auch der Blickende sich selbst einholen, indem die Fläche durch ihr
Queren der Blickbahn Gelegenheit zur Reflexion der Richtung des Blickes
gibt, der als leibliche Regung unumkehrbar aus der Enge in die Weite führt.
Indem diese Richtung an der querenden Fläche umgekehrt wird, erreicht
die umgekehrte Richtung den eigenen Leib und Körper des Blickenden,
so daß dieser in das Netz der Orte des Ortsraumes einbezogen werden
kann. Damit ist das perzeptive Körperschema angebahnt, sowie die
Einbeziehung des eigenen Körpers und des mit diesem mehr oder weniger
übereinstimmend lokalisierten eigenen Leibes in einen umfassenden
Ortsraum. Die emanzipierte Person versetzt sich dann als Leib und Körper
in eine neutrales System, dem sie auf ihrem emanzipierten Standpunkt gegenübertreten
kann, sich selbst gleichsam mit anderen Augen ansehend; wenn sie deswegen
freilich glauben sollte, das Leben aus primitiver Gegenwart verlassen
zu haben, würde sie sich täuschen. Eine andere Gelegenheit zur
Ausbildung des perzeptiven Körperschemas ist das Betasten der glatten
Oberflächen des eigenen Körpers, z. B. mit beiden Händen
zur Abwehr von Parasiten; so mögen Menschen der Vorzeit, vor Einführung
zivilisatorischer Hygiene, den eigenen Körper kennen gelernt haben.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 99-100 |
Nach meiner Auffassung definiere ich Philosophie immer
als das Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in einer Umgebung.
.... Sie ist dafür gut, daß es irgend eine Kontrolle darüber
gibt für den Menschen, was er gelten lassen muß. Denn das erfährt
man nicht durch Informationen, die einem zukommen, mit der Behauptung,
danach müßte man sich unbedingt richten. Es bleibt immer die
Frage: Was soll ich denn davon halten? Und diese Frage ist die
eigentlich philosophische Frage. Inwiefern ist das irgendwie für
mich verbindlich, was mir zugetragen wird? Es ist also die Frage der
Selbstbesinnung, die aus einer gewissen Beirrung hervorgeht, daß man das nicht als das Selbstverständliche empfindet, was auf einen
zukommt, was einem zugemutet wird, daß man sich fragt: Was soll
ich davon halten, und wie stehe ich dazu - sowohl in der
Theorie wie auch in der Praxis?. Und diese Frage kann überhaupt
nicht von einer bloß gegenstandsbezogenen, bloß objektivierenden
Wissenschaft geprüft werden. Zwar sucht die Philosophie, wenn sie
wissenschaftlich wird, nach objektiven Tatsachen, aber im Hinblick auf
subjektive Probleme, diese subjektiven Probleme: Was soll ich
damit anfangen? Wie soll ich mich dazu stellen? .... Man muß
einfach erst überhaupt einen Standpunkt finden im Zurückgehen
auf das, was man selbst gelten lassen muß. Man muß also anfangen
bei einer durchschnittlichen Lebenserfahrung oder bei durchschnittlichen
Informationen und muß sich herantasten an einen festen Standpunkt
durch die Prüfung aller dieser Zumutungen an der Frage Was muß
ich gelten lassen?. Und da kommt man letzten Endes auf irgendwelche
eigenen Erfahrungen, die dann auch erst den Rahmen vorgeben, die der Umgebung
erst einen solchen Umriß geben, daß man sagen kann: An
diesen Rahmen kann ich mich halten.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- Einführung (I/1), 6. Juni 2010 |
Einzeln ist, was eine Anzahl um eins vermehrt. .... Mengen
..., besonders endliche Mengen sind notwendig Mengen der SOWIESO, und
hinter SOWIESO ist eine Gattung einzusetzten. Gattung ist irgendeine Bestimmung,
wovon etwas ein Fall sein kann. Also: Einzeln ist etwas nur dadurch, daß
es Fall einer Bestimmung sein kann, daß es ,etwas als etwas,
sagte Heidegger, sein kann. Diese Möglichkeit, ein Fall zu sein,
eine Gattung zu haben, die kommt erst überhaupt in Sicht, wenn es
gelingt, Situationen aufzubrechen. .... Eine Situation ist Mannigfaltiges,
das zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit. Binnendiffus
heißt: es ist nicht alles einzeln darin, sehr oft gar nichts einzeln
darin. .... Fast immer haben wir es mit Situationen zu tun. Ein Beispiel
ist eine Gefahr, die man im Augenblick erfaßt haben muß, um
angemessen zu reagieren, denn wenn man nicht ganz schnell reagiert, ist
das Unglück schon geschehen. Da hat man also mit relevanten Sachverhalten
der Gefahr, mit den Problemen, den zunächst interessierenden Problemen
und vielleicht bei Reaktion hinzukommenden Problemen des Unglücks
zu tun und mit Programmen möglicher Rettung. Und das muß man
mit einem Schlag erfassen: die Gefahr als eine Situation, die durch diese
Bedeutsamkeit zuammengehalten wird, die aber nicht in lauter Einzelbestandteile,
einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme auseinandergenommen wird,
denn dann wäre das Unglück längst geschehen, wenn man sich
die Mühe machte. Das war aber nur eines von Millionen von Beispielen.
Wir leben normalerweise immer in Situationen, meistens ganz harmlosen;
wir gehen immer durch aktuelle Situationen hindurch; wir leben in zuständlichen
Situationen, die nicht von Augenblick zu Augenblick wechseln und diese
aktuellen durchdringen. Und diese Situationen, die Bedeutsamkeit der Situationen,
die werden aufgespalten mit den Mitteln der Rede, die nicht mehr Ruf und
Schrei ist wie bei Tieren, sondern fähig ist, für sich einzelne
Bedeutungen herauszuholen, z.B. eine Gefahr zu analysieren, mindestens
bruchstückweise, das macht man ja meistens, zur totalen Analyse reicht
die Zeit nicht. Oder in anderen Situationen: sich ein Bild von der Situation
zu machen, die Situation zu überholen durch andere Kombinationen
der Explikate, zu planen. Alles das geht aus dem Vermögen, das dem
Menschen seine explikative Rede verleiht, hervor. Dieses Vermögen,
das liefert die Gattungen, das liefert die Bestimmungen als etwas, daß
etwas nicht nur im Komplex einer Situation irgendwie angesprochen werden
kann, wie die Tiere das machen durch Alarmrufe, Lockrufe, Klagerufe, sondern
daß es einzeln, als Fall einer Gattung, die aus der Bedeutsamkeit
von Situationen expliziert ist, verstanden werden kann. Und das ist grundlegend
auch für die Personwerdung, denn indem jetzt die Person sich selbst
als Fall auffaßt, das heißt aus den Situationen, in die sie
expliziert in satzförmiger Rede, auch sich selbst mit herausholt,
versteht sie sich als Fall von etwas und damit als einzeln. Der
präpersonale Bewußthaber - der Säugling, das Tier - ist
für sich nicht einzeln. Es fehlt ihm nämlich die Fähigkeit,
sich als Fall zu verstehen. Einzeln ist nur, was ein Fall ist. Hier aber
haben wir den Bewußthaber als eizelnes Subjekt. Das ist schon mal
der Anfang der Personwerdung: die Vereinzelung. Dazu kommt jetzt der zweite
Schritt: die Neutralisierung. Zunächst, im präpersonalen Leben
ist alles subjektiv im vorhin angebenen Sinn. Alle Tatsachen sind subjektiv.
Sie sind noch nicht einzelne Tatsachen. Aber im Komplex der Situationen
werden sie erlebt, z.B. vom Säugling: der erlebt nicht einzeln, daß
er hungrig oder durstig ist, deswegen kann er es auch nicht sagen, aber
in dem Gesamtgefühl steckt sehr deutlich, wenn auch nicht explizit
als einzelne, diese Tatsache darin, daß es ihm schlecht geht, und
zwar in dieser bestimmten Beziehung, daß er unbedingt gerne mal
wieder Nahrung bekommen möchte. Alles, was er schon hat an Bedeutungen
- Bedeutungen sind Sachverhalte, Programme und Probleme -, aber noch nicht
einzeln hat, das ist in diesem Zustand für ihn subjketiv. Da gibt
es gar nicht diese Distanzierung durch Abfall der Subjektivität,
wodurch objektive Tatsachen entstehen. Wenn viele Tatsachen einzeln sind,
viele Dinge einzeln sind und man selbst für sich einzeln geworden
ist, dann kann diese Subjektivität auch abfallen, und das geschieht
normalerweise im Verlauf des Lebens, und dann entsteht etwas Fremdes,
denn eine Sache wird fremd, wenn der Sachverhalt, daß sie existiert,
die Subjektivität für mich verliert: das ist die Fremdheit durch
Entfremdung, wie ich in meinem neuesten Buch geschrieben habe; es gibt
auch eine Urfremdheit, von der ich jetzt nicht sprechen will. .... Dadurch,
daß mir etwas fremd geworden ist, bildet sich auf der andern Seite
etwas Eigenes. .... Dieses Eigene, das hat verschiedene Seiten, verschiedene
Bedeutungen: einerseits ist es dieser Bereich von Bedeutungen, die subjektiv
bleiben, wobei man damit rechnen muß, daß es viele Grauzonen
gibt, nicht alles ganz subjektiv ist. Ganz subjektiv, so daß
überhaupt keine Distanzierung, keine Neutarlsierung darin ist, ist
eigentlich nur das Erleben in schweren Träumen. Es gibt sehr viele
Träume, die ... außerordentlich belastend sind, obwohl es sich
oft um Banalitäten handelt. Man kommt nicht weiter. Man ist in irgendeiner
lächerlichen Bedrängnis mitten im Traum und findet keinen Ausweg
und ist dann froh, wenn man aufwacht .... Zum Beispiel der Examenstraum:
Der alterende Mensch fühlt sich plötzlich wieder als Schüler
oder Student und muß ein Examen bestehen und ... kann es nicht.
Das ist doch ganz schrecklich. Dann wacht er auf, und es ist ganz harmlos.
In solchen Situationen kommt man von der Subjketivität der Tatsachen,
die schon einzeln sind, aber nicht neutralisiert, gar nicht herunter bis
zum Aufwachen. .... Die Enttäuschung ist ein wunderbares Beispiel
für die Neutralisierung. Eine wichtige Rolle im Leben des reifenden
Menschen spielt die Enttäuschung. Enttäuschen und überraschen
können Sie auch Tiere, aber wenn das geschieht, dann reißt
einfach eine Situation ab für das Tier, und es bildet sich eine neue.
Der Mensch hat die ungeheure Chance, daß sich durch die Enttäuschung
eine Vereinzelung und Neutralisierung einstellt: man merkt erst, wie gut
man es hatte, denn man wußte es noch nicht; man lebte in einer Situation,
in der eigene Wünsche erfüllt wurden; man kannte vielleicht
nicht einmal die eigenen Wünsche; jetzt ist man enttäuscht;
diese Situation bricht auf; man spürt, man merkt jetzt, was einem
fehlt, das heißt: die entsprechenden Sachverhalte und Programme
werden einzeln; neue Probleme tauchen auf, die bisher gar nicht da waren.
.... Erst mal tauchen neue Sachverhalte als Tatsachen auf, mit denen man
sich abfinden muß, dann tauchen neue, und zwar einzelne Programme
auf, wie man sich damit arrangieren kann, und alles das ist eine Chance
der Vereinzelung, aber auch der Neutralisierung, wodurch etwas fremd wird,
denn mit der Enttäuschung ist ein starkes Fremdwerden verbunden:
das, was einem so lieb war, wird einem gewissermaßen fremd, weil
es nicht mehr ist; das, womit man jetzt neu zu tun hat, das fällt
einem auf als störend und fremd, womit man sich abfinden muß.
Man muß wieder nach Anknüpfungspunkten suchen, um das Eigene
hineinzusäen in das, was jetzt erst einmal fremd scheint, um etwas
zu resubjektivieren. Hier haben wir also das Ineinandergreifen von Vereinzelung
und Neutralsierung aus Anlaß der Enttäuschung, ... wodurch
die Enttäuschung viel fruchtbarer ist als für das Tier. Da haben
wir also einen solchen Prozeß, ... ein Hin und Her ... zwischen
... Rückzug und Wiederkehr; der Rückzug von dem, was subjektiv
war, jetzt fremd oder als Bedeutung neutral geworden ist. Und das ist
personale Emanzipation, wenn man also Abstand nimmt, wenn man versachlicht
und dadurch aber zugleich sich auf etwas zurückzieht, was als eigen
festgehalten wird. .... Es geht ... nicht, sich in den bloßen Abstand
zurückzuziehen im Sinne personaler Emanzipation - so wichtig das
ist, um überhaupt etwas Eigenes abgrenzen zu können -, man muß
auch wieder resubjektivieren. .... Zweierlei: 1. die personale Emanzipation
in diesem Sinn, daß man Abstand nehmen kann, neutralisiern kann,
vereinzeln kann, wodurch das Eigene und das Fremde auseinandertritt; 2.
die personale Regression als Resubjektivierung, wodurch das wieder zusammenfließt,
das Eigenen nicht mehr so gut vom Fremden abgehoben werden kann, sondern
man in einem unmittelbar Betroffensein wieder stärker aufgeht. Und
das beides wird ... von der Natur besonders vorgeprägt und den Menschen
zugänglich gemacht durch die beiden Reaktionen des Lachens und des
Weinens. (Heinz Becker:
,Also, es gibt den Wellenschlag der personalen Regression und der personalen
Emanzipation, dem der lebendige Mensch nicht entweichen kann, auch wenn
er das will. Nicht? Also, Sie unterstreichen lebendig den Satz Durch
Schaden wird man klug.) Sagen wir mal: die personalen
Menschen; das peronale Leben ist gebunden an dieses Zusammenwirken von
Regression und Emanzipation.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- Einführung (I/4), 6. Juni 2010 |
(Christoph Demmerling: ,Sie haben
die Bedeutung der satzförmigen Rede im Zusammenhang mit der Reifung
der Person betont. Könnte man nicht sagen, daß grundsätzlich
unser gesamtes Erleben sprachlich vermittelt ist, daß selbst die
einfachsten körperlichen Eindrücke wie Schmerzen im Grunde sprachlich
vermittelt sind? Zwar ist es so, daß der Schmerz als Schmerz sich
im Leben eines sprachlichen Wesens nicht so sehr unterscheidet vom Schmerz
im Leben eines nicht-sprachlichen Wesens. Aber bei sprachlichen
Wesen ist der Schmerz immer schon eingebettet in Befragungen: Was ist
das für ein Schmerz?, Muß ich zum Arzt?, Wie schlimm
ist das?. Das heißt: Unsere scheinbar unwillkürlichste
Regung scheint noch in ein Netz von Sprache hineingespannt zu sein. Vorsprachliche
Bedeutsamkeitsbezüge scheinen immer schon auf sprachliche Bedeutungen
bezogen zu sein. Ich würde hier sogar von einem apriorischen Perfekt
der Artikulation sprechen. Die Rede ist nicht nur gliedernd, wie Sie es
gesagt haben, sondern sie ist artikulatorisch stiftend, während Sie
auch im Fall von sprachlichen Wesen noch so einen Bereich des Vorsprachlichen
eingeräumt haben.) Diese Sprachlichkeit liegt insbesondere
im personalen Verhalten in der Tat vor.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- Einführung (I/5), 6. Juni 2010 |
Jegliche personale Kommunikation beruht auf dem, was
ich nenne leibliche Kommunikation. Und die leibliche Kommunikation hat
die Grundform der Einleibung. Es gibt auch noch den Begriff der Ausleibung,
aber der ist hier nicht wichtig. Die Einleibung besteht einfach darin,
daß dieser vitale Antrieb, der normalerweise der Motor des Leibes
auch schon der einzelnen Person ist, auch gemeinsam sein kann. Er kann
also auf den einzelnen Leib der einzelnen Personen übergreifen und
sie zusammenziehen mit anderen, nicht nur Leibern, sondern sogar mit leiblosen
Gegenständen. .... Auch das Gespräch findet immer im Sinne einer
solchen Einleibung statt, und zwar ist das eine andere, eine wechselseitige
Einleibung mit fluktuierendem Wechsel der Dominanzrolle, immer in einem
selben gemeinsamen Antrieb als Engung und Weitung. Derjenige, der die
Rolle der Engung übernimmt, der fesselt gewissermaßen den andern,
der ist dominant. Und daß das Gespräch auch von dieser Art
ist, fast jedes Gespräch, das sieht man an der Bedeutung des Blickwechsels
.... Man braucht also immer die Resonanz des anderen. Zunächst, wenn
das Gespräch eingeleitet wird, wenn man was sagt, ist man in der
Rolle des Unterlegenen. Es hängt nämlich vom Partner ab, ob
man bei ihm ankommt, oder ob er einen kalt ablaufen läßt. Man
braucht ein Signal, z.B. des Blickes oder ein sonstiges Signal, um in
Führung zu gehen. Jetzt nämlich hat man dem andern etwas zu
sagen. Der schnappt ein. Er hängt seinerseits an einem. Und das bleibt
nicht dabei. Wenn es nicht - wie jetzt - entartet zu einem längeren
Vortrag, wie ich das mache, sondern wenn es ein flüssigen Gespräch
gibt, dann nimmt man immer wieder wie beim Ballspiel gegenseitig Aktion
und Reaktion auf. Es entwickelt sich ein gemeinsamer Antrieb. .... Aus
solchen Einleibungen, wie im Gespräch etwa, bilden sich dann gemeinsame
Situationen aller Art, und zwar nicht nur solche aktuellen Situationen.
Ein Gespräch ist eine aktuelle Situation antagonistischer Einleibung,
wo in jedem Augenblick die Situation anders werden kann. Man kann sie
von Moment zu Moment verfolgen. Darin bilden sich zuständliche Situationen.
Viele zuständliche Situationen hängen in jedes Gespräch
hinein: die Standpunkte der Beteiligten, die Sprache, in der man spricht,
die Konventionen, die allgemeine, z.B.- politische oder wirtschaftliche
oder Börsenlage und alles, was im Hintergrund steht; und es bildet
sich eine auf die Beteiligten zugeschnittene zuständliche Situation.
Zuständlich sind Situationen, deren Verlauf man nur über längere
Fristen hin verfolgen kann. Und von dieser Art ist die zuständliche
personenbezogene Situation: wie die Leute miteinander auskommen. Das wirkt
sich nämlich auf das nächste Zusammensein auch wieder aus. Andererseits
kann eine Unterbrechung gewaltig wirken, wenn man zwischendurch zu Abend
gesessen hat und setzt sich wieder zusammen: dann ist diese personenbezogene
zuständliche gemeinsame Situation, ohne daß man von Augenblick
zu Augenblick ihre Veränderungen nachvollziehen könnte, insgesamt
eine andere geworden. Solche zuständlichen Situationen bilden sich
aus aktuellen Situationen, z.B. ist eine Sprache eine zuständliche
Situation, beladen mit einer binnendiffusen Mannigfaltigkeit von unendlich
vielen Programmen, wie man sprechen kann, wenn man die Sprache gut kann
- das sind die Sätze, gleichsam Rezepte wie in einem Kochbuch, aber
unterschieden vom Kochbuch durch das Binnendiffuse der Mannigfaltigkeit,
das zur Situation gehört. Niemand mustert erst die Sätze Stück
für Stück, um sie dann auszusprechen. Das ginge gar nicht. Auch
nur um sie zu mustern, müßte man sie schon mindestens still
und stumm für sich aussprechen. Da haben wir eine solche zuständliche
Situation. Und die Menschen haben eben gegenüber den Tieren, die
nur in solchen Situationen leben können, aktuellen und auch
zuständlichen - die Tiere sind ja orientiert z.B. über die Rangverhältnisse
in der Gruppe, das ist eine zuständliche Situation, in der das Tier
lebt -, aber der Mensch kann eben auch die Situationen auflockern, er
kann explizieren, und aus den Explikaten wachsen neue Situationen hervor.
Und so werden also die Situationen von persönlicher Stellungnahme,
die einzelnes herausgreift und so weiter, immer wieder modifiziert und
auch bereichert. So kommt es zu diesen komplizierten gemeinsamen Situationen
auf personalem Niveau, wo alles möglich ist, von Freundschaften,
Feindschaften, Liebschaften, Diskussionsgemeinschaften, Parlamenten ...
- alles das sind also mehr oder weniger aktuelle Situationen in darauf
zugeschnittenen zuständlichen Situationen, die da hineinragen. Das
sind also sehr viele Möglichkeiten ....
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- Einführung (I/5-6), 6. Juni 2010 |
(Christoph Demmerling: ,Haben wir
zuerst die Einzelsubjekte und gelangen von dort aus zu den anderen? Das
ist ja ein sehr klassischer Gedanke. Oder muß man nicht darüber
nachdenken, ob es nicht genau umgekehrt verhält ...?)
Ganz richtig. Tatsächlich. Tatsächlich ist es genau umgekehrt.
Ganz richtig. Der Mensch beginnt natürlich wie das Tier. Er beginnt
präpersonal. Der Säugling beginnt präpersonal in einem
Wechsel aktueller Situationen, die in zuständliche Sitationen eingebttet
sind. Es ist also ständig ein Milieu da - sozusagen -, das nicht
von Augenblick zu Augenblick wechselt: Aber darin gibt es aktuelle Situationen.
Mal ist er zufrieden, dann mal unzufrieden. Aus diesen gemeinsamen, keineswegs
persönlichen Situationen wächst ja eben erst allmählich
die persönliche Situation hervor durch diese Emanzipation und Regression.
Dann ... bildet sich das Eigene und das Fremde. Das Wichtige ist nur,
daß gerade durch diese Explikation ungeheuer Gelegenheit zur Schaffung
vieler neuer Situationen gegeben ist. Die aktuellen Situationen, in denen
man lebt, werden durch die zuständlichen persönlichen Situationen
der Beteiligten mannigfaltig modifiziert, wobei diese zuständlichen
persönlichen Situationen wieder in zuständliche überpersönliche
Situationen eingebettet sind, die ihrerseits aber letzten Endes irgendwann
aus aktuellen Situationen und aus der Explikation aktueller Situationen
hervorwachsen. Es wachsen unter der Hand aus aktuellen Situationen, ohne
daß sie besonders eingesetzt werden müssen, lauter zuständliche
Situationen, z.B. Sprachen, hervor.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- Einführung (I/6), 6. Juni 2010 |
(Heinz Becker:
,Das heißt: Sie bestreiten diese Reduktion auf den Informationskanal,
wie man das heutzutage sehr oft hört, daß eine menschliche
Beziehung auf einen Informationskanal reduziert wird. Für
Sie ist das eine gmeinsame Situation, die ungeheuer viel mehr enthält,
als was man mit einem Informationskanal ausdrücken könnte. ....)
Ja. Ein Gespräch besteht nie oder kaum je, obwohl es solche Fälle
auch gibt, aber ein eingehendes Gespräch besteht nicht etwa im Austausch
von Mitteilungen, sondern besteht in der gemeinsamen Arbeit an der Explikation
einer gemeinsamen Situation, in der aber sehr viele Situationen drinstecken.
Die gemeinsame Situation ist nicht nur eine aktuelle Situation, wo man
dann nur das Aktuelle daran ein bißchen drehen müßte,
damit es anders wird - das ist übrigens der Grundfehler des Neurolinguistischen
Programmierens (NLP; HB): zu denken,
daß man immer nur an aktuellen Situationen als solchen arbeiten
könnte und damit etwas erreichte, sondern die sind immer beladen
mit hintergründigen zuständlichen Situationen (Heinz
Becker: ,mit der Lebensgeschichte zum Beispiel),
zum Beispiel mit der Lebensgeschichte, zum Beispiel mit dem Thema, das
gerade zur Explikation ansteht und in vielen Fällen schwer zu fassen
ist. Manchmal drücken sich die Leute auch herum, manchmal aber holen
sie auch zuviel heraus, oder sie legen die falschen Maßstäbe
an. Ein wunderbares Beispiel ist der von Goethe parodierte Mittler in
den ,Wahlverwandtschaften, der immer in die Situationen hereinkommt
mit sehr vernünftigen, aber abstrakten Maßstäben und aus
der Situation immer das herausholt, was sie vollkommen zerstört,
aber regelmäßig, weil er immer seine vernünftigen Maßstäbe
hat: die passen fast immer, nur nicht gerade jetzt. Dadurch richtet er
immerzu Unglück an mit den besten Absichten. Also eine Paraodie der
zu rationalistisch verstandenen Aufklärung. Da sind soviele Hintergründe,
die man berücksichtigen muß, etwa in Goethes Romanen: was mit
den Personen alles schon geschehen ist, wo die wunden Punkte liegen und
dergleichen. Und das kann man nicht durch einen bloßen Informationsaustausch
erreichen. Dahinter stecken also sehr viele Situationen der allgemeinen
Lage, die persönliche Situation, das, was die persönliche Situation
schon mit sich bringt an irgendwelchen Einbettungen und Rücksichten
auf den Stand, auf die Familie, auf die sonstigen Verbindungen, es kommt
also die allgemeine Lage, die Beunruhigung, zum Beispiel von der Politik
oder von der Wirtschaft her. Alles das fließt ein in die Art und
Weise, wie die Menschen jetzt zusammen sind und was jetzt sozusagen gesagt
werden will. Daran arbeiten beide. Es war der Fehler der Psychoanalyse,
diese Verklammerung, diese Verschränkung der Teilnehmer des Gesprächs
auseinanderzunehmen in einen Übertragung und einer Gegenübertragung.
.... Im Gegenteil: Von vornherein, wo die Menschen zusammenkommen, stecken
sie schon in einer Situation, wo jeder auf den andern übertragen
ist - dadurch, daß sie beide etwas Gemeinsames haben, an dem sie
arbeiten müssen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- Einführung (I/6), 6. Juni 2010 |
Die Bildung des Rechts setzt ein bei der Erfahrung des
Unrechts. .... Empörung ist eine besondere Form von Zorn, die energsich
besteht auf der allgmeinen gültigen Berechtigung dieses Zorns und
der Forderung allgemeiner Anerkennung. .... Aber eigentlich ist jeder
Zorn ein Rechtsgefühl.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- Einführung (I/6), 6. Juni 2010 |
Ohne Rechtsgefühle kein Pathos des Rechts, und ohne
Pathos des Rechts kein Recht. Denn wenn Sie das Pathos nicht drin haben
- daß sie sagen: Dies ist Recht, und Recht muß Recht bleiben!
-, wenn Sie diesen Spruch nicht mit energischer Betonung aussprechen können,
dann kann alles als Recht deklariert werden.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- Einführung (I/6), 6. Juni 2010 |
Das Leben wird immer programmgeleitet - bloß bei
allen Tieren und auch den Säuglingen nicht von einzelnen Programmen
geleitet. Weil die noch nicht vereinzeln können, haben die auch keine
mögliche Stellungnahme zu den Programmen, sondern unterliegen ihnen
ohne jeden Spielraum. Der Mensch hat, wenn er Person geworden ist, weil
er vereinzeln kann, immer einen Spielraum.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- Einführung (I/7), 6. Juni 2010 |
Das Göttliche ist das Zufälligste.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- über Theologie, 6. Juni 2010 |
Und dann gibt es eben auch den Typus der zwiespältigen
oder der spältigen Mannigfaltigkeit.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- über Logik, 6. Juni 2010 |
Jedes Einzelne tritt ein, wenn verschiedene Gegenstände um
Identität um denselben Gegenstand - Gegenstand im allgmeinsten Sinne
-, denselben Etwas (damit das nun ja nicht zu konkret auffaßt, daß
das irgendwie handfest oder gegenständlich sein müßte),
also um verschiedene Etwasse, um verschiedene Identität mit demselben
Etwas konkurrieren, da widerfährt jedem Menschen in seinem Leben.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- über Logik, 6. Juni 2010 |
Ich bin jetzt ein Greis; ich war ein Baby; ich war ein
Knabe; ich war ein Jüngling; ich war ein Mann in gereiften Jahren.
Wenn man jetzt fragt ,Wer ist denn dieser Hermann Schmitz eigentlich?,
und man sagt ,Das ist einfach ein Greis und weiter nichts,
wäre das doch ganz falsch. Es sind doch ganz verschiedene Individuen,
die um Identität mit mir konkurrieren. Da ist der kleine Junge, das
Hermännchen, das mit Gisela und Puhts und mit meiner Schwester Isabella
gespielt hat, viel kleiner als die drei Mädchen, und dann ist jetzt
der Greis daraus geworden, es sind dazwischen ganz viele Zwischenstadien,
verschiedene Individuen. Wer bin ich? Diese Individuen konkurrieren
um Identität mit mir. Das ist eine Mannigfaltigkeit vom spältigen,
vom zwie- oder vielspältigen Typ.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- über Logik, 6. Juni 2010 |
Man kommt ..., obwohl man eine kleine Ausnahme für den Spezialfall
des ausgeschlossenen Dritten machen muß, die aber widerspruchsfrei
bleibt, mit der Zweiwertigkeit der Logik aus, wenn man die Spältigkeit
des Materials, worüber man spricht, anerkennt. Und das haben die
Logiker nicht gemacht. Und das will Quine nicht. Denn dann kommt er nicht
mit seiner glatten ,No Entity Without Identity, mit der Voraussetzung,
daß alles einzeln ist, ... nicht mehr durch, weil es ... zwiespältige
Dinge in der Natur gibt.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- über Logik, 6. Juni 2010 |
(Henning Hintze: ,Mathematik ist die Universalsprache
der Wissenschaften, welche die Weltenkonstellation abbilden möchte.
Die Mathematik funktioniert um so besser, je abstrakter diese Begrifflichkeit
ist. Andererseits ist es so, daß sie sich damit immer weiter von
der Lebenswirklichkeit und von natürlichen Erfahrungen entfernt.
Sehen Sie da einen Bedarf für eine Reform oder für eine Kritik?)
Nein. Ich sehe gar keinen Bedarf. Denn ich bin selbst ein Freund hochabstrakter
Begriffsbildungen, weil die nämlich dem Denken eine Beweglichkeit
verschaffen, die sonst nicht vorhanden wäre. .... Insofern bin ich
vollkommen zufrieden mit der abstrakten Mathematik. Nun haben wir ja nicht
nur eine abstrakte Mathematik, sondern auch eine formale Mathematik. Der
Mathematiker von heute will gar nicht mehr - seit Hilbert - sagen, worüber
er eigentlich spricht: das ist irgendetwas, und wenn es gewisse Bedingungen
erfüllt, dann gelten auch noch andere Sätze, und die Modelle
muß man nachträglich finden. Das ist auch an sich nicht zu
beanstanden. Das kann eine gute Hilfe sein, die die Mathematiker den Denkern
leisten, um sie als Modelle anzuwenden. Aber es ist eine Verführung,
sich nur noch für die Form der Verknüpfung zu interessieren.
Das ist der verführerische Konstellationismus: Wir legen uns die
Welt als ein Netz zurecht, das beliebig umgenüpft werden kann.
Und dann findet man nicht mehr, woraus man eigentlich das Netz schöpfen
soll. Da habe ich eine gewisse Sorge: daß leichtsinniger Umgang,
nicht mit der Abstraktheit, sondern mit der Formalisierbarkeit der Mathematik,
leichtsinniger Umgang damit, einen naiven Optimismus des Umkonstruierens
ermutigen könnte. Aber es ist nur eine Gefahr, auch kein Vorwurf
gegen die formale Mathematik. Und die mathematische Abstraktion in allen
Ehren: Ich bin als Phänomenologe überhaupt kein Feind der Mathematik.
Man darf nur keine Ideologie, keine Weltanschauung (hier
fehlt das unausgesprochen gebliebene Vollverb! HB): Mit dieser
Methode können wir einfach alles machen. Dann ist man verloren.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- über Logik, 6. Juni 2010 |
Diese totale Weltbeherrschung ist erstens eine Fiktion, und zweitens
ist sie auch prinzipiell unmöglich. Denn wenn ich recht habe mit
meinem inzwischen schon mehrfach formulierten Beweis dafür, daß
es keine Sache gibt, von der sämtliche Bestimmungen einzeln sind.
Wenn alle Bestimmungen einzeln wären, dann wäre alles unbestimmt,
jede Bestimmung unmöglich.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- über Logik, 6. Juni 2010 |
Dieses Denken der Vollendbarkeit der Digitalisierung beruht auf
dem Grundsatz der durchgängigen Bestimmung, den Kant eingeführt
hat, der besagt, daß jedem Etwas von jeder beliebigen Bestimmung
entweder diese zukommen muß oder diese fehlen muß. Das ist
nicht der Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Denn der Satz vom ausgeschlossenen Dritten muß mit der Unentschiedenheit und der Spältigkeit umgehen.
Man muß nur den Gegenstandsbereich weit genug fassen, dann bleibt
der anwendbar, nur eben auf das Zweifelhafte, in seiner Zweifelhaftigkeit.
Das kann man aber durch leichte Umformulierung erreichen. Dieser Grundsatz
der durchgängigen Bestimmung, der ist falsch. Und das wäre das
Axiom der durchgängigen Digitalisierbarkeit und Zersetzbarkeit der
Situationen. Das wäre der Grundsatz .... Und da dieser Grundsatz
falsch ist, ist die Digitalisierung nicht zur absoluten Perfektion zu
bringen. Jede Sache hat Bestimmungen, die nicht einzeln sind.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- über Logik, 6. Juni 2010 |
(Robby Jacob: ,Lieber Hermann,
ich bin ja vom Beruf Arzt und Psychiater, und du hast mich aber überzeugt,
daß die Psyche ein Konstrukt ist, an das wir alle sehr gut gewöhnt
sind, das aber irgendwie gar nicht so günstig ist, wenn man über
die Dinge nachdenkt, über die wir eigentlich nachdenken wollen. Und
das hat bei mir dazu geführt, daß ich mein Fachgebiet doch
jetzt etwas anders betrachte, eher als Bemühung um eine Heilkunst
einer Person, die ihre Grundlag eben nicht in der Psyche, sondern eher
im Leib, in der persönlichen Situation, ... auch in gemeinsamen Situationen,
... in der persönlichen Welt, vielleicht auch in der Welt überhaupt
.... Ich möchte auf das Thema Forschung, vielleicht im Sinne von
Evaluation oder so etwas, kommen. Und da habe ich sehr viele Fragen, weil
mir da eigentlich gar nichts mehr klar ist, wenn ich wirklich jetzt phänomenologisch
denke, so, wie ich es von dir lerne. Und ich möchte gerne das Gespräch
nutzen, um vielleicht eine Idee zu haben, wo man anfangen kann mit dem
Denken. ....) .... Reibungen ... gehören zur normalen
Persönlichkeit und werden krankhaft nur, wenn entweder der Mensch
oder seine Umgebung das als störend empfinden. Wann tritt das ein?
Da gibt es kein verbindliches Maß, sondern da muß man abwarten,
bis die Leute einigermaßen zufrieden sind, und dann sind sie geheilt.
.... (Robby Jacob: ,Also wenn ich mir die Forschung
angucke in unserem Fachgebiet, dann wird die ja mit Methdoien unternommen,
die eigentlich aus der Pharmakoforschung kommen oder vielleicht auch aus
der experimentellen Psychologie, und das sind ja ganz andere Wissengebiete,
die sich ja eigentlich mit ganz anderen Fragestellungen beschäftigen,
und man braucht ja inzwischen schon Universitätsverbünde, um
überhaupt die Fallzahlen an Patienten zusammen zu bekommen, um irgendwie
noch ernst genommen zu werden, das kann man ja eigentlich gar nicht tun.
Wenn ich mir überlege, was ich von dir gelernt habe dazu, habe ich
die Idee, daß eigentlich an einem einzigen Fall darzulegen sein
müßte, daß eine Behandlung tatsächlich funktioniert
und daß ein anderer so etwas auch machen sollte. Hat deiner Meinung
nach so etwa wieder eine Chance?) Ja, sicherlich. Es ist
natürlich in der Psychiatrie die gefährliche Tendenz: man will
Naturwissenschaft sein; man will schematisieren; man will vergleichbare
Fälle schaffen; man will alles für die Statistik tauglich machen.
Und das geht deswegen nicht, weil ... man für die Satistik Merkmale
einer ganz bestimmten Art braucht: die müssen bequem, intermomentan
und intersubjektiv identifizierbar sein, die müssen meßbar
und selektiv variierbar sein, so daß ich ein Merkmal variieren und
die anderen festhalten kann und dann sehen, was bei einer Intervention
herauskommt. Das ist das physikalische Verfahren, und das geht in dem
Augenblick schon nicht mehr, wo man mit der Sprache arbeitet, denn die
Sprache hat ihre Bedeutungen, und die Bedeutungen können nicht so
standardisiert werden. Also das ist die Unmöglichkeit, die Geisteswissenschaften
auf das Niveau der Naturwissenschaften zu bringen. Das beginnt mit dem
Augenblick, wo sprachliche Daten berücksichtigt werden müssen.
Was meint er eigentlich damit, wenn er irgendwas sagt. Da barucht man
... eine andere Methode, die abstrakte, sogar sehr abstrakte Begriffe
hat, aber immer wechselseitig dem Fall angepaßt neue ,Zusatzdüsen
- möchte ich sagen - in Gestalt eigentümlicher, besondernder
Merkmale, besonderer Differenzen da einführt, und da muß man
sich an den Einzelfall herantasten. Und deswegen ist da die statistische
Schematisierung sehr gefährlich (Robby Jacob:
,abwegig sogar). .... Man braucht Typen, an denen man sich
orientiert, ... Idealtypen, reine Formen, zwischen denen man dann wählen
kann, welche ,Legierung, wie schon Kretschmer sagte, geade vorliegt.
Und das Denken in Typen wird den Leuten heute weitgehend abgewöhnt
durch das Denken in Merkmalen, die statistisch gemessen werden können.
.... Man braucht die Orientierung an Typen. .... Wenn man sich an solchen
Typen orientiert, dann kann man den Einzelfall entsprechend ... gerecht
werden ... unter allgemeinen Gesichtspunkten. Man muß hier wirklich
mehr goetheanisch denken .... Goethe hatte ja auch so eine Idee, betsimmte
reine Typen der Pflanzen, die Urpflanze und dergleichen, Urphänomene,
und daran muß man sich orientieren, und das kann man nicht ersetzen
durch leicht ablesbare Merkmalkombinationen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- über Psychiatrie, 6. Juni 2010 |
(Robby Jacob: ,Meine Kollegen und ich sind
gerade sehr damit beschäftigt zu eruieren, welche praktischen Möglichkeiten
sich ergeben, wenn wir dir folgen und leibliche Erregungen und Gefühle
als etwas völlig anderes betrachten - das haben wir von dir gelernt
-, die Gefühle nicht als Privatangelegenheit, die jemand aus sich
hervorbringt und dann hat, sondern Gefühle als Atmosphären,
die einen ergreifen, als räumliche Atmosphären, die einen leiblich
ergreifen, ... zu durchdenken und in der Behandlung zu beachten. Und da
machen wir zur Zeit sehr interessante Erfahrungen. Wir beschäftigen
uns zur Zeit exemplarisch mit dem Gefühl der Scham, das mir da sehr
viel Potential zu haben scheint für therapeutische Überlegungen,
da es ja die Scham mit sich bringt, daß der Richtungsraum sich umdreht
und jemand tatsächlich nicht mehr unbefangen von der Enge in die
Weite leben kann, sondern auf einmal alles auf ihn zukommt und er in die
Enge gedrängt ist, permanent, sich nur noch irgendwie ein bißchen
behaupten kann und zur Passivität gedrängt wird, sich selbst
nicht mehr retten kann, auch keine Ideen mehr hat , und das erscheint
uns doch ein sehr häufiges Phänomen bei unseren Patienten, teilweise
über viele Jahre Hauptproblem. Und dann haben wir uns überlegt,
was denn eigentlich das Gegenmittel wäre, und - das kann man bei
dir auch nachlesen -, das Gefühl, das ja genau andersherum die Eigenschaften
hat, wäre der Stolz zum Beispiel. Wir haben dann begonnen, darauf
zu achten, bei unseren vielen Patienten, die tatsächlich in Scham
gefangen sind, aktiv dafür zu sorgen, daß sie wieder Zugang
zu Solzerlebnissen haben, ... und wir haben damit sehr gute Erfahrungen
gemacht .... Ich finde, wie schnell und prägnant man das sein kann
in einer Behandlung, wenn man diesen Dingen folgt, undf allein berücksichtigt,
daß Gefühle Atmosphären sind, die einen ergreifen, und
auch heilen können, wenn man sie wieder verfügnar macht.)
.... Sowohl Scham als auch Stolz unterscheiden sich von anderen Gefühlen
dadurch, daß sie sehr stark auch zusammenhängen mit der Personalität.
Man kann also sehr zweifeln, ob es auf präpersonalem Niveau
schon so etwas wie Scham gibt. Stolz eher. Jedenfalls empfinden wir schon
ein Pferd unter Umständen als stolz, während ein Pferd, das
sich schämt, eigentlich nicht vorzustellen ist. Man hat also im Grunde
keine rein vitale Scham, aber unter Umständen einen vitalen Stolz.
Trotzdem sind die Rollen bei Scham und Stolz so verteilt, daß man
den ganzen personalen Anteil eigentlich bei der Scham schon im voraus
investieren muß. Die Scham ist also eine Reaktion auf einen personalen
Mißerfolg, auf den Mißerfolg eines personalen Aufstandes gewissermaßen.
Die Person hat in irgendeiner Weise, entweder durch eine Tat oder durch
einen bloßen latenen Geltungsanspruch, sich bereits irgendwie groß
gemacht, hat eine Herausforderung in die Welt gelassen, und weil das nun
scheitert, erfolgt jetzt eine Reaktion, die eigentlich gar nicht das Personale
so sehr in Anspruch nimmt, sondern die Personalität abbaut gewissermaßen.
Es wird also ein Geltungsanspruch zurückgenommen, aber nicht freiwillig,
nicht souverän zurückgenommen, sondern er bricht zusammen. Die
Person steht daneben, muß das gelten lassen, was ihr geschieht,
daß ... der Aufstand umsonst war, daß sie sich das nicht leisten
konnte. Und dieser ... Zusammenbruch der Personalität in Fassungslosigkeit
...: da kann die Person auch gar nicht mehr reagieren. Und jetzt haben
wir beim Stolz nun eine etwas andere Situation, daß der Stolz, wie
gesagt, auch schon als rein vitaler Stolz möglich ist, als dieser
Stolz des Daseins und wie großratig gelingt es doch, einfach da
zu sein und sich zu entfalten, wie Aristoteles sagt, die ungehemmte Entfaltung
der naturgemäßen Disposition, der naturgemäßen Anlage,
der Stolz, der in der bloßen Funktionslust liegt .... Und das ist
eigentlich schon etwas Präpersonales beim Stolz. Aber ...
wenn wir etas mit Personen zu tun haben, mit Personen, deren Fassung und
damit personale Reaktionsfähigkeit zusammengebrochen ist, weil die
falsch inverstiert war: das iste eben charakteristisch für katastrophale
Scham. Da ist es jetzt erst einmal wichtig, die Person überfhaupt
wieder aufzubauen. Und das ist also gewissermaßen ein Aufbau sehr
stark vom leiblichen her, denn der Stolz setzt bei der Leiblichkeit an.
Die Frage Worauf bist du stolz?, daß man überhaupt auf
etwas stolz sein kann, das geschieht, wenn man sich gewissermaßen
aufrichten kann, wenn man sich entfalten kann. Die Entfaltung muß
beim Leiblichen ansetzen .... Und jetzt gilt es, die Fassung aufzubauen.
Fassung ist etwas sowohl Leibliches als auch Personales. Beide Faktoren
geht unverfmeidlich ineienander über. Ohne diese keimende, aufschwellende
Lebenskraft, dieses Gefühl, daß ich mich entfalten kann, ist
Stolz unmöglich, und das ist eben eine leibliche Regung, eigentlich
hängt das an dem, was ich nenne leibliche Schwellung, es muß
Schwellung geben, Spannung sich durchsetzen können, dieses elemantare
Triumphgefühl. Und das ist nun eine Wiederherstellung der Personalität
vom Leiblichen her. Hier kann unter Umständen die Anregung Worauf
sind Sie stolz, lieber Mann? helfen, aber das ist zunächst etwas
rein Personales, denn der elementarte Stolz ist auf nichts stolz, sondern
einfach nur stolz, selbst da zu sein. Und den jetzt wieder hereinzubringen,
das ist also ein Impuls, die Fassung auch als personale Fassung, aber
vom Leibblichen her wieder aufzubauen. Und bei der Scham haben wir das
Personale gewissermaßen abgebaut, Reduktion auf einen rein leiblichen,
präpersonalen Zustand der Fassungslosigkeit - oder nähert
sich dem. Beim Stolz müssen wir umgekehrt, beim Leiblichen anfangen
und versuchen, wie weit wir jetzt kommen, wobei natürlich Anregungen
aller Art möglich sind, aber diese vermögen eines hinlänglich
starken Antriebs und mit dominanter Schwellung gespeisten vitalen Antriebs,
daß sich der Mensch überhaupt wieder etwas zutraut. Und das
ist - gewissermaßen in umgekehrter Reihenfolge -, den Stolz zu stärken
oder sonst etwas zu stärken. In solchen Fällen wäre der
Appell an das bloß Peronale aussichtslos.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- über Psychiatrie, 6. Juni 2010 |
(Alexander Risse:
,Ich bin in Kontakt gekommen mit Ihrem Werk ..., so daß relativ
schnell klar wurde, daß man mit diesem Gefühlsraum psychiatrisch
enorm was anfangen kann und die operationale Psychiatrie oder operationalisierende
eigentlich nicht weiterhilft .... Meine erste Frage wäre: Wenn wir
als Ärzte davon reden: Reiß dich zusammen, mach
irgendwas und postulieren, daß es einen freien Willen gibt,
würden Sie sagen, daß es den überhaupt gibt?)
.... Freiheit hat ja ganz verschiedene Perspektiven. Es ist einerseits
die Frage, ob man für das Verhalten einen Spielraum hat ... oder
festgelegt ist. Der perfekte Determinismus bestreitet uns jeden Spielraum.
.... Dieser Determinismus mag stimmen oder nicht stimmen. Als allgemeiner
Determinismus ist er sicher falsch. Aber er kann nicht im Ernst vertreten
werden, obwohl er vertreten wird. .... Deterministische Überzeugung
ist unverträglich mit rationalem Verhalten, weil rationales Verhalten
immer auch das Wählen impliziert. .... Was ist aber das Wählen?
.... Das Wählen besteht darin, in der Überzeugung von mehreren
Möglichkeiten eigenen Verhaltens, angesichts einer Herausforderung
sich wissentlich darauf zu beschränken, von diesen mehreren Möglichkeiten
höchstens einige, meistens auch nur eine einzige zu verwirklichen.
Nun kann aber nicht zugleich derselbe Mensch die Überzeugung von
mehreren Möglichkeiten und nur von einer einzigen Möglichkeit,
nicht mehr als einer einzigen haben - das widerspricht sich, das kann
der Mensch nicht zusammenbringen in derselben Überzeugung, folglich
kann er, wenn er wirklich Determinist ist, nicht nur nicht mehr glauben,
wählen zu können, sondern, weil zum Wählen selbst ein Glauben
gehört, auch nicht mehr wählen, er kann sich nur noch treiben
lassen. .... Wir können also schon einmal unterstellen, daß
wir keine Deterministen sind, und zwar im Einspruch gegen alle diese vielen
Stimmen, die uns ... raten, das doch zu sein und uns trotzdem für
frei zu halten. Insofern können wir uns einfach mal vorläufig
zumuten, daß wir einen Spielraum für unser Verhalten haben,
weil wir nämlich allesamt als vernünftige Menschen wählend
agieren und uns zunächst einmal bescheinigen, daß wir das Recht
haben, so zu tun und nicht von der Erde verschwinden, was zweifellos geschehen
würde, wenn wir alle Deterministen würden. Insofern ist diese
Frage zu beantworten. Wir setzen also voraus, daß wir für unser
verhalten gewisse Spielräume haben.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- über Medizinphilosophie, 6. Juni 2010 |
(Robby Jacob: ,Meine Berufsbezeichnung
heißt ja ,Psychiater. Und ich habe von Hermann Schmitz gelernt:
Die Psyche ist es gar nicht! Ich habe einen berufliche Identitätskrise,
die mir aber viel Freude macht. Mir fehlt nur noch eine Sache in der Neuen
Phänomenologie. Wenn ich die noch kriege von Hermann Schmitz ...:
Was ist Gesundheit?) .... Da gibt es ...
verschiedene Ideale. Der Inhalt wird immer verschieden sein; man kann
nur einen sehr formalen Rahmen spannen für die Gesundheit überhaupt;
das ist eine Frage der Option - genauso wie die Schönheit. .... Platons
Wagenlenker-Gleichnis, und das entgegegegsetzte ist der Bamberger Reiter
- wegen des Einverstandenseins von Mensch und Tier, d.h. der pereonalen
und der präpersonalen Schicht. .... Es ist immer eine Labilität.
Es wird immer bei einem gewissen ,Wellenreiten bleiben. Die Person
kann sich nicht stabil über ihre Basis erheben, sondern es ist immer
ein Hin und Herr von Emanzipation und Regression nötig. Und diese
Regression ist nicht abzuschätzen. Es ist also der Fehler
der asiatischen Weisheitslehren, daß sie denken, die Regression
in die Emanzipation einbinden zu können, so daß man zwar hinfallen
kann, aber sich überhaupt nicht mehr dabei wehtut und gleich wieder
aufsteht, wie das auch in den asiatischen Kampfkünsten eingeübt
wird. Diese Technik ... ist dann aber keine richtige personale Regression
mehr. Das Gegenbeispiel ist die attische Tragödie. Tragödie
ist eigentlich nicht dafür, in eine Katastrophe zu geraten, sondern
ist eine Option für eine der Mächte, und zwar im Grunde der
göttlichen Mächte, in deren Bann der Mensch steht, ... und indem
er sich auf diese Option nun eben festlegt, wählt er einen Weg, der
- weil es nur eine von mehreren Mächten ist, eine von mehreren Perspektiven
-, der ihn ins Verderben führen kann, aber nicht muß. Und er
ist im Grunde optionsfähig: der tragische Mensch der Griechen. Die
griechische Tragödie ist keine Katastrophendramatik, besteht nicht
aus lauter Trauerspielen, sondern aus dem für den Menschen unvermeidlichen
Risiko der Vereinseitigung und daß er da - im Grunde genommen -
seiner eigenen glücklichen oder unglücklichen Hand überlassen
ist: da gibt es personale Regression mit dem Risiko des Scheiterns. Darüber
wird man nicht hinwegkommen. .... Ja, das ist natürlich auch etwas,
... aber mehr für die Menschengestaltung ..., auch da ist die Neue
Phänomenologie wichtig als Besinnung - Herr Böhme hat das verstanden
in Darmstadt -, das ist aber keine direkte Anwendung in den Wissenschaften.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch
- Zukunft der Neuen Phänomenologie, 6. Juni 2010 |
Eine Norm ist ein Programm für möglichen Gehorsam.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen,
2012, S. 7 |
Der Mensch kann nicht anders als unter Normen leben, weil er in
Situationen lebt, in denen Programme enthalten sind, die seine Gefolgschaft
herausfordern.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen,
2012, S. 7 |
Eine Norm kann einzeln sein. Einzeln ist, was
eine Anzahl um 1 vermehrt oder logisch gleichwertig* Element
einer endlichen Menge ist. *Jedes Element einer endlichen (nicht: einer
unendlichen) Menge vermehrt deren Anzahl um 1, und alles, was eine Anzahl
um 1 vermehrt, ist Element einer endlichen Menge, nämlich mindestens
derjenigen, deren einziges Element es selber ist (der Menge dessen, was
mit ihm identisch ist).
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen,
2012, S. 11 |
Ein Nomos ist der Gehalt einer Situation an Programmen
(Normen und Wünschen).
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen,
2012, S. 13 |
Verbindlich gilt eine Norm für jemanden, dem sie die
Bereitschaft zum Gehorsam exigent abnötigt. Die Nötigung ist
exigent, wenn der Genötigte dem Gehorsam zwar ausweichen kann, aber
nur zwiespältig, halbherzig, befangen, unsicher, nicht in voller
Übereinstimmung mit sich. Ermöglicht wird solcher Zwiespalt
durch einen Typ von Mannigfaltigkeit, der sich sowohl vom numerischen
Mannigfaltigen (aus lauter einzelnem, das nichts als es selbst ist) als
auch vom chaotischen Mannigfaltigen (in dem es an Einzelheit, eventuell
auch an Identität und Verschiedenheit fehlt), unterscheidet. Das
zwiespältige Mannigfaltige ich habe es auch »instabil«,
»ambivalent«, »multivalent« genannt besteht
aus einzelnem wie das numerische, hat aber im Gegensatz zu diesem eine
Schwierigkeit mit der Identität: Es steht nicht fest, womit es identisch
ist, weil mehrere verschiedene Sachen (im allgemeinsten Sinn von »etwas
überhaupt«) um Identität mit ihm konkurrieren; in diesem
Sinne ist es mannigfaltig. Statt der etwas abseitigen Beispiele, die ich
auch angegeben habe, berufe ich mich jetzt auf ein Beispiel, das jeder
am eigenen Leben nachprüfen kann. Er hat jedenfalls verschiedene
Lebensphasen durchlaufen. Ich bin ein Mann, der einmal ein Säugling
war, dann ein Kind, ein Mann in den besten Jahren und dergleichen mehr.
Jetzt bin ich ein alter Mann. Das sind viele, deutlich unterschiedene
Individuen, und doch bin ich sie alle. Sie konkurrieren um Identität
mit mir. Im Fall des Zwiespalts bei exigenter Nötigung konkurrieren
nicht verschiedene Individuen, sondern verschiedene unvereinbare Zustände
um Identität mit dem Zustand des Zwiespältigen. Das ist der
Fall, wenn jemand gleichsam neben oder über sich steht, z.B. in heftigem
Zorn oder anderer Erregung sich kühl kontrolliert, wenn er in der
Scham, die er nicht los wird, sich selbst belächelt, humorvoll leidet,
sich über sich selbst ärgert usw.. Bei einer anderen Art von
Zwiespalt entfällt solche Überlegenheit, wenn nämlich jemand
etwas sich vormacht, sich über sein schlechtes Gewissen oder sonstiges
affektives Betroffensein hinwegzusetzen versucht, es vor sich selbst zu
verbergen sucht usw.. Von dieser Art ist der zwiespältige Spielraum,
der dem exigent Genötigten zum Ausweichen vor der für ihn verbindlichen
Geltung einer Norm bleibt. Er kommt auf beide Weisen vor, meist aber wohl
ohne das Darüberstehen. In beiden Fällen kann der Sichthaber
der ihm verbindlich geltenden Norm seine Bereitschaft nicht nach Belieben
verweigern.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen,
2012, S. 16-17 |
Auf der Autorität der Gefühle beruht die verbindliche
Geltung rechtlicher, moralischer und religiöser Normen sowie der
intimen erotischen Normen in einem Liebesverhältnis von hinlänglicher
Tiefe. Während die Autorität des Seins in der Evidenz für
alle Menschen in deren Perspektive die verbindliche Geltung von Normen
stiftet, gelten die von der Autorität der Gefühle mit verbindlicher
Geltung bewaffneten Normen nicht ebenso homogen; denn die Macht der Gefühle
beruht auf der Ergriffenheit von ihnen, und darin unterscheiden sich Individuen
wie Kollektive.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen,
2012, S. 18 |
Identität (verstanden als absolute Identität,
dieses und von anderem verschieden zu sein, noch nicht als relative Identität)
und Subjektivität (in meinem Fall: ich zu sein) sind nicht selbstverständlich,
sondern müssen dem verschwommenen Ergossensein in Dauer und Weite,
dem gleitenden Dahinleben und Dahinwähren (etwa im Dösen oder
in gedankenloser Routine), durch einen Einschnitt abgewonnen werden, der
im plötzlichen Einbruch des Neuen Dauer zerreißt, Gegenwart
exponiert und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein (Nichtmehrsein) verabschiedet.
Diese Gegenwart ist die primitive, in der die fünf Momente hier,
jetzt, sein, dieses, ich verschmolzen sind. Sie wird dem Betroffenen
von der Engung in seinem vitalen Antrieb, in dem Engung und Weitung als
Spannung und Schwellung verschränkt sind, vorgehalten. Diese Verschränkung
spreizt sich auf zur leiblichen Kommunikation in der Einleibung, in der
mehrere Teilnehmer (darunter auch leiblose, durch leibnahe Brückenqualitäten
Leibern verbundene) durch einen gemeinsamen vitalen Antrieb zusammengeschlossen
sind. So entsteht ein Leben aus primitiver Gegenwart, das Tiere und Säuglinge
sowie Personen in flüssiger Routine und in Zuständen der Fassungslosigkeit
führen. Es ist von der primitiven Gegenwart her mit absoluter Identität
und Verschiedenheit ausgerüstet und dadurch vor Verwechslungen geschützt.
Außerdem ist es voll von Situationen, die mit Rufen und Schreien
angesprochen, heraufbeschworen, modifiziert und beantwortet werden. Ein
ontologisch bedeutsamer Sprung entsteht, wenn menschliche, satzförmige
Rede einzelne Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situationen
entbindet, darunter Sachverhalte, die Gattungen, und solche, die die Bestimmtheit
als Fall von Gattungen sind. Dadurch entstehen einzelne Sachen, indem
sich absolute Identität mit Bestimmtheit als Fall von Gattungen bereichert.
Dank dieser Vereinzelung entfalten sich die fünf in der primitiven
Gegenwart verschmolzenen Momente zur Welt als dem Rahmen oder Feld möglicher
Vereinzelung: Das Hier der Enge, der absolute Ort, wird zum Ortsraum,
wo etwas an relativen Orten mit Lagen und Abständen untergebracht
sein kann; das Jetzt des Plötzlichen, der absolute Augenblick, entfaltet
sich zum System relativer Augenblicke, zur modalen Lagezeit mit Fluß
der Zeit; das abgerissene Sein der exponierten primitiven Gegenwart entfaltet
sich zum Gegenteil des Nichtseins in dessen voller (nicht mehr auf den
Abschied vom Nichtmehrseienden eingeschränkter) Breite; die absolute
Identität entfaltet sich zur relativen, die eine Sache unter vielen
Gesichtspunkten, in vielen Hinsichten, zu betrachten erlaubt; die Subjektivität,
selbst betroffen zu sein, entfaltet sich zur Person mit Gegenüberstellung
des Eigenen und Fremden.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen,
2012, S. 18-20 |
Dazu kommt es in folgenden Schritten: Der erst nur absolut
identische Bewußthaber des Lebens aus primitiver Gegenwart wird
zum einzelnen Subjekt durch Selbstzuschreibung, sich als Fall von Gattungen
aufzufassen, und damit zur Person, d.h. zum Bewußthaber mit
Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Diese ist ein identifizierendes
Sichbewußthaben, das zur Bereitstellung des Relats, womit die betreffenden
Gattungsfälle identifiziert werden, eines nicht identifizierenden
Sichbewußthabens bedarf, weil sonst durch fortlaufende Identifizierung
nur Gattungen gehäuft würden, in denen der Bewußthaber
keinen Grund zu der Annahme finden könnte, daß es sich um ihn
selbst handelt. Dieses nicht identifizierende Sichbewußthaben wird
bereitgestellt von den subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins,
die höchstens er im eigenen Namen aussagen kann. Um sich als den,
für den sie subjektiv sind, identifizierungsfrei zu finden, bedarf
er des Zusammenfalls von absoluter Identität und Subjektivität
im Ereignis der primitiven Gegenwart, selbst betroffen zu sein. Die primitive
Gegenwart wird ihm im Leben aus primitiver Gegenwart vorgehalten durch
die Engung im vitalen Antrieb. Selbstzuschreibung und Person sind also
nur möglich durch Rückgang in das Leben aus primitiver Gegenwart
(personale Regression). In Gegenrichtung führt die personale
Emanzipation durch Neutralisierung von Bedeutungen aus dem Leben aus primitiver
Gegenwart heraus. Im Leben aus primitiver Gegenwart sind alle Bedeutungen
für jemanden subjektiv, so daß höchstens er sie sagen (aussagen)
kann. Im Zuge der Vereinzelung fällt diese Subjektivität teilweise
ab. Übrig bleiben objektive oder neutrale Sachverhalte, Programme
und Probleme, die jeder sagen kann, sofern er genug weiß und gut
genug sprechen kann. Ihnen gegenüber gewinnt die Person den Spielraum
zu unbefangenem Prüfen und Vergleichen, der ihr im affektiven Betroffensein
von für sie subjektiven Bedeutungen versagt bleibt. Den neutralen
Bedeutungen stehen die für die Person subjektiv gebliebenen mit breiten
Grauzonen zur Neutralität hin gegenüber. Aus ihnen und den Sachen,
die Fälle solcher subjektiv gebliebenen Bedeutungen vom Typ der Gattung
sind, bildet sich eine Sphäre des Eigenen in Gestalt der zuständlichen
persönlichen Situation (der Persönlichkeit) einer Person und
ihrer persönlichen Eigenwelt gegenüber ihrer persönlichen
Fremdwelt. Fremd wird etwas für die Person, wenn der (auch
eventuell untatsächliche) Sachverhalt, daß es existiert, für
sie neutral geworden ist; eigen bleibt oder wird es, sofern der
betreffende Sachverhalt für sie subjektiv ist (wenn sie in Zuneigung
oder Abwehr daran »hängt«). Die Grenze zwischen beiden
Teilwelten der persönlichen Welt kann sich ständig verschieben
und läßt breite Grauzonen zu. Die Abhebung des Eigenen der
Person vom durch Neutralisierung Entfremdeten, mit mehr oder weniger breiten
Grauzonen, ist personale Emanzipation. Die personale Emanzipation
bildet Niveaus von verschiedener Höhe aus. Ein Niveau ist höher
als ein anderes, wenn es dem Leben aus primitiver Gegenwart durch stärkere
Neutralisierung und weniger Verschwimmen in den Grauzonen weiter entrückt
ist. Von einem höheren Niveau aus ist ein weniger hohes ein Niveau
personaler Regression auf dem Wege zum Leben aus primitiver Gegenwart
ohne Scheidung des Eigenen vom Fremden. Die Person kann zugleich auf mehreren
Niveaus stehen. Dann ergeben sich Zwiespälte der vorhin beschriebenen
Art, wobei die Person gleichsam über und unter sich selbst steht.
Ein Beispiel dafür ist die Akrasie, etwa des faulen Bettgenießers,
der auf einem höheren Niveau personaler Emanzipation weiß und
anerkennt, daß er jetzt aufstehen müßte, auf einen niedrigeren,
mit weniger Abspaltung der Subjektivität vom Neutralen und Fremden,
es aber so schön warm und wohlig findet, daß er trotzdem liegen
bleibt.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen,
2012, S. 20-22 |
Die Perspektive, in der Normen für Personen gelten, ist relativ
auf ein Niveau ihrer personalen Emanzipation; das gilt auch für die
Verbindlichkeit und die diese stiftende Autorität. Eine Norm kann
für eine Person auf einem Niveau verbindlich gelten, obwohl auf einem
gleichzeitigen höheren Niveau die Verbindlichkeit entfällt.
Ein Beispiel ist die heftige Scham, die entstehen kann, wenn man sich
in Gesellschaft eine Blöße (im übertragenen Sinn) gegeben
hat, so daß man einen Geltungsanspruch zurücknehmen muß,
obwohl man sich auf einem höheren Niveau bewußt ist, daß
es sich um eine Äußerlichkeit handelt, die man eigentlich nicht
so wichtig zu nehmen brauchte. In solchen Fällen hat die verbindliche
Geltung der Norm für die Person bedingten Ernst, ebenso die
Autorität der konventionellen Scham, die ihr dann die verbindliche
Geltung auferlegt. Im Fall von echter Gewissensscham, die z.B. im Philoktetes
des Sophokles den Neoptolemos treibt, dem betrogenen Philoktetes den durch
gemeine List entwendeten Bogen zurückzugeben, gibt es kein solches
höheres Niveau. Die Person kann sich dann nicht auch nur teilweise
von der exigenten Nötigung durch die ihr verbindliche Geltung auflegende
Autorität zurückziehen. Dann hat diese und die verbindliche
Geltung unbedingten Ernst für die Person. Unbedingten Ernst hat auch
die Autorität des Seins in der Evidenz. Unbedingten Ernst hat die
Autorität der Gefühle, auf denen die Moral, die Religion (als
echte Ergriffenheit von Göttlichem) und die tiefe Liebe zu einer
anderen Person beruhen. Durch die Autorität mit unbedingtem Ernst
wird die Abhängigkeit der verbindlichen Geltung von der Perspektive
einer Person gesteigert, weil nicht für alle Personen ein gleiches
Niveau personaler Emanzipation das höchste erreichbare ist, vielmehr
dessen Art und Höhe von Person zu Person schwanken kann. Auch lassen
sich Personen denken, für die kein Niveau personaler Emanzipation
das höchste erreichbare ist. Solche Personen leben dann im Paradies
oder der Hölle vollendeter Frivolität, wo Max Stirner den Einzigen
angesiedelt hat; wenn dieser allerdings die Frivolität von der Autorität
der Gefühle auf die des Seins in der Evidenz ausdehnt, endet er schnell
im Kranken- oder Irrenhaus.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen,
2012, S. 22 |
Der Zwiespalt bei Autorität mit bedingtem Ernst entsteht
durch die Möglichkeit der Steigerung personaler Emanzipation auf
ein höheres Niveau. In die Gegenrichtung, nämlich auf den Verlust
der Personen vorbehaltenen flexiblen Geltung an die automatische hin,
führt ein Zwiespalt, der sich bei anankastischen (zwanghaften) Störungen
auftut. Solche Störungen entstehen nach personaler Emanzipation,
wobei sich die Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden ausgebildet
hat, durch eine paradoxe Überschiebung, indem das Fremde im Eigenen
auftaucht und dadurch eine unerbittliche Hartnäckigkeit gewinnt.
Weil die Macht des Zwanges sich im Eigenen abspielt, hängt die Person
daran mit der Subjektivität ihres affektiven Betroffenseins; sie
kommt nicht davon los und kann das Zwingende auch nicht in die persönliche
Fremdwelt abschieben, weil es fremd schon ist, in sich das Fremde und
das Eigene vereinigend. Die anankastisch zwingende Macht haftet entweder
an einer Norm oder an einem Wunsch. Im ersten Fall ergibt sich eine Zwangsneurose
(z. B. Waschzwang, Zählzwang oder Zwang, häßliche Worte
auszustoßen), im zweiten Fall eine Sucht. In beiden Fällen
ist es schwer, zu entscheiden, ob noch ein Spielraum da ist, der zur Flexibilität
der Geltung einer Norm und der Besessenheit vom Wunsch genügt, oder
ob die Geltung und das, was ihr beim Wunsch entspricht, schon automatisch
geworden ist.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen,
2012, S. 22-23 |
Das menschliche Selbst- und Weltverständnis in Europa
steht seit Jahrtausenden ganz überwiegend unter dem Diktat der Weltspaltung
auf Grund eines Paradigmenwechsels, der sich in Griechenland in der 2.
Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts ereignete und im folgenden
Jahrhundert von Platon und Aristoteles zu durchschlagendem Erfolg geführt
wurde. Im Interesse der Selbstermächtigung des Menschen im Verhältnis
zu seinen unwillkürlichen Regungen wurde jedem Bewußthaber
eine private Innenwelt (Psyché) zugeteilt, in die sein gesamtes
Erleben eingeschlossen wurde, damit er in dieser Domäne als Vernunft
Regie führen könne. Die zwischen den Innenwelten verbleibende
empirische Außenwelt wurde von allen Einflüssen, die diesem
Regiment gefährlich werden konnten, durch eine Abschleifung freigemacht,
die nur wenige Merkmalsorten und deren erdachte Träger übrig
ließ. Diese Sorten waren (schon von Demokrit) so gut gewählt,
daß sie noch heute den Datenvorrat bilden, an dem die Physik im
Experiment ihre Hypothesen prüft, doch war dieser Vorteil für
die Weltbemächtigung damals, als es erst um die Selbstbemächtigung
ging, noch nicht aktuell. Der Abfall der Abschleifung wurde entweder absichtlich
(wie die spezifischen Sinnesqualitäten) in den Innenwelten (Seelen)
abgelegt oder schlicht übersehen, um dann doch, aber in entsprechend
gewandelter Gestalt, in den Seelen unterzukommen. Diese psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische
Vergegenständlichung haben sich später, mit umgekehrter Akzentsetzung,
das Christentum und die Naturwissenschaft zunutze gemacht, wobei es dem
Christentum auf die Innerlichkeit (die Seele und die gottgefällige
Herrschaft der Person über die unwillkürlichen Regungen in ihr)
ankam, der Naturwissenschaft auf die Äußerlichkeit (die empirische
Außenwelt und ihre theoretische und praktische Beherrschung im Geist
des demokritischen Reduktionismus). Innerlichkeit und Äußerlichkeit
trafen sich im Menschen, der einer der Weltspaltung entsprechenden Zerlegung
in Seele und Körper unterworfen wurde.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede, in: Atmosphären,
2014, S. 7-8 |
Bei der Weltspaltung und der zugehörigen Menschspaltung
wurde sehr schematisch verfahren, mit grob gezogenen Trennlinien und unklaren
Grauzonen. Der Versuch, nach Maßgabe dieser Trennungslinien den
Erfahrungsstoff in den vom Psychologismus und Reduktionismus vorbereiteten
Auffangbecken unterzubringen, hat zu großen Verlusten wichtiger
Massen normaler Lebenserfahrung im menschlichen Welt- und Selbstverständnis
geführt. Geradezu grotesk ist das Schicksal, das dem Begreifen des
spürbaren Leibes widerfuhr. Jeder Mensch kennt Hunger, Durst, Angst,
Schmerz, Wollust, Ekel, Frische und Müdigkeit; Zorn ist schon einmal
in ihm aufgestiegen, ein Schauer hat ihn überlaufen, Kummer ihn niedergedrückt.
Solche Regungen sind nicht Körperteile, weilohne Flächen, aber
auch nicht innerlich in der Seele, weil räumlich ausgedehnt und mehr
oder weniger an Körperstellen lokalisiert. Die Menschspaltung zerlegt
sie in ein Körpergeschehen und ein asylum ignorantiae (Propriozeption,
Zoenästhese) in der Seele, ohne sich um die eigentümliche Struktur
und Funktionsweise des spürbaren Leibes zu kümmern; dieser verschwindet
zwischen Körper und Seele wie in einer Gletscherspalte. Ähnliches
widerfährt den Atmosphären, im einfachsten Fall etwa dem Wetter.
Die Menschen spüren es am eigenen Leibe; es liegt ihnen so nahe,
daß sie zunächst mit Fremden darüber reden, um den Bann
zu brechen, aber die abendländische Begriffsbildung kümmert
sich so wenig um diese gespürte Atmosphäre, daß sie sie
in zwei Komponenten zerlegt, von denen die eine in der Physik (Meteorologie)
sorgfältig studiert wird, während die andere in der Seele ein
von der Psychologie notdürftig betreutes Schattendasein führt.
Wichtiger sind die Atmosphären des Gefühls, die Gefühle
als Atmosphären, die von der Introjektion bei den Seelenzuständen
von Lust und Unlust untergebracht werden. Mit ihnen beschäftigt sich
dann die Ästhetik, z. B. die von Kant durch veranstaltung einer Seelengymnastik
( einer Art von Ballspiel der Seelenvermögen Verstand und Einbildungskraft,
Analytik des Schönen) oder einer Selbstbespiegelung mit Versicherung
übersinnlichen Ranges (Analytik des Erhabenen).
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede, in: Atmosphären,
2014, S. 8-9 |
Mit meinem Versuch, die Weltspaltung zu überwinden
und die von der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen
Vergegenständlichung der Besinnung entfremdeten Schätze normaler
menschlicher Lebenserfahrung begreifend zu bergen, habe ich beim spürbaren
Leib und den Gefühlen als Atmosphären angefangen. Ich habe die
eigentümliche Ausdehnung und Dynamik des Leibes herausgearbeitet
und diese Dynamik in die leibliche Kommunikation hinein verfolgt, die
Grundform der Kontakte und der (von der dominanten Vergegenständlichung
physikalisch-physiologisch bis zum Gehirn verfolgten) Wahrnehmung, ja
im Grunde allen Dabeiseins bei etwas. Den Atmosphären bin ich in
Gestalt der Gefühle nahegetreten, um diese aus der Introjektion
zu befreien und sie mit dem leiblich-affektiven Betroffensein, als der
Resonanzstelle für sie und dem Boden persönlicher Zuwendung
in Preisgabe oder Widerstand an das ergreifende Gefühl, zusammenzubringen.
Anfangs war ich in Gefahr, die Gefühle zu sehr zu verdinglichen,
um ein Gegengewicht gegen ihre Introjektion zu markieren. Dieser Gefahr
habe ich mich entzogen, indem ich die Gefühle als Halbdinge (im Gegensatz
zu Dingen) bestimmte, nach Art der Stimme, des Windes oder der reißenden
Schwere, wenn man ausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt.
Eine weitere Verbesserung gelang mir für die Erfassung der Räumlichkeit
der Gefühle, indem ich flächenlose und flächenhaltige Räume
unterschied und ihr Verhältnis bestimmte. Bald nach dem Leib und
den Atmosphären kamen in meinen Blick die Situationen mit binnendiffuser
Bedeutsamkeit, teils aktuelle, teils zuständliche, teils impressive
(vielsagende Eindrücke), teils segmentierte. Ich lernte, daß
Atmosphären gewöhnlich in Situationen eingebettet sind; das
kam meiner Charakterisierung der Liebe im gleichnamigen Buch von 1993
zugute. Die Neubestimmung der Subjektivität krönte meine Auseinandersetzung
mit der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen vergegenständlichung.
Als Heimstätte war von dieser dem Subjekt die Seele zugewiesen, ein
kleines Tortenstück aus dem großen Kuchen Welt. Ich entdeckte
als die Heimstätte der Subjektivität die subjektiven Tatsachen
des affektiven Betroffenseins im Gegensatz zu den ihnen im Inhalt gleichen,
aber in der Tatsächlichkeit reduzierten objektiven Tatsachen, die
jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen
kann. Die Philosophen und Psychologen haben, wenn sie über Seele
und Seelisches (oder über Bewußtsein und Bewußtseinsstrom,
einen Epigonen der Seele) sprachen, immer nur solche objektiven Tatsachen
im Auge gehabt und dadurch die Subjektivität verfehlt.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede, in: Atmosphären,
2014, S. 9-10 |
Wenn ich nicht irre, habe ich 1969 mit meinem Buch Der
Gefühlsraum die Theorie der Atmosphären in die Philosophie
eingebracht. Zwei Autoren haben sich von meiner Anregung inspirieren lassen:
Gernot Böhme mit einer Reihe feinsinniger, auf verschiedene Bücher
verteilter Essays und Tonino Griffero (...). In anderer Blickrichtung,
von mir unabhängig, veröffentlichte 1993 Georg Knodt einen Essay
über Atmosphären. Das stark gewachsene Interesse an der Diskussion
dieses Themas hat sich in mehreren Sammelbänden niedergeschlagen,
an denen ich mitgearbeitet habe. Zwei davon enthalten Originaldrucke.
hier reproduzierter Aufsätze von mir; weitere sind: Atmosphären
im Alltag, ... 2007; Gefühle als Atmosphären, ... 2011 (Deutsche
Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 29). Das virulente Interesse
an Atmosphären hat dazu geführt, daß ich in den letzten
Jahren vielfach zu Vorträgen oder Vorlagen aus diesem Themenkreis
aufgefordert wurde; die Beiträge in diesem Buch gehen darauf zurück.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede, in: Atmosphären,
2014, S. 10-11 |
Als ... Fortschritte meines Zugangs zu Atmosphären überhaupt,
abgesehen von den Neuerungen dieser phänomenologischen Einzelananalysen,
nennen ich zwei: erstens das Bemühen um genaue, ebenso scharfe wie
geschmeiduge Begriffsbildung als Voraussetzung sorgfältiger Rechenschaft
von den Phänomenen. .... Zweitens sichte ich nun die Atmosphären
im breiteren Zusammenhang atmosphärischer Räume, über die
Gefühle hinaus. Dabei achte ich ganz besonders auf den Zusammenhang
der Atmosphären mit dem Leib und der leiblichen Kommunikation. Der
Leib ist die Empfangsstation für Atmosphären und wirkt auf diese
zurück.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede, in: Atmosphären,
2014, S. 11 |
Der Leib ist die Empfangsstation für Atmosphären und
wirkt auf diese zurück.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede, in: Atmosphären,
2014, S. 11 |
Im antiken Griechenland ereignet sich während des
5. Jahrhunderts v. Chr. eine für die gesamte Folgezeit schicksalhafte
Umstellung des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses. Die Welt
wird gespalten, indem jeder Bewußthaber einen Ausschnitt aus ihr
als seine private Innenwelt bekommt, in der sein gesamtes Erleben enthalten
und nach außen abgeschlossen ist. Ihr Name ist »Psyché«,
»Seele«. Am Anfang des Jahrhunderts fehklt ihr noch, die bis
dahin Leben oder Totengeist war, die Abgeschlossenheit; Heraklit sagt:
»Grenzen der Seele wirst du wandernd niemals finden, wenn du auch
jegliche Straße abschrittest.« (Heraklit, Fragment 45). Von
Sophokles, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, ist als isolierter
Vers aus den verlorenen Manteis die Formulierung überliefert:
»das verschlossene Tor der Seele öffnen« (Sophokles,
Fragment 360). Zwischen beiden Zeugnissen liegt die Weltspaltung. Die
nach Abzug aller Innenwelten zwischen ihnen verbleibende Außenwelt
wird schon damals beri Demokrit, später bei Platon und den Folgenden,
bis auf wenige Merkmalsorten und deren hinzugedachte Träger abgeschliffen.
Der Abfall der Abschleifung wird durch Transport in die Seelen entsorgt,
entweder absichtlich wie die spezifischen Sinnesqualitäten oder unter
der Hand, indem der Vorrat vergessen wird und in modifizierter Form unversehens
in den Seelen unterkommt. Auf diese Weise werden der spürbare Leib
und die leibliche Kommunkation, die Gefühle als Atmosphären
und Atmosphären anderer Art, vielsagende Eindrücke und andere
bedeutsame Situationen und weiteres aus der Aufmerksamkeit verdrängt;
übrig bleiben Innenwelten zur Selbstbeherrschung und eine Außenwelt
zur Weltbeherrschung, erst durch Gott, dann durch die Menschen und ihre
Apparate,
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume,
in: Atmosphären, 2014, S. 13 |
Flächenlose Räume sind nicht bloß schattenhafte
Rand- und Ausfallerscheinungen des uns vertrauten Ortsraums, sondern dessen
unerläßliche Voraussetzungen .... Man kann zeigen, daß
ein Ortsraum ohne Anleihe bei ortlosen, weil flächenlosen Räumen
gar nicht eingeführt werden kann.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume,
in: Atmosphären, 2014, S. 15-16 |
Die beiden wichtigsten Typen flächenloser Räume
sind der Raum des Leibes und der Raum der Gefühle als Atmosphären.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume,
in: Atmosphären, 2014, S. 16 |
Der Sinn des Wortes »Atmosphäre« in
der allgemeinsten für die Phänomenologie der Räumlichkeit
erforderlichen Bedeutung kann so formuliert werden: Eine Atmosphäre
ist eine totale oder partielle, in jedem Fall aber umfassende Besetzung
eines flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erfahren
wird.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume,
in: Atmosphären, 2014, S. 19 |
Seit der Weltspaltung im fünften vorchristlichen
Jahrhundert hat man sich angewöhnt, die Gefühle als passiones
animae, Affekte oder Leidenschaften der Seele, der abgeschlossenen
privaten Innenwelt des Bewußthabers einzulagern, anders als noch
in jener Zeit des Empedokles (um 492 - um 432 -
also trotz alledem schon im 5. vorchristlichen Jahrhundert, als die Weltspaltung
ja schon begann, jedoch noch nicht im ganzen Griechenland, wie
Empedokles und andere griechische Denker dieser Zeit beweisen! HB),
der sich rühmt, als erster erkannt zu haben, daß die Liebe,
die man da draußen wirbeln sieht, dieselbe ist, die, den Gliedern
der Sterblichen eingepflanzt, darauf hinwirkt, daß sie freundliche
Gesinnungen hegen und einträchtige Werke vollbringen (vgl. Empedokles,
Fragment 17, 20-26, a.a.O.). Die Introjektion der Gefühle, mit der
sich die Menschheit der klassischen griechischen Philosophie um Platon
und Aristoteles (d.h.: vom späten 5. bis zum
späten 4. vorchristlichen Jahrhundert! HB) angeschlossen hat,
ist ein Irrtum; er scheitert daran, daß es die Seele oder anders
benannte abgeschlossene private Innenwelt allen Erlebens, der sie introjiziert
werden, gar nicht gibt, wie sich insbesondere daran zeigt, daß das
Verhältnis des Bewußthabers zu seiner Seele nicht schlüssig
konstruiert werden kann. (Vgl. Hermann Schmitz, Kurze Einführung
in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 29-45; Jenseits des Naturalismus,
2010, S. 145-163.) Gefühle sind Atmosphären in einem flächenlosen
Raum, der sich mit dem flächenhaltigen Ortsraum ebenso decken kann
wie die flächenlosen Räume des Schalls und der Stille, aber
auch darüber hinaus zu reichen vermag. Die Atmosphären des Gefühls
werden entweder bloß wahrgenommen, oder sie ergreifen leiblich spürbar;
in diesem Fall werden sie min affenktiven Betroffensein als die Gefühle,
die man selbst hat, gefühlt.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume,
in: Atmosphären, 2014, S. 21 |
Der flächenlose Gefühlsraum ist dreischichtig
Die Grundschicht bilden die reinen Stimmungen, die mit bloßer Weite,
noch ohne Richtung, alle anderen Gefühle grundieren. Es gibt zwei
reine Stimmungen: Zufriedenheit und Verzweiflung. .... Die zweite Schicht
besteht aus den reinen Erregungen; das sind Gefühle, deren Atmosphäre
von Richtungen durchzogen, aber nicht auf ein Thema zentriert ist. ....
Die dritte Schicht wird von den thematisch zentrierten Gefühlen gebildet,
in denen die gerichteten Erregungen um ein Thema zusmammengezogen sind.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume,
in: Atmosphären, 2014, S. 22 |
Außer den Gefühlen als Atmosphären mit Tendenz
zur totalen Ausbreitung im Raum erlebter Anwesenheit gibt es noch andere
solche Atmosphären, die nicht oder nicht immer Gefühle sind.
Das nächstliegende Beispiel ist das Wetter, so, wie es menschlichem
Wahrnehmen und Spüren tatsächlich gegeben ist und den nächstliegenden
Gesprächsstoff noch unter Fremden bildet ....
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume,
in: Atmosphären, 2014, S. 23 |
In flächenlosen Räumen kann man leben und sich
orientieren, ohne der Fläche zu bedürfen. Dazu genügt ein
Geflecht von Richtungen verschiedener Art .... An erster Stelle stehen
die leiblichen Richtungen, die unteilbar ausgedehnt sind und unumkehrbar
aus der Enge in die Weite führen. .... Der zweite Typ ebenso unumkehrbarer
Richtungen besteht in den Bewegungssuggestionen begegnender Gestalten
.... Zum vollständigen Richtungsraum, der dem flächenhaltigen
Ortsraum zu Grunde liegt, gehören außer den leiblichen Richtugnen
und den Bewegungssuggestionen begegnender Gestalten aber auch noch unumkehrbare
Richtungen eines dritten Typs: die abgründigen Richtungen. .... Während
der Ausgleitende und Stürzende sich von Anfang an sträubt, läßt
der Zornige sich wenigstens in einer Anfangsphyse mitreißen und
stellt seinen eigenen Impuls in den Dienst des Zorns, bis er sich in Preisgabe
oder Widerstand ihm stellt und mit ihm auseiandersetzt. - Alles, was an
dr menshlichen Motorik spontan, flüssig und unwillkürlich ist,
einschließlich der von abgründig ergreifenden Gefühlen
spontan eingegebenen, meist komplizierten und schwer lernbaren Gebärden,
spielt sich im Konzert der unumkehrbaren Richtungen des Richtungsraums
mit diesen drei Typen ab, den leiblichen Richtungen, den entgegenkommenden
Bewegungssuggestionen und den abgründigen Richtungen der Gefühle.
Unglaublich mühsam und gehemmt, bar jeder Flüssigkeit, würden
alle Bewegungen werden, wenn sie im Ortsraum mit Lagen und Abständen
abgemessen werden müßten. Die Tiere kommen nie über den
Richtungsraum hinaus. Den Menschen gelingt es, darüber eine Raumform
ganz anderer Art zu konstruieren, indem sie es vermögen, einzelne
Blickziele festzuhalten, diese auf Flächen durch Strecken mit umkehrbaren
Richtungen zu verbinden und an diesen Verbindungen Lagen und Abstände
anzulesen, mit deren Hilfe beharrliche Orte eingeführt werden können,
die zu sagen gestatten, wo sich etwas befindet, und gegebenenfalls dessen
Bewegung von einem Ort zu einem anderen verfolgen lassen. Damit wird auch
erst möglich, Gegenstände an Orten sukzessive zu speichern,
in der Weise, daß sich dort erst jener, dann dieser Gegenstand befunden
hat. Der Ortsraum mit allen diesen Errungenschaften tritt aber nicht an
die Stelle des Richtungsraums, sondern überformt ihn bloß und
greift ständig auf ihn zurück. Ohne fundierten Richtungsraum
kein Ortsraum. Daß dies sogar logosch richtig ist, habe ich gezeigt.
Andererseits wird alles, was im Richtungsraum ist, in den Ortsraum übersetzbar.
Das Ergebnis der gelungenen Synthese beider Raumformen ist der optische
Raum. Er kann auf das Niveau des bloßen Richtungsraums eunsinken,
etwa bei der spontanen Reaktion geschickten Ausweichens vor einer in drohender
Näherung gesehenen wuchtigen Masse. Dann denkt man nicht an durch
Lage und Abstand bestimmte Orte, sondern nimmt die Bewegungssuggestion,
die den bevorstehenden Kurs der Masse anzeigt, über den Blick in
das Körperschema auf, das die eigene Bewegung dem Ausweichbedürfnis
entsprechend anpaßt.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume,
in: Atmosphären, 2014, S. 24-27 |
Die Neue Phänomenologie setzt sich die Aufgabe, das Denken
für die unwillkürliche Lebenserfahrung begiffsfähig zu
machen. Unwillkürliche Lebenserfahrung ist alles, was Menschen merklich
widerfährt, ohne daß sie es sich absichtlich zurechtgelegt
haben. Sie ist die einzige Grundlage zur Rechtfertigung von Behauptungen.
Eine andere Kontrolle gegen die Willkür von Konstruktionen gibt es
nicht.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Gefühle als Atmosphären,
in: Atmosphären, 2014, S. 30 |
Noch niemand hat einen Zorn, der in ihm aufsteigt, in
seiner Seele oder seinem Bewußtsein dingfest gemacht; vielmehr wird
er von ihm leiblich spürbar überfallen wie von einer reißenden
Schwere, die ihn abwärts zieht, wenn er ausgleitet und entweder stürzt
oder sich gerade noch fängt. Der Zorn treibt ihn eher vorwärts,
aber gewichtiger ist der Unterschied, daß der Fallende sich gegen
den Impuls der reißenden Schwere heftig sträubt, während
der Zornige nicht anders zürnen kann als so, daß er wenigstens
anfangs ein Stück weit mit dem ihn ergreifenden Gefühl mitgeht,
als Komplize des Zorns, der deseen Impuls zu seinem eigenen macht. Erst
danach hat der Zornige Gelegenheit zur personalen Auseinandersetzung mit
seinem Zorn, indem er sich entweder noch hineinsteigert oder ihn abwehrt
und abzustreifen sucht. Damit ist das gesuchte unterscheidende Merkmal
der Gefühle im Verhältnis zu anderen Atmosphären im Raum
erlebter Anwesenheit, die nicht Gefühle sind, gefunden. Es besteht
in der Verlaufsform der Ergriffenheit von Gefühlen: Wenn die Ergriffenheit
echt ist, muß der Ergriffene sich erst einmal mit dem Gefühl
solidarisieren, es in seinen eigenen Antrieb übernehmen, und kann
erst danach in die personale Auseinandersetzung mit dem Gefühl durch
Preisgabe oder Widerstand eintreten.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Gefühle als Atmosphären,
in: Atmosphären, 2014, S. 36-37 |
Gefühle sind nicht Dinge, sondern Halbdinge. Ich
haben den Gegenstandstyp der Halbdinge von dem der Dinge folgendermaßen
unterschieden: Dinge dauern ohne Unterbrechung und wirken mittelbar als
Ursache, die durch eine Einwirkung einen Effekt hervorbringt. Dagegen
ist die Dauer der Halbdinge unterbrechbar und ihre Einwirkung unmittelbar,
indem Ursache und Einwirkung zusammenfallen. Ein exemplarisches Halbding
ist die Stimme, sei es eines Menschen oder einer Tierart. Die Schallfolge
wächst, die Stimme nicht. Zwischen zwei Schallfolgen, in denen sie
laut wird, ist die Stimme nicht vorhanden, und dann kehrt sie als dieselbe
wieder. In der unwillkürlichen Lebenserfahrung fällt sie mit
ihrer Einwirkung zusammen, obwohl diese Kausalität in der physikalischen
und physiologischen Interpretation, die für die Phänomenologie
belanglos ist (vgl. zu dieser Interpretation: Hermann Schmitz, Jenseits
des Naturalismus, 2010, S. 24-77: Grenzen der naturwissenschaftlichen
Erkenntnis; Gibt es die Welt?, 2014, S. 116-130), durch viele
Zwischenglieder vermittelt wird. Ein anderes Halbding ist der chronische
Schmerz ....
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Gefühle als Atmosphären,
in: Atmosphären, 2014, S. 39 |
In der phänomenologischen Theorie der Personalität
wird dargelegt, daß die Person mit ihrer leiblichen Dynamik durch
personale Emanzipation und personale Regression, Abstand nehmend und darauf
zurückfalled, verbunden ist. Das Verhältnis und die Ausgestaltung
beider Prozeßrichtungen sind von großer Bedeutung für
die Empfänglichkeit der Person für Gefühle. Man kann über
seine Gefühle, auch wenn sie leiblich spürbar ergreifen, hinwegleben.
Man kann auch auf verschiedenen Niveaus personaler Emanzipation, eventuell
gleichzeitig, verschieden betroffen werden. Die Lebensgeschichte hat einen
wichtigen Einfluß darauf, ob und wie sich die Person gegen Gefühle
sperrt. Die Chance für die Person, sich nach der anfänglichen
Überwältigung durch das ergreifende Gefühl in Preisgabe
oder Widerstand damit auseinanderzusetzen, gibt Gelegenheit zur Entwicklung
einer persönlichen Kultur des Fühlens zwischen Rohheit und subtiler
Verfeinerung.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Gefühle als Atmosphären,
in: Atmosphären, 2014, S. 41 |
Verwandt ist der feierliche Ernst mit weit ausladender Atmosphäre,
ein mächtiges Gefühl, das sowohl spontan in einer weiten, öden,
stillen Landschaft von großem Format als auch bei feierlichen Anlässen
auftreten kann und das Besondere an sich hat, daß es gegen Lust
und Leid (oder Unlust) indifferent ist; an diesem Beispiel scheitern die
von Aristoteles (in: Nikomachische Ethik, 1105b21-23), bei Kant
und in der Psychologie der Folgezeit zur vermeintlichen Selbstverständlichkeit
gediehenen Versuche, das Gefühl auf L;ust und Unlust zu reduzieren
und dadurch seine Fixierung in der Seele zu besiegeln. Freude ist ein
hebendes Gefühl, das das Leben leicht macht. Diese Leichtigkeit ist
nicht nur metaphorisch zu verstehen, aber auch nicht vom Körper.
An der körperlichen Schwere ändert sich durch Freude nicht das
Geringste. Die Leichtigkeit betrifft vielmehr den vom Körper säuberlich
zu unterscheidenden spürbaren Leib. Wegen seiner Erleichterung imponiert
die unveränderte physische Schwere nicht mehr wie sonst; der Freudige
hüpft (»Freudensprung«) oder »schwebt« in
Seligkeit. Das braucht nicht an gesteigertem Kraftgefühl zu liegen;
es gibt nämlich auch eine passive Freude, in die man sich schlaff
fallen läßt, z.B. bei der Erleichterung von einer schweren
Sorge, und soclhe Freude hebt nicht weniger, weil man mit ihr eine levitierende,
hebende Atmosphäre des Gefühls geraten ist.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Gefühle als Atmosphären,
in: Atmosphären, 2014, S. 42 |
Die Neue Phänomenologie geht mit ihrer Lehre vom
Gefühl hinter die Weltspaltung zurück, die als seither weitgehend
dominantes Paradigma der europäischen Intellektualkultur um 450 v.
Chr. - philosophisch zuerst faßbar im trümmerhaft überlieferten
Werk Demokrits - einsetzt und von Platon und Aristoteles vollendet wird.
Im Interesse der Machtergreifung der Person als Vernunft über die
unwillkürlichen Regungen wurde danach die erfahrbare Welt in der
Weise zerlegt, daß jedem Bewußthaber eine Seele als seine
private Innenwelt, in die sein gesamtes Erleben eingeschlossen wurde,
zugeteilt und zwischen den Seelen nur eine reduzierte Außenwelt
belassen wurde, abgeschält bis auf wenige für Statistik und
Experiment geeignete Merkmalsorten, die noch heute das Datenmaterial der
Physik bilden, und deren hinzugedachte Träger; der Abfall der Abschälung
wurde absichtlich oder versehentlich (unter der Hand) in den Seelen abgeladen.
Dieses Schicksal traf insbesondere die Gefühle. Zuerst waren diese
ohne Verseelung in einer Weise verstanden worden, die ihrer Auffassung
als räumliche ergossene Atmosphären und leiblich ergreifende
Mächte in der Neuen Phänomenologie viel näher kommt. Rudolf
Otto kommentiert den altindischen (vedischen) Gott Manyu, d.h. »Zorn«,
mit den Worten: »Unheimliche Zornmacht wird gefühlt«
(Rudolf Otto, Das Gefühl des Überweltlichen, 1932, S.
147).
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Gefühle als Atmosphären,
in: Atmosphären, 2014, S. 44 |
Kollektive oder gemeinsame Atmosphären sind stets
an gemeinsame Situationen gebunden, während gemeinsame Situationen
auch ohne gemeinsame Atmosphären vorkommen. Die Klärung des
Verhältnisses von Atmosphären und Situationen ist also von zentraler
Bedeutung für das Verständnis kollektiver Atmosphären.
Dafür muß aber zunächst die Eigenart der Atmosphären
einerseits, der Situationen andererseits herausgearbeitet werden. Ich
beginne mit den Atmosphären.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären,
in: Atmosphären, 2014, S. 50 |
Eine Atmosphäre ist eine ausgedehnte (nicht immer
totale) Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich erlebter Anwesenheit,
d.h. dessen, was als anwesend erlebt wird. Die Zumutung flächenloser
Räume hat für die gewöhnliche Einstellung etwas Befremdliches,
weil man den Raum für dreidimensional hält und dafür als
zweidimensionaler Ausschnitt die Fläche nötig ist, von der man
durch Hinzufügung der Dicke oder Tiefe zum Raum aufsteigt. Auch den
so eingestellten Menschen sollte man aber leicht von der Existenz flächenloser
Räume überzeugen können, indem man ihn an den Raum des
Schalls erinnert. Räumlich ist der Schall nicht nur durch Signale
für Richtung und Entfernung, sondern er füllt selbst Raum durch
sein Volumen, weit ausladend als dumpfer, sonorer Klang, scharf und spitz
als heller Pfiff, wieder anders als Hall und Echo, sowie durch seine Bewegungssuggestionen,
die von der Musik auf tanzende Leiber überspringen oder als stechender
Lärm den Belästigten einengen. Der Schall hat keine Flächen;
deshalb ist sein Volumen auch nicht dreidimensional, sondern dynamisch
wie das einer ausladenden Gebärde. Flächenlos sind ferner der
Raum des Wetters, etwa der trüben Atmosphäre eines Regentages
oder der frischen Luft, wenn man aus dumpfer Stube ins Freie tritt, der
Raum der einprägsamen (feierlichen, drückenden oder zarten)
Stille, des entgegenschlagenden Windes, der frei sich entfaltenden Gebärde,
des unauffälligen, dauernd durch kleine Bewegungen in Anspruch genommenen
Rückfeldes, des Wassers für den Schwimmer, der sich vorwärts
kämpft oder ruhig tragen läßt. Die wichtigsten flächenlosen
Räume sind die des spürbaren Leibes und der Gefühle. Ich
will mich hier nicht dabei aufhalten, wie ich den spürbaren Leib
vom sicht- und tastbaren Menschen- oder Tierkörper der Ausdehnung
und Dynamik nach unterscheide und den Gefühlen eine eigenartige Räumlichkeit
zusprethe; ich habe mich darüber so oft und eingehend geäußert,
daß ich das Gemeinte hier als bekannt voraussetzen darf. Statt dessen
will ich Atmosphären dem Typ nach differenzieren. Der Bedarf danach
stellt sich z. B. beim Wetter ein. Ich meine nicht das naturwissenschaftlich
konstruierte Wetter mit Luftdruck, Luftfeuchtigkeit usw. -schon die Luft
ist ein Konstrukt -, sondern das unmittelbar gespürte und gesehene
Wetter, das nächstliegende Gesprächsthema noch unter Fremden.
Dieses Wetter ist im angegebenen Sinn eine Atmosphäre, die oft den
Raum erlebter Anwesenheit ganz erfüllt und darin den Gefühlen
gleicht, braucht aber kein Gefühl zu sein. Man kann sich über
das Wetter ärgern, wenn es z. B. lästig wird oder Pläne
durchkreuzt, ohne von dieser Atmosphäre affektiv betroffen zu werden,
in dem Sinn, daß etwas von ihr in das eigene leiblichaffektive Betroffensein
überginge; wenn dies aber doch der Fall sein sollte, würde man
sie gleich mit einer fertigen Stellungnahme aufnehmen und ihr Eindringen
kontrollieren können. Das ist anders bei den Atmosphären, die
Gefühle sind. Auch sie brauchen nicht ergreifend in das leiblich-affektive
Betroffensein überzugehen, aber wenn sie so eindringen, tun sie es
stürmisch oder schleichend mit einem Impuls, dem gegenüber der
Betroffene nicht von vorherein selbständig ist; er muß erst
einmal Partei für das Gefühl nehmen und kann sich erst nach
einer Anfangsphase in Preisgabe oder Widerstand selbständig dazu
verhalten. Auch das Wetter kann von dieser Art sein; dann ist es ein Gefühl.
Wegen dieser Verlaufsstruktur bezeichne ich das affektive Betroffensein
von Gefühlen als Ergriffenheit.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären,
in: Atmosphären, 2014, S. 50-52 |
Während dies das unterscheidende Merkmal der Gefühle
von solchen Atmosphären, die zur totalen Erfüllung des Raumes
erlebter Anwesenheit fähig sind, sein dürfte, unterscheiden
sich Atmosphären des Gefühls von leiblichen Atmosphären
durch ihren Anspruch, den Raum erlebter Anwesenheit total zu besetzen
-ich würde sagen: zu erfüllen, wenn es nicht auch ein Gefühl
der Leere gibt, das ich als Verzweiflung (im Gegensatz zur Dauer) beschrieben
habe. Leibliche Atmosphären sind leibliche Regungen, die nicht auf
einzelne Leibesinseln verteilt sind, sondern den ganzen spürbaren
Leib umfassen, wie wenn man sich müde und lustlos fühlt oder
gereizt, oder umgekehrt bei etwas warm wird und mit Eifer bei der Sache
ist. Dann können zwar einzelne Leibesinseln beteiligt sein, aber
die Regung ist so, daß man sich selbst im Ganzen so oder so betroffen
weiß und nicht bloß etwas von sich hier oder dort. Solche
ganzheitlichen leiblichen Regungen, wozu auch das bloß leibliche
Behagen im Gegensatz zum Behagen als Gefühl der Geborgenheit gehört,
strahlen nicht in den ganzen Raum erlebter Anwesenheit aus und erheben
nicht den Anspruch, ihn ganz zu besetzen, wie die Gefühle, z. B.
die Scham, die am Rand ihrer Ausstrahlung zur Peinlichkeit für die
Anwesenden wird, oder die Trauer, die durch ihre Autorität die Fröhlichkeit
des Fröhlichen, der ahnungslos an tief traurige Menschen gerät,
niederschlägt oder dämpft; ich habe an diesem sozialen Gefühlskontrast,
der konträre Gefühle von ihnen verwandten konträren leiblichen
Regungen unterscheidet, ein spezifisches Merkmal der Gefühle abgelesen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären,
in: Atmosphären, 2014, S. 52 |
Von den Atmosphären komme ich nun zu den Situationen.
Eine Situation ist Mannigfaltiges, das durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit
aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind, zusammengehalten
wird. Binnendiffus ist die Bedeutsamkeit, weil nicht alles (sehr oft nichts)
in ihr einzeln ist; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 erhöht. Anzahlen
sind Eigenschaften von Mengen, Mengen Umfänge von Gattungen, die
gewisse Sachverhalte sind. Einzeln kann etwas daher nur als Fall von etwas,
einer Gattung, sein. Wenn diese von vorherein einzeln sein müßte,
wäre wieder eine Gattung nötig, deren Fall sie wäre, und
so fort ad infinitum; man käme nie zu etwas einzelnem. Daher
ist einzelnes nur möglich, wenn Gattungen in satzförmiger Rede
aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbunden werden
und Sachen als ihre Fälle schon vereinzeln können, ehe sie selbst
definitiveinzeln sind. So kann man in abstracto ableiten, daß
Situationen benötigt werden, damit überhaupt etwas einzeln sein
kann. Konkret sind Situationen der ursprüngliche Boden der gesamten
Lebenserfahrung, schon beim Säugling, wohl schon beim Embryo. Wir
gehen unablässig durch Situationen hindurch, die meist unauffällig
und dann nicht einzeln sind. Alle Wahrnehmung geht auf Situationen, aus
denen einzelnes nur herausgegriffen und zu Konstellationen vernetzt werden
kann. Ein Grundfehler der in Europa seit der Scholastik, namentlich der
nominalistischen Spätscholastik, herrschenden Denkweise war und ist
der Projektionismus, zu meinen, am Anfang der Lebenserfahrung werde einzelnes
aufgelesen, zusammengestellt und je nach Bedürfnissen und Interessen
mit Bedeutungen behängt. Man hat sich die Voraussetzungen der Einzelheit
nicht klargemacht.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären,
in: Atmosphären, 2014, S. 52-53 |
Situationen können aktuell und zuständlich
sein. Aktuell sind Situationen, deren Verlauf sich in beliebig dichten
zeitlichen Querschnitten, von Augenblick zu Augenblick, verfolgen läßt,
z. B. Gefahren, Gespräche, Ausübungen motorischer Kompetenzen
wie Gehen, Kauen, Sprechen, ferner Träume, Phantasien, Überlegungen;
es lohnt sich nicht, hier weiter aufzuzählen. Zuständlich sind
Situationen, deren Verlauf, wenn sie nicht plötzlich abreißen,
sich nur nach längeren Fristen sinnvoll abfragen läßt,
z.B. eine Sprache, eine Persönlichkeit (d.h. zuständliche persönliche
Situation), eine motorische oder intellektuelle Kompetenz, die Standpunkte,
die Fassung, die Gesinnung eines Menschen, der im Wechsel des Gesichtes
sich durchhaltende Charakter, an dem man ein Ding als etwas von dieser
Art oder einen Menschen als diesen (mit dieser Stimme, diesem charakteristischen
Gang usw.) erkennt, Lebensformen eines Lebenskreises, in denen sich etwa
eine Familie, ein Dorf, eine soziale Schicht eingerichtet hat, und so
weiter. Situationen können individuell oder gemeinsam sein. Eine
individuelle Situation ist für jede Person ihre zuständliche
persönliche Situation, die sogenannte Persönlichkeit der Person.
Sie bildet sich aus den Bedeutungen, die für die Person subjektiv
sind, in dem Sinn, daß höchstens sie diese Bedeutungen sagen
kann. Im präpersonalen Leben-sind sie ohne Vereinzelung in Situationen
versenkt. Im Zuge der Personwerdung können mit Hilfe satzförmiger
Rede einzelne Bedeutungen abgerufen und neutralisiert, d. h. der Subjektivität
für die Person entkleidet werden. Unter ihnen sind Sachverhalte,
die Gattungen sind und viele Fälle haben können. Wenn für
solche Fälle der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt,
daß sie existieren, für die Person neutral wird, werden ihr
diese Fälle fremd- Gegenüber dem Fremden baut sich für
die Person eine Sphäre des Eigenen auf, bestehend aus allem, woran
sie in Zu- oder Abneigung hängt, und deren Kern ist ihre persÖnliche
Situation, zur persönlichen Eigenwelt bereichert durch alle die Sachen,
für die der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt,
daß sie existieren, für die Person subjektiv geblieben oder
geworden ist. Daraus ergeben sich unübersehbar viele individuelle
Situationen der Person, aktuelle sowohl wie zuständliche. Sie sind
teilweise der persönlichen Situation als partielle Situationen inkorporiert.
Ebenso ist die persönliche Situation in gemeinsame Situationen eingebunden,
teils so fest, daß sie nicht ohne erhebliche Rückstände
und Verwundungen daraus gelöst werden kann, teils so locker, daß
der Person der Wechselleicht fällt. Im ersten Fall handelt es sich
um implantierende, im zweiten um inkludierende Situationen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären,
in: Atmosphären, 2014, S. 53-55 |
Situationen, auch gemeinsame oder kollektive Situationen,
brauchen nicht mit Atmosphären verbunden sein. Ein Gegenbeispiel
sind flüssig gesprochene und verstandene Sprachen. Eine Sprache ist
eine Situation, die ganz nur aus Programmen besteht, nämlich aus
Regeln für die Formulierung von Sprüchen, die der Sprecher zur
Darstellung von Sachverhalten, Programmen und / oder Problemen und zu
darauf aufgebauten weiteren Zwecken benützen kann. Die Regeln sind
die Sätze der Sprache. Sie werden vom Könner der Sprache in
sprechendem und verstehendem Gehorsam benützt, ohne sie aus dem Ganzen
der Situation, die für ihn (in den Grenzen seines Sprachschatzes)
die Sprache ist, einzeln herauszuholen; nur die Erzeugnisse der Benutzung,
die Sprüche, und die von ihnen dargestellten Bedeutungen werden einzeln.
Eine Sprache ist eine zuständliche gemeinsame Situation, die obendrein
segmentiert ist, in dem Sinn, daß ihre binnendiffuse Bedeutsamkeit
niemals mit einem Schlage, als vielsagender Eindruck, ganz zum Vorschein
kommt. Sprachen sind gemeinsame Situationen ohne Atmosphäre.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären,
in: Atmosphären, 2014, S. 55 |
Auf der anderen Seite kommen Atmosphären ohne Situationen
vor, solange sie privat bleiben und nicht gemeinsam sind. Ein gutes Beispiel
sind die Verstimmungen der Zyklothymiker, die ohne Anlaß und ohne
Deutung von Hochstimmung oder Depression überfallen werden. Unübertrefflich
schildert Mörike solche Ereignisse in seinem Gedicht Verborgenheit:
Laß, o Welt, o laß
mich sein !
Locket nicht mit Liebesgaben,
Laßt dies Herz alleine haben
Seine Wonne, seine Pein !
Was ich traure, weiß ich nicht,
Es ist unbekanntes Wehe;
Immerdar durch Tränen sehe
Ich der Sonne liebes Licht.
Oft bin ich mir kaum bewußt,
Und die helle Freude zücket
Durch die Schwere, so mich drücket
Wonniglich in meiner Brust. |
Mörike sucht die Privatheit, um sich im Rückzug von der Welt
dem Auf und Ab seiner Gefühle hinzugeben, die ihn undeutbar überfallen
und so mächtige Atmosphären sind, daß er das Sonnenlicht
nur durch Tränen sieht, in einer Atmosphäre des Gefühls,
die ihm die Welt verschleiert, bis plötzlich wie aus dem Nichts,
ohne bewußte Überlegung als Anlaß, Freude über ihn
kommt. Ein anderes Beispiel ist der Genuß anspruchsvoller klassischer
Instrumentalmusik, die starke Atmosphären des Gefühls präsentiert,
während es eine unverbindliche Spielerei bleibt, Vorschläge
darüber zu machen, was der Komponist sagen will, um welche Sachverhalte,
Programme oder Probleme es sich handelt, außer in Sonderfällen
wie Bachs Capriccio sopra ia iontananza dei suo fratello diietissimo
(Ständchen über die Einsamkeit seines
ältesten Bruders; HB). Auch in diesen Fällen bleibt
der Genuß, selbst wenn viele wie beim Konzert gemeinsam hören,
Privatsache eines jeden, und es entwickelt sich keine Situation.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären,
in: Atmosphären, 2014, S. 55-56 |
Im Gegensatz dazu sind kollektive Atmosphären immer Atmosphären
in Situationen. Das dürfte daran liegen, daß sie auf Einleibung
beruhen. Einleibung ist eine der beiden Hauptformen -und die gewöhnlichere
-leiblicher Kommunikation. Sie beruht auf der leiblichen Dynamik in der
für den Leib wichtigsten Dimension von Enge und Weite, nämlich
auf dem vitalen Antrieb, in dem Engung und Weitung als Spannung und Schwellung
antagonistisch verschränkt sind, einander hemmend und treibend. Der
Antrieb kann im Alleinsein stattfinden, etwa bei der Atmung und Entleerung;
er kann aber auch gemeinsamer Antrieb sein, und dann handelt es sich um
Einleibung.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären,
in: Atmosphären, 2014, S. 56-57 |
Als Partner kommen andere Leiber von Menschen und Tieren in Betracht,
aber auch leiblose Gegenstände, sofern sie mit Bewegungssuggestionen
und / oder synästhetischen Charakteren besetzt sind, leibnahen Brückenqualitäten,
die ebenso am eigenen Leib gespürt wie an Gestalten wahrgenommen
werden können; in Betracht kommen ferner Halbdinge wie der Wind,
die unterbrechbar dauern und hinter deren Einwirkung keine unterscheidbare
Ursache steht, sogar dann, wenn solche Halbdinge am eigenen Leib begegnen
wie der zudringlich wiederkehrende Schmerz oder die reißende Schwere,
wenn man ausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt.
Einleibung kann antagonistisch oder solidarisch sein. Antagonistische
Einleibung gibt es nur, wenn von wenigstens einer Seite ein Beteiligter
sich dem anderen zuwendet; solidarische Einleibung kommt ohne solche Zuwendung
aus. Antagonistische Einleibung gibt es als einseitige und als wechselseitige.
Sie ist einseitig, wenn jemand an etwas hängt, von dem er gefesselt
oder fasziniert ist, so daß er in permanent abhängiger Stellung
diesem maßgebenden Partner unterworfen ist. Bei wechselseitiger
Einleibung, wie im Gespräch oder bei Kampfspielen, fluktuiert die
Dominanzrolle, indem beide Seiten aneinander wechselweise die Initiative,
und damit für den Augenblick die Dominanz, abgeben, die zu ihnen
zurückkehrt, wenn sich entscheidet, ob die Initiative »landet«.
Solidarische Einleibung kommt zustande, wenn Menschen oder Tiere durch
einen gemeinsamen Antrieb zusammengeschlossen werden, ohne daß dieser
davon abhängt, daß einer von den Beteiligten sich dem anderen
zuwendet. Ein besonders deutliches Beispiel ist die Massenpanik, wenn
jeder, rücksichtslos gegen die anderen, seinem Impuls »Nur
weg von hier« als Treibkraft folgt, aber nur, weil es ein gemeinsamer
Impuls ist, der auf alle überspringt und sie zu einer flüchtenden
Masse vereinigt. Andere Beispiele sind Aufruhr, Massenekstasen, gemeinsames
Singen von Volks-, Kriegs- und Kirchenliedern, politischen und sozialkämpferischen
Hymnen, gemeinsames Musizieren, spontan abgestimmtes Mannschaftsspiel
(auch in einem Wolfsrudel), Rufen, Klatschen und Trommeln (auch an eine
Clique von Einpeitschern deligierbar). Solidarische Einleibung ist fast
immer als zugleich antagonistische auf ein Thema bezogen, es gibt seltene
Ausnahmen, z.B. motivloses ansteckendes Lachen, wie es als dämonisches
Verhängnis in Homers Odyssee über Penelopes Freier kurz
vor dem Freitod hereinbricht (vgl. Homer, Odyssee, 20, 345-349).
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären, in:
Atmosphären, 2014, S. 57-58 |
Einleibung ist die Heimstätte gemeinsamer Atmosphären
und gemeinsamer Situationen .... An erster Stelle nenne ich leibliche
Atmosphären, die unmittelbar aus dem gemeinsamen Antrieb erwachsen
und keiner ergreifenden Gefühle bedürfen. .... Wichtiger als
diese reinleiblichen gemeinsamen Atmosphären sind die ergreifenden
Atmosphären des Gefühls, die sich ihnen auflagern und von dem
gemeinsamen Antrieb der Einleibung ebenso angezogen werden wie von dem
des Individuums. Alles Ergriffensein von Gefühlen ist leiblich affektiv,
wenn auch zusätzlich geformt durch personale Stellungnahme in Preisgabe
oder Widerstand, und sein Sitz im Leib ist der vitale Antrieb, der je
nach der verfügbaren leiblichen Disposition von der ergreifenden
Macht zum Schwingen aufgeregt oder durch Spalten zu privativer Weitung
oder privativer Engung angeregt wird - lebhaft oder sanft, je nach der
aufwühlenden oder beruhigenden Macht des Gefühls.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären,
in: Atmosphären, 2014, S. 58-59 |
In der Größenlehre unterscheidet man zwischen extensiven
und intensiven Größen. Eine Größe ist extensiv,
wenn sie sich durch Schnitte in Teile zerlegen und aus diesen ohne Verlust
wieder zusammensetzen läßt. Das ist der Fall bei schneidbaren
räumlichen Größen, Strecken, Flächen, Körpern.
Der Schnitt besteht bei Strecken in Punkten, bei Flächen in Strecken,
bei Körpern in Flächen. Intensiv ist eine Größe,
die sich nicht so zerlegen läßt. Ein Beispiel ist die Wärme.
Sie kann größer und geringer sein, aber nicht durch Zusammensetzung
von Teilen geringerer Größe. In einer großen Hitze lassen
sich keine Teile milder Wärme unterscheiden; sie erlaubt auch keine
Zerlegung durch Schnitte. Dennoch möchte man die Größe
der Wärme nach Graden staffeln. Zu diesem Zweck muß man sie
in eine extensive Größe übersetzen, deren Teile bei Zusammensetzung
das Ganze ausmessen. Das geschieht versuchsweise, indem man die Wärme
auf eine Strecke abbildet, nämlich auf die Bahn der im Thermometer
auf- und absteigenden Quecksilbersäule. Dabei muß man unterstellen,
daß den gleichen Abständen der Markierungsstriche für
Zerlegung der Strecke gleiche Abstände der intensiven Wärmegröße
entsprechen. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Beim Ansteigen der
Wärme gibt es ruckartige Übergänge vom Kalten über
das Kühle, Warme und Wärmere zum Heißen; diese Sprünge
haben keine Entsprechung im Thermometer. Trotz des Mißlingens begnügt
man sich mit der unzulänglichen Extensivierung, um überhaupt
eine Gelegenheit zur Messung
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Intensität, Atmosphären
und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 78 |
Eine alte Rätselfrage, die schon in der mittelalterlichen
Scholastik anhaltend erörtert wurde, dreht sich darum, worin die
intensiven Größenunterschiede bestehen, da sie doch nicht durch
Zusatz von Teilen zu Teilen zustande kommen. Ich habe diese Frage durch
die Unterscheidung zwischen Verhältnissen und Beziehungen beantwortet.
Beziehungen sind gerichtet, nämlich von etwas, das sich bezieht,
auf etwas, worauf es sich bezieht, eventuell durch Zwischenglieder. Verhältnisse
sind ungerichtet. Ein Beispiel: Zwei Dinge liegen neben einander. Das
ist ein ungerichtetes Verhältnis. Um daraus Beziehungen zu gewinnen,
muß ich es spalten, indem ich mich hinzunehme und dann sage, daß
das erste Ding rechts, das zweite links vom anderen liegt. Alle Beziehungen
beruhen auf Verhältnissen. Das ergibt sich aus ihrer trivialen Umkehrbarkeit.
Der Beziehung des Vaters zum Sohn entspricht die umgekehrte Beziehung
des Sohnes zum vater. Entsprechend bei beliebigen anderen Beziehungen.
Diese Umkehrbarkeit gehört nicht zur Gerichtetheit als solcher. Es
gibt auch unumkehrbare Richtungen, wie die Richtung des Blickes in die
Tiefe des Raumes oder die Richtung von Vorgängen oder Abläufen.
Inhaltlich können wir einen Prozeß zwar umkehren, aber er kehrt
nie zu seinem Ausgangspunkt zurück, wie die Beziehung des Vaters
zum Sohn bei Umkehrung zum Vater zurückkehrt, sondern setzt den Zeitverlauf
geradlinig fort. Mit dieser Unumkehrbarkeit folgen die Prozesse dem Fluß
der Zeit, in dem sich die zeitliche Gegenwart beständig verschiebt.
Im Gegensatz dazu beruht die Umkehrbarkeit der Beziehungen darauf, daß
sie an den ungerichteten Verhältnissen eine feste, beharrende Grundlage
haben. Verhältnisse sind gewöhnlich in Beziehungen spaltbar.
Es gibt aber auch unspaltbare Verhältnisse. Ein ganz banales Beispiel
ist das gemeinsame Sägen mit der zweigriffigen Baumsäge ....
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Intensität, Atmosphären
und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 78-79 |
Die Stimmung einer Stadt beruht auf Bewegungssuggestionen
und synästhetischen Charakteren, die als leibliche Brückenqualitäten
bei den Anwesenden solidarische Einleibung bewirken, auf der sich Gefühle
als Atmosphären mit bedeutsamen zuständlichen Situationen niederlassen
und den Anwesenden mitteilen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Die Atmosphäre einer
Stadt, in: Atmosphären, 2014, S. 94 |
Leipzig ist nicht sanft, eher stattlich, ein wenig verhalten
in selbstbewußter Bürgerlichkeit, wie man sich vielleicht Bach,
den Leipziger vorstellen kann; selbst die Erscheinung und Bewegung der
Menschen der Straße hat etwas davon. Dresden aber ist sanft, mit
gelassener Anmut an der Elbe hingestreckt. Es dürfte gleich schwer
sein, den Genius von Leipzig weiblich wie den von Dresden männlich
zu bilden. Ebenso kann es raue und grelle Städte geben, sowie Mozartstädte;
vielleicht hat Wien, das ich nicht kenne, etwas davon.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Die Atmosphäre einer
Stadt, in: Atmosphären, 2014, S. 100-101 |
Gefühle sind meist in Situationen befangen. Eine
Situation ist Mannigfaltiges, das zusammengehalten wird durch einme
binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme
und/oder Probleme sind. Binnendiffus ist die Bedeutsamkeit, weil
nicht alle Bedeutungen in ihr einzeln sind. Einzeln ist, was eine
Anzahl um 1 vermehrt. Situationen sind teils aktuell, so daß
ihr Verlauf nach beliebig kurzer Zeit auf Veränderungen geprüft
werden kann, teils zuständlich, so daß dies erst nach
längeren Fristen sinnvoll ist, wie im Fall einer Sprache, die ganz
nur in einer Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sätze - Programme
für Sprüche - sind, besteht. Gute Beispiele für Gefühle,
die in eine zuständliche gemeinsame Situation eingebunden sind, sind
die Liebe eines Liebespaares oder einer harmonischen Familie und das Rechtsgefühl
eines Rechtsvolkes, das den aus Zorn und Scham stammenden Unrechtserfahrungen
mit ganzheitlich-binnendiffuser Bedeutsamkeit einen Maßstab des
Unerträglichen, des gemeinsam durch Vorbeugung oder Sanktion abgewendet
werden muß, vorgibt. Von solcher Art, von Situationen durchzogen
und in sie eingebettet, sind auch die Gefühle, die die Atmosphäre
einer Stadt bilden, und die zuständlichen Situationen, die sich durch
sie über Bewegungssuggestionen, synästhetische Charaktere
und solidarische Einleibung den Menschen in der Stadt mitteilen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Die Atmosphäre einer
Stadt, in: Atmosphären, 2014, S. 105-106 |
Landschaft wird nicht durch Zugehörigkeit zur sogenannten
Natur und auch nicht durch eine spezielle ästhetisch-sentimentale
Einstellungen, sondern durch eine bestimmte Weise des Wahrnehmens. Um
das zu verdeutlichen, muß ich zunächst das Verständnis
von Wahrnehmung revidieren. Dieses Verständnis wird heute von der
Naturwissenschaft beherrscht. Demnach wäre Wahrnehmung der einzie
Zugang von Informationen aus der Außenwelt zum Bewußtsein
eines Bewußthabers in Gestalt von Signalen, die, als Licht- und
Materialwellen (im quantenphysikalischen Sinn) von Gegenständen ausstrahlend,
auf Sinnesorgane treffen und von dort nach Umwandlung in elektrische Impulse
über Nervenbahnen zum Gehirn geleitet werden, wo sie sich im Kreuzfeuer
der Neuronen verlieren; daß ein Weg von da weiter zum Wahrnehmen
und Bewußthaben führt, wird postuliert, ist aber eine emprisch
nicht nachprüfbare Spekulation (! HB).
Die Unzulänglichkeit dieses Modells für Wahrnehmung ist offensichtlich
(! HB). Weder das Wahrgenommene noch das
Wahrnehmen kommen darin vor (! HB). Das Wahrgenommene
wird ersetzt durch Quantenfelder oder ähnliche Substrukte der Naturwissenschaft,
und statt beim wahrnehmenden Bewußthaber endet die Signalkette im
Gehirn, das eine zweideutige Rolle spielt; einerseits als naturwissenschaftliches
Substrukt aus Elektronen, Atomen, Molekülen, Zellen usw., andererseits
als das wahrnehmbare Gehirn, das nicht mehr der Signalkette angehört
(! HB), sondern dem, was sich aus ihr im
Bewußtsein (d.h. dem Bewußtgehabten) des Bewußthabers
absetzen soll. Eine besondere Schwierigkeit hat das naturwissenschaftliche
Modell mit der Konservierung der Information in der Signalkette (!
HB): Eine ungeheuer große Menge von Signalen, z.B. Photonen,
strahlt vom Gegenstand der Wahrnehmung aus; ein relativ sehr kleiner,
aber absolut immer noch riesiger Bruchteil davon trifft die Netzhäute
eines sehenden Individuums; ein winziger Bruchteil kommt im Gehirn an
und vermengt sich dort mit Signalen anderer Herkunft (!
HB). Es ist nicht zu glauben, daß nach solchen Verlusten,
Verschiebungen und Vermengungen etwas übrig bleibt, das dem Bewußthaber
eine einigermaßen zuverlässige, für den Bedarf des lebendigen
Umgangs genügend Auskunft darüber, womit er zu tun hat, geben
könnte.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Landschaft als Wahrnehmungsweise,
in: Atmosphären, 2014, S. 109-110 |
Der Kontrast zwischen dieser offensichtlichen Unzulänglichkeit
und der überragenden Leistungsfähigkeit des naturwissenschaftlichen
Modells ist so kraß, daß sich ein Seitenblick auf die berechtigten
Erwartungen an die Naturwissenschaft aufdrängt. Die Naturwissenschaft
ist die Wissenschaft der schematischen Prognostizierbarkeit. Der Datenvorrat
der Lebenserfahrung wird auf wenige Merkmalsorten eingeengt, die zur Bestätigung
von Behauptungen mit Hilfe von Apparaten, die nach physikalischen Kriterien
kostruiert sind, verwendet werden. Es handelt sich um Merkmale wie Größe,
Gestalt, Lage im Raum, Bewegungszustand und Bewegungsrichtung, die zuerst
von Aristoteles als mehreren Sinnen gemeinsam aufgezählten, seit
Locke »primär« genannten Sinnesquellen; sie sind besonders
gut intermomentan und intersubjektiv identifizierbar, meßbar und
selektiv variierbar, daher für Experiment und Statistik geeignet.
Auf dieser schematisch reduzierten Grundlage gelingen durch Zusatz erdachter
Parameter und mathematischer Kalküle überraschend zuverlässige
Prognosen im Bereich der unbelebten Natur als Leitschienen für das
sich vortastende Probieren der Technik, manchmal auch für Warnungen;
die Extrapolation dabei beobachteter Regelmäßigkeiten zu allgeneinen
Naturgesetzen erlaubt zudem Rückschlüsse auf ein vergangenes
und gegenwärtiges Umfeld. Auf diese Weise konstruiert die Naturwissenschaft
zu der Welt, in der wir leben, ein Paralleluniversum (!
HB), das durch ungeheure Erweiterung des menschlichen Vorblicks
und lehrreiche Fütterung menschlicher Neugier im Rückblick den
Horizont der Orientierung nicht nur erweitert, sondern auch durch vielfältig
sich bewährende Markierungen mit festen Bestimmungen absteckt. Daß
dieses Paralleluniversum mit der Welt, in der wir leben, inhaltlich gleichwohl
recht wenig zu tun hat, ergibt sich aus den Überlegungen, die ich
kürzlich breit ausgeführt habe (*)
und jetzt simplifizierend in zwei Punkten knapp skizzieren will. (*
Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, 2010, S. 24-72: Grenzen
des naturwissenschaftlichen Erkennens; ders., Gibt es die Welt?,
2014, S. 110-130.)
1. |
Die Naturwissenschaft kennt nur Seiendes;
wir leben dagegen in einer modalzeitlichen Welt, in der einiges
ist, anderes noch nicht und anderes nicht mehr ist. Auf diese modalzeitliche
Wirklichkeit ist die Naturwissenschaft angewiesen (!
HB), weil ihre Beweismethode das Experiment ist, das nur
funktioniert, wenn man am Anfang noch nicht weiß, was
herauskommt, so daß dann der Kenntnisstand nicht mehr der
alte ist. Sie kann die modalzeitlichen Unterschiede daher nicht,
ohne sich selbst aufzuheben, als illusorisch hinstellen, aber auch
nicht begreifen, denn sie hat keinen Begriff von Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft. Beweis: Sie hat keinen Zugang zu dem Vorzug,
den das dritte Jahrtausend christlicher Zeitrechnung vor allen anderen
Jahrtausenden dadurch besitzt, daß es die Gegenwart beherbergt,
d.h. die Masse alles dessen, was ist in der Weise, nicht mehr noch
nicht und noch nicht nicht mehr zu sein. Sie handelt also von einer
Welt, deren Bestand sie für die Begründbarkeit ihrer Behauptungen
voraussetzen muß (! HB), nämlich
von unserer modalzeitlichen Erfahrungswelt, verschieden ist. |
2. |
Die Naturwissenschaft beschäftigt
sich mit einzelnem. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt.
Anzahlen sind Eigenschaften (Eignungen [vgl. Hermann Schmitz, Kritische
Grundlegung der Mathematik, 2013, S. 23-31: Zahl]) von
Mengen, Mengen Umfänge von Gattungen; einzeln kann daher nur
sein, was Element einer Menge und Fall einer Gattung ist. Gattungen
sind aber keine naturwissenschaftlichen Gegenstände (!
HB), sondern etwas, das der Naturwissenschaftler zu diesen
hinzudenkt (falls er denkt; denn: »Die
Wissenschaft denkt nicht« [Heidegger]; HB), um
sie auf Begriffe zu bringen, ohne sagen zu können, wie sie
in die Natur hineinkommen. Diese Unvermögen (!
HB) liegt an einem verkehrten Ansatz des Konkreten. Konkret
oder zunächst gegeben sind bedeutsame Situationen, aus deren
binnendiffuser Bedeutsamkeit die Menschen durch satzförmige
Rede Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) und damit Gattungen
herausholen (! HB). Die Naturwissenschaft
geht von einzelnen, an sich bedeutungslosen Sinnesdaten (Ereignissen,
Zuständen) aus, als ob solche von vornherein vorlägen
und nicht erst an dritter Stelle (! HB),
nach den Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit und den aus
ihnen mit sprachlichen Mitteln herausgeschälten Gattungen. |
Die Naturwissenschaft erreicht ihr Gedankengebäude (falls
sie eines hat; denn: »Die Wissenschaft denkt nicht«
[Heidegger]; HB) mit so gewaltigem Aufwand von Scharfsinn und Sorgfalt,
daß man triftigen Anlaß hat, ihren Aufstellungen Glauben zu
schenken und sich bei Prognosen im allgemeinen danach zu richten; nur
darf man dieses hypothetisch konstruierte Gebäude nicht mit der Erfahrungswelt
verwechseln, ganz besonders nicht im Bereich der Wahrnehmung, deren wichtigste
Gehalte - der spürbare Leib und die leibliche Kommunikation, die
bedeutsamen Situationen mit verschiedenen Typen, die Atmosphären
des Gefühls, die Halbdinge mit unterbrechbarer Dauer und einer Kausalität
ohne Unterschied zwischen Ursache und Einwirkung, die Bewegungssuggestionen
und synästhetischen Charktere (*) -
schon in der antiken Philosophgie seit Demokrit, Platon und Aristoteles,
erst recht aber in der Naturwissenschaft unter den Tisch gefallen sind.
(* Überblick z.B. in: Hermann Schmitz,
Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009; Was
ist Neue Phänomenologie?, 2013.) Man darf nicht hoffen, die Wahrnehmung
selbst mit Hilfe der Naturwissenschaft studieren zu können, sondern
diese hat es nur mit obligatorischen Begleitvorgängen zu tun, sie
sich zur Wahrnehmung etwa so verhalten wie die Klaviermusik zur Stimme
einer Sängerin beim Erklingen einer Schallplatte. Eine um Ädaquatheit
bemühte Phänomenologie muß von deren seit der Antike vergessenen
Beständen ausgehen, hauptsächlich von der leiblichen Kommunikation.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Landschaft als Wahrnehmungsweise,
in: Atmosphären, 2014, S. 110-113 |
Die häufige Leibvergessenheit besteht darin, daß
die leibliche Dynamik sich nur noch in latenter Einleibung abpielt.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Landschaft als Wahrnehmungsweise,
in: Atmosphären, 2014, S. 117 |
Einleibung ist Ausweitung des innerlichen Dialogs von
Engung und Weitung, der der vitale Antrieb ist, auf partnerschaftliche
Verhältnisse. Ausleibung entsteht, wenn aus der Schwellung, die im
vitalen Antrieb an Erregung gebundenen Weitung, privative Weitung abgespalten
wird und die Engung in gestalt- und maßlose Weite mitzieht; man
kann sie als leibliche Kommunikation mit solcher Weise charakterisieren.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Landschaft als Wahrnehmungsweise,
in: Atmosphären, 2014, S. 117 |
Wenn ein Autor, der einer einzigen philosophischen Konzeption
seit mehr als 50 (eher schon fast 60) Jahren geradlinig, aber mit perlenschnurartig
gereihten Verbesserungsversuchen gefolgt ist und den Ertrag dieses Unternehmens
u. a. in mehr als 50 Büchern mit mehr als 14.000 Druckseiten öffentlich
dokumentiert hat, an die Schwelle des hohen Alters kommt, wo ihn die physischen
Kräfte zu verlassen drohen, hat er Anlaß, auf das Geleistete
zurückzublicken und eine Art von Bilanz zu ziehen. Das ist mein Fall.
Ich möchte zunächst die Konzeption, der ich so lange ohne Abweichung
gefolgt bin, auf eine Formel bringen, die die beharrliche Tendenz meines
philosophischen Wollens zusammenfaßt. Ich habe diese Formel erst
spät gefunden und zuerst im Vorwort der 1. Auflage meines Büchleins
Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie (2009) aufgeschrieben,
mich dann aber davon überzeugt, daß sie ausreicht, um die Leitlinie
meines beharrlichen philosophischen Bestrebens seit 1958 treffend zu beschreiben:
Mein Bestreben geht dahin, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich
zu machen. Näher handelt es sich darum, nach Abbau geschichtlich
geprägter Verkünstelungen die unwillkürliche Lebenserfahrung
zusammenhängender Besinnung zugänglich zu machen. Unwillkürliche
Lebenserfahrung ist alles, was Menschen merklich widerfährt, ohne
daß sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben. Gemäß
dieser Aufgabenstellung habe ich mein schriftliches Werk auf zwei Schienen
gesetzt. Die eine Schiene ist die systematische. Sie dient dazu, mit scharfen,
aber geschmeidigen Begriffen wie mit weit ausgespannten Netzen der unwillkürlichen
Lebenserfahrung immer näher zu kommen. Sie hat vielleicht zwei Drittel
oder etwas mehr meiner Zeit und Kraft in Anspruch genommen. Deren verbleibender
Rest kam der zweiten, historischen Schiene zugute. Um den Abstand und
die Verbundenheit meines Bemühens der Tradition gegenüber klar
und gewissenhaft herauszuheben, mußte ich mich mit dem seit den
Griechen gewachsenen abendländischen Denken im Detail auseinandersetzen.
Das geschah mit Hilfe vieler, seit 1985 veröffentlichter Bücher
zur griechischen und neuzeitlichen Philosophie und wurde ergänzt
und zusammengefaßt in meinem zweibändigen Werk: Der Weg
der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung (2007).
Neben der philosophischen, in erster Linie von den heidnischen Griechen
geprägten Überlieferung gehört aber auch das Christentum
zu den zentralen Trägern und Motoren des überlieferten europäischen
Denkens. Dessen kritischer Einarbeitung in den Kontext dient mein Buch
Adolf Hitler in der Geschichte (1999) unter dem Titel der vier
Verfehlungen des abendländischen Geistes. Gerade bei diesen Verfehlungen
(ein bewußt doppelsinnig belassenes Wort) knüpft mein Versuch
einer Rettung der unwillkürlichen Lebenserfahrung durch systematische
Besinnung (statt durch Propheten- und Dichtertum, die ihre Autorität
verloren haben) an.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 7-8 |
Die Bilanz, die ich angekündigt habe, soll nun keineswegs
darin bestehen, meine Errungenschaften aufzuzählen. Das wäre
fast unabsehbar und allenfalls Thema eines Übersichtsartikels. Statt
dessen will ich einige Fronten aufzeigen, an denen sich mein Kampf gegen
die überlieferten Verkrustungen vermeintlicher Selbstverständlichkeit
abspielt, um die wichtigsten Stoßrichtungen meiner Ausgrabungen
zum wirklichen Leben zu markieren. Ich habe alles neu durchgearbeitet
und wichtige Verbesserungen angebracht, so daß ich hoffe, daß
diese Darstellung auch für Kenner meiner früheren Schriften
ergiebig sein wird. Sie soll eingängig sein. Deshalb habe ich diese
Vorrede breit als Einleitung angelegt. Ich bin gewohnt, rein sachlich
Überlegungen und Ergebnisse mitzuteilen. Jetzt, in einer Bilanz,
geht es darum, sie in meiner eigenen Perspektive vorzuführen, sie
also auch ein wenig zu umkreisen und dabei hier und da auch dem Leser
Brücken zum Verständnis zu bauen. Das wird mich aber nicht hindern,
dort, wo der Gegenstand steilere Ansprüche stellt, in der Darstellung
den nötigen Schwierigkeitsgrad festzuhalten. Wo eingehendes Nachdenken
nötig ist, wird die Darstellung unklar und verworren, wenn sie sich
auf Popularität und Plausibilität zurückzieht. Mich tröstet
auch an solchen Stellen, daß ich stets um durchsichtige Klarheit
der Gedankenführung bemüht bin, durchsichtig bis auf den Grund
der Kenntnis hin, die ich jedem durchschnittlich Normalen auf Grund seiner
Lebenserfahrung und Lebensführung zutraue. Daraus erwächst meine
Vorliebe für Definitionen, wodurch ich mich von fast allen gegenwärtigen
Fachkollegen unterscheide. Ich möchte garantieren, daß man
in meinen Veröffentlichungen jeweils genau wissen kann, wovon die
Rede ist.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 8-9 |
Jeder der ausgewählten vier Hauptlinien meines Unternehmens
widme ich ein Kapitel. Das erste Kapitel betrifft die Subjektivität.
Sie hat im abendländischen Denken einen schwierigen Anfang. Den Griechen
lag die Selbstbesinnung nicht so wie die Weltanschauung. Der griechische
Denker reflektierte zwar auf sich selbst, aber nur als auf ein Stück
der Welt, die vor ihm lag und der er sich eingeordnet fühlte, also
auf »die Stellung des Menschen im Kosmos«, um Max Scheler
zu zitieren. Das Christentum intensivierte zwar die Selbstbesinnung und
Selbstsorge, hielt sich dabei aber an den griechischen Objektivismus,
indem es den menschlichen Bewußthaber (das Subjekt, das seiner selbst
bewußt ist) in einem separaten Stück der um eine transzendente
Dimension erweiterten vorgegebenen Welt unterbrachte, in seiner jeweiligen
Seele (alias Geist, Bewußtsein, mind usw.), mit der Aufgabe, als
Vernunft und freier Wille Herr in diesem Haus zu sein. Er wurde in seiner
privaten Innenwelt angesiedelt und im Zuge der naturwisenschaftlich-atomistischen
Orientierung des neuzeitlichen Denkens geradezu in diese (in »Seelenatome«)
aufgelöst (Hume, Mach). Wo man ihn bewahrte, blieb er eine Sache
(Substanz) unter lauter im wesentlichen ähnlichen Sachen anderer
Art, bloß durch eine für Vergewisserung oder Gegenstandskonstitution
ausgezeichnete Position hervorgehoben (positionale Subjektivität,
Descartes, Kant). Für das mit seiner seelischen Innenwelt vermengte
Subjekt ergab sich die Rätselfrage, wie es aus ihr heraus zum Objekt
kommt. Diese Nivellierung der Subjektivität auf einen bloßen
Positionsunterschied (wenn nicht gar Auflösung in Atome) legte die
Gegenfrage nahe: Wo bleibe ich selbst? Was kommt zu dem, was ich an mir
finde, dadurch hinzu, daß ich selbst das bin (strikte Subjektivität).
Diese Frage stellte sich zuerst Johann Gottlieb Fichte. (»Ich schreibe,
es schreiben aber auch andere neben mir. Woher weiß ich, daß
mein Schreiben nicht das Schreiben eines anderen ist?« »Mein
Schmerz, nicht der deinige. Wo ist der Unterschied?« ) Er fand aber
nicht die richtige Lösung, sondern flüchtete sich zuerst in
die Konstruktion eines absoluten Ich, das keine Tatsache ist, sondern
nur die Tathandlung, sich selbst zu setzen, und dann, als diese Konstruktion
wegen der Begrenzung durch das Nicht-Ich unhaltbar wurde, in das Schweben
der produktiven Einbildungskraft zwischen den unvereinbaren Gegensätzen
von Begrenztheit und Unbegrenztheit, aufgeschraubt zum transzendentalen
Zirkel. Dieses Schweben wurde zur Dominante des abendländischen Denkens
und Lebensgefühls in der Folgezeit, in mehreren Dimensionen. Eine
davon ist die Angst, die Kierkegaard als den Höhenschwindel des Schwebens
über den eigenen Möglichkeiten deutete; sie ist das Leitmotiv
der Existenzphilosophie, die die strikte Subjektivität hochhält,
aber nicht zu verorten vermag. Einen geistreichen, aber so nicht haltbaren
Vorschlag zu deren ontologischer Verortung machte Heidegger (Sein und
Zeit: das Dasein, das bloß seine Möglichkeiten ist und
zu sein hat). Eine zweite Dimension, heute die dominante, der unbeabsichtigten
Fichte-Nachfolge, ist die ironistische: die absolute Wendigkeit des Schwebens,
sich jedem Standpunkt entziehen und auf jeden versetzen zu können,
beginnend als romantische Ironie (Friedrich Schlegel), fortgeführt
im Dandytum des 19. Jahrhunderts, heute vulgarisiert zur Coolneß
und trivialisiert durch elektronische und andere Maschinen mit unzählbaren
Angeboten flüchtiger Wahlmöglichkeiten. Eine dritte Dimension
ist der Positivismus, der sich dem Schweben der strikten Subjektivität
durch deren Verleugnung entzieht und bloß noch Natur in Gestalt
vernetzter Daten im Sinne eines Physikalismus gelten läßt.
Alle diese Versuche, sich mit der strikten Subjektivität, nachdem
sie einmal zur Sprache gekommen ist, abzufinden, scheitern an einem Mißverständnis
der Tatsächlichkeit. Man läßt nur objektive oder neutrale
Tatsachen gelten, d. h. solche, die jeder aussagen kann, sofern er genug
weiß und gut genug sprechen kann, und übersieht die volleren
subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins, die höchstens
einer im eigenen Namen aussagen kann. Wenn man sich überzeugt hat,
daß es nicht nur viele Tatsachen, sondern auch viele Tatsächlichkeiten
gibt und die für jemanden subjektiven Tatsachen der Sitz seiner Subjektivität
sind, braucht man nicht mehr die Weltspaltung durch den scharfen Gegensatz
von Subjekt und Objekt, Innenwelt und Außenwelt, sondern das Verhältnis
gleicht eher dem elastisch (nicht automatisch) kommunizierender Röhren.
Wittgenstein hat gesagt, die Welt sei alles, was der Fall ist, nämlich
das Bestehen von Tatsachen. Er dachte aber nur an objektive Tatsachen.
Wenn man die subjektiven hinzunimmt, ändert sich die Perspektive
der Selbstbesinnung, und das Fichtesche Ich mit allen seinen Nachfolgern
(wie dem Dasein Heideggers) braucht nicht mehr zu schweben. An diesem
Unterschied hängt auch die Lösung des Freiheitsproblems, woran
alle Versuche seit Jahrtausenden unvermeidlich gescheitert sind, weil
sie die Freiheit in objektiven Tatsachen suchten. Davon wird in diesem
Zusammenhang die Rede sein.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 9-11 |
Das nächste Vorurteil von grundlegender Bedeutung
für die Versperrung des Zugangs der Besinnung zum wirklichen Leben
ist das Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit; ich widme ihm
das zweite Kapitel. Die Menschen sind geneigt, alles für identisch
mit sich und obendrein für einzeln zu halten; zu den Axiomen der
heutigen Identitätslogik gehört »x = x«, wobei »x«
für alles steht. Man muß aber absolute und relative Identität
unterscheiden. Etwas ist selbst oder absolut identisch, sofern es, wenn
vieles ist, von anderem verschieden ist; das ist noch keine Beziehung
zu sich selbst, wie relative Identität mit sich. Etwas ist einzeln,
wenn es eine Anzahl um 1 vermehrt; ich habe gezeigt, daß diese besonders
einleuchtende Definition gleichwertig ist mit den beiden anderen: Einzeln
ist etwas, sofern es Element einer Menge mit der Anzahl 1 ist, d. h. mit
der Anzahl jeder nichtleeren Menge, in der jedes Element mit jedem identisch
ist; einzeln ist, was Element irgendeiner endlichen Menge ist. Man sieht,
daß diese Begriffe nicht im Umfang zusammenfallen; was absolut identisch
ist, braucht nicht einzeln zu sein, und was einzeln ist, nicht unbedingt
relativ (mit sich) identisch. Genaueres darüber folgt. Das übliche
und den meisten Philosophen selbstverständliche Meinen ignoriert
diese Unterschiede. Der Scholastiker Burlaeus (Walter Burley, ca. 1275-1345,
Tractatus de universalibus) schreibt darüber: »Der Zahl nach
identisch (idem numero) ist nach gewöhnlichem Verständnis jenes,
das, mit einem anderen in eine Zahl gebracht, so eine Zahl bildet, daß
man von jenem und dem anderen in Wahrheit sagen kann, daß die da
zwei sind.« Das ist eine gute Annäherung an die Definition
des Einzelnen, das eine Anzahl um 1 vermehrt, und Burley ist auch darin
im Recht, daß er von numerisch Identischen spricht; denn numerisch
(zahlfähig, Element einer Menge, die eine Anzahl hat) kann nur sein,
was einzeln ist. Er scheint aber doch die Verschiedenheitsfähigkeit
(absolute Identität) mit der Einzelheit zu vermengen, und das gehört
gewiß zur gewöhnlichen Meinung, auf die er sich beruft.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 11-12 |
Es gibt aber auch Mannigfaltiges anderer Art als das
numerische, dessen Inhalte lauter einzelne Elemente von Mengen sind, deren
jede (ob endlich oder unendlich) zählbar ist, d. h. eine Zahl (d.h.
umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit gewisser Mengen auf sich) besitzt.
Ich habe bewiesen, daß nicht alles einzeln sein kann. Dabei fuße
ich auf der Widerlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung,
der besagt, daß für jedes Etwas (d.h. alles, was etwas ist)
und jede Bestimmung als etwas das Etwas die Bestimmung entweder hat oder
nicht hat. Ich zeige, daß etwas, das durchgängig bestimmt ist,
vielmehr gänzlich unbestimmt wäre, was nicht der Fall sein kann.
Diese Widerlegung - sogar für alles Beliebige - hat wichtige Folgen;
sie sperrt den allgemeinen Determinismus, den Fatalismus (daß alles
vorherbestimmt sei) und den Realismus (daß alles vorläufig
fertig ist). Darüber hinaus folgt aus ihr logisch, daß nicht
alles einzeln sein kann, und ferner, daß der Satz vom ausgeschlossenen
Dritten (für jede Behauptung A ist mindestens A oder die Verneinung
nicht-A von A wahr) nicht allgemeingültig ist. Dies ist eine mächtige
Waffe gegen ein Überhandnehmen der Mathematik, den Panmathematismus.
Mathematik ist eigentlich der Versuch, mit Hilfe des logischen Denkens
die Domäne des numerischen Mannigfaltigen auf alles Mannigfaltige
auszudehnen. Dieser Versuch hat großartige Erfolge gebracht, ist
aber im Ganzen zum Scheitern verurteilt und auch schon an den Antinomien
gescheitert. Seine wichtigste Waffe ist der indirekte Beweis, der auf
dem Vertrauen in die Allgemeingültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen
Dritten beruht. Der große Mathematiker Hilbert hat gesagt, man solle
dem Mathematiker so wenig den indirekten Beweis nehmen wie dem Boxer seine
Boxhandschuhe. Nun, er soll ihn behalten, aber sich bewußt sein,
daß er ein gefährliches Spiel treibt, wenn er eine nicht markierte
Grenze überschreitet.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 12-13 |
Welche Typen der Mannigfaltigkeit gibt es außer
dem numerischen Mannigfaltigen? Zunächst das konfuse Mannigfaltige,
in dem es sogar an absoluter Identität und Verschiedenheit fehlt.
Sodann das diffuse Mannigfaltige, das zwar durch absolute Identität
und Verschiedenheit gegen Verwechslungen im Umgang mit ihm geschützt
ist, das aber noch ohne Einzelheit seiner Inhalte auskommt. Beide Typen,
den konfusen und den diffusen, habe ich unter dem Titel des chaotischen
Mannigfaltigen zusammengefaßt. Dabei wird der Unterschied zwischen
Beziehungen und Verhältnissen wichtig. Alle Beziehungen sind gerichtet,
von etwas, das sich bezieht (Referens) auf etwas, worauf es sich bezieht
(Relat), eventuell durch Zwischenglieder. Verhältnisse sind dagegen
ungerichtet. Alle Beziehungen entstehen durch Spaltung von Verhältnissen.
Es gibt aber auch (zu gegebener Zeit) unspaltbare Verhältnisse. Beziehungen
sind nur zwischen einzelnen Etwassen möglich, Verhältnisse dagegen
sowohl zwischen einzelnen Teilnehmern als auch zwischen solchen aus nichtnumerischen
Mannigfaltigem. Unspaltbare Verhältnisse dieser beider Arten können
einstimmig oder unstimmig sein. Im zweiten Fall handelt es sich um eine
Spezialform des unspaltbaren Verhältnisses, das instabile oder (wie
ich jetzt der Einfachheit halber sage) zwiespältige Mannigfaltige.
Es entsteht, wenn die absolute Identität der Teilnehmer gestört
ist, so daß unvereinbare Etwasse um Identität mit demselben
Etwas konkurrieren. Ein Muster dafür ist die Husserl'sche Puppe.
Der Philosoph Husserl sah, im Wachsfigurenkabinett durch eine als Frau
zurechtgemachte Puppe getäuscht, in den Augenblicken der Entlarvung
eine zwiespältige Erscheinung, in der sich die Züge von Frau
und Puppe verwirrend überdeckten. Das wäre ein sichtbarer Widerspruch
gewesen, wenn Frau und Puppe genügend auseinandergetreten wären,
um einzeln zu sein. Das war aber nicht der Fall. Wenn an die Stelle solcher
sichtbaren Objekte Behauptungen treten, ergeben sich Antinomien, die Widersprüche
wären, wenn die behaupteten Sachverhalte einzeln auseinanderträten,
was aber bei richtigem Verständnis der Antinomien so wenig der Fall
ist wie bei der Husserlschen Puppe oder im Witz. Ich habe mich ausführlich
damit beschäftigt. Das zwiespältige Mannigfaltige ist nicht
auf solche Sonderfälle beschränkt, sondern durchzieht das tägliche
Leben. Jeder Mensch (verglichen mit den unzähligen »Phasenmenschen«,
die er im Lauf seines Lebens durchläuft) ist ein zwiespältiges
Mannigfaltiges.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 13-14 |
Warum ist das Durchschauen der Typen der Mannigfaltigkeit,
die Brechung des Monopols des numerischen Mannigfaltigen, so wichtig für
den Durchbruch der Besinnung zum wirklichen Leben? Ein weit verbreiteter,
besonders von der Naturwissenschaft (außer der Quantenphysik) geförderter
Irrtum ist die Voraussetzung, daß alles ohne weiteres einzeln sei
(Singularismus) und die Erfahrung daher mit dem Auflesen vieler selbstverständlich
vorgegebener Einzelheiten beginnen könne, um dann durch Abstraktion
fortzuschreiten. Alle Bedeutungen (d. h. hier: Sachverhalte, Programme,
Probleme) gelten dann als nachträglich dem Einzelnen aufgesetzte
oder zugedeutete Projektionen, etwa abhängig von den Bedürfnissen
oder Interessen des projizierenden Subjektes. Dieser projektionistische
Singularismus ist von Grund auf verkehrt. Um den Irrtum zu durchschauen
und zur unwillkürlichen Lebenserfahrung zurückzufinden, muß
man die Herkunft der Einzelheit und des numerischen Mannigfaltigen analysieren.
Dabei gelangt man zu der Einsicht, daß die Bedeutungen den anderen
einzelnen Sachen gegenüber primär sind und selbst als einzelne,
unter denen sich Gattungen für die Subsumtion einzelner Fälle
befinden, durch die satzförmige Rede des Menschen aus dem konfusen
oder diffusen Mannigfaltigen der Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit
expliziert (entbunden) werden müssen. Nicht also sind einzelne Gegebenheiten
(Sinnesdaten, physikalische Meßgrößen, Körper und
dergleichen) der Grundstoff menschlicher Erfahrung, sondern bedeutsame
Situationen. Erst mit dieser Einsicht gelangt man zum wirklichen Leben
der unwillkürlichen Lebenserfahrung.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 14-15 |
Das Thema des dritten Kapitels - Leib und Gefühl
- bringt den Vorteil mit sich, an einen bestimmt datierbaren und analysierbaren
geschichtlichen Großirrtum anknüpfen zu können, der seit
dem 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert die europäische Intellektualkultur
vollständig in die Irre geführt und zur Verdeckung der unwillkürlichen
Lebenserfahrung im menschlichen Selbstverständnis entscheidend beigetragen
hat. Es handelt sich um einen Paradigmenwechsel des menschlichen Selbst-
und Weltverständnisses an der Schwelle vom archaischen zum klassischen
griechischen Denken und Dichten, nämlich um die Weltspaltung durch
die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung.
Ihr Motiv war die Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen
Regungen, die über die Person teilweise spontan kommen (wie Zorn,
Eros, Phobos als panischer Fluchtdrang), teils aus göttlich-dämonischer
Quelle. Zu diesem Zweck wurde die Welt zerlegt in Seelen als private Innenwelten
(je eine für jeden BewußthaberPsychologismus) und eine zwischen
diesen verbleibende empi rische AußenweIt. Diese wurde zwecks Reinigung
von dubios ergreifenden Mächten bis auf wenige Merkmalsorten und
deren hinzugedachte Träger (zunächst Atome, später Substanzen)
abgeschliffen (Reduktionismus). Der Abfall der Abschleifung wurde teils
absichtlich in den Seelen abgeladen (spezifische Sinnesqualitäten),
zum großen Teil aber übersehen und schließlich, wenn
er sich nicht verbergen ließ, in verwandelter Gestalt in den Seelen
untergebracht (Introjektion). Mit der Weltspaltung verband sich die Menschspaltung
in Seele und Körper, wobei dieser in eine zweideutige Stellung zwischen
Innenwelt (als der Domäne des Menschen) und empirischer AußenweIt
geriet. Dieses Paradigma setzte sich in der zweiten Hälfte des 5.
vorchristlichen Jahrhunderts durch, ablesbar in der Philosophie am Gegensatz
der zeitgenössischen Antipoden Empedokles und Demokrit und in der
Dichtung bei Sophokles im Gegensatz zu Aischylos sowie mit dem Aufkommen
der Lust als Thema des privatisierten, affektiven Betroffenseins (z. B.
Aristophanes). Allgemeinverbindlich wurde es im 4. vorchristlichen Jahrhundert
durch Platon und Aristoteles.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 15-16 |
Bei der Menschspaltung im 5. und 4. Jahrhundert ist man sehr schematisch
verfahren und hat zwischen dem materiellen, sicht- und tastbaren Körper
und der gern (besonders in der platonischen Tradition) als immateriell
vorgestellten Seele zentrale Bestandteile der unwillkürlichen Lebenserfahrung
unter den Tisch fallen lassen. Eines dieser Opfer ist der spürbare
Leib, eigentlich jedem Menschen der Nächste. Jeder kennt aus beständiger
Erfahrung mit sich Schreck, Schmerz, Angst, Hunger, Durst, Jucken, Kitzel,
Ekel, Behagen, Wollust, Frische, Müdigkeit, Mattigkeit und viele
andere leibliche Regungen, aber auch Gefühle werden die seinigen
nur dadurch, daß er sie am eigenen Leib spürt, z. B. im Frohsinn,
Traurigsein, Fürchten, Sichärgern, Sichschämen, Bestürzung
usw.; er läßt seinen Blick schweifen oder konzentriert ihn,
atmet ein und aus, greift, zuckt, schluckt, zittert usw. Alles das sind
Ereignisse in einem flächenlosen Raum, wenn sie auch zum Teil, nämlich
im Fall der Motorik, eine Entsprechung im flächenhaltigen Raum des
materiellen Menschenkörpers haben. Es gibt viele flächenlose
Räume, z. B. den des Schalls, der mit dem Raum des Leibes viel gemeinsam
hat. Wie sich der Raum des Schalls (z. B. mit Lokalisierung der Schallquelle)
mit dem flächenhaItigen Raum des Sehens und Tastens überdeckt,
ohne darin aufzugehen, so der Leib mit dem Körper. Seine Ausdehnungsweise
ist demnach anders und verdient eigenes Studium. Das gilt ebenso für
die Dynamik des Leibes, die von der des physischen, materiellen Körpers
sehr verschieden ist. Die wichtigste Dimension dieser Dynamik ist die
von Enge und Weite, besetzt mit gegenläufigen Tendenzen der Engung
und Weitung, die, miteinander verschränkt, den (vitalen) Antrieb
bilden, sich aber auch teilweise voneinander lösen können. Der
Antrieb ist ein Dialog von Engung und Weitung und dadurch befähigt,
in der Einleibung als gemeinsamer Antrieb die Brücke der leiblichen
Kommunikation zu schlagen, wodurch alle Kontakte (z. B. der Wahrnehmung)
vermittelt werden. Die auf die mit Körpern besetzte Außenwelt
der Weltspaltung fixierte Tradition weiß nichts davon und muß
ersatzweise materielle oder semimaterielle Brücken schlagen, die,
wenn sie auch seit dem 17. Jahrhundert von der Naturwissenschaft legitimiert
sind, nicht vom Gesehenen zum Sehen (dem Blick) oder umgekehrt führen,
sondern etwa von elektrischen Ereignissen in Atombündeln zum Gehirn.
Es ist erstaunlich, daß es dem Paradigma der Weltspaltung gelungen
ist, dem menschlichen Selbstverständnis das Nächste der unwillkürlichen
Lebenserfahrung vorzuenthalten. Der Apostel Paulus war der Letzte, dem
dieses Milieu selbstverständlich war, nachdem vorher die Stoiker,
in deren Doktrin die sogenannten Körper vielmehr Leiber mit vitalem
Antrieb sind, ihre Kenntnis leiblicher Dynamik mit der Weltspaltung vermischt
hatten. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts, sogar in Frankreich (Maine de
Biran), wo man die glückliche verbale Alternative »Leib/Körper«
nicht hat, regt sich bei Philosophen wieder ein Sinn für die Eigenart
des Leiblichen, aber dabei gelang es noch nicht, der Vermengung von Leib
und Körper und damit der Menschspaltung zu entgehen. Tatsächlich
sind die Unterschiede in Ausdehnung und Dynamik so groß, daß
nicht von zwei Aspekten derselben Sache, sondern von verschiedenen, wenn
auch lokal sich überschneidenden Gegenständen gesprochen werden
sollte. Der Leib könnte aus dem Körper auswandern, wie es einzelne
Leibesinseln (Phantomglieder der Amputierten) schon tun; neuerdings versuchen
Neuropsychologen (z.B. in Lausanne), ihn dazu zu bringen, ohne zu wissen,
was sie tun, da sie - befangen in der Menschspaltung - an Täuschungen
glauben.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 16-18 |
Die Aufdeckung und Analyse des spürbaren Leibes
kann wesentlich zur Überwindung der Weltspaltung beitragen. Deren
Dilemma besteht nicht nur in der Problematik, wie der Bewußthaber
aus seiner abgeschlossenen, nur durch Sinnesorgane zugänglichen Innenwelt
herauskommen soll, sondern mehr noch darin, wie er hineinkommt, wie er
sich überhaupt zu ihr verhält. Daß er sich in seine Seele
oder seinen Geist oder sein Bewußtsein auflöst, kann man nur
glauben, wenn man ruhig am Schreibtisch sitzt; wer überwältigt
wird und die Fassung verliert, wird schon merken, daß er selber
leidet und nicht nur ein Bündel Hume-Machscher Empfindungen
gewisse Modifikationen durchmacht. Der Bewußthaber ist Person nur
durch die Fähigkeit der Selbstzuschreibung, sich für einen Fall
mehrerer Gattungen zu halten und durch Akzentverschiebung zwischen diesen
Fällen sich selbst bestimmen zu können. Selbstzuschreibung ist
ein identifizierendes Sichbewußthaben. Es stellt sich heraus, daß
dieses identifizierende Sichbewußthaben nur durch ein vorgängiges,
nicht identifizierendes möglich ist. Wie kann es aber geschehen,
daß jemand sich seiner ohne Identifizierung bewußt ist? Der
einzige Weg führt über das affektive Betroffensein in den Leib
an die Quelle des vitalen Antriebs in extremer Enge, wenn der plötzliche
Andrang des Neuen Dauer zerreißt, Gegenwart aus ihr abreißt
und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein entläßt (primitive
Gegenwart mit fünf in unspaltbarem Verhältnis verschmolzenen
Momenten: hier, jetzt, sein, dieses, ich). Dabei entspringen absolute
Identität und Subjektivität. Die Nachwirkung dieses Ereignisses
in der Engungskomponente des Antriebs überträgt sie beide ins
normale Bewußthaben. Der Antrieb ist in der Einleibung an Begegnendes
angeschlossen. Die Person ist in ihm und damit in leiblicher Kommunikation
geerdet und kommt, ohne zu verschwinden, nicht davon weg, wenn sie auch
darüber hinauswächst. Damit sind die Introjektion und die Weltspaltung
überwunden.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 18-19 |
Die abgeschlossene private Innenwelt und die Introjektion
in sie sind abgeschüttelt. Es erübrigt sich, nach einer Seele
oder einem Bewußtsein zu suchen, in dem Vorstellungen (perceptions),
Empfindungen, intentionale Akte usw. entsprechend den intendierten Gegenständen
gespeichert wären. Ein bekannter Slogan der älteren Phänomenologie
lautet: »Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas.«
Das an erster Stelle genannte Bewußtsein, den Speicherplatz, kann
man vergessen. Das an zweiter Stelle genannte Bewußtsein (von etwas)
bleibt das Bewußthaben eines Bewußthabers, der zu dem, was
ihm angeboten wird, verarbeitend Stellung nimmt. Wahrnehmen z. B. ist
Einleibung (oder Ausleibung, leibliche Kommunikation im Kanal privativer,
aus dem vitalen Antrieb sich lösender Weitung), oft überdeckt
durch persönliche Stellungnahme aus neutralisierender Distanz. Denken
ist Auseinandersetzung mit Sachverhalten, Programmen oder Problemen, die
aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbunden werden.
Wollen ist eine vermittelnde Tatigkeit zwischen drei Instanzen: einer
Herausforderung, der persönlichen Situation, der die Person eine
ein stimmige Antwort darauf (eine Absicht) abgewinnen muß, und dem
vitalen Antrieb, der zur Zuwendung zur Absicht gewonnen werden muß.
Die leiblichen Regungen werden unmittelbar gespürt; die Person kann
sich damit auseinandersetzen. Es bleiben die Gefühle. Gewöhnlich
hält man sie für Inhalte, die man in der Seele oder im Bewußtsein
vorfinden kann. David Hume nannte als das einzige Ergebnis der Inspektion
seiner selbst in einem Atem Perzeptionen »der Wärme oder Kälte,
des Lichtes oder Schattens, der Liebe oder des Hasses, der Lust oder Unlust«.
Die Wissenschaft versteht Gefühle im Anschluß an Kant meist
als Zustände von Lust und Unlust, Bestände privater Innenwelten.
Die ältere Phänomenologie von Brentano über Husserl zu
Scheler brachte die Auffassung der Gefühle als intentionale, auf
etwas (ein Thema, einen Gegenstand) abzielende Akte hinzu. Aber vielmehr
fliegen Gefühle den Betroffenen entweder nur flüchtig an oder
sie ergreifen ihn und werden dadurch zu seinen eigenen Gefühlen,
die er als etwas von sich selber fühlt. Gefühle sind wie bloße
leibliche Regungen Weisen des affektiven Betroffenseins, das dem Betroffenen
nahegeht, ihn mit sich nimmt oder gar mitreißt, keineswegs aber
private Zustände, die man bei sich vorfindet und (als Lust) begrüßt
oder (als Unlust) wegwünscht, und ebenso wenig Akte, mit denen man
von sich aus ein Objekt aufsucht. Von den bloßen leiblichen Regungen
unterscheiden sie sich durch ihre fesselnde, fast hypnotisierende Kraft,
die dem Ergriffenen, den sie nicht nur flüchtig berühren, anfangs
Einstimmung in ihren Impuls aufnötigen, so daß er erst nach
einer Weile in Preisgabe oder Widerstand persönlich Stellung nehmen
kann.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 19-20 |
Der Platz der Gefühle muß nach ihrer Befreiung
aus der Introjektion also neu gefunden werden. Ich habe vorgeschlagen,
sie als Atmosphären zu verstehen, die entweder bloß wahrgenommen
werden oder, wenn sie nicht bloß flüchtig berühren, den
Betroffenen leiblich spürbar ergreifen und dann zu seinen eigenen
werden, zu denen er in Preisgabe oder Widerstand persönlich Stellung
nehmen kann. Ich habe 1969 den Begriff der Atmosphäre in die Philosophie
eingeführt, nachdem ein Jahr zuvor der Psychiater Tellenbach über
Geschmack und Atmosphäre geschrieben hatte. Unter einer Atmosphäre
verstehe ich die ausgedehnte Besetzung eines flächenlosen Raumes
im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird. Nicht alle Atmosphären
sind Gefühle, sondern, nur solche, die mindestens dem Anspruch nach
den Raum erlebter Anwesenheit total zu erfüllen suchen, die eine
Autorität haben, die bis zu verbindlicher Geltung mit unbedingtem
Ernst gehen kann, und die im affektiven Betroffensein von ihnen die eben
benannte fesselnde Kraft des Ergreifens besitzen, egal, ob sie stürmisch
oder schleichend kommen. Gefühle sind Halbdinge (wie die Stimme),
die sich von Dingen im Vollsinn durch unterbrechbare Dauer und eine unmittelbare
Kausalität, in der Ursache und Einmerkung dem Effekt gegenüber
zusammenfallen, unterscheiden. Sie sind meist, aber nicht immer, fester
oder lockerer in Situationen eingebunden. Ich lasse diese abstrakten Angaben
hier ohne Erläuterung stehen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 20-21 |
Das vierte Kapitel betrifft die Umstände
der Personwerdung. Die Inhalte der drei ersten Kapitel sind schon präpersonal
antreffbar, im Leben der Tiere und Säuglinge. Tiere und Säuglinge
sind in Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit (aus nicht einzelnen
Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind) gefangen.
Menschen überwinden als Personen (Bewußthaber mit Fähigkeit
zur Selbstzuschreibung) diese Gefangenschaft mit Hilfe ihrer satzförmigen
Rede, die den Sätzen einer Sprache (Regeln für die redende Darstellung
von Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen) gehorcht. In dieser
Sprache, einer Situation, in der sie leben, sind die Menschen beim Reden
ebenso gefangen wie die Tiere in anderen Situationen, aber sie benützen
diese Gefangenschaft zur Explikation einzelner Bedeutungen aus binnendiffuser
Bedeutsamkeit. Das ist die spezifische Funktion menschlicher, satzförmiger
Rede, während die kommunikative Leistung menschlicher und tierischer
Rede gemeinsam ist. Unter den explizierten Sachverhalten befinden sich
Gattungen, die Fälle haben können. Dadurch wird es möglich,
von den Bedeutungen her beliebige Sachen zu vereinzeln; denn Einzelheit
ist das Zusammentreffen von absoluter Identität mit dem Fallen unter
Gattungen. Was Gattung und Fall sind, wird im 2. Kapitel erklärt.
Die Gattungen brauchen nicht schon vollständig explizit zu sein,
um Vereinzelung zu ermöglichen. Diese bleibt dann aber sporadisch
und labil. Stabil und zusammenhängend wird die Vereinzelung erst,
wenn explizite einzelne Gattungen sich zu nach Übereinstimmung und
Unterschied geordneten Netzen zusammenschließen. Durch solche Konstellationen
kann der Mensch die Situationen rekonstruierend in den Griff nehmen und
planend oder phantasierend überholen, sofern ihm noch folgende Leistungen
gelingen: Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen, wobei er den
Fluß der Zeit benötigt; Projektion von Einzelnem in das Nichtseiende
der offenen Zukunft dessen, was noch möglich ist, worin die geschlossene
Zukunft dessen, was noch nicht ist, bis zum Entstehen unabsehbar verschlossen
ist. Dazu bedarf es der Entfaltung der fünf Momente der primitiven
Gegenwart zur Welt als dem Feld aller möglichen Vereinzelung; sonst
bliebe es für diese bei unvollkommenen Gehversuchen (vielleicht auf
dem Niveau der Neandertaler). Das Hier der primitiven Gegenwart, das leibliche
Zusammenfahren unter dem plötzlichen Andrang des Neuen, entfaltet
sich zum Ortsraum mit Lagen und Abständen; das Jetzt, das Plötzliche
des Andrangs, entfaltet sich zur modalen Lagezeit des Entstehens und Vergehens
mit Fluß der Zeit; das Sein entfaltet sich aus dem Gegensatz zum
Vorbeisein zum Gegenteil des Nichtseins in voller Breite mit Erlaubnis
für die Projektion, die Schwelle zu überschreiten; das Dieses,
die absolute Identität, entfaltet sich zur relativen Identität,
die das Fallen unter mehrere Gattungen zusammenfaßt und dadurch
Gelegenheit gibt, eine Sache vielseitig zu sehen und in mehrere Konstellationen
einzuordnen; das Ich der primitiven Gegenwart, die Subjektivität
des Betroffenseins vom Andrang, entfaltet sich durch Selbstzuschreibung
des Bewußthabers zum einzelnen Subjekt und durch Neutralisierung
subjektiver Bedeutungen zur Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden.
Dieser Prozeß wird vom Menschen aber keineswegs gemacht oder geführt,
sondern er hat ihn durch seine satzförmige Rede nur angestoßen
und wird in einer der fünf Dimensionen der Entfaltung der primitiven
Gegenwart zur Weltwerdung mitgezogen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 21-23 |
Das Weltverständnis der meisten Menschen beruht auf einem
naiven Realismus, nämlich der Überzeugung, daß die Welt
sozusagen vorläufig fertig vorgegeben ist, nämlich durchgängig,
aber jeweils veränderbar bestimmt. Dieser Einstellung wird der Boden
weggezogen durch meinen Beweis, daß der Grundsatz der durchgängigen
Bestimmung für keinen einzigen Gegenstand zutrifft. Obendrein scheitert
sie am Bedenken der Voraussetzungen der Einzelheit. Der naive Alltagsrealismus
ist singularistisch, d. h., er hält die Einzelheit der Gegenstände,
mit denen er befaßt ist, ohne weiteres für selbstverständlich.
Damit gleicht er der Art, wie Philosophen an Einzelheit heranzugehen pflegen.
Die philosophischen Systeme gleichen meist einem Brettspiel, in dem die
Figuren auf die dominanten, den Sieg verheißenden Plätze und
die benachteiligten Plätze hin- und hergeschoben werden, z. B. Subjekt/Objekt,
Verstand/Sinnlichkeit, Geist/Materie, Spontaneität/Rezeptivität.
Jede dieser Sachen oder Bedeutungen wird von vornherein als einzelnes
Besitzstück einer Partei behandelt. Das ist verspielt, weil nicht
auf die komplizierten Voraussetzungen des Hervorgehens von Einzelheit
geachtet wird. Ich selbst bin erst seit 1994 darauf aufmerksam geworden
und habe erst sehr viel später das Verhältnis von absoluter
Identität, Einzelheit und relativer Identität genau bestimmt.
Wenn man diesen Zusammenhang durchschaut, bemerkt man, wie labil und kontingent
die Welt ist. Schon die absolute Identität versteht sich nicht von
selbst, sondern verdankt sich der primitiven Gegenwart als dem Riß,
dem Urakzent, ohne den nichts selbst sein könnte. Die Welt ist kein
Ding an sich, sondern ein Gesicht, das eine aus Seiendem und Nichtseiendem
gemischte Masse dem menschlichen Reden als Antwort auf dessen Herausforderung
zeigt. Ohne diese Antwort gäbe es keine Welt und keine Einzelheit,
sondern die Gefangenschaft der Bewußthaber in Situationen kehrte
zurück. Hier erweist sich, daß die Rückkehr zum wirklichen
Leben und zur unwillkürlichen Lebenserfahrung nicht immer eine Einkehr
bei gewöhnlichen Überzeugungen ist.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 23-24 |
Eine Blüte des naiven Realismus ist das geläufige naturwissenschaftliche
Weltbild, abgesehen von den Überraschungen und Verlegenheiten der
Quantenphysik. Es beruht auf der Weltspaltung. Am Ende des Kapitels wird
es kritisch erörtert.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 24 |
Nach den vier systematischen Kapiteln folgt als fünftes
Kapitel ein historisches, das ich überschrieben habe: Rückschau
auf das Abendland. Dazu ermächtigt mich eine Mischung von Enthusiasmus
und Melancholie. Die abendländische, auf dem Boden des weströmischen
Reiches gewachsene Kultur ist in vielen Zweigen von so glänzender
Fülle der Gestaltungskraft durchzogen und mit so großen Erfolgen
belohnt worden, daß der Bewunderung kein Ende sein sollte. Aber
gerade ihre führenden Wegweiser, die Philosophie und die (christliche)
Religion, sind trotz gleichfalls großartiger Beiträge weitgehend
vergiftet durch die vier Verfehlungen des abendländischen Geistes
(vgl. Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, 1999), denen
die konstellationistische der Neuzeit zugerechnet werden muß. Um
sie loszuwerden, wäre eine Umkehr erforderlich, zu der das Abendland
dank seiner einmaligen, von den Griechen geerbten Kultur der kritischen
Aufklärung, einschließlich der Selbstkritik und Selbstkorrektur,
die Kraft haben könnte, wenn ihm diese nicht vom Einsickern des unerbittlich
selbstsicheren Islam abgenommen wird. Möge das Erbe des Sieges bei
Salamis nicht verlorengehen!
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 24 |
Mit dem von der Übermacht ergreifender Gefühle
geweckten Impuls auffangender philosophischer Besinnung ist es mir sonderbar
ergangen. Seit etwa 1950, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts,
ist das Brausen der unkontrollierbaren, aber von Könnern manipulierbaren
Affekte kollektiv und individuell - abgesehen von einigen Harmlosigkeiten
wie Woodstock und andere Rockfestivals - abgeebbt wie ein gewaltiger Sturm
und einer entgegengesetzten Bedrohung des affektiven Betroffenseins gewichen,
einer vielleicht noch gefährlicheren, die ebenso Grund genug ist,
sich als Philosoph auf deren Quellen zu besinnen. Es handelt sich um eine
eigentümliche Steifigkeit, die die Menschheit (zumindest die europäische,
aber überall wird Europa) heimgesucht hat und sich immer weiter ausbreitet.
Bis dahin konnten die Menschen aus der Fülle ungeformter Möglichkeiten
schöpfen und schöpferisch (in diesem Sinn des Wortes) neue Wege
ausprobieren; es genügte, aus der Stadt aufs Land zu gehen und in
die weite Welt zu wandern wie der Wandervogel in der Jugendbewegung nach
1900. Fortan ist das fruchtbare Feld ungeformter Möglichkeiten verstellt
durch eine von der modernen Maschinentechnik (neuerdings besonders Elektronik)
ausgereizte Perfektion von Angeboten kurzfristiger Lebensführung,
gleich einem durch fortschreitende Verdichtung undurchsichtig werdenden
Schienensystem, in dem der Einzelne von Station zu Station die Weichen
stellen kann, scheinbar souverän in der Auswahl, aber nicht mehr
in der Gestaltung, also nicht mehr schöpferisch im angegebenen Sinn.
Dem kommt die Kultur der coolen Wendigkeit in dem von Friedrich Schlegel
im Anschluß an Fichte eingeleiteten ironistischen Zeitalter zugute;
sie bricht den Menschen das Rückgrat konsequenten eigenen Wollens
und versetzt sie auf das Niveau spielender Kinder, die ihren Launen nachgehen
dürfen. Die Menschen sind wie Puppen in einem Maschinenpark, in dem
sie einige Hebel stellen können, durch die sie kurzfristig Herren
ihres Weges werden, indem sie sich langfristig der Herrschaft der Maschinen
ausliefern und den Schein augenblicklicher Souveränität mit
der Unterwerfung unter den übermächtigen Betrieb der vernetzten
Angebote bezahlen. Die Lebendigkeit des affektiven Betroffenseins verliert
auf diese Weise den großen Schwung, den langen Atem; das Pathos,
auch das unaufgeregte, wird zur Laune. Unter dem Scheinleben puppig versteifter
Menschen muß ihr wirkliches Leben, ihre Ergreifbarkeit und die daraus
allein sich ergebende Möglichkeit schöpferischen Gestaltens
noch ungeformter Möglichkeiten, geweckt und, da Propheten unter Ironisten
keine Macht mehr haben, wenigstens durch begreifende Besinnung dem Bewußtsein
der Menschen wieder nahegebracht werden. Deswegen konnte ich, wenn auch
mit umgekehrter Frontstellung, mit demselben Impuls meiner Absicht treu
bleiben, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 26-27 |
Am Anfang der Konzeption meines Werkes System der
Philosophie (5 Bände in 10 Büchern) stand 1959 die zufälligen
Notiz in einem Band der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und
Psychiatrie, der französische Psychiater Eugène Minkowski
habe den Ausdruck »moi-ici-maintenant« gebraucht, also schon
drei Momente der primitiven Gegenwart zsuammengestellt, an deren Entdeckung
als Anker der Konzeption schloß sich im Herbst des Jahres an schnell
das Übrige. Dabei richtete sich, wie schon gesagt wurde, mein Augenmerk
in erster Linie auf das affektive Betroffensein in Gestalt der Ergreifbarkeit
durch Gefühle als räumlich (aber nicht in der Weise eines Koordinatensystems)
ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären; daher dominieren in
den ersten fünf Büchern von System der Philosophie (Band
I bis Band III Teil 2) die Themen Leib, Raum, Gefühl.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 27 |
Der nächste große Schub in meinem Denken begann 1967.
Damals schrieb mir der Mathematiker und Philosoph Paul Lorenzen, mit dem
ich noch nach seinem Weggang von Kiel nach Erlangen eifrig korrespondierte,
mit Bezug auf die neue Darstellung meiner phänomenologischen Methode
im ersten Paragraphen meines Buches Der leibliche Raum (System
der Philosophie Band III Teil 1) am 4. September den kurzen Satzanfang:
»Die Phänomene sind Sachverhalte«. Diese vier Worte haben
in meinem Denken Epoche gemacht. Ich begann, über Sachverhalte nachzudenken.
Das erste, bald sich einstellende Resultat war die Unterscheidung zwischen
subjektiven und objektiven oder neutralen Bedeutungen (d.h. Sachverhalten,
Programmen, Problemen) und die Entdeckung der subjektiven Tatsachen. Davon
berichtet, zuerst mit noch teilweise ungeschicktet Umständlichkeit,
das 1. Kapitel meines Buches Der Gefühlsraum (System der
Philosophie Band III Teil 2, 1969). Der andere große Ertrag
des Nachdenkens über Lorenzens Anregung war meine Entdeckung der
Situationen, in denen Mannigfaltiges durch eine binnendiffuse (chaotisch-mannigfaltige)
Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen zusammengehalten
und abgehoben wird, als der Basis aller menschlichen und tierischen Erfahrung.
Sie gelang mir erst 1975 und wurde 1977 in Band III Teil 4 von System
der Philosophie veröffentlicht. Seither ist der Situationsbegriff
einer der Anker meiner Phänomenologie.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 29 |
Ich unterscheide drei Haupttypen der Mannigfaltigkeit,
den numerischen, den chaotischen und den instabilen (zwiespältigen),
und innerhalb des chaotischen Mannigfaltigen den konfusen Typ (mit Mangel
an Identität und Verschiedenheit) vom diffusen (dem nur Einzelheit
fehlt, während er durch Identität und Verschiedenheit vor Verwechslungen
beim Umgang mit ihm geschützt ist). Es fehlt noch die Zerlegung der
Identität in absolute und relative; im diffus chaotischen Mannigfaltigen
kommt nur die absolute in Betracht. Auch steht das zwiespältige Mannigfaltige
ziemlich isoliert da, während das chaotische und das numerische einsichtig
zusammenhängen, so daß sich eine Treppe vom konfusen Mannigfaltigen
über das diffuse (durch Hinzukommen von Identität und Verschiedenheit)
zum numerischen (durch Hinzutritt der Einzelheit) ergibt.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 31 |
Ein großer Schritt war nötig, um der Mannigfaltigkeitslehre
die inzwischen errreichte, vermutlich endgültige Gestalt zu geben.
Er gelang durch Entdeckung der unspaltbaren Verhältnisse. Bereits
in meinem Buch Logische Untersuchungen (2008) thematisierte ich
den Gegensatz zwischen ungerichteten Verhältnissen und gerichteten
Beziehungen, aber mehr beiläufig, um die Unentbehrlichkeit des Flusses
der Zeit für die Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen aufzuzeigen.
Weiter kam ich mit Hilfe eines Studenten der Philosophie an der Universität
in Jena, des Herrn Sascha Pahl, der sich brieflich an mich wandte, weil
er ganz aus eigenem Antrieb, ohne Ermutigung durch seine Professoren,
meine Theorie der Subjektivität zum Thema der Magisterarbeit gewählt
hatte. Nach sehr verständiger Korrespondenz schickte er mir das Produkt,
in dem ich neben zahlreichen anderen Kritiken, auf die ich am 5. April
2009 sofort erwiderte, seinen Anstoß daran fand, daß ich schon
in das schlichteste, präpersonale affektive Betroffensein eine reflexive
Relation als Kreislauf von Passivität und Aktivität eingeführt
hätte. Ich antwortete ihm damals: »Es gibt aber auch unspaltbare
Verhältnisse«. Mir wurde schlagartig klar, daß - zunächst
im angegebenen Fall des präpersonalen, noch nicht mit persönlicher
Stellungnahme verarbeiteten, affektiven Betroffenseins - gar keine refelxive
Beziehung vorlag, sondern ein (zu gegebener Zeit) nicht in Beziehungen
spaltbares Verhältnis. Als erste Arbeit mit dem neuen Begriff fügte
ich meinem 2010 erschienenen Buch Jenseits des Naturalismus noch
schnell den letzten Aufsatz Schlichtes Beisichsein an. Ausführlich
behandelte ich danach das sehr ergiebig befundene Thema »Unspaltbare
Verhältnisse« auf den Seiten 54-69 meines Buches Bewußtsein
(2010), mit guten Beispielen u.a. aus den Ekstasen der leiblichen Kommunikation
(Einleibung und Ausleibung), noch nicht ganz stimmig in allen Details.
Die begriffsklare Sichtung des Potentials der unspaltbaren Verhältnisse
gelang mir in mienem Buch Kritische Grundlegung der Mathematik
(2013). Absolute und relative Identität werden klar geschieden: jene
wird als Voraussetzung für diese erwiesen; Einzelheit zwischen beide
Identitäten so eingeordnet, daß sie durch das Zusammentreffen
von absoluter Identität mit dem Fallen unter eine Gattung entsteht,
relative Identität aber durch Fallen unter mehrere Gattungen. Besonders
folgenreich ist die Einsicht, daß Beziehungen (wegen Angewiesenheit
auf eine Stellen- und Telnehmerzahl) nur zwischen einzelnen Teilnehmern
möglich sind, unspaltbare Verhältnisse aber auch, wenn diese
sämtlich oder teilweise nicht einzeln sind. Damit war klar, wie sogar
hochstufige Ordnungen auch schon ohne numerische Mannigfaltigkeit (präpersonal,
vorweltlich) möglich sind, etwa bei Tieren oder für menschliche
Personen in der Sprache, der sie mit ihren Sprüchen redend gehorchen,
und in der flüssigen Motorik (des Mundes, der Beine usw.): Dieselben
Zusammenhänge können die Gestalt unspaltbarer Verhältnisse
und, nach Vereinzelung, die Gestalt von aus Verhältnissen gespaltenen
Beziehungen annehmen. Damit übergreift das unspaltbare Verhältnis
das diffus chaotische Mannigfaltige; dieses rückt mit dem zwiespältigen
Mannigfaltigen, das aus seiner Isolierung gelöst wird, unter dem
unspaltbaren Verrhältnis zusammen. Beiden Typen kann es an Einzelheit
fehlen; wenn diese ergänzt ist, wird das Mannigfaltige numerisch.
Unspaltbare Verhältnisse können aber auch lauter einzelne Teilnehmer
verbinden, wofür schon in Bewußtsein ein Beispiel (gemeinsames
Sägen) steht. Das unspaltbare Verhältnis ragt also auch in das
numerische Mannigfaltige hinein.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 31-33 |
Die Figur des unspaltbaren Verhälnisses gestattet
viele fruchtbare Anwendungen, z.B. auf Ekstasen, das Bewußthaben,
die Wahrnehmung, die Zeit. Mit dieser ist mein Buch Phänomenologie
der Zeit (2014) befaßt, das ein besonders kompetenter Beurteiler
für mein bisher bestes hält.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 33 |
Gernot Böhme stand, seit er mein Buch »System
der Philosophie, Band II, Der Leib, Teil 1« (1965) mit einer
klugen Besprechung bedacht hatte, unablässig an meiner Seite und
hat Wesentliches zur Förderung der Neuen Phänomenologie beigetragen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 36 |
Peter Sloterdijk hat mich in Karlsruhe mit allen Ehren
aufgenommen und als den bedeutensten lebenden deutschen Philosophen ausgegeben;
er hat erstaunlich eingehende Kenntnis meiner Arbeiten bewiesen und sich
über diese in seinen Schriften mehrfach anerkennend und verständnisvoll
geäußert.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 36-37 |
Wie ein Lichtblick an meinem Horizont erscheint mir ...
ein Brief, aus dem ich ... zitieren möchte. Er stimmt mit manchen
Zeugnissen überein, die mir von philosophisch unverbildeten Menschen
zugetragen wurden. Ich erhielt ihn von einem mir persönlich unbekannten
Berliner, der sich mir als Mann vorstellte, der nach einem abgebrochenen
Studium der Psychologie und einem abenteuerlichen Leben eine kleine Rente
beziehe. Er war von einer Ärztin und einer Juristin auf meine Bücher
hingewiesen worden und schrieb mir dazu am 24. April 2014: »Seit
ich Texte von Ihnen lese, werden mir einige Dinge zugänglich, der
Blick, die Atmosphären und Stimmungen, Merkwürdigkeiten von
Raum und Zeit. Es scheint mir, ich werde wacher für mein Leben in
der Welt. Das finde ich so spannend, daß ich möglichst mehr
davon begreifen möchte. Bitte sehen Sie mir auf diesem Hintergrund
nach, wenn ich Ihnen lästig fallen sollte. Was ich hingegen überhaupt
nicht begreifen kann, und was mich immer wieder erstaunt - daß so
grundlegende und andersartige Ergebnisse Ihrer Arbeit so wenig beachtet
werden. Einiges begreife ja sogar ich, ohne über eine ausreichende
Vorbildung zu verfügen; es deckt sich mit meinen täglichen Erfahrungen.«
Wenn ich das lese, wächst mein Mut zu der Hoffnung, daß es
mir gelingen könnte, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich
zu machen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 36-37 |
Sätze sind Regeln einer Sprache (*),
denen ein Sprecher gehorcht bei der Formulierung von Sprüchen, die
einzelne Sachverhalte, Programme und/oder Probleme (oft viele zugleich)
darstellen und eventuell im Dienst weiterer Zwecke stehen. (*
Genauer gesagt: eine Sprache besteht aus Texten/Textemen,
Sätzen/Syntakten/Syntaktemen, Wörtern/Logemen/Lexemen, Morphen/Morphemen,
Lauten/Phonen/Phonemen sowie all deren Bedeutungen und Regeln,
und dies alles auch auf schriftlicher Ebene sowie in einem weiteren
und einem weitesten Sinne auch, z.B. im Denken, Kalkulieren
oder - primitiver - im Semiotischen; um Schmitz entgegenzukommen:
das rein semiotische Sprachsystem ist auf der Stufe des Präpersonalen
das, was auf der Stufe des Personsalen das rein linguistische
Sprachsystem ist, auf dem auch alle weiteren Sprachsysteme - z.B.
das rein logische Sprachsystem und das rein mathematische Sprachsystem
- aufgebaut sind; HB.) Eigentlich sind nur Sprüche, die nicht
der Sprache, sondern der Rede angehören (die
Rede ist gesprochene Sprache und darum auch Sprache; HB), wahr
oder falsch; man kann aber, da es unbequem wäre, immer nur einzelne
Sprüche herauszugreifen, auch einen Satz wahr nennen, wenn jeder
seiner Sprache wahr ist.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 41 |
Aus neutralen oder objektiven Tatsachen, die einen Menschen
charakterisieren, ist nichts darüber zu entnehmen, wer dieser Mensch
(der jeweilge Bewußthaber) ist. Dennoch sind fast alle, namentlich
die Wissenschaftler, davon überzeugt, daß die beschriebene
Neutralität oder Objektivität, die prinzipielle Vertretbarkeit
beim Aussagenkönnen, zum Wesen jeder Tatsache gehört. Das Pathos
dieser Vertretbarkeit ist der Stolz aller exakten Wissenschaften. Das
ist ein Irrtum. - Wer einer ist - z.B. ich, der mit den Eigenschaften
und Beziehungen zu etwas des Hermann Schmitz behaftet ist -, ergibt sich
allein aus den subjektiven Tatsachen eines affektiven Betroffenseins.
Eine Tatsache ist subjektiv, wenn höchstens einer,
und zwar im eigenen Namen, sie aussagen kann, obwohl die Anderen sie wie
er kennzeichnen und daher darüber sprechen können, etwa, indem
sie sich kontrafaktisch auf Aussagen beziehen, die er machen könnte.
Daß Tatsachen des affektiven Betroffenseins immer für jemanden
subjektiv sind, ergibt sich daraus, daß sie ihm nahegehen, denn
das kann keine anderer sagen, weil er nicht jener ist. Wohl kann ein Mitmensch,
wenn mir etwas nahegeht, sagen, daß dem Hermann Schmitz das nahegeht
(z.B. erfreut oder betrübend, bestürzend oder erhebend), aber
nur ohne sagen zu können, daß gerade ich derjenige bin, der
der hermann Schmitz ist, dem das nahegeht. Das echte, vollständige
Nahegehen kommt erst hinzu, wenn ich merke, daß ich dieser Hermann
Schmitz bin, und das kann nur ich sagen. Wenn der Andere darüber
spricht, ist das nur ein Schattenbild des echten Nahegehens, meines affektiven
Betroffenseins. .... Es handelt sich um einen gegen alle Unterschiede
zwischen Sprache und Reden invarianten Gegensatz, um die prinzipielle
Unmöglichkeit, jemandem ein Bekenntnis seines affektiven Betroffenseins
mit Bezug auf denselben Sachverhalt nachzusprechen; egal, wie viel einer
weiß und wie gut er sprechen kann; der Andere kann es nicht.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 48-50 |
Ich hätte auch ein anderer sein können als
Hermann Schmitz, denn diesem steht es nicht an der Stirn geschrieben,
daß ich er bin; nicht in dem, was er ist, gestattet einen Schluß
darauf. Da ich nun aber tatsächlich Hermann Schmitz bin, indem alle
Fälle von Gattungen, die er zusammenfaßt, auf das absolute
Identische, das ich bin, zutreffen und mich dadurch zu einem Einzelnen
machen, sind alle Bestimmungen des Hermann Schmitz als etwas auch meine
Bestimmungen und umgekehrt. Die Bestimmungen des Hermann Schmitz, abgesehen
davon, daß ich er bin, ergeben sämtlich objektive oder neutrale
Tatsachen; die Bestimmungen meines affektiven Betroffenseins ergeben für
mich subjektive Tatsachen, und in diesem Bereich stimmen beide Sorten
von Tatsachen überein. Sie betreffen genau dieselben Ereignisse,
Zustände, Neigungen meines affektiven Betroffenseins. .... Der Unterschied
kann also nicht am Inhalt liegen. .... Da er nicht den Inhalt betrifft,
kann er nur an der Tatsächlichkeit liegen. Die Tatsächlichkeit
der objektiven Tatsachen ist der intensiveren, gleichsam blut- und lebensvolleren
Tatsächlichkeit der für jemanden subjektiven Tatsachen nicht gewachsen.
In ihrem Licht ist das Nahegehen blasser. Man muß also außer
vielen Tatsachen, die jeder zugeben wird, auch viele Tatsächlichkeiten
unterscheiden, nämlich für jeden Bewußthaber eine Tatsächlichkeit
der für ihn subjektiven Tatsachen und für alle zusammen eine
gemeinsame objektive oder neutrale Tatsächlichkeit, die durch Abfallen
der Subjektivitäten entsteht. Von den Tatsächlichkeiten her
werden die Ereignisse und Zustände mitbestimmt, in der Weise, daß
sie, trotz sonst gleicher Inhalte, beim Übergang von der subjektiven
Tatsächlichkeit zur bloß noch objektiven (oder neutralen) eine
Abschwächung oder Abbalssung erleiden. In dieser Weise regieren die
Tatsachen über Ereignisse und Zustände.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 53-54 |
Noch erstaunlicher wird die Gleichläufigkeit subjektiver
und objektiver Tatsachen im Gebiet des affektiven Betroffenseins, weil
man aus ihr folgern muß, daß die subjektiven Tatsachen von
den objektiven her unerreichbar sind, im folgenden Sinn: Durch keinen
Zusatz irgendwelcher Bestimmungen von etwas als etwas, durch keinen Zug,
der in die objektiven Tatsachen eingeht und in deren redender Darstellung
vorkommt, kann man von den objektiven Tatsachen zu den subjektiven gelangen,
indem durch einen solchen Zusatz eine objektive Tatsache zur für
jemanden subjektiven würde. Wegen der besprochenen Gleichläufigkeit
hat jeder Zug an der objektiven Tatsache ja seine Entsprechung an der
zugehörigen subjektiven und umgekehrt, so daß die Tatsächlichkeiten
sich im Inhalt nicht überschneiden können. Insbesondere eine
Kausalität, mit der objektive Tatsachen subjektive Tatsachen als
ihre Wirkung aus sich entließen, wird dadurch ausgeschlossen. Es
gibt einen Abstieg von subjektiven Tatsachen zu bloß noch objektiven
durch Versachlichung und Neutralisierung, durch Abschälung oder Abfall
der Subjektivität für jemanden. Einen entsprechenden Aufbau
subjektiver Tatsachen aus objektiven gibt es nicht. Wohl kann im Laufe
des Lebens eine objektive Tatsache an jemanden so angeeignet werden, daß
sie für ihn subjektiv wird. Sie ist dann aber auf die Ebene der Subjektivität
angehoben und nicht von unten, durch einen brückenabu im Bereich
objektiver tatsachen, angeschoben worden.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 56 |
Nun endlich kann ich mein Versprechen einlösen, aus dem affektiven
Betroffensein den Beweis zu führen, daß Sachverhalte und Tatsachen
Gegenstände eigener Art und nicht auf angeblich konkrete Gegenstände
wie Dinge, Ereignisse oder Zustände reduzierbar sind. Dieselben Gegenstände,
die angeblich konkreter und als Basis der Reduktion geeignet sind, kommen
mit demselben Inhalt in verschiedenen Tatsächlichkeiten vor, aber
mit verschiedener Tönung durch diese, einmal dank der dem vollen
affektiven Betroffensein gewachsenen Tatsächlichkleit der subjektiven
Tatsachen, das andere Mal mit der dafür nicht ganz ausreichenden
abgeblaßten Tatsächlichkeit der objektiven. Dieser Unterschied
der Tatsächlichkeit kann nicht vom Inhalt bestimmt werden, denn der
ist ja gleich auf beiden Ebenen und umfaßt jene vermeintlich konkreteren
Basen der Reduktion. Die Tatsächlichkeit der Tatsachen wird also
nicht vom Inhalt bestimmt. Dann können die Tatsachen selbst nicht
so etwas wie Umschreibungen oder Metaphern sein, die sich bei näherem
Zusehen in jene Basen zurückübersetzen lasen. Sie sind als Gegenstäönde
eigener Art legitimiert.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 56-57 |
Was ich von Tatsachen gesagt habe, läßt sich
auf Bedeutungen anderer Art übertragen. Mit dem Wort »Bedeutung«
bezeichne ich, mangels eines besseren passenden Namens, auschließlich
Tatsachen, untatsächliche Sachverhalte, Programme und Probleme. Der
Unterschied von Subjektivität und Neutralität (Objektivität)
läßt sich zwanglos von den Tatsachen des affektiven Betroffenseins
auf die übrigen Bedeutungen übertragen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 57 |
Gehirnfroscher wie Gerhard Roth und Wolf Singer plädieren
für Nachsicht mit dem Straftäter, der dem Richter vorhalten
könnte: »Ich habe keine Schuld, denn ich konnte nicht anders,
meine Gene, meine Nerven und dgl. betsimmten mein Verhalten«. Die
angemessene Antwort des Richters wäre: »Ich kann gar nicht
anders, als dich zum Tode oder zur Haft usw. zu verurteieln, denn mein
Gehrin oder dgl. bestimmt mich dazu«. Auf diese Reorsion sind Roth,
Singer und ihresgleichen noch nicht gekommen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 59 |
Ein Lichtblick in Nicolai Hartmanns sonst unzugänglicher
Theorie für die Verantwortung erforderlichen Freiheit ist die dort
kurzfristig aufblitzende Einsicht, daß nicht der Wille, sondern
tiefer schon die Gesinnung der Sitz solcher Freiheit ist. (Vgl. Nicolai
Hartmann, Ethik, 1926, 3. Teil: Das Problem der Willensfreiheit.
S. 622: »Man sieht hiebei freilich sogleich, daß der
Ausdruck »Willensfreiheit« zu eng ist. Die sittlichen Werte
haften ja keineswegs den Willensphänomenen allein an. Der Titelbegriff
der Willensfreiheit, durch den ein ganzer Problemkomplex benannt ist,
reicht gut zu für eine bloße Sollens- und Zweckethik. In einer
solchen sind Handlung und Wille die Grundphänomene. Aber schon in
der Gesinnung, noch ganz diesseits alles eigentlichen Wollens, gibt es
Entscheidung und Stellungnahme.«). In der Tat gibt es sittliche
Verantwortung für üble Gesinnung ohne Betätigung des Willens
wie Schadenfreude, neidische Herabsetzung, Spaß, der mitfremden
Elend getrieben wird, und ganz besonders bei unbewußter Fahrlässigkeit
....
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 60-61 |
Wie unentbehrlich die Gesinnung für das affektive
Betroffensein ist, zeigt sich, wenn sie einmal ausfällt. Das geschieht
bei der Bälzschen Emotionslähmung, die zuerst Erwin Bälz
von seinem Erleben eines Erdbebens in Japan beschrieben hat. In Katastrophensituationen
höchster Lebensgefahr - wie Erdbeben, Flugzeugabsturz, Fallen von
der Leiter, feindliches Bombardement, Anfall eines Löwen - wird das
affektive Betroffensein überfordert. Seine Aktivität, die Gesinnung,
ist der erlittenen Bedrängnis nicht mehr gewachsen und setzt aus.
Der Mensch steht wie unbeteiligt neben dem entsetzlichen und/oder bedrohlichen
Geschehen. Sein Verstand, seine Beobachtung sind noch hellwach, aber der
Affekt ist erloschen. (Vgl. Hermann Schmitz, Freiheit, 2007, S.
66-69; weitere Zeugnisse: System der Philosophie, Band III, Teil
2: Der Gefühlsraum, 1969, S. 95 f., Anmerkung 155, und S.
288 [mit Anmerkung 650]). Dieser Ausfall endet nach überstandener
Gefahr typischerweise in einem Anfall hemmungslosen (»metekritischen«
[vgl. System der Philosophie, Band IV: Die Person, 1980,
S. 120] Lachens, einer ausgleichenden Überreaktion.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 61 |
Die aktive Gesinnung ist nicht etwa eine nachträgliche
Reaktion auf das affektive Erleiden, sondern von vornherein in dieses
verwoben; sonst käme es gar nicht zu affektivem Betroffensein. Dies
gilt schon für ihre primitive, noch ganz unwillkürliche Urform,
etwa die leibliche Angst der bedrohten Tiere und Menschen. Wenn in dieser
Angst nicht von vornherein die Gesinnung der Abwehr enthalten wäre,
der Impuls »Weg!« in irgendeiener Form (und sei es die Totstellreaktion
als Abtauchen aus der Situation), käme es gar nicht zu affektivem
Betroffensein von Bedrohung, sondern das Geschehen würde gelassen
hingenommen. Aus dieser unlöslichen Eingewobenheit der Aktivität
in das passive Betroffensein gewinnt das affektive Betroffensein einen
reflexiven Zug: Mit dem passiven Betroffensein, in dieses eingewoben,
kommt die eigene Aktivität dert Gesinnung dem Betroffenen nahe, berührt
oder ergreift ihn, weckt seine Subjektivität, läßt ihn
sich selbst spüren. .... Es gibt unspaltbare Verhältnisse. Ein
unspaltbares Verhältnis besteht zwischen der aktiven und der passiven
Seite des affektiven Betroffenseins. Dabei spielt die Reihenfolge der
Teilnehmer keine Rolle. Nur für gerichtete Beziehungen ist sie wichtig.
.... In ungerichteten Verhältnissen entfällt diese Reihenfolge.
Die Teilnehmer sind mit einem Schlag zusammen. So verhält es sich
im affektiven Betroffensein. Erleiden und Tun, Passivität und darauf
eingehende Aktivität (Gesinnung) stehen sich nicht als zwei sich
ergänzende, konverse Beziehungen gegenüber, sondern greifen
in unspaltbarem Verhältnis ineinander.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 61-63 |
Der Mensch ist durch seine Gesinnung für seine
Gesinnung sittlich verantwortlich. Das gilt aber nur für rechenschaftsfähige
Personen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 72 |
Nicht das, was der Mensch sich vornimmt, sondern das, was er
frisch im Augenblick als Gesinnung in sein affektives Betroffensein
einsetzt und damit die Art, wie er als affektiv Betroffener jeweils bei
der Sache ist, gibt ihm (auch beim Wählen) kausale Macht aus eigener,
unabhängiger Initiative.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 73 |
Unter den Zahlen hat die 1 die Sonderstellung, die einzige
Zahl einer nichtleeren Menge zu sein, die sich absolut (ohne Bezugnahme
auf ihre Stellung in einer Reihenfolge) charakterisieren läßt,
und zwar ist 1 die Zahl jeder Menge, in der jedes Element mit jedem identisch
ist. Die Zahl 1 setzt darum relative Identität voraus. Relative Identität
ist eine Beziehung von etwas zu etwas, die darin besteht, daß ein
absolut identischer Gegenstand Fall zweier Gattungen ist, im Fall der
tautologischen Identität (a = a, x = x) der beiden Gattungen Referens
und Relat der Identität; das doppelte Fallsein wird durch Identität
zusammengefaßt und erstreckt sich so weit, wie der Gegensatnd Attribute
hat. Relative Identität setzt absolute Identität voraus. Ein
Gegenstand ist absolut identisch, wenn er, sofern vieles ist, von anderem
verschieden ist. Dann ist er selbst, aber deswegen nicht auch schon er
selbst, d.h. mit sich identisch. Dazu ist eine weitere Voraussetzung erforderlich,
die Einzelheit ....
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 82-83 |
Einzeln kann ein Gegenstand nur als Element einer Menge
sein, d.h. als Fall einer Gattung, deren Umfang die Menge ist. Daher entsteht
Einzelheit, wenn zur absoluten Identität das Fallsein einer Gattung
hinzukommt. Damit sit eine neue und äußerst praktikable (für
den theoretischen und praktischen Umgang wichtige) Bestimmung des Einzelnen
gewonnen: Einzeln sind die (und nur die) absolut identischen Fälle
einer Gattung. .... Man muß die Formulierung aber differenziert
genug verstehen. Es genügt nicht, um einzeln zu sein, daß etwas
einerseits absolut identisch und andererseits Fall einer Gattung ist.
Nachher werde ich einen Typ des diffus chaotischen Mannigfaltigen vorführen,
der in seinem Inhalt einerseits absolut Identisches zuläßt,
andererseits diesen Inhalt unter Gattungen stellt. Was dann aber fehlt,
ist das Zutreffen von Gattungen auf etwas absolut Identisches als ihren
Fall. Das zeigt sich daran, daß im diffus chaotischen Mannigfaltigen
nicht wie im Einzelnen universal streuend quantifiziert werden kann (für
jedes x: f (x), d.h. x hat die Bestimmung f), sondern nur summarisch (für
alle x mit einer gewissen Eigenschaft; f (x)), so daß nichts davon
als Einzelnes herausgegriffen werden kann.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 89-90 |
Das Verhältnis von absoluter Identität, Einzelheit und
relativer Identität kann nun klar eingesehen werden. Ohne absolute
Identität würde alles in einem Meer des Mannigfaltigen in völliger
Selbstlosigkeit versinken. Wenn ihm zusätzlich zur absoluten Identität
eine Gattung, deren Fall es ist, geschenkt wird, erhebt sich das absolut
Identische zum Einzelnen. Wenn noch mindestens eine zweite Gattung hinzukommt,
so daß das Einzelne zum Fall zweiter und vieler weiterer Gattungen
wird, wird es relativ identisch. Die relative Identität faßt
das Fallsein unter dieser und jener Gattung zu einem einzigen Fall mehrerer
Gattungen zusammen. Daran ist nichts rätselhaft oder gar widersprüchlich.
Ein uralter Denkfehler entspringt daraus, daß es den Anschein hat,
bei dieser Gelegenheit müßten zwei Fälle und also auch
zwei Sachen auseinanderfallen. Dieser Trug wird insbesondere dem Selbstbewußtsein
gefährlich, wenn dieses als Zusammenfall von Subjekt und Objekt des
Bewußthabens aufgefaßt wird. Im 20. Jahrhundert erklärten
Rickert und Ryle, zwei führende Philosophen aus ganz unterschiedlichen
Lagern, solchen Zusammenfall, wodurch zweie zu einem werden müßten,
für unmöglich, und Rehmke gab das Bewußtsein, weil es
auch Selbstbewußtsein sei, als beziehungsloses Haben aus, weil er
Beziehungen nur zwischen verschiedneen Partnern für möglich
hielt. Dabei ist eine reflexive Beziehung, hier das Fallen einer Sache
unter die Gattungen des Subjektseins für sich und des Objektseins
für sich, so unproblematisch wie beim Selbstmord, einer handgreiflichen
Form des Selbstbewußtseins. Jaspers schrieb: »Wenn ferner
das Denken des Ich dieses als unmittelbaren Gegenstand dadurch
auflöst, daß es das Sein dieser Unmittelbarkeit in der Verdoppelung
des Sichaufsichselbstbeziehens aussagt, so sagt es als Wirklichkeit eines
Seins etwas aus, das logisch unmöglich ist; nämlich daß
Ich eines ist, das zwei, und zwei, das eines ist« (Karl
Jaspers, Philosophie, 1932, S. 306). Als wenn Selbstmord logisch
unmöglich wäre! Aber schon Yajnavalkya in der Brihadaranyaka-Upanishad
verkündete als Gipfel seiner altindischen Weisheit diesen Irrtum:
nach dem Tode können man kein Bewußtsein mehr haben, weil dann
alles zum eigenen Selbst geworden sei, während die Möglichkeit
von Bewußtsein an die Zweiheit Verschiedener gebunden sei. (Von
mir zitiert [nach Übersetzung von Dreussen]; Hermann Schmitz, System
der Philosophie Band I: Die Gegenwart, 1964, S. 250 f.). Dabei
ist Identität zwar immer auch eine Beziehung auf sich, aber in der
gern als Standardfassung gewählten tautologischen Form »a =
a« pathologisch verkürzt, weil die auch in diesem Fall (siehe
oben) vorhandene Zweiheit der Gattungen, von denen etwas Fall ist, nicht
zum Zuge kommt.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 90-91 |
Ich führe den Beweis, daß mit Hilfe des zuerst
von Kant, aber mißverständlich, formulierten Grundsatzes der
durchgängigen Bestimmung, das für jedes Etwas (alles, was etwas
ist) und jede Bestimmung als etwas jenes Etwas die Bestimmung entweder
besitzt oder nicht besitzt. Dabei bediene ich mich der beiden unter 2.2.
gewonnenen Zusatzkennzeichnungen der Einzelheit: Einzeln ist, was
eine Anzahl um 1 vermehrt; einzeln ist, was Element einer endlichen
Menge ist. Ich widerlege den Grundsatz durch den Nachweis, daß jeder
beliebige Gegenstand, wäre er durchgängig bestimmt, vielmehr
gänzlich unbestimmt wäre, was nicht der Fall sein kann. Die
Widerlegung hat schon für sich weitreichende Folgen, die ich angebe.
Ihre Tragweite wächst noch durch den Nachweis der Äquivalenz
des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung mit zwei weiteren Sätzen:
erstens dem Satz, daß alles einzeln und daher alles Mannigfaltige
numerisch ist, und zweitens dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Die
Falschheit des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung überträgt
sich damit auf diese bedien Sätze, wobei es sich im zweiten Fall
aber nur darum handelt, daß dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten
die unbeschränkte Allgemeingültigkeit über den Bereich
des numerischen Mannigfaltigen hinaus bestritten wird. Die Gefahr von
Fehlschlüssen ist dadurch aber nicht abgewendet, weil nicht sicher
ist, wo der Bereich des numerischen Mannigfaltigen endet, da der Grundsatzes
der durchgängigen Bestimmung schon für jeden einzelnen Gegenstand
falsch ist. Den Gedankengang bis hierhin schreibe ich im wesentlichen
aus meinem Buch Kritische Grundlegung der Mathematik, S. 69-76,
ab. Mit der Widerlegung des Satzes, daß alles Mannigfaltige numerisch
ist, ist der Übergang zum nicht numerischen Mannigfaltigen erreicht.
Diesem Ergebnis lasse ich einen erkenntnistheoretischen Exkurs folgen.
Er bezieht sich darauf, daß meine Beweise in diesem Kapitel »aus
bloßen Begriffen«, wie Kant sagen würde, und nicht aus
dem, was dieser als Erfahrung anerkennt, geführt und daher in Kants
Sinn als metaphysisch unzulässig sind. Ich verteidige sie in diesem
Exkurs gegen die Bedenken Kants und des Wiener Kreises, der solchen abstrakten
Überlegungen aus verwandten Gründen die Fähigkeit zur echten
Erweiterung der Erkenntnis bestreitet. Damit ist der Gedankengang in diesem
Kapitel genügend skizziert.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 91-92 |
Satz 1: Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung
ist schon für jeden einzelnen Gegenstand falsch.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 93 |
Mathematik ist eigentlich der Versuch, überall da, wo sich
in irgendwelchen Ordnungsformen ein Ansatzpunkt bietet, mit allen Mitteln
intellektueller Raffinesse die Domäne des numerischen Mannigfaltigen
auf alles Mannigfaltige auszudehnen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 97 |
Konfuses, diffuses und numerisches Mannigfaltiges passen
in einer linearen Aufbauordnung zusammen. Im konfusen Mannigfaltigen fehlt
es sogar an Identität und Verschiedenheit. Im diffusen Mannigfaltigen
kommen absolute Identität und Verscheidenheit hinzu, aber noch fehlt
die Einzelheit. Im numerischen Mannigfaltigen ergänzt sich absolut
Identisches durch Fallen unter eine Gattung zum Einzelnen und gewinnt
durch Fallen unter mehrere Gattungen relative Identität. Dieses einfache
Bild wird kompliziert und abgerundet durch das Hinzutreten des (spaltbaren
und unspaltbaren) Verhältnisses. Kompliziert, weil das Verhältnis,
zusammen mit der Beziehung, unter einen anderen Einteilungsgrund als den
der Mannigfaltigkeit gehört, nämlich unter den Gesichtspunkt
des Zusammenhangs. Abgerundet, weil sich ein weiterer Typ des Mannigfaltigen,
das zweispältige, erst als Verhältnis den übrigen Typen
anschließen läßt und manches an diesen (im Bereich des
diffusen Manigfaltigen) erst als Verhältnis verständlich wird.
Deswegen ist es unerläßlich, das Verhältnis in das Tableau
des Mannigfaltigen aufzunehmen, auch wenn man dabei Überschneidungen
in Kauf nehmen muß.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 107 |
Die Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen wird
aber erst möglich, wenn die Einzelheit und das numerische Mannigfaltige
erericht sind. Das liegt daran, daß eine Beziehung ohne Zahl nicht
auskommt, sowohl die Zahl ihrer Stellen als auch die ihrer Teilnehmer.
Die Tötung seiner selbst hat die Stellenzahl 2 und die Teilnehmerzahl
1, die Tötung eines Feindes die Stellen- und Teilnehmerzahl 2, die
Anstiftung zur Tötung seiner selbst die Stellenzahl 3 und die Teilnehmerzahl
(mindestens) 2. Beziehungen bedürfen der Zahl, um Ausgangs und Zielpunkt
ihrer Richtung, die Rollen von Referens und Relat (selbst wenn beides
dieselbe Sache als Fall zweier Gattungen ist), zu unterscheiden. Ungerichtete
Verhältnisse haben dieses Bedürfnis nicht. Sie kommen auch ohne
Einzelheit der Teilnehmer aus. Diese kann ganz oder teilweise fehlen.
Dann ist das Verhältnis aber unspaltbar, d.h. zu der gegebenen Zeit
nicht in Beziehungen spaltbar.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 108-109 |
Besonders reichlich häufen sich sie unspaltbaren Verhältnisse,
in denen alle oder einige Teilnehmer nicht einzeln sind, so daß
das Verhältnis dann ins chaotische Mannigfaltige hineinragt. Besonders
illustrativ sind die Ekstasen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 110-111 |
Satz 1: Die Bewußthabe disjunkter Beziehungen ist
ein unspaltbares Verhältnis.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 115 |
Der vorstehende Einblick in die Ausbreitung des unspaltbaren
Verhältnisses auch unterhalb der Schwelle des numerischen Mannigfaltigen
gibt mir Gelegenheit, ein schon mehrfach angesprochenes Rätsel am
diffus chaotischen Mannigfaltigen aufzulösen. Daß der Umgang
mit diesem durch absolute Identität und Verschiedenheit vor Verwechslungen
geschützt ist, läßt sich verstehen, nicht ebenso aber
die reichhaltige Ordnung, die dabei respektiert wird. Bloße Verschiedenheit
ist ein zu grobes Instrument zum Ordnen. Tatsächlich ist aber die
Sprache, der der kompetente Sprecher in flüssiger Rede bei seinem
Sprachgebrauch gehorcht, mit fast unübersehbarer Feinheit durchgeordnet;
die Sprachwissenschaft bemüht sich, dieser Ordnung beizukommen. Auch
die Tiere, die der Einzelheit und numerischen Mannigfaltigkeit noch nicht
teilhaftig sind, leben von Natur in wohlbestimmten Ordnungen. Sogar im
konfusen Mannigfaltigen, bar der absoluten Identität, herrscht Ordnung,
wie an der gerichteten Bewegung auf und ab bei Intensitätsschwankungen
und an den homogenen Kontinuen zu erkennen ist, von deren Ordnungen, z.
B. Dimensionszahl, die Mathematik zu berichten weiß. Diese Ordnungsfähigkeit
schon im konfusen, erst recht aber im diffusen chaotischen Mannigfaltigen
wird verständlich, wenn man einsieht, daß dieselben Zusammenhänge
in zwei Formen vorkommen können: als numerisches Mannigfaltiges durch
Beziehungen, die aus Verhältnissen abgespalten sind, und als unspaltbare
Verhältnisse, die der Einzelheit ihrer Teilnehmer nicht bedürfen.
Im Umgang der Tiere mit den Situationen, in denen sie leben, und der menschlichen
Sprecher mit der Sprache, die sie in flüssiger Rede gebrauchen, werden
dieselben Ordnungen ganzheitlich respektiert, die als Netze von Beziehungen
von der nachkommenden Sprachwissenschaft oder Tiersoziologie mehr oder
weniger erfolgreich rekonstruiert werden.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 117 |
Immer nur auf einer einzigen Stufe der Iteraion über der
Grundstufe ohne Unentschiedenheit kann Unentschiedenheit bestehen. Daraus
ergibt sich, daß auch mit endlichfacher Iteration der Unentscheidenheit
des radikalen Antinomien nicht beizukommen ist.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 125-126 |
Nach dem Überblick über Typen der Mannigfaltigkeit bleibt
mir die Aufgabe der Zusammenfassung. Die Mannigfaltigkeitslehre, wie ich
sie jetzt (nach Jahrzehnten der Reifung) verstehe, wird kompliziert durch
die Durchdringung zweier Gesichtspunkte der Einteilung. Der erste davon
ist die Mannigfaltigkeit selbst. Es gibt numerische Mannigfaltigkeit,
chaotische Mannigfaltigkeit mit den beiden Subtypen der konfusen und der
diffusen Mannigfaltigkeit, und zwiespältige Mannigfaltigkeit. Verklammert
werden diese Typen durch den zweiten Gesichtspunkt, das unspaltbare (d.
h. zur gegebenen Zeit nicht in gerichtete Beziehungen spaltbare) Verhältnis.
Dieses ist eine Art von Zusammenhang. Zusammenhänge gibt es durch
Beziehungen oder durch Verhältnisse. Alle Beziehungen beruhen auf
der Spaltung von Verhältnissen. Von den Verhältnissen sind einige
spaltbar, andere unspaltbar. Der Zusammenhang durch unspaltbare Verhältnisse
gestattet weitgehend gleiche oder ähnliche Ordnungen wie der Zusammenhang
durch Beziehungen. Beide Formen des Zusammenhangs gibt es im numerischen
Mannigfaltigen. In den übrigen Typen der Mannigfaltigkeit gibt es
dagegen Zusammenhang nur durch unspaltbare Verhältnisse. Beim chaotischen
Mannigfaltigen liegt das daran, daß Beziehungen nur zwischen einzelnen
Teilnehmern möglich sind. Solche fehlen im absolut chaotischen Mannigfaltigen.
Daß auch in diesem komplizierte Ordnungen möglich sind, wird
den unspaltbaren Verhältnissen verdankt, die nicht auf Einzelheit
der Teilnehmer angewiesen sind. Dieser Umstand kommt besonders dem diffusen
Mannigfaltigen zugute, dem Milieu, in dem Tiere und Säuglinge immer
leben und menschliche Personen in allen unwillkürlich gelingenden
Verrichtungen, z. B. dem Sprachgebrauch und dem Mundgebrauch beim Sprechen.
Die hoch komplizierten Ordnungen, mit denen das diffuse Mannigfaltige
zusätzlich zu dem Schutz vor Verwechslungen ausgestattet ist, verdankt
es den unspaltbaren Verhältnissen. Das zwiespältige Mannigfaltige
gelangt nicht zu Beziehungen in sich wegen der Störung seiner absoluten
Identität durch die dynamische Konkurrenz um diese, in der die Teilnehmer
gleichsam verhakt sind, so daß sie nicht gerichtete Beziehungen
zueinander aufnehmen können während sie an sich, abgesehen von
dieser Konkurrenz, die sie zusammenschließt, einzeln sind.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 127-128 |
Die Milieus der Mannigfaltigkeit sind also sämtlich auch
Milieus des unspaltbaren Verhältnisses, das sich aber im numerischen
Mannigfaltigen mit der Beziehung in die Zusammenhänge teilen muß.
Im chaotischen (konfusen oder diffusen) Mannigfaltigen ist es, von Mischungen
mit dem numerischen Mannigfaltigen abgesehen, die einzige Form des Zusammenhangs
und ermöglicht im diffusen Mannigfaltigen komplizierte Ordnungen.
Das zwiespältige Mannigfaltige ist eine Spezialform des unspaltbaren
Verhältnisses, das sich durch Unstimmigkeit (Störung der absoluten
Identität) ohne Widerspruch zu ihm spezialisiert. Durch das unspaltbare
Verhältnis hängt das zwiespältige Mannigfaltige mit den
anderen Typen der Mannigfaltigkeit zusammen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 128-129 |
Bis hierhin mag der Leser des Kapitels sich fragen, was
die umständlichen Ausführungen über Typen der Mannigfaltigkeit
mit dem Begreiflichmachen des wirklichen Lebens der Menschen zu tun haben.
Ganz fern liegt eine Antwort nicht. Die Einschränkung der Domäne
des numerischen Mannigfaltigen im Mannigfaltigen überhaupt schiebt
der Hypertrophie des pythagoreischen Gedankens, alles gleiche der Zahl
oder sei nach Zahl, Maß und Gewicht geordnet, und damit dem immer
stärker sich im Leben vordrängenden Versuch, der Zahl die Herrschaft
über das Denken zu verschaffen - gipfelnd im Schrei nach Digitalisierung
- einen Riegel vor, der das Nachdenken auf die Grundlagen der Mannigfaltigkeit
zurückverweisen kann; auch das Eindringen in die präpersonale
Grundschicht des Personseins wird auf diese Weise vorbereitet. Aber diese
Überlegungen betreffen nicht die Denkweise der Menschen im Alltag
und die Richtung, in die sie durch die einseitige Einstellung auf Einzelheit
und numerische Mannigfaltigkeit gelenkt wird. Das wird anders, sobald
die Abhängigkeit des numerischen Mannigfaltigen vom chaotischen unter
dem neuen Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen Situationen und
Explikation in Konstellationen in den Blick kommt. Dann wird es möglich,
den Singularismus und den daraus sich ergebenden Projektionismus grundsätzlich
anzugreifen. Singularismus ist die Überzeugung, daß alles ohne
weiteres einzeln ist. Projektionismus ist die Meinung, daß alle
Bedeutungen, durch die etwas wichtig wird, einem neutral gegebenen Stoff
von sozusagen nackten Einzelwesen durch individual- oder artspezifische
Bedürfnisse und Interessen aufgeprägt werden. Der erste Philosoph,
dem der Singularismus so selbstverständlich war, daß er gar
keine Alternative - auch abwehrend - in Erwägung zog, war Kant (*),
ein extremer Projektionist Nietzsche (**).
(* Vgl. Hermann Schmitz, Der Weg der europäoschen
Philosophie, 2007, Band II, S. 323-326; ** vgl.
Hermann Schmitz, Selbstdarstellung als Philosophie - Metamorphosen
der entfremdeten Subjektivität, 1995, S. 340-345). Eine Weltanschauung,
die durch Kombination beider Irrtümer entsteht, zeichnet sich in
dem Bekenntnis ab, das im 6. Buch von Goethes Roman Wilhelm Meisters
Lehrjahre die sogenannte schöne Seele, eine Pietistin, ihrem
hochverehrten Onkel in den Mund legt: »Alles außer uns ist
nur Element, ja ich darf wohl sagen, auch alles in uns, aber tief in uns
liegt diese schöpferische Kraft, die des zu schaffen vermag, was
sein soll, und uns nicht ruhen und rasten läßt, bis wir es
außer uns oder an uns, auf eine oder die andere Weise, dargestellt
haben.« (Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke,
Band 8, S. 343 f.). Ganz im Sinne der seit Demokrit und Platon herrschenden
abendländischen Tradition des Psychologismus und der Introjektion
spaltet der Oheim die Welt in Außen und Innen und vertraut dieses
der Selbstgestaltung im Dienst einer höheren Ordnung an, indem er
beides, Außen und Innen, zum bloßen Element - d. h. für
Goethe: zu einem gleichgültigen oder gar feindseligen Stoff (vgl.
z.B. Faust, Vers 11507-11509 [der Teufel spricht]) - herabsetzt,
dem eine schöpferische Kraft im Inneren aufprägen soll, »was
sein soll«. Die Formulierung läßt offen, ob an eine verbindlich
dem Belieben auferlegte Norm oder die Eigenmacht des Schöpfers, der
sich selbst das Gesetz gibt, zu denken ist. Im zweiten Fall, den Nietzsche
ausgeschlachtet hat, wird die Maxime des Oheims zum Freibrief für
das Verfügen des Täters und Machers; im ersten Fall stellt sie
sich in den Dienst des Diktats oft fragwürdiger Ideologien. Goethes
Figur des Oheims der schönen Seele verkörpert die abendländische
Tradition auf der Kippe zur gnadenlosen Technik.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 129-131 |
Dem Singularismus und Projektionismus stelle ich die Situationen
und ihre Explikation mit Vernetzung der Explikate zu Konstellationen entgegen.
Wenn man sich klar gemacht hat, daß Menschen an Einzelnes und dessen
Vernetzung nur dadurch herankommen, daß sie aus Situationen mit
binnendiffuser (chaotischer) Mannigfaltigkeit schöpfen und daß
solche Situationen über die Weltspaltung hinweggehen, gewinnt die
Rede des Oheims von einer schöpferischen Kraft einen neuen Sinn:
Sie lehnt sich nicht mehr an das Schöpfertum Gottes und dessen vermeintlichen
Ebenbildes Mensch an, sondern an die Gebärde des Schöpfens eines
Gutes aus dem Wasser des Bemühens, eine vorgegebene Bedeutsamkeit
zu bergen und durch Vereinzelung und Vernetzung umzugestalten. Die Bedeutsamkeit
ist primär, nicht nachträglich durch Projektionen einem Stoff
aufgeprägt, aber sie liegt nicht am Tag wie Kants kategorischer Imperativ,
eine deutliche Norm, »was sein soll«, sondern muß gehoben,
interpretiert, verwandelt, angeeignet werden. Wir sind, auch ohne eine
uns reservierte Privatsphäre »in uns« (unserer Seele,
unserem Bewußtsein) zu besitzen, verstrickt mit dem, was uns begegnet,
in gemeinsame Situationen und können diese erst mehr oder weniger
durchschauen, wenn wir uns mit dem, was vorgegeben und nicht »in«
uns gesetzt ist, auseinandergesetzt haben. Das ist die Lehre, die ich
im Folgenden zur Evidenz bringen will.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 131 |
Unter 2.2 wurde gezeigt, daß Einzelheit aus dem
Zusammentreffen des Fallens unter eine Gattung mit absoluter Identität
von etwas entsteht. Gattungen sind Sachverhalte (2.1). Damit ist der Singularismus
auch schon widerlegt. Nichts ist ohne weiteres, von sich aus, einzeln,
sondern etwas ist einzeln nur durch Vermittlung einer Gattung, deren Umfang,
in dem alle ihre Fälle und nur sie Platz haben, eine Menge ist, d.
h. ein umfang, der eine Zahl hat. Ferner gilt:
Satz 1: Jeder Umfang, der keine Zahl
hat, hat nicht nur einzelne Elemente. |
Jedes Einzelwesen ist Element einer endlichen Menge (2.2, Satz 3). Dazu
ist auch jedes Einzelwesen Element einer Menge mit einer der Zahlen 1
oder 2, die sich durch Paarung (eventuell mit sich selbst) ergibt. Das
folgt aus dem Beweis von Satz 1 in 2.2, wenn die minimale Vermehrung in
minimale Verminderung umgesetzt wird. Mit der Paarbarkeit, die jedem einzelnen
Element zukommt, ist aber auch die umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit
des Umfangs gesichert, d. h., daß er eine Zahl hat. Wenn ein Umfang
keine Zahl hat, können seine Elemente daher auch nicht alle einzeln
sein.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 131-132 |
Gattungen sind Sachverhalte (2.1). Im Hinblick auf die
gleich zu besprechenden Situationen empfiehlt es sich, sie mit den Programmen
und den Problemen zur größeren Klasse der Bedeutungen zusammenzufassen.
Das Verhältnis zwischen Sachverhalten und Problemen ist leicht zu
bestimmen: Sachverhalte sind die Fraglichmacher, wodurch Problemträchtigkeit
in das Seiende kommt (1.1). Ein Sachverhalt wird zum Problem, wenn sich
diese Problemträchtigkeit bemerkbar macht. Dazu bedarf es keiner
das Problem formulierenden Frage. Schon Tiere können stutzen und
unsicher werden. Oft spürt man, daß etwas nicht stimmt, nicht
in Ordnung ist, ohne den Schaden präzisieren zu können; die
Wahnstimmung bei beginnender Schizophrenie ist ein generalisierter Dauerzustand
dieser Art. Bei erwachsenen Personen sind unfürmulierbare Probleme
etwa die verdeckten Konflikte der Neurotiker, die Psychotherapeuten (wie
Psychoanalytiker) ins Bewußtsein zu heben versuchen (das
es Psyche und Bewußtseiun nicht gibt, müssen diese Leute andere
Bezeichnungen bekommen! HB). Ein Programm ist entweder eine Norm
(Programm für möglichen Gehorsam, daß etwas sein oder
nicht sein soll) oder ein Wunsch, daß etwas sein möge, Verpfändung
des affektiven Betroffenseins an einen Sachverhalt in dem Sinn, daß
dessen Realisierung zur Tatsache dem Betroffenen lustvoll nah geht, Ausbleiben
der Realisierung dagegen leidvoll. (Vgl. Hermann Schmitz, Das Reich
der Normen, 2012, S. 11; zu Lust und Leid: Ders., Bewußtsein,
2010, S. 111 f.). Aus den objektiven (neutralen) Sachverhalten sind die
Programme weggewischt, dagegen gehören sie integral zu den subjektiven
Sachverhalten des affektiven Betroffenseins, z.B. zum Bedrohenden das
Abwehrprogramm (das nicht immer gelten muß; ein Programm für
möglichen Gehorsam ist nicht auch gleich Programm für wirklichen
Gehorsam).
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 132-133 |
Die Sachverhalte, eventuell zusammen mit Programmen und Problemen,
müssen ... als Gattungen vorhanden sein, damit etwas als Fall dieser
Gattungen einzeln werden kann.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 133 |
Der Mutterboden, aus dem die Gattungen wie alle anderen
Bedeutugen hervorwachsen und hervorwachsen müssen, wenn nicht das
Bewußthaben der Einzelheit vor die unmögliche Aufgabe des Durchlaufens
unendlich vieler Gattungen gestellt werden soll, sind die Situationen.
Eine Situation ist Mannigfaltiges irgendwelcher Art, das ganzheitlich
(d.h. in sich zusammenhängend und nach außen mehr oder weniger
abgehoben) zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse (d.h. im Inhalt
chaotisch mannigfaltige) Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte,
Programme und/oder Probleme sind. Im poräpersonalen Bereich ist die
Bedeutsamkeit sogar absolut chaotisch, d.h. ohne Beimischung von einzelnem,
im Personalen dagegen meist mit solcher Beimischung (relativ chaotisch).
Ich gebe ein Beispiel für den ersten Fall. Der Säugling, der
nach Nahrung dürstet oder unter Nässe leidet, spürt die
relevanten Sachverhalte seiner Situation als Probleme zusammen mit dem,
von seinem Geschrei verratenen, Programm einer Abwendung dieser Probleme,
aber keine von diesen Bedeutungen wird ihm einzeln. Situationen können
ganz nur aus Bedeutungen bestehen, wie ein Sprache nur aus Sätzen
besteht, d.h. aus Regeln - das sind Normen, die beliebig häufigen
Gehorsam zulassen - zur Formulierung von Sprüchen. (Genauer
gesagt: eine Sprache besteht aus Texten/Textemen, Sätzen/Syntakten/Syntaktemen,
Wörtern/Logemen/Lexemen, Morphen/Morphemen, Lauten/Phonen/Phonemen
sowie all deren Bedeutungen und Regeln, und dies alles auch
auf schriftlicher Ebene sowie in einem weiteren und einem weitesten
Sinne auch, z.B. im Denken, Kalkulieren oder - primitiver
- im Semiotischen; um Schmitz entgegenzukommen: das rein semiotische
Sprachsystem ist auf der Stufe des Präpersonalen das,
was auf der Stufe des Personsalen das rein linguistische Sprachsystem
ist, auf dem auch alle weiteren Sprachsysteme - z.B. das rein logische
Sprachsystem und das rein mathematische Sprachsystem - aufgebaut
sind; HB.)
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 136-137 |
Tiere sind in Situationen gefangen. Ihr Verhalten hängt von
deren Gehalt an Programmen und Problemen ab. Menschen vermögen kraft
ihrer satzförmigen, d.h. den Sätzen einer Sprache gehorchenden,
Rede aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situationen einzelne Sachverhalte,
einzelne Programme, einzelne Probleme, meist viele einzelne zusammen,
zu entbinden. Das ist, wie sich gezeigt hat, jeweils kein schlagartiges
Ereignis, sondern ein Reifungsprozeß. Wenn dieser abgeschlossen
ist, stehen die Explikate, sprachlich durch Namen gefaßt, als einzelne
zur Kombination in Netzen (als Konstellationen) zur Verfügung.
Sie lassen sich nach Übereinstimmungen und Unterschieden - Dihairesis
nach Platon und Aristoteles - ordnen, und relative Identität macht
es möglich, eine Sache in verschiedene solche Netze einzuordnen,
diese an ihr auszuprobieren, die Sache von dieser oder jener Seite in
den Blick zu nehmen. Anders als mit sprachlicher, satzförmiger Rede
- im Gegensatz zu den nur auf ganze Situationen bezogenen Rufen und Schreien
der Tiere - lassen sich einzelne Bedeutungen nicht identifizieren. Das
liegt aber nicht daran, daß sie als Erfindungen eines sprachgeleiteten
Denkens von den Menschen auf die Dinge oder andere ihnen gegebenen Vorräte
- das, was der Oheim in Goethes Lehrjahren »Element«
nennt - aufgesetzt würden, sondern die sprachliche Rede wirft dem
Menschen zu, was beim Austritt aus der Gefangenschaft in Situationen für
ihn abfällt. Indem er noch einige weitere Geschenke sich zu eigen
macht - insbesondere die Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen
und die Fähigkeit zur Projektion des Einzelnen ins Nichtseiende durch
Erwartung und Phantasie -, kann er Situationen auf das hin, worauf es
ihm ankommt, rekonstruierend in den Blick nehmen und planend überholen;
so wird er den Tieren überlegen. Erst durch die Ausreifung der Vereinzelung
gewinnt das Einzelne festen Halt in stabilen und zugleich flexiblen Netzen;
vorher konnte es nur labil und sporadisch zustande kommen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 139-140 |
Obwohl der Mensch die Gefangenschaft in Situationen sprengen kann,
vermag er sich nie aus diesen zu befreien. Woher sollte er sonst die Gattungen
nehmen, die zur Vereinzelung nötig sind? Ursprünglich werden
sie aus dem präpersonalen Leben geschöpft, das menschliche Personen
in ihren unwillkürlich gelingenden Verrichtungen mit den Tieren teilen,
in gewisser Weise sogar noch bei ihrem sprechenden Umgang mit der Sprache,
das allerdings mit dem Unterschied, daß Mehrsprachler die Sprache,
in der sie sprechend jeweils gefangen sind, wechseln können, was
den Tieren versagt bleibt. Sind die Bedeutungen, besonders die (als Gattungen
verwendeten) Sachverhalte ausreichend explizit, können sie in neuen
Gattungen kombiniert werden, ausdrücklich mit Hilfe von Definitionen.
Dabei kommen die Menschen aber nicht umhin, aus den Situationen zu schöpfen,
denen sie die Bausteine der Konstellationen entnehmen, und sich mit diesen
Situationen auseinanderzusetzen, von denen sie präpersonal und im
affektiven Betroffensein nicht losgelassen werden. Aus den Konstellationen,
die sie errichten, wachsen wieder Situationen zusammen, die wieder expliziert
werden, so daß neue Konstellationen entstehen, in die sich die Menschen
abermals so einleben, daß daraus Situationen werden, in denen sie
schwimmen wie der Fisch im Wasser. Dieser Wechsel von Situationen und
Konstellationen ist der Grundrhythmus der Geschichte (vgl. Hermann Schmitz,
Phänomenologie der Zeit, 2014, S. 200-208: Der Gang der
Geschichte) in allen ihren Gestalten - von der Lebensgeschichte des
Individuums bis zur Fach- und Völkergeschichte - angesichts von Herausforderungen,
die das Entstehen mit sich bringt: Erst im Entstehen, also nachträglich,
löst sich aus der offenen Zukunft dessen, was noch möglich ist,
die geschlossene Zukunft, dessen ab, was vorher noch nicht war, aber künftig
sein würde (ebd., S. 149-163; vgl. Hermann Schmitz, Gibt es die
Welt?, 2014, S. 121) ); dieses partielle Schließen der Zukunft
verlangt beständige Anpassung in aktuellen Situationen. Die Situationen,
aus denen das Explizieren und Kombinieren schöpft, werden nicht gemacht,
sondern der Mensch taucht aus ihnen auf oder gleitet in ihn hinein; sie
gehen ihm jeweils als Herausforderungen zur Explikation voran, die allerdings
nicht ganz eindeutig vorgeschrieben, also immer auch Interpretation ist.
Diese kann aber nicht aus einer vermeintlich allgemeinen Vernunft schöpfen,
die inhaltsvolle Gesetze der Lebenserfahrung lieferte, wie Kant glaubte
und seine Epigonen noch heute glauben, sondern nur aus konkreten Situationen,
in die die Menschen, wie Heidegger sagt, »geworfen« sind.
Der Universalismus eines Vernunftglaubens ist erst die halbe Aufklärung,
die Stufe, auf der noch Kant stand; die deutsche Historische Schule der
Spätromantik war, trotz aller ihrer Mängel, in der Aufklärung
schon weiter.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 141-142 |
Alle die Gegner der Gattungen, Tatsachen und Bedeutungen, die
das als abstrakte Objekte verwerfen und sich lieber an konkrete, mehr
handgreifliche Gegenstände halten, seien dies nur Körper, Dinge,
Sinnesdaten oder sonst etwas, mögen sich erinnern lassen, daß
die Inhalte dieser Gegenstände zwar sehr konkret und massiv sein
mögen - etwa feste Gegenstände, auf die man prallen und sich
dabei Knochen brechen kann -, daß aber die Form der Einzelheit,
ohne die sie sich diese konkreten Gegenstände nicht denken könnten,
gar nicht so konkret ist, sondern abstrakter als gewisse Bedeutungen,
nämlich vermittelt durch diese. Die Frage nach dem Ding an sich hinter
den Situationen ist demnach falsch gestellt. Es ist die Frage, was in
Wahrheit die Dinge seien, die in wechselnden Situationen dem einen Menschen
so, dem anderen anders vorkommen. Diese Frage unterstellt einzelne Dinge
- oder auch ein einziges einzelnes Ding, wie Spinozas Substanz -, die
von den Situationen nur bekleidet und gefärbt würden, wie durch
Kleider verschiedener Farbe, die man bei entsprechendem Vermögen
wegziehen könnte, um am Grund des Wirklichen die Wahrheit zu finden,
an der sich der Erkenntniswille beruhigen könnte. Es ist aber umgekehrt:
Nicht einzelnen Dingen, die an sich sind, werden Situationen angehängt
oder übergelegt, sondern einzelne Dinge gibt es nur durch Situationen,
weil sie ihre Einzelheit den Bedeutungen (Sachverhalten, Gattungen) verdanken,
die mit dem Werkzeug satzförmiger Rede aus Situationen hervorgeholt
werden.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 142 |
In diesem Milieu nachhaltigen Bemühens um die personale
Selbstermächtigung gegenüber den unwillkürlichen Regungen
fand das Problem seine Lösung mit der Erfindung eines für die
Folgezeit bis heute maßgebenden Paradigmas des menschlichen Welt-
und Selbstverständnisses: der Weltspaltung und der Menschspaltung
durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung.
Man bediente sich dabei der Psyché, die dem (weit über diese
Wende hinaus prägenden) Wortsinn nach das Leben im qualitativen Sinn
(die Lebendigkeit) ist und nach Homer und dem Volksglauben im Tode als
gespenstischer Totengeist die Glieder verläßt, nie aber als
Regungsherd aufgefaßt wird. Die Psyché wurde zur Seele als
privater Innenwelt jedes Bewußthabers, in der dessen gesamtes Erleben
eingeschlossen wurde, mit Zugang von außen nur durch die Sinneskanäle;
so gewann die Person ein Haus, in dem sie Herr über die unwillkürlichen
Regungen sein konnte. Zwischen den Innenwelten dieses Psychologismus beließ
man die empirische AußenweIt, die aber von Oemokrit (oder schon
seinem Lehrer Leukipp) und später von Platon (Timaios) bis auf wenige
Merkmalsorten - die unspezifischen, geometrisch charakterisierten Sinnesqualitäten,
die seit 1600, an die antiken Vorbilder anknüpfend, zum Datenvorrat
wurden, an dem die Physik die Ergebnisse ihrer Experimente prüft,
weil sie gut intermomentan und intersubjektiv beständig, meßbar
und selektiv variierbar sind - und deren erdachte Träger (bei Demokrit
und Platon Atome, später Substanzen) ausgeräumt wurde, um sie
von ergreifenden, die menschliche Selbstbestimmung wie Demokrits Tyche
durchkreuzenden Mächten zu reinigen. Diesem Reduktionismus folgte
die Introjektion: Der Abfall der Ausräumung mußte anderswo
untergebracht werden. Man warf ihn, ohne viel darauf zu achten, in die
Seelen, und bedachte dabei ausdrücklich die spezifischen Sinnesqualitäten;
das Meiste - darunter Atmosphären, Situationen, flächenlose
Räume, und was noch zu erwähnen sein wird: Halbdinge, Bewegungssuggestionen,
synästhetische Charaktere - wurde übersehen und landete dann
doch, wenn es sich nicht wegschaffen ließ, in verwandelter Gestalt
in der Seele. Diese Introjektion vollendete das neue Weltverständnis,
die Weltspaltung in eine ausgeräumte Außenwelt und überladene
Innenwelten. Ihr korrespondierte die Menschspaltung, indem die Seele dem
Körper als der anderen, inferioren und halbwegs in die Außenwelt
verwiesenen Hälfte des Menschen gegenübergestellt wurde. Kurz
vor 350 schreibt der Platongegner Isokrates: »Man stimmt überein,
daß unsere Natur aus dem Körper und der Seele zusammengesetzt
ist, und niemand wird leugnen, daß von diesen beiden die Seele zur
Herrschaft berufener und mehr wert ist« (Isokrates, Antielosis,
§ 180). Aber schon bald nach 432 v. Chr. heißt es in der Grabschrift
der Athener für die Gefallenen der Schlacht von Poteidaia: »Die
Seelen nahm der Äther auf, die Körper aber die Erde« (Werner
Peeck, Griechische Grobgeschichte, 1960, S. 50).
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 152-154 |
Die frühen Philosophen vor dem Paradigmenwechsel sehen das
Weltganze dynamisch, als Wirken polar ineinander greifender Kräfte,
die (nach Heraklit) in gegenspänniger Fügung wie bei Bogen und
Leier ein Ganzes ergeben, das auseinanderstrebend mit sich selbst übereinstimmt.
Diese Dynamik verflacht danach zur Kinetik, wie das von Platon überlieferte
Mißverständnis zeigt, Heraklit habe gelehrt, daß alles
fließt. Dieser hemmungslosen Bewegung werden starre Fixpunkte gegenübergestellt:
Demokrits Atome (die er »Ideen« nannte), die Ideen bei Platon
und (nicht weniger starr, obwohl dem Werdenden immanent) bei Aristoteles.
Das Denkmodell von Form und Stoff setzt sich bei Demokrit, Platon und
Aristoteles durch, bei jenem für uns nur schwach erkennbar, bei diesen
deutlicher; es weist auf das Handwerk und zeigt damit schon die Technik-Affinität
des neuen Paradigmas an, wie die Maxime des Oheims in Wilhelm Meisters
Lehrjahre. (Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke,
Band 8, S. 343 f.; vgl. auch oben: S. 130). Wie der Handwerker zu seinem
Werkzeug, verhält sich nach Aristoteles die Seele zum Körper.
(Vgl. Werner Peeck, Griechische Grobgeschichte, 1960, S. 50).
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 154 |
Die Wasserscheide zwischen dem alten und dem neuen Paradigma
liegt bei den Denkern zwischen den Zeitgenossen Empedokles und Demokrit
(*), bei den Dichtern zwischen Aischylos
und seinem jüngeren Zeitgenossen Sophokles (**)
und trennt damit Archaik von Klassik. (* Vgl.
Hermann Schmitz, Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis
Demokrit, 1988, S. 299-351 (zu Empedokles), S. 351-375 (zu Demokrit),
S. 388-396 (zusammenfassende Würdigung und Vergleich);
** vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band II
Teil 1, 1965, S. 457-345, Band III Teil 2, 1969, S. 424-430). Zu klassischem
Ansehen gelangt das neue Paradigma in der Nachwelt aber erst durch die
beherrschende Ausstrahlung der Philosophie von Platon und Aristoteles.
Dabei ist Platon, was die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische
Vergegenständlichung angeht, Epigone Demokrits. (Vgl. Hermann Schmitz,
Platon als Demokritiker, in: Was ist Neue Phänomenologie?,
2003, S. 348-363, wieder abgedruckt in: Platon im metaphysischen Zeitalter,
hg. v. Gregor Schliemann, Dieter Mersch und Gernot Böhme, 2006, S.
27-38). Originell ist aber die Kompensation, die er dem Verlust ergreifender
Mächte durch den der Außenwelt angetanen Reduktionismus und
die Degradation des introjizierten Restes auf der Registrierung passiv
dargebotene Seelenzustände durch Verlagerung der Ideale in die Transzendenz
des Ideenreiches, die mit dem Nimbus des Prächtigen und Ersehnten
ausgestattet wird, verschaffte; Platon ist so Urheber des Auswegs (soll
man sagen: der Flucht?) aus der Ernüchterung in die Transzendenz.
Der spürbare Leib ist jedoch in der Menschspaltung zwischen Körper
und Seele wie in einer Gletscherspalte verschwunden. Es ist schwer zu
sagen, in welchem Umfang und mit welcher Selbstverständlichkeit er
vorher schon bekannt war. Etwas darüber kann man den erhaltenen Resten
der Lehrschrift des eleatischen Philosophen Melissos entnehmen, der 450
v. Chr. die samische Flotte gegen die Athener kommandiert haben soll.
Nach Melissos ist das Seiende ein Einziges, unübertrefflich stark,
unendlich ausgedehnt, überall gleichmäßig, kein Körper,
aber gesund und frei von Schmerzen. (Vgl. Hermann Schmitz, Der Leib,
2011, S. 147 f.). Das hat nur Sinn, wenn Melissos das Seiende als spürbaren
Leib mit unzerlegbarer Ausdehnung (s.o.) verstand und vom Körper
unterschied. Daß die Autoren des neuen Paradigmas damit nichts anfangen
konnten, verwundert nicht. Der Leib ist der Herd des affektiven Betroffenseins,
und ihnen ging es nicht ums Betroffensein, sondern um das Gegenteil, um
Selbstbestimmung und Selbstkontrolle.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 154-156 |
Die Autorität und der übermächtige Einfluß
von Platon und Aristoteles hat ausgereicht, das Denken über den Leib
über Jahrtausende fast zu unterbinden, abgesehen von metaphysischen
und theologischen Projektionen, z. B. in der Kabbala, bei Jakob Böhme,
Oetinger und Schelling. (Vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie,
Band II Teil 1, 1965, S. 534-554, 578-586). In der Antike taucht das Thema
noch zweimal auf, bei den Stoikern und bei Paulus. Schon Seneca hat sich
darüber gewundert, was alles die Stoiker für Körper halten,
nicht nur die Stimme, das Gehen, das Tanzen, sondern auch die Tugenden,
die Wahrheit, die Monate und Jahreszeiten. Ich habe gezeigt, daß
die vermeintlichen Körper der Stoiker vielmehr Leiber sind, mit dem
Tonos als vitalem Antrieb aus Engung und Weitung, also leiblicher Dynamik
(3.2). Die Stoiker waren also im Gegensatz zur herrschenden Meinung, keine
Materialisten wie ihre Antipoden, die Epikureer. Sie haben aber ihre Leibphilosophie
verdunkelt, weil sie diese in die Seelenlehre einbauten, mit der sie der
psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung
und vom mittleren Stoizismus an auch weitgehend dem Platonismus verfielen.
Ganz ohne solche Konzessionen kommt im Urchristentum Paulus aus. Vgl.
Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band II Teil 1, 1965,
S. 507-528; Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie,
2007, Band II: Nachantike Philosophie, S. 23-32; Hermann Schmitz,
Der Leib, 2011, S. 151 f.). Die Menschspaltung ist ihm fremd; die
Weltspaltung kommt gar nicht in seinen Horizont. Der Christ des Paulus
steht als Leib (soma) im Bann der Mächte Geist und Fleisch, die ihn
heimsuchen wie das Fieber und bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem
kosmischen Paar Liebe - Streit (Groll) des Empedokles aufweisen, er lebt
zwar in Erwartung der Erlösung im Geist, aber zwiespältig, da
er vom Fleisch nicht loskommt. Man kann sich fragen, ob ich »soma«
richtig mit »Leib« übersetze, oder ob vielleicht der
physische Körper gemeint ist. Gegen die zweite Seite der Alternative
scheint mir die von Paulus ausgerufene Verschmelzung aller Gläubigen
zu einem Leib mit Christus als Haupt zu sprechen. (Vgl. Römerbrief,
12, 4-6; 1. Korinther; 12, 12-31). Ein einziger physischer Körper
aller kommt nicht in Frage, wohl aber solidarische Einleibung (3.3), wodurch
Menschen in aktuellen Situationen (Aufruhr, Empörung, stürmischer
Mut usw.) und Insekten (Bienen, Ameisen) in zuständlichen Situationen
leiblich verschmelzen. Daß Paulus die Glieder des physischen Körpers
zum Vergleich heranzieht, entspricht seinem protreptisch-rhetorischen
Zweck, zumal phänomenologische Verfeinerung ihm unzugänglich
ist.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 156-157 |
Nach jahrtausendelanger Vergessenheit des Leibes im philosophischen
Denken wird dieses etwa ab 1800 für leibliche Erfahrungen wieder
sensibel und offen, zuerst bei dem Franzosen Maine de Biran, der sich
zwar in Anschauung und Sprache ganz am physischen Körper orientiert,
aber mit der dadurch bedingten Umständlichkeit den Leib zum Thema
macht und wichtig nimmt. Den fünf äußeren Sinnen, die
sein Vorgänger Condillac allein als Erfahrungsquellen gelten ließ,
fügt er einen inneren Sinn hinzu, der im Gewahrwerden des eigenen
Selbst durch eine gegen die Trägheit des eigenen Körpers kraftvoll
ausgeübte Anstrengung bestehen soll; das sei die Quelle des Selbstbewußtseins
und der Kategorien von Substanz und Kraft. Es handelt sich um einen gegen
eine Hemmung sich durchsetzenden und an ihr wachsenden Impuls, der nicht
an äußeren Widerständen, sondern im eigenleiblichen Spüren
festgestellt wird, in meiner Ausdrucksweise (3.2): um gegen spannende
Engung sich durchsetzende schwellende Weitung, eine Grundform des vitalen
Antriebs, der der leiblichen Dynamik das Gepräge gibt. Diese Auseinandersetzung
vollzieht sich in einer räumlichen Ausdehnung, die Maine de Biran
von dem Nebeneinander der Dinge unterscheidet und im Anschluß an
Leibniz als einfache Stetigkeit des Widerstandes zu erfassen sucht; womit
der erste Schritt zur Entdeckung flächenloser Räume getan zu
sein scheint. Maine de Biran tastet sich an Erfahrungen heran, die der
Sprache des Denkens seiner Zeit und Umgebung fern lagen. Wir Deutschen
haben das Glück, mit den beiden Wörtern »Leib« und
»Körper« einen Unterschied markieren zu können,
an den sich alle anderen Kultursprachen, obwohl er ebenso in der Erfahrung
wie in der Begriffsbildung scharf zu fassen ist, mit mühsamen Verrenkungen
herantasten müssen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 157-158 |
Während Maine de Biran nüchtern bleibt, stellt etwa
gleichzeitig Schopenhauer in einer hochmetaphysischen, mit Leidenschaft
vorgetragenen Konstruktion den Leib heraus. Er hält den sogenannten
Willen, einen blinden und ziellosen, aber höchst gestaltungskräftigen
Drang, für das Weltprinzip, das in erster Linie im Leib zur Erscheinung
komme: Als die »philosophische Wahrheit« schlechthin verkündet
er: »Mein Leib und mein Wille sind eines - oder was ich als anschauliche
Vorstellung meinen Leib nenne, nenne ich, wenn ich desselben auf eine
ganz verschiedene, keiner andern zu vergleichende Weise mir bewußt
bin, meinen Willen -« (Artur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, Band I, § 18). Zum Willen in diesem Sinn rechnet
er in einer breiten Aufzählung an anderer Stelle alle leiblichen
Regungen des affektiven Betroffenseins, z. B. »alles Begehren, Streben,
Wünschen, Verlangen, Hoffen, Lieben, Freuen, Jubeln u. dgl.«
ebenso wie Schmerzen, Lust und Unlust. (Vgl. ebd.). Der Leib in seiner
Ausdrucksweise ist zwar der physische Körper, aber auf der anderen
Seite, als Wille, das leiblich-affektive Betroffensein, das als Körper
ausbreche und objektivierbar werde. Diese Identifizierung ist zwar voreilig
und unhaltbar, aber das Neue und Bahnbrechende daran ist die Ablösung
vom dualistischen Körper-Seele-Schema der Weltspaltung: Die Seele
kommt nicht mehr vor, die leiblichen Regungen manifestieren oder objektivieren
sich ohne ihr Zutun am Körper.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 158-159 |
Von Schopenhauer hat Nietzsche das Thema übernommen und zu
einem eindrucksvollen Aufruf gegen die christliche Leibverachtung ausgebaut.
(Vgl. Friedrich Nietzsche, Von den Verächtern des Leibes,
in: Also sprach Zarathustra). Dem dualistischen Glauben, Leib und
Seele zu sein, hält er entgegen: »Leib bin ich ganz und gar
und nichts außerdem.« (Von den Verächtern des Leibes,
in: Also sprach Zarathustra). Damit schießt er über
das berechtigte Ziel hinaus. Zur Phänomenologie des Leibes trägt
er nichts bei, denn er versteht den Leib nur anatomisch und physiologisch
als Körper im Sinn der Naturwissenschaft, als Zellenstaat gemäß
der Zellularpathologie Virchows. Nach Nietzsche ging das Thema ab 1900
zu den Phänomenologen über und wurde dabei mehr oder weniger
zum Modethema. So wenig wie bei Nietzsche darf man aber dem Wort »Leib«
trauen, als werde damit etwas Neues gesagt. Das gilt vor allem für
die Ausführungen Husserls über den Leib. Sie halten sich im
Rahmen der dualistischen Menschspaltung. Für Husserl ist der Leib
ein beseelter Körper, an sich nur tote Materie, die zum lebendigen
Leib wird, wenn die Seele darin waltet, teils durch Empfindungen (er sagt
»Empfindnisse«), teils durch Willkürbewegungen, mit denen
sie den Körper als Werkzeug (Organ) gebraucht, ganz wie in der Vorstellungsweise
der Platoniker. Dieses Walten der Seele nutzt Husserl zu einer der Tradition
noch unbekannten Potenzierung des Dualismus: Die Seele ist gar nicht räumlich
im Körper, sondern nimmt waltend nur indirekt am Raum (wohl auch
an der Zeit) teil. Mit Husserl ist keine Milderung der Welt- und Menschspaltung
zu hoffen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 159 |
Im Deutschen nennt man den lebendigen Körper (im
Gegensatz zur Leiche) »Leib« ....
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 160 |
Insgesamt ergibt sich, daß die Vergessenheit des
Leibes, ausgelöst oder beseigelt durch die Welt- und Menschspaltung,
vor meinen Bemühungen noch nicht überwunden war, so daß
der Versuch, sie abermals in Erinnerung zu rufen, nicht unangebracht sein
dürfte.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 162 |
Wenn die Programme einzeln sind, werden sie Themen; sonst führen
sie, wie bei den Tieren, unthematisch, instinktiv. Eine normal entwickelte
Reizempfänglichkeit ist von der (aktuelle und zuständlichen)
Situation hinreichend mit Programmen für die Zuwendung des Antriebs
versehen; wenn dieser nicht zu locker an ein Programm gebunden ist, wird
er in dieser Beziehung zum Trieb. Triebe sind also nichts Ursprüngliches,
sondern Produkte der Bindung des Antriebs in der Reizempfänglichkeit
am Programme einer leitenden Situation und keineswegs die einzige Form
solcher Bindung. Wenn diese nicht die nötige Prägnanz gewinnt,
um Reize für die Zuwendung zu markieren, terten Störungen der
Steuerung des Verhaltens ein, die den Eindruck der Verrücktheit machen
können ....
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 164 |
Angst ist eine einfachere, primitivere Regung als Schmerz,
tritt wohl auch in der Stammesgeschichte der tierischen Evolution früher
auf.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 166 |
Die leibliche Dynamik ist in der Dimension von Enge und
Weite von vornherein kommunikativ (sprachlich; HB).
Das leigt zunächst an der Struktur des vitalen Antriebs, der als
antagonistische Konkurrenz gegenläufiger Impulse eine Art von Dialog
(Sprache; HB) ist. Sodann ist der vitale
Antrieb selbst ein affektives Betroffensein, und affektives Betroffensein
ist kommunkativ (sprachlich; HB), nämlich
angewiesen auf das Zusammenwirken des passiven Betroffenseins von etwas,
das betroffen macht, mit aktivem Eingehen darauf. Affektives Betroffensein
ist der vitale Antrieb durch die engende Spannung, die die Weitung zügelt
und zurückhält, so daß diese entweder unterliegt oder
sich als Schwellung überwiegend durchsetzt oder gar als private Weitung
der Hemmung entkommt; die Durchsetzung und das Entkommen ziehen affektives
Betroffensein (Stolz, Triumph bzw. Befreiung, Erlösung) nach. Alle
leiblichen Regungen, die im vitalen Antrieb und seinen Abspaltungen (private
Engung und private Weitung) Platz finden sind affektives Betroffensein,
manche von ihnen auch als Vermittler der Ergriffenheit von Gefühlen.
Auf diese Weise ist die leibliche Dynamik in der Dimension von Enge und
Weite immer eine Auseinandersetzung, ein Zutunhaben mit etwas und insofern
kommunikativ (sprachlich; HB). Diese Kommunikation
(Sprache; HB) ist nicht auf den Rahmen des
eigenen Leibes eines Individuums beschränkt. Sie gehört nicht
in eine private Innenwelt. Der Innenwelt-Außenwelt-Dualismus der
Weltspaltung ist dem Leib fremd. Er paßt zur leiblichen Dynamik
so wenig wie zu den Situationen. Zwar ist jeder Bewußthaber er selbst
nur durch für ihn subjektive Tatsachen, und jede Person hat ihre
Persönlichkeit als ihre zuständliche persönliche Situation,
aber solche Besonderheiten werden überholt durch gemeinsame Situationen
mit nicht auf einzelne Individuen beschränkter binnendiffuser Bedeutsamkeit
und an der Bildung gemeinsamer Situationen hat die leibliche Kommunikation
(Sprache; HB) entscheidenden Anteil.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 183-184 |
Unerschöpfliches Material zum Studium der Bewegungssuggestion
bietet die Musik.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 193 |
Man kann sogar die Personalstile der Musik großer
Komponisten mit Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren
bestimmen, wobie die dazu von Becking 1928 entwickelte Methode intuitiv
die hier phänomenologisch entwickelten Zusammenhänge vorwegnimmt.
(Vgl. Gustav Becking, Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle,
1928). Mozarts Musik ist epikritisch und geprägt von Spannung und
privater Weitung, die durch leibliche Richtung vermittelt werden. Im synästhetischen
Charakter entspricht sie der Farbe Gelb und dem Vokal i, während
Beethovens Musik mit protopathischer Schwellung im starken vitalen Antrieb
ener dem Rot verwandt ist. Bewegungsuggestionen können auch die Atmosphäre
einer Stadt bestimmen. (Vgl. Hermann Schmitz, Atmosphären,
2014, S. 92-108: Die Atmosphäre einer Stadt).
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 200 |
Identität ist geschichtlich. Das ist ein Schlag
ins Gesicht der herrschenden Meinung. Identität gilt als Angelegenheit
der Logik in einem Bereich zeitloser Notwendigkeit. Dieses Vorurteil beruht
auf dem Irrglauben des Singularismus, daß alles mit zeitloser Notwendigkeit
einzeln sei und Identität dazu gehöre. Das gilt nach herrschender
Meinung sogar für relative Identität von etwas mit sich selbst.
Daß relative Identität geschichtlich ist, dem Entstehen und
wohl auch dem Vergehen unterworfen, dürfte klar geworden sein. Sie
ist das Fallen einer absolut identischen Sache unter mehrere Gattungen,
setzt also numerische Mannigfaltigkeit einzelner Gattungen voraus und
damit deren Explikation aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen
durch satzfärmige Rede, die wir nur bei Menschen kennen. Satzförmige
Rede ist sicherlich einmal entstanden und wird vermutlich einmal vergehen.
Mithin ist relative Identität ein geschichtliches, wahrscheinlich
von Zufällen abhängiges Ergebnis. Auch in unserer gewöhnlichen
Lebenserfahrung kommt unablässig vieles vor, das mit nichts (also
auch nicht mit sich selbst) identisch ist, nämlich bei jedem Umgang
mit chaotischem Mannigfaltigen, z.B. im Sprach- und Mundgebrauch beim
Sprechen. Wissenschaften wie Phonetik und Linguistik (die
Phonetik gehört zur Linguistik! HB) tun mit beachtlichem Erfolg
ihr möglichstes, um das chaotische Mannigfaltige in Konstellationen
mit numerischer Mannigfaltigkeit umzuschöpfen, aber damit versetzen
sie das wirkliche Geschehen in ein anderes Milieu, wodruch es vernünftig
analysierbar wird. - Viel radikaler, an die Wurzel unserer Überzeugungen,
ja unserer Lebenssicherheit gehend, ist die Frage, ob auch absolute Identitä
geschichtlich ist. Mir scheint, daß man sie nich nie gestellt hat.
Wenn sogar absolute Identität und mit ihr die Verschiedenheitsfähigkeit
entfällt, bleibt höchstens noch das absolut konfus chaotische
Mannigfaltige (2.4.1). Es kommt in unserer gewöhnlichen Umgebung
unablässig vor. mindestens in Gestalt der intensiven Schwankungen,
wenn etwas lauter oder leiser, heller oder dunkler, wärmer oder kälter,
schneller oder langsamer, stärker oder schwächer wird. Dann
nimmt etwas zu oder ab, so daß vieles hinzukommt oder wegfällt,
aber nichts von dem Vielen ist vereinzelbar wie bei extensiven Größen
und nicht einmal verschiedenheitsfähig wie beim Umgang mit der Sprache
und mit Körperteilen bei flüssiger Eigenbewegung, z.B. Sprechen,
Gehen, Kauen, wobei wir auch ohne Vereinzelung durch absolute Identität
und Verschiedenheit im Gegebenen vor Verwechslungen geschützt sind.
Gegenüber dem Vielen in einem intensiven Quantum hat die Frage, ob
man etwas darin verwechselt oder vor Verwechslungen geschützt ist,
keinen Sinn, weil es darin vollständig an Identität und Verschiedenheit
fehlt. Intensive Schankungen ohne Anhalten auf einer Stufe bilden ein
Kontinuum. Jedes ungegliederte Kontinuum ist absolut konfus mannigfaltig,
z.B. durchdöste Frist, wie Hersilie sie beschreibt: »Ich saß
denkend und wüßte nicht zu sagen, was ich dachte. Ein denkendes
Nichtdenken wandelt mich aber manchmal an, es ist eine Art von empfundener
Gleichgültigkeit.« (Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm
Meisters Wanderjahre, 1821-1829, 3. Buch, 17. Kapitel, Hersilie an
Wilhelm). Konfuises Mannigfaltiges kommt auch noch in einigen anderen
Formen vor, die Einzelnes schon voraussetzen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 210-212 |
In der primitiven Gegenwart ist nichts zählbar.
Gelegenheiten, bei denen primitive Gegenwart auftaucht, sind etwa ein
Schreck, ein hefiger Ruck oder Windstoß, ein plötzlich aufziehender
überwältigender Schmerz, ein Schlag vor den Kopf, der die Besinnung
raubt, ein Erstickungsanfall, ein Tritt ins Leere, der den Boden unter
den Füßen wegnimmt. Man hat mir einen Widerspruch vorgehalten,
weil ich einerseits das Bewußthaben an den vitalen Antrieb bände,
andererseits die Erfahrung primitiver Gegenwart eine so totale privative
Engung erfordere, daß dadurch der vitale Antrieb zerrissen würde,
so daß die primitive Gegenwart nicht zu Bewußtsein kommen
könne. Es ist nicht sicher, daß eine Voraussetzung dieses Arguments
stimmt, nämlich, daß der vitale Antrieb vollständig aufgelöst
werden müsse; gesetzt aber auch, daß dies der Fall ist, leidet
der Vorwurf an demselben Fehler wie der Aphorismus Wittgensteins in seiner
logisch-philosophischen Abhandlung Nr. 5.631. Wittgenstein wollte als
vorfindbar nur gelten lassen, was sich passiv dem Beobachter darbietet
und so registrieren läßt, und leugnete daher »in einem
wichtigen Sinne« das Subjekt; er übersah das ebenso vorfindbare
affektive Betroffensein, das den Beobachter aktiv bedrängt. Solche
Bedrängnis genügt schon zur Konfrontation und zur Präsenz,
auch wenn die Ankunft noch nicht registrierbar vollzogen ist. In einem
schweren Erstickungsanfall ist der Betroffene mit dem Tod schon konfrontiert,
auch wenn er noch nicht tot ist, nicht nur wie jeder durch die Erwartung
ds Todes, sondern durch dessen drohende Anwesenheit in nöchster Nähe.
So könnte auch die primitive Gegenwart als Aussicht in noch nicht
vollendeter privativer Engung zugegen sein, ohne sich zur bloßen
Idee, zum Gedankending zu verdünnen. - Die primitive Gegenwart erweist
sich damit als Ursprung der absoluten Identität. Auch diese ist also
kontingent, dem Entstehen und Vergehen ausgesetzt wie die relative Identität.
Ihre Geschichtlichkeit greift noch tiefer als bei dieser die Sicherheit
der Lebensgrundlagen an; denn wennn mit der Fähigkeit zur satzförmigen
Rede die konsolidierte Einzelheit entfiele, wäre immer noch ein Leben
in der Gefangenschaft geschlossener Situationen möglich, wie die
Tiere es führen, ohne Ausgesetztheit in primitive Gegenwart aber
nicht einmal dieses. Obendrein ist mit der primitiven Gegenwart erst ein
Lichtpunkt des Selbstseins gesetzt; wie er auf das Seiende ausstrahlt,
so daß um ihn herum alles absolut identisch wird, ist noch unklar.
Die Aufklärung darüber ist aber einfach. Das Austragen der absoluten
Identität über die primitive Gegenwart hinaus übernimmt
der vitale Antrieb in leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation.
Er schließt an die privative Engung an, die eine Abspaltung aus
ihm ist, und hält durch seine engende Spannung die Perspektive auf
sie offen, gleichsam als Nachhall oder Andeutung. Alles, was die Einleibung
erreicht, wird dadurch mit absoluter Identität belehnt. Solche Ergänzung
ist nun möglich, da die Einleibung ihre Teilnehmer für absolute
Identität zugänglich macht. Diese Art der Übertragung reicht
nicht so weit wie die, die in der Welt als entfalteter Gegenwart möglich
wird, aber sie genügt für das Leben mit diffus chaotischer Mannigfaltigkeit.
Der Leib ist also durch den vitalen Antrieb und dessen Abspaltung zur
Enge hin Ursprung und Überträger absoluter Identität. Diese
Zusammenhänge sind natürlich vor der Vereinzelung unspaltbarer
Verhältnisse und nicht Beziehungen. Daher erübrigen sich Prioritätsfragen
wie diese, ob zuerst die primitive Gegenwart da ist oder der vitale Antrieb
mit seiner Abspaltung zur Enge hin, in gleicher Weise, wie es für
die aktive Seite des affektiven Betroffenseins unter 1.2. gezeigt wurde.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 213-215 |
Eine Person ist ein Bewußthaber mit der
Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Kleine Kinder vor dem Erwachsenwerden,
das etwa 9 Monate nach der Geburt einzusetzen pflegt, und hochgradig Schwachsinnige
(sogenannte Idioten), die das Vermögen entweder nie erlangt oder
wieder verloren haben, sind demnach keine Personen, woraus ber keineswegs
folgt, daß man sie geringschätzig behandeln sollte.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 216 |
Selbstzuschreibung ist ein identifizierendes Selbstbewußtsein
(besser: Selbstbewußthaben). (Wegen der Äquivokation des Wortes
»Bewußtsein« ersetze ich den Ausdruck »Selbstbewußtsein«
gern durch »Sichbewußthaben« und verstehe »Bewußtsein«
nur noch als »Bewußtgehabtwerden durch einen Bewußthaber«.
Statt »Bewußthaber« sagt man gewöhlich »Subjekt«,
aber dieses Wort ist ebenfalls störend äquvok.) Genau besehen
überkreuzen sich dabei zwei Typen von Identifierungen, erstens für
die Gattungen a, b, c usw. die Identifizierung eines Falles von a mit
einem Fall von b, einem Fall von c usw., zeitens die Identifizierung dieses
Bündels von zu einem einzigen Fall vieler Gattungen identifizierten
Gattungsfällen durch den Bewußthaber mit sich selbst. Jenes
nenne ich die horizontale, dieses die vertikale Identifizierung.
Aus allen horizontalen Identifizierungen, einzeln und gemeinsam, ist keine
vertikale Identifizierung abzuleiten, wenn diese nicht schon in den horizontalen
Identifizierungen enthalten ist, in der Weise, daß es dabei dem
Bewußthaber schon bekannt ist, daß es sich um ihn selber handelt;
das aber ist ihm bekannt nur durch die subjektiven Tatsachen seines affektiven
Betroffenseins. Soviel wurde schon unter 1.1. eingesehen. Schon die bloße
Tatsächlichkeit der dem Sichbewußthaben vorschwebenden Tatsachen,
noch unabhängig von deren Inhalt, muß dem Bewußthaber
zu verstehen geben, daß es sich um ihn selbst handelt. Das ist bei
objektiven (neutralen) Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er geung
weiß und gut genug sprechen und schreiben kann, nicht der Fall;
deshalb bedarf es der subjektiven Tatsachen, die höchstens einer
im eigenen Namen aussagen kann.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 216 |
Man muß erst einmal richtig traurig oder richtig froh sein,
mit den mehr zur Engung bzw, zur Weitung tendierenden Impulsen, um zur
eigenen Trauer oder Freude Stellung nehmen zu können. Wer wirklich
zürnt, muß erst einmal in Zorn geraten sein, eher er in der
Auseinandersetzung etwas damit anfangen kann.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 223 |
Die anfängliche Fesselung des Ergriffenen durch
das ihn ergreifende Gefühl geht ontologisch (im Sinne meiner Mannigfalitigkeitslehre)
darauf zurück, daß das Ergreifen anfangs ein unspaltbares Verhältnis
ist, das dem Ergriffenen keine Gelegenheit läßt, eine Beziehung
zu dem, was ihn ergreift, aufzunehmen. Dieses Verhältnis widerlegt
nachdrücklich die emanzipatorische Tendenz, die bei der Weltspaltung
durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung
Pate stand. Es ging darum, der Person ein ihr gesamtes Erleben umfassendes
abgeschlossenes Inneres (ihre Seele), in dem sie Herr im Haus sein konnte,
zu verschaffen und den von außen ergreifenden Mächten, die
sie dabei irritieren könnten, nicht nur den Zutritt zu verwehren,
sondern solche sogar zu verbannen, wofür die Außenwelt ausgeräumt
wurde (Reduktionismus). Nun stellt sich heraus, daß die Gefühle
als ergreifende Mächte diese Schranke und diesen Bann unterlaufen,
indem sie sich zwar nicht an eine innreliche Seele wenden - ein Fiktion,
von der im Fühlen nicht zu sprüen ist -, aber an den Bewußthaber
selbst, den sie ergreifen, betroffen machen, in Bann ziehen, bis er in
personaler Emanzipation so viel Selbstbestimmung zurückgewinnt, daß
er sich in Preisgabe oder Widerstand mit der ergreifenden Macht auseinandersetzen
kann. Das affektive Betroffensein durch Gefühle ist also unverträglich
mit der Einbettung des Betreffenden (d.h. betroffen Machenden) in eine
privative seelische Innenwelt .... Gefühle sind also keine Seelenzustände;
sie fügen sich nicht in das Schema der Weltspaltung. Die Introjektion
der Gefühle, die im Sinne dieses Paradigmas zuerst von Platon (schon
früh) formuliert wurde (vgl. Platon, Gorgias, 513c), scheitert
an der kausalen Überlegenheit der Gefühle, die den affektiv
von ihnen Betroffenen ohne Rücksicht auf eine diesen schützende
Schale der Privatheit seiner Innenwelt direkt angreifen und in Bann ziehen.
- Damit ist ein jahrtausendealtes Mißverständnis der Gefühle
über wunden.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 224-225 |
Gefühle sind also weder persönliche Stellungnahmen
noch Seelenzustände (moderener ausgedrückt: Bewußtseinsinhalte).
Was sie sind bedarf einer grundsätzlichen Neubestimmung. ich schlage
vor: Gefühle sind räumlich ergossene Atmosphären und
leiblich ergreifende Mächte. Am Gefühl sind also Raum und Leib
beteiligt.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 226 |
Einen Überblick über die Gefühle gewinnt
man durch deren Schichtung, die, bezogen auf ihre Räumlichkeit als
Atmosphären, die Struktur des Gefühlsraumes ist. Die Grundschicht
wird von Zufreidenheit und Verzweiflung gebildet, Gefühlen, die nur
erfüllte oder leere Weite sind, ohne in die Weite eingetragene Richtungen.
Jedes Gefühl, unabhängig von seinem Typ, ist auch ein Gefühl
von Zufriedenheit oder Verzweiflung. Auf diese Grundlage sind die gerichteten
Gefühle eingetragen, die aber zunächst noch nicht thematisch
gerichtete sind. Ein Thema im hier gemeinten Sinn ist ein von einer
direkten Zuwendung angezielter einzelner Gegenstand. Die Richtunge der
Gefühle aus der zweiten Schicht sind aber diffus, Zuwendungen ohne
Ziel. Das Zentrum ist in beiden Fällen der Betroffene, aber er ist
dabei nicht thematisches Zentrum, sondern in einseitiger Einleibung so
fixiert an das dominante Gefühl, daß er sich selbst nur indirekt,
durch dieses vermittelt, zuwendet, obwohl er sich eindringlich spürt.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 236 |
Wegen ihrer Weite als Atmosphären bezeichne ich
alle Gefühle als Stimmungen, weil sie noch keine Richtung
haben. Gerichtete Gefühle bezeichne ich als Erregungen (das naheliegende
Fremdwort »Emotion«, das insbesondere Aufwallungen bezeichnet
und z.B. für Sehnsucht nicht paßt, ist mit zu vieldeutig).
.... Ein Gefühl ist thematisch zentriert, wenn es dem affektiv
Betroffenen ein Thema (oder Themen) für seine Zuwendung anbietet.
Die Richtungen der Gefühle haben mit den leiblichen Richtungen
die Unumkehrbarkeit gemein, aber sie führen nicht wie diese aus der
enge in der Weite, sondern kommen aus der Weite hervor, aber ohne Quellee
ihres usprungs, und gleichen damit dem Wind und der reißenden Schwere.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 237-238 |
Der Fall der Leibe .... In meiner Analyse der Liebe und ihrer
Geschichte (vgl. Hermann Schmitz, Die Liebe, 1993) habe ich den
Wendepunkt beschrieben, der im hohen oder späten Mittelalter - genauer:
seit Gottfried von Straßburgs Tristan - dadurch eintritt,
daß der Verdichtungsbereich den Verankerungspunkt abwirft. Bis dahin
wurde nach dem herrschenden Vesrändnis um eines Verankerungspultes
willen - des Guten (Platon), Gottes (Augustinus), der Schönheit,
der Tugend, des Anstandes der geliebten Frau (Minnesänger) halber
- geliebt, was zuerst Gottfried nachdrücklich verwirft; seither wird
das geliebte Wesen um seiner selbst willen geleibt, ohne Stütze in
einem Verankerungspunkt.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 239 |
Ob es Gefühle gibt die niemand fühlt, können wir
nicht wissen, so wenig, wir wir entscheiden können, ob es Farben
gibt, die neimand sieht.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 241 |
Die Gefühle greifen in erster Linie leiblich beim vitalen
Antrieb an. Sie haben es leicht, wenn dieser formbar isz, entweder durch
Rhythmus des Schwingens vom Übergewicht der Engung oder Weitung oder
durch deren Abspaltbarkeit nach beiden Seiten.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 242 |
Die Gefühle können aber auch am gemeinsamen vitalen
Antrieb solidarischer Einleibung angreifen, manchmal mehr als direkt am
eigenen Leib eines Individuums. Panische Flucht, stürmischer Mut
und gemeinsame Begeisterung geben davon ebenso Zeugnis wie das gemeinsame
Singen, das zunächst eine ganzheitliche leibliche Atmosphäre
solidarischer Einleibung um die Singenden ausbreitet, die aber wie von
selbst von Gefühlen befallen wird und dann wie eine Stimmungsglocke
den Chor umhüllt.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 243 |
Die dritte Komponente, nach der Wahrnehmung des Gefühls und
nach der Ergriffenheit, ist die persönliche Stellungnahme, die einsetzen
kann, wenn die Anfangsphase mit unspaltbarem Verhältnis von Mensch
und ergreifendem Gefühl verflogen ist und die Person durch Spaltung
des Verhältnisses eine Beziehung zu dem Gefühl aufnehmen kann.
Dann kann sich aus Preisgabe und Widerstand sowie deren Mischung ein mehr
oder weniger kultivierter, auch von der Kultur und Gesellschaft, in der
das Individuum lebt, mitgeformter Stil des Umgangs mit Gefühlen bilden,
ein persönlicher Stil des Fühlens. Damit hängen die großen
Unterschiede der Empfindlichkeit für Gefühle zwischen Menschen
hauptsächlich zusammen. Einzelne Episoden der Lebensgeschichte, in
der persönlichen Situation auch über das Einwachsen durch Vergessen
(d.h. Entkleidung von der Form der Einzelheit und numerischen Mannigfaltigkeit)
hinweg fortwirkend, können bei einem Menschen Gefühle wecken,
die bei dem anderen mangels solcher Erfahrungen stumm bleiben.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 243 |
So geradlinig konnte mein Weg auch deshalb nur sein,
weil ich mich nicht familiär gebunden habe. Daher war er auch mit
großen Verlusten verbunden, denn es wäre schön gewesen,
eine Familie zu haben. Es hat sich aber erwiesen, daß ich die Einsamkeit
brauche zum Denken.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, in: Gefühle sind keine Privatsache
- Gespräch mit Hermann Schmitz, in: Philosophie Magazin,
Heft 2, 2017, S. 7075 |
Das affektive Betroffensein beschert dem Bewußthaber
schon im präpersonalen Erleben so viel Selbstständigkeit, daß
höchstens er in der Lage ist, die Sachverhalte seines affektiven
Betroffenseins auszusagen (wenn er will, zu bekennen), obwohl die anderen
ebenso wie er in der Lage sind, darüber zu sprechen. Wie weit diese
frühe Subjektfähigkeit reicht, zeigt sich daran, daß auch
die Person nur im affektiven Betroffensein sich selbst finden kann. Das
affektive Betroffensein ist immer leiblich ....
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wie der Mensch zur Welt kommt, 2019,
S. 9 |
Die Zeit paßt in diesen Zusammenhang aus zwei Gründen.
Erstens bohrt die vergehende Dauer in das Gleichmaß des Kontinuums
ein Loch oder einen Spalt, die dafür ausreichen, daß etwas
in hinlänglicher Anschauung sich als sich selbst abheben kann. Zweitens
aber ist die Zeit in der sonst glatten Oberfläche der Welt und ihrer
Dauer in der geschichteten Lagezeit gleichsam die Wunde, die bis zum Grund
der primitiven Gegenwart als der Wurzel der Individuation durchsehen läßt.
Der junge Schopenhauer hat sich, wie er berichtet, oft gefragt: »Warum
ist dieses Jetzt gerade jetzt?« Er meint das Paradox, daß
zwar jedes Datum der Lagezeit seine Gegenwart hat, die das mit ihm Gegenwärtige
zu einer Schicht zusammenfaßt, daß aber zusätzlich die
eigentliche Gegenwart dessen, was ist, als nicht mehr noch nicht und noch
nicht nicht mehr Seiendes unvermittelt auf ein Datum der Lagezeit fällt.
Diese und andere Merkwürdigkeiten zeigen, daß unter der geregelten
Folge der Gegenwarten in der Lagezeit die primitive Gegenwart hindurchwirkt.
So bezeugt die Zeit die Geschichte der Selbstwerdung.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wie der Mensch zur Welt kommt, 2019,
S. 10 |
Ein weiterer Anlaß zur Freude besteht darin, daß Guido
Rappe, ein früherer Schüler von mir, jetzt Professor an einer
Universität in Osaka, ein Buch unter dem Titel Einführung
in die moderne Phänomenologie (2018) veröffentlicht hat,
in dem er meine Philosophie in gebührender Stellung in die Entwicklung
der Phänomenologie einordnet und dabei die Gesamttendenz meiner philosophischen
Bestrebungen treffend zusammenfaßt. Er stellt dabei den Leib in
den Vordergrund. Wenn es sich dabei nur um eine Analyse der Ausdehnung
und Dynamik des spürbaren Leibes handeln sollte, wäre damit
zwar ein wichtiges, aber nicht das ausschlaggebende Thema meiner Bemühungen
getroffen. Wenn aber an die Perspektiven gedacht wird, die durch die Entdeckung
des Leibes zwischen Seele und Körper geöffnet werden, gebe ich
ihm Recht. Es war immer mein Bemühen, dem Versuch der Philosophie,
einschließlich des von ihr weitgehend dominierten Christentums,
entgegenzutreten, das Interesse an Macht schon über die eigenen unwillkürlichen
Regungen (Platon) und später über die Natur (Descartes) in den
Vordergrund zu stellen und ein entsprechendes Weltbild den Menschen einzuschärfen.
Mein Interesse ist es dagegen, diese Verdeckung zu beseitigen und aus
der unwillkürlichen Lebenserfahrung die Reserven der Empfänglichkeit
wieder freizulegen, wozu die leibliche Kommunikation, die Empfänglichkeit
für Gefühle als Atmosphären, das Gestoßenwerden auf
sich im affektiven Betroffensein, das Wohnen als Kultur der Gefühle
im umfriedeten Raum und anderes mehr gehören. Es ist paradox, daß
ich fast bis zum 90. Geburtstag auf eine solche Würdigung warten
mußte.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wie der Mensch zur Welt kommt, 2019,
S. 11 |
Affektives Betroffensein findet statt, wenn jemand von
etwas heimgesucht wird, wenn ihm etwas nahegeht, so daß er davon
getroffen, berührt, gepackt wird oder wie man es ausdrücken
will. Alle diese Umschreibungen sind noch zu verschwommen. Eine präzise
Begriffsbestimmung ist diese: Jemand ist affektiv betroffen von etwas,
wenn er davon so betroffen wird, daß er nicht umhin kann, dabei
sich selbst zu spüren und in diesem Sinne auf sich selbst aufmerksam
zu werden, selbst wenn er darüber gar nicht nachdenkt, gar nicht
reflektiert, sondern wie ein Tier oder ein Säugling ganz naiv ist.
Diese Definition beinhaltet also eine gewisse Notwendigkeit, daß
nämlich im affektiven Betroffensein immer der mitgegeben ist, dem
es nahegeht, denn man kann nicht betroffen sein, ohne sich als den so
Betroffenen zu spüren. Das ist natürlich anders als bei einem
Betroffensein, das nicht affektiv ist, wenn man zum Beispiel nur in seinem
Vermögensstand oder juristisch betroffen ist, das sind Äußerlichkeiten,
von denen kann man sich distanzieren. Ganz anders ist es beim affektiven
Betroffensein, wenn einem etwas nahegeht. Hierdurch unterscheiden sich
die Tatsachen des affektiven Betroffenseins von allen Tatsachen, die ich
objektiv nenne, und zwar sind objektiv solche Tatsachen, die jeder aussagen
kann, wenn er genug weiß und genug sprechen kann. Alles das, was
zu einem Menschen gehört, abgesehen von den Tatsachen des affektiven
Betroffenseins, ist in dieser Weise eine objektive Tatsache, zum Beispiel
alles das, was in seiner Biographie aufgezeichnet werden kann, was zu
seinen Lebensumständen und seiner Herkunft gehört, sofern es
sich um solche objektiven Tatsachen handelt, denen aber das affektive
Betroffensein fehlt, denn das kann nicht so distanziert werden. Man erkennt
diese Zufälligkeit aller objektiven Tatsachen für jemanden daran,
daß jede solche objektive Tatsache auch einem andern eigen sein
könnte, sei es eine Eigenschaft oder eine Relation. Dadurch, daß
ich in Leipzig 1928 geboren bin, wird nicht ausgeschlossen, daß
es auch anderen so geht. Ebenso ist es für alle die einzelnen Tatsachen
des Lebens, und nicht nur die einzelnen Tatsachen sind mir in diesem Sinne
zufällig, daß zu ihnen nicht gehört, daß gerade
ich es bin, um den es sich handelt.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wie der Mensch zur Welt kommt, 2019,
S. 13-14 |
Tatsachen des affektiven Betroffenseins. Zu denen gehört
notwendig, daß sie tatsächlich die seinen sind. Hieraus nun
ergibt sich sofort eine weitere und sehr wichtige Bestimmung des affektiven
Betroffenseins. Das affektive Betroffensein ist nämlich von der Art,
daß jeweils nur einer im eigenen Namen es aussagen kann von sich,
obwohl die anderen sehr wohl in der Lage sein können, darüber
zu sprechen, so gut wie er, indem sie nämlich Kennzeichnungen und
Namen gebrauchen, die darauf passen und sich damit auf dieses sein affektives
Betroffensein beziehen. Aber in Satzform aussprechen können sie dieses
sein affektives Betroffensein nicht, denn zu diesem affektiven Betroffensein
gehört ja, daß er er selbst ist, auf den sich diese Tatsachen
beziehen. Das ist ein Bestandteil der Tatsachen selbst und nicht etwas
nur zufällig Hinzugesetztes. Daß er er selbst ist, kann tatsächlich
nur er selbst sagen. Wenn ein anderer das sagt, dann spricht er von etwas
anderem, denn er ist ja nicht der Andere selbst, wenn er sagt »Ich
bin traurig« oder »derjenige, der ich bin, der ist traurig«,
dann ist das eben nicht für den Anderen gesagt, sondern für
sich selbst gesagt. Also die Tatsachen des affektiven Betroffenseins kann
jeweils nur einer im eigenen Namen aussagen, und dadurch unterscheiden
sich diese Tatsachen von allen objektiven Tatsachen. Diese Tatsachen sind
nicht objektive Tatsachen, sondern subjektive Tatsachen, wie ich sie nenne,
solche, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann. Diese
subjektiven Tatsachen bestehen nun aber nicht etwa darin, daß der
Mensch sich in seine Subjektivität irgendwie zurückzöge
und daß er eine private Innenwelt aufbaute, wie die Tradition das
wohl meint, wenn sie von Subjektivität spricht, Subjektivität
als einer Privatsache des Einzelnen. Darum geht es jetzt nicht, sondern
im Gegenteil sind diese subjektiven Tatsachen diejenigen, in denen man
tatsächlich auf die Wirklichkeit gestoßen wird, denn sie enthalten
dieses, daß einem etwas nahegeht, tatsächlich mich persönlich
trifft und mir nicht bloß vorschwebt, so daß hier unmittelbar
der Kontakt mit dem Wirklichen stattfindet, während dieser Kontakt
von den objektiven Tatsachen nur gespiegelt wird. .... Die Subjektivität
von einer Tatsache für mich ist also keineswegs eine Absperrung gegenüber
der Welt oder gegenüber allem in meiner Umgebung oder gegenüber
dem, was es sonst noch gibt. Sondern es ist gerade der Zugang zu dem Getroffenwerden
von ihr im Gegensatz zu dem Draußenstehen eines bloßen Beobachters.
Was übrig bleibt, wenn man von den subjektiven Tatsachen die Subjektivität
abschält, ist nur noch die Objektivität objektiver Tatsachen.
Die subjektiven Tatsachen sind also in vieler Hinsicht reicher als die
objektiven Tatsachen.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wie der Mensch zur Welt kommt, 2019,
S. 15-16 |
Hieraus ergibt sich auch noch eine weitere wichtige Folgerung,
nämlich diejenige, daß die subjektiven Tatsachen in keiner
Weise aus objektiven Tatsachen aufgebaut werden können durch irgendeinen
Zusatz zu ihnen. Das ergibt sich aus der inhaltlichen Übereinstimmung
der subjektiven Tatsachen mit den entsprechenden objektiven, also im Bereich
des affektiven Betroffenseins. Der subjektiven Tatsache, daß ich
glücklich oder traurig bin, entspricht natürlich die objektive,
daß Hermann Schmitz glücklich oder traurig ist oder sonst irgendetwas.
Das ist eine Tatsache, die inhaltlich ja völlig übereinstimmt
mit der Tatsache, daß ich selbst dieser Mensch bin, wie es mir mein
unmittelbares affektives Betroffensein zeigt. Aus dieser inhaltlichen
Übereinstimmung ergibt sich, daß durch keinen Zusatz zu dem
Inhalt der objektiven Tatsachen eine subjektive Tatsache erreicht werden
kann. Denn die subjektive Tatsache hat ja genau denselben Inhalt, es kann
also keinen Übergang geben, um von den objektiven Tatsachen die subjektiven
zu erreichen. Der Unterschied ist bei völlig gleichem Inhalt an Eigenschaften
und Relationen und so weiter nur dieser, daß es sich um Tatsachen
ganz verschiedener Art handelt. Tatsachen ganz verschiedener Art, subjektive
und objektive Tatsachen unterscheiden sich durch ihre Milieus als Tatsachen,
aber nicht durch ihren Inhalt, der kann sogar völlig übereinstimmen.
Daher ist es zum Beispiel auch unmöglich, durch Zusatz einer Kausalfunktion
zu den objektiven Tatsachen die subjektiven Tatsachen zu erreichen. Hier
ist ein absoluter Sprung in ein anderes Milieu, und nicht eine Veränderung,
ein Zusatz an Inhalten, an Relationen oder Eigenschaften. Während
also die subjektiven Tatsachen von den objektiven Tatsachen aus unerreichbar
sind, ist es umgekehrt natürlich durchaus möglich, von den subjektiven
Tatsachen aus die objektiven zu erreichen. Denn diese objektiven stecken
ja in den subjektiven drin, man braucht nur die Subjektivität abzuschälen.
Man braucht also nur von mir selbst, mit alledem, was ich als affektiv
Betroffener bin, überzugehen zu Hermann Schmitz. Es bleibt derselbe
Inhalt, nun aber in Form von objektiven Tatsachen übrig. Dieser Abstieg
von den subjektiven zu den objektiven Tatsachen ist ein vollkommen unentbehrliches
Merkmal der Reifung der Lebenserfahrung, wodurch der erwachsene Mensch
über seine Kindlichkeit hinauswächst. Der erwachsene Mensch
braucht diesen Abstand, er braucht die Neutralisierung subjektiver Tatsachen,
damit er sich ein gut begründetes Urteil bilden kann, um etwa als
Richter zwischen entgegengesetzten Meinungen und Parteien unabhängig
zu sein und gerecht sein zu können. Er braucht ebenso, um sich im
Leben zurechtzufinden, zunächst ein neutrales, objektives Bild der
Umwelt, das sich mit Hilfe objektiver Tatsachen gewinnen läßt.
Dieser Übergang ist in der Tat unerläßlich für die
Reifung des Menschen, aber er ist eben zwiespältig. Es fällt
die ursprüngliche Fülle der subjektiven Tatsachen ihm zum Teil
zum Opfer.
Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, Wie der Mensch zur Welt kommt, 2019,
S. 17-18 |
Philosophie ist die Besinnung des Menschen auf sein Sichfinden
in seiner Umgebung.
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