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Leipzig ist die erste Heimatstadt
von Hermann Schmitz.
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Bonn ist die zweite Heimatstadt
von Hermann Schmitz.
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Kiel ist die dritte Heimatstadt von Hermann Schmitz.
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Im Zuge der Entfaltung der primitiven Gegenwart nach fünf
Seiten erhebt sich die Person aus dem Leben aus primitiver Gegenwart durch
zwei Errungenschaften:
1. |
Der absolut identische Bewußthaber
wird, indem er sich durch Selbstzuschreibung als Fall einer Gattung
versteht, zum einzelnen Subjekt, das die Zahl der Subjekte um 1 vermehrt. |
2. |
Im Leben aus primitiver Gegenwart
sind alle Bedeutungen für jemanden subjektiv. Durch Neutralisierung
eines Teils von ihnen entsteht für das einzelne Subjekt etwas,
das ihm fremd ist. Eine Sache ist im hier gemeinten Sinn für
jemanden fremd, wenn der Sachverhalt, daß sie existiert, gleich
ob er eine Tatsache oder untatsächlich ist, ihm als neutraler
(objektiver) Sachverhalt begegnet. Dem Fremden gegenüber kann
sich die Person kraft der für sie subjektiv gebliebenen Bedeutungen
auf etwas Eigenes berufen, das nachher näher als persönliche
Situation und persönliche Eigenwelt beschrieben werden wird. |
Das Zusammenwirken beider Errungenschaften, der Vereinzelung und der Neutralisierung,
kann man exemplarisch an der Enttäuschung beobachten. Durch diese werden
Bedeutungen, die vorher in die binnendiffuse Bedeutsamkeit von Situationen
unauffällig eingelassen waren, explizit als einzelne freigesetzt. Man
merkt z. B., wie gut man es hatte, nun erst an dem Einzelnen, das fehlt,
an den Programmen, die nicht mehr aufgehen, an den Problemen, die sich erst
auf Grund der Enttäuschung einzeln stellen. Das kommt auch der Selbstzuschreibung
zugute; der Bewußthaber lernt sich in neuen Rollen, als Vermissender
und als Bewältigender, als Fall einzelner Gattungen kennen. Auf der
anderen Seite fällt für den Enttäuschten von vielen Bedeutungen,
die als illusorisch entlarvt sind, die Subjektivität ab, und andere
Sachverhalte, Programme und Probleme, die an ihre Stelle treten, sind für
den Ernüchterten neutral und ziehen Vertrautes in die Fremdheit hinein.
Aber nicht nur das Wenige, das zunächst auffällt, wird je nach
dem fremd oder neutral. Da die Sachverhalte oft Gattungen mit unübersehbar
vielen Fällen sind, werden alle diese Fälle, seien es Bedeutungen,
seien es Sachen anderer Art, mit den Gattungen neutral bzw. fremd; eine
übergreifende Neutralisierung kann große Massen, auch ohne Vereinzelung,
in die Neutralität mitziehen. Deswegen sind zwar alle Bedeutungen,
namentlich alle Tatsachen, ursprünglich für jemanden subjektiv;
das ergibt sich daraus, daß die entfaltete Gegenwart (die Welt) durch
satzförmige Rede aus dem Leben aus primitiver Gegenwart, in dem alle
Bedeutungen für jemanden subjektiv sind, entbunden wird. Keineswegs sind
aber alle Bedeutungen einzeln subjektiv, ehe sie objektiv werden, denn in
ganzen Massen geht die Neutralisierung der Vereinzelung voraus. Objektivität
oder Neutralität ist zwar ein abgeblaßtes Restprodukt der vollblütigen
Subjektivität für jemanden, aber keineswegs muß jede einzelne
Tatsache erst einmal für jemanden subjektiv gewesen sein, um dann objektiv
zu werden. (Hermann F.-H. Schmitz, Sechste Stunde, in: Kurze
Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 101-102).
An Stelle der entwerteten Bedeutungen präsentiert die Enttäuschung
neue einzelne, harte Tatsachen, mit denen man sich abfinden muß;
auf diese Weise nötigt sie zur Rechenschaft von sich und damit zur
Selbstzuschreibung. Durch Verbindung von Vereinzelung und Neutralisierung
ist Enttäuschung also für Menschen ein wichtiger Reifungsschritt;
auch scheint, nicht diese beiden Errungenschaften mit, sondern bleiben
in unexplizierten Situationen befangen. Ich habe die Enttäuschung
herausgestellt, weil sie die Grundzüge der Personwerdung beispielhaft
beleuchtet; daneben gibt es viele andere Wege des Menschen zur Personalität.
Auf allen diesen Wegen macht der Mensch Erfahrungen, die seiner Selbstzuschreibung
zugute kommen und ihm neue für ihn subjektive Bedeutungen (Sachverhalte,
Programme, Probleme) liefern. Diese heilen in die binnendiffuse Bedeutsamkeit
der subjektiv gebliebenen, aus dem Leben aus primitiver Gegenwart übernommenen
Bedeutungen gleichsam ein, und so ergibt sich eine reichere Bedeutsamkeit
als Keim der zuständlichen persönlichen Situation, die die Persönlichkeit
einer Person ist. Diese persönliche Situation wandelt sich in der
Lebensgeschichte ohne Ende durch Prozesse der personalen Emanzipation
und personalen Regression, der Explikation und Implikation angesichts
von Herausforderungen. Ich erläutere diese Begriffe. (Hermann
F.-H. Schmitz, Sechste Stunde, in: Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 102-103).
Personale Emanzipation ist die Vereinzelung und Neutralisierung
von Bedeutungen mit der Folge, daß sich vom Neutralen und Fremden
das Eigene abheben und so die Persönlichkeit sich festigen und ausbilden
kann. Die Kritikfähigkeit, die strategische Übersicht zur Organisation
von Mitteln für gesetzte Zwecke, die unparteiische Bewertung sind
Kompetenzen personaler Emanzipation, die ihr den unklaren, aber von Philosophen
wie Kant wie ein Fetisch exponierten Ehrentitel der Vernunft eingetragen
haben. Je nach dem Abstand vom Leben aus primitiver Gegenwart, aus dem
die Person die Gelegenheit zur Selbstzuschreibung schöpft, unterscheiden
sich Niveaus der personalen Emanzipation; das höhere ist das neutralisiertere,
dem Grad und dem Umfang der Neutralisierung von Bedeutungen nach. Die
Person kann sich zugleich auf mehreren Niveaus ihrer personalen Emanzipation
aufhalten. Ein Beispiel, die Autorität von Gefühlen mit bedingtem
Ernst, wurde in der vorigen Stunde angeschnitten. Ein anderes Beispiel
ist die Akrasie, die, von Aristoteles im 7. Buch der Nikomachischen Ethik
in die philosophische Diskussion eingeführt, in der angelsächsischen
analytischen Philosophie und ihren Ausstrahlungen neuerdings viel erörtert,
aber mit dem irreführenden Titel der Willensschwäche (weakness
of will) belegt worden ist. Es handelt sich darum, daß eine Person
auf verschiedenen Niveaus ihrer personalen Emanzipation zwei unverträgliche
Absichten bildet, wobei sie die auf dem höheren, der Kritik fähigeren
Niveau gebildete begünstigt, weil diese Absicht sich besser rechtfertigen
läßt, jedoch die auf dem niedrigeren Niveau gebildete Absicht
tatsächlich wählt, weil sie reicher mit der Subjektivität
des affektiven Betroffenseins besetzt ist. Ein Beispiel ist der faule
Bettgenießer, der mit guten Gründen wegen wichtiger Erledigungen
die Absicht begründet, gleich nach dem Erwachen aufzustehen, es aber
so schön wohlig im Bett findet, daß er die Absicht wählt,
liegen zu bleiben. Eine Willensschwäche liegt nicht vor, denn eine
Absicht wird nicht nur gebildet, sondern auch ausgeführt; es handelt
sich nicht um ein schwaches, sondern um ein kompliziertes Wollen.
(Hermann F.-H. Schmitz, Sechste Stunde, in: Kurze Einführung
in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 103-104).
Die Person bedarf für die Bereitstellung des Relats
der Selbstzuschreibung des Zugangs zur primitiven Gegenwart und muß
daher, gegenläufig zu ihrer personalen Emanzipation, in das Leben
aus primitiver Gegenwart zurücktauchen, wo sie durch den vitalen
Antrieb und das leiblich-affektive Betroffensein Zugang zur primitiven
Gegenwart hat. Das ist die Leistung der personalen Regression, die der
Resubjektivierung ebenso dient, wie die personale Emanzipation der Neutralisierung.
Mit dem Beiwort »personal« will ich anzeigen, daß diese
Prozeßrichtung für die Person ebenso unentbehrlich ist wie
der Aufstieg zu Neutralität und unparteiischer Sachlichkeit in personaler
Emanzipation. Beide Prozesse, Emanzipation und Regression, explizieren
und implizieren; sie explizieren einzelne Bedeutungen aus der persönlichen
Situation und lassen diese implizierend in deren binnendiffuse Bedeutsamkeit
zurückfallen. Personale Emanzipation expliziert ihrem Begriff nach
und impliziert, indem sie vieles neutralisierend in Gleichgültigkeit
herabsetzt und übergeht; personale Regression impliziert, weil das
Leben aus primitiver Gegenwart, in das oder dessen Nähe sie sich
begibt, die Form der Einzelheit nicht kennt, expliziert aber auch, indem
sie den Menschen in affektivem Betroffensein auf etwas stößt,
um das er nicht herumkommt. Einen wichtigen, ja unerlässlichen Beitrag
für die Ausbildung der persönlichen Situation durch Implikation
einzelner Bedeutungen in ihre binnendiffuse Bedeutsamkeit leistet das
Vergessen. Ohne Vergessen könnte die persönliche Situation sich
gar nicht weiterbilden; sie würde in lauter Blöcke einzelner
Erfahrungen zerfallen. (Hermann F.-H. Schmitz, Sechste Stunde,
in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009,
S. 104-105).
Das Zusammenwirken von personaler Emanzipation und personaler
Regression läßt sich an Lachen und Weinen studieren. Das Lachen
ist Abfall von einem Niveau personaler Emanzipation in das Leben aus primitiver
Gegenwart mit der Zuversicht, auf dieses Niveau zurückkehren zu können,
weil der Schwung der personalen Regression dafür ausreicht; es gleicht
damit der Bauchwelle am Reck. Die Komik sichert die Zuversicht zusätzlich
durch Verdoppelung des Niveaus der personalen Emanzipation in ein der
Regression preisgegebenes des Belachten und ein integer in Reserve gehaltenes
des Lachenden; wenn der Belachte und der Lachende identisch sind, wird
die Komik zum Humor. Der Lacher regrediert also und nimmt mit seiner Zuversicht
des Zurückkommens zugleich einen Triumph über die personale
Regression vorweg. Das Weinen setzt dagegen ein, wenn sich die Person
unter der Wucht einer Bedrängnis auf einem Niveau personaler Emanzipation
nicht halten kann, so daß sie in das Leben aus primitiver Gegenwart
regrediert, von der Bedrängnis engend dicht an der primitiven Gegenwart
vorbeigeführt, jedoch so, daß die Person an dieser vorbei im
Sichausweinen den Ansatz eines neuen Niveaus personaler Emanzipation findet,
statt auf das alte zurückzukehren. Beide Prozesse integrieren die
Person durch Legierung von personaler Emanzipation mit personaler Regression,
aber das Lachen führt nicht weiter, während das Weinen der Lebensgeschichte
eine Entwicklungschance gibt. (Hermann F.-H. Schmitz, Sechste
Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie,
2009, S. 105-106).
Die Person hat ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrer
persönlichen Situation. Einerseits wird sie diese, den sich entwickelnden
Hintergrund ihrer Lebensgeschichte, nicht los. Andererseits steckt sie
nicht darin wie in einer Seele, sondern lebt ebenso präpersonal aus
primitiver Gegenwart, nicht nur in Zuständen der Fassungslosigkeit,
bei Lachen und Weinen, sondern auch bei allen unwillkürlichen motorischen
Verrichtungen, z. B. beim glatten Kauen fester Nahrung, das ihr nicht
wesentlich anders als den Tieren vom Munde geht. Ein gutes Beispiel für
die Zwischenstellung der Person zwischen dem Leben aus primitiver Gegenwart
und der durch Vereinzelung entfalteten Gegenwart ist das Sprechen. Einerseits
bewirkt es die Vereinzelung durch Explikation von Bedeutungen aus Situationen
in satzförmiger Rede. Andererseits entnimmt der Sprecher die Führung
seiner Rede der Sprache als einer binnendiffus-ganzheitlichen zuständlichen
Situation aus Programmen oder Rezepten für die Darstellung von Sachverhalten,
Programmen und/oder Problemen, d. h. aus Sätzen. Er geht damit so
routiniert um wie mit seinen beweglichen Gliedern, z. B. seinem Mundwerk
beim achtlos glatten Kauen fester Nahrung: Er mustert nicht erst den Vorrat
an Programmen, sondern greift blind hinein und holt als Könner treffsicher
die Sätze heraus, die zu seiner Darstellungsabsicht passen, indem
er sie erst durch seinen sprechenden Gehorsam als einzelne expliziert.
Der Sprecher lebt also im Verhältnis zu seiner flüssig gesprochenen
Sprache aus primitiver Gegenwart, im Verhältnis zu dem, was er bespricht,
den in seiner Rede dargestellten Bedeutungen, aber in entfalteter Gegenwart.
(Hermann F.-H. Schmitz, Sechste Stunde, in: Kurze Einführung
in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 106).
Die Person lebt nicht nur in und - durch personale Regression
und in unwillkürlicher Routine - unter ihrer persönlichen Situation,
sondern steht dieser auch gegenüber wie einem Partner, ja einem Orakel,
aus dem sie schlau werden muß. Das zeigt sich am deutlichsten bei
schwierigen Lebensentscheidungen. Dann setzt gewöhnlich ein Hinundherüberlegen
ein, das eigentlich nicht den Sinn eines zum Ziel fortschreitenden Räsonnements
hat, sondern so etwas wie ein Kneten der persönlichen Situation ist,
das dieser zu entlocken sucht, was angesichts der zur Entscheidung anstehenden
Alternative zu ihr paßt. Wenn sich das herausstellt, ist die Entscheidung
gefallen, und das Räsonnieren wird abgebrochen. Ein sehr hübsches
Beispiel dieser Verlaufsform gibt der Bericht des Mathematikers Hermann
Weyl über das Zustandekommen seiner Entscheidung, den ehrenvollen
Ruf von seinem Lehrstuhl in Zürich zur Nachfolge des berühmten
Felix Klein in Göttingen abzulehnen: »Als sich die Entscheidung
nicht länger aufschieben ließ, lief ich im Ringen mit meiner
Frau stundenlang um einen Häuserblock herum und sprang schließlich
auf ein spätes Tram, ihr zurufend: Es bleibt doch nichts anderes
übrig als annehmen. Aber dann muß es mir das fröhliche
Treiben, das sich an diesem schönen Sommerabend um und auf dem See
entfaltete, angetan haben: ich ging zum Schalter und telegraphierte eine
Ablehnung. Meine Frau war natürlich baß erstaunt, als ich heimkam.«
Auf weniger dramatische Weise ist jedes Wollen, auch in banalen Zusammenhängen,
von dieser Art. Es besteht aus den beiden Phasen der Bildung und der Realisierung
der Absicht. Die Absichtbildung geschieht angesichts einer Herausforderung
in einer Befragung der persönlichen Situation, eventuell mit diplomatischer
Vermittlung divergenter Tendenzen in ihr. In dieser Phase ist Wollen eine
Intelligenzleistung mit dem Ergebnis des Wissens, was man will, d. h.
was gerade zur eigenen persönlichen Situation paßt. So verhält
es sich schon beim Wählen von der Speisekarte im Wirtshaus. Die persönliche
Situation ist dabei unauffällig engagiert durch die hintergründige
Bedeutsamkeit der in die angebotenen Speisen investierten synästhetischen
Charaktere, die Brückenqualitäten leiblicher Kommunikation sind,
d. h. auch am eigenen Leibe gespürt werden können. Sartre hat
sich bemüht, solche hintergründige Bedeutsamkeit am Beispiel
des Klebrigen, besonders des gezuckerten Klebrigen (Honig), herauszuarbeiten.
Auf die gelungene Absichtbildung folgt die Realisierung in Gestalt der
Zuwendung des vitalen Antriebs. In beiden Phasen kann das Wollen verunglücken.
Wenn es aber gelingt, ist das gelungene Wollen auch schon Handeln, unabhängig
davon, ob eine Körperbewegung beabsichtigt ist und dann erfolgt.
Kopfrechnen ist ein Handeln wie Springen. (Hermann F.-H. Schmitz,
Sechste Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie,
2009, S. 106-108).
Die persönliche Situation ist in gemeinsame Situationen teils
tief eingewachsen, teils locker eingefügt und umfaßt viele
partielle Situationen, die wie zähflüssige Massen in einer zähflüssigen
Masse in ihr gleiten und sich reiben. Solche partiellen Situationen sind
teils retrospektiv wie die Kristallisationskerne der Erinnerung, teils
präsentisch wie die Standpunkte einer Person, ihre Fassung, die sie
verliert, wenn sie die Fassung verliert, ihre Gesinnung (als Weise des
Sicheinlassens auf das affektive Betroffensein ), ihre Lebenstechnik (als
Weise des Umgangs mit Problemen der Lebensführung), ihr Wortschatz,
ihre habituellen Interessen; teils sind sie prospektiv als Vorzeichnungen,
worauf die Person aus ist oder wovon sie weg will. Diese prospektiven
partiellen Situationen sind ihr oft besonders schwer zugänglich und
stehen in intensiver Wechselwirkung mit den retrospektiven. (Hermann
F.-H. Schmitz, Sechste Stunde, in: Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 108).
Die persönliche Situation wird grundiert, wie die oberstimmen
im vierstimmigen musikalischen Satz durch den Baß, von einer persönlichen
leiblichen Disposition, die darüber entscheidet, wie der vitale Antrieb
eingesetzt werden kann und welche Voraussetzungen, abgesehen von den spezifisch
personalen, für die Empfänglichkeit, die Resonanz auf ergreifende
Gefühle, bestehen. Zwar fallen auch protopathische und epikritische
Tendenz sowie leibliche Richtung, die unumkehrbar aus der Enge in die
Weite führt, für die leibliche Disposition als mitbestimmende
Faktoren ins Gewicht, aber maßgeblich sind immer Stärke und
Bindungsform des vitalen Antriebs. Ein schwacher Antrieb behindert die
integrierende Einfügung der Episoden der Lebenserfahrung in die persönliche
Situation; die Persönlichkeit rundet sich gleichsam nicht ab. Bei
hinlänglicher Stärke kann die Bindungsform der Komponenten Engung
und Weitung nach drei Seiten variieren, die ich mit den von mir auf Unterschiede
der leiblichen Disposition umgewidmeten Typenbezeichnungen von Kretschmer
und Veit markiert habe. Bei kompakter Bindung, in der (wie akut bei Schmerz
und Einatmen, Heben und Ziehen) Spannung und Schwellung zäh zusammenhängen,
ist die Empfänglichkeit eher stumpf, dafür die Belastbarkeit
groß, aber ohne Chance elastischen Ausweichens zur Kompensation
von Belastungen; daher stauen sich diese nach übermäßiger
Schwere oder Dauer, und die Stauung kann nur durch ruckartigen Wechsel
des Antriebsniveaus nach oben (im Extremfall Explosion) oder unten (bis
zum Zusammenbruch) abgeführt werden. So ergibt sich der Typ des Bathmothymikers,
des Stufenmütigen, nach Veit, der diese Menschen sehr fein in Phlegmatiker,
die schwer in Bewegung zu setzen sind, und Dynamiker, die schwer anzuhalten
sind, einteilt; bei jenen überwiegt im kompakten vitalen Antrieb
die Spannung, bei diesen die Schwellung. Die leibliche Disposition des
Zyklothymikers ist dagegen zum rhythmischen Schwanken des Übergewichts
von Spannung bzw. Schwellung begabt und daher von ergreifenden Gefühlen
leicht zur Resonanz aufwühlbar. Der vitale Antrieb des Schizothymikers,
dessen leibliche Disposition die Abspaltung privativer Engung aus der
Spannung und privativer Weitung aus der Schwellung begünstigt, ist
resonanzfähig nicht durch rhythmischen Wellenschlag von Engung und
Weitung, sondern durch Spaltung. Er kann einerseits in die Enge getrieben,
verschüchtert, bestürzt, von Sorgen bedrängt werden, andererseits
leicht und beflügelt abheben; diese Labilität kompensiert der
Schizothymiker durch die Lizenz privativer Weitung, die Enge des Leibes
teilweise zu verlassen, sich in personaler Emanzipation über die
Situation zu stellen und ironisch oder strategisch, und sei es auf komplizierten
Umwegen, in der Bahn zu bleiben. Merkwürdiger als die persönlichen
leiblichen Dispositionen sind die in Populationen und Zeitaltern kollektiv
dominanten. Man kann ihren Wechsel fast mit Händen greifen, wenn
man das nervöse, überspannte Zeitalter der Ohnmachten, des Zitterns,
der großen Visionen und Berauschungen zwischen Richard Wagner und
Hitler mit dem folgenden Zeitalter robuster, aber stumpfer, nur noch für
starke und grobe Reize empfänglicher Vitalität (bis zur Gegenwart)
vergleicht, eine schizothyme mit einer bathmothymen Disposition; auch
auf den künstlerischen Stilwandel wirkt sich dieser Wechsel kollektiv
dominanter leiblicher Dispositionen aus. (Vgl. Hermann Schmitz: Leib
und Gefühl, 1989, S. 317-352; System der Philosophie,
Band II, Teil 2, 1966, S. 257-298.) (Hermann F.-H. Schmitz, Sechste
Stunde, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie,
2009, S. 108-110).
Die persönliche Situation besteht hauptsächlich aus
Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme und ihre binnendiffus-ganzheitlichen
Komplexe). Das Eigene einer Person füllt aber eine weitere Sphäre,
zu der alle Sachen gehören, an denen sie in affektivem Betroffensein
gleichsam hängt, freundlich oder feindlich. Diese weitere Sphäre
suche ich durch den Begriff der persönlichen Eigenwelt in der persönlichen
Welt zu fassen. Die persönliche Welt einer Person besteht aus ihrer
persönlichen Eigenwelt und ihrer persönlichen Fremdwelt. Zur
persönlichen Eigenwelt einer Person gehören alle Bedeutungen,
die für sie subjektiv sind, und alle Sachen, für die der (tatsächliche
oder untatsächliche) Sachverhalt, daß sie existieren, von dieser
Art ist. Zur persönlichen Fremdwelt gehören alle Bedeutungen,
die durch Neutralisierung (= Objektivierung) die Subjektivität für
sie verloren haben, und alle Sachen, für die der (tatsächliche
oder untatsächliche) Sachverhalt, daß sie existieren, von dieser
Art ist. (Untatsächliche Sachverhalte müssen berücksichtigt
werden, weil zur persönlichen Welt einer Person viele Sachen gehören,
die es gar nicht gibt, die sie z. B. hofft oder fürchtet, indem sie
sich Illusionen hingibt.) Nach dem Verhältnis zwischen persönlicher
Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt unterscheiden sich drei Menschentypen
des Extrovertierten, des Introvertierten und des Ultrovertierten. Für
den Extrovertierten ist die Grenze zwischen beiden Teilwelten schwach
gezogen, die Fremdheit der persönlichen Fremdwelt also unterbelichtet.
Seine Gefahr ist einerseits die Zerstreuung, weil er sich nicht in die
persönliche Eigenwelt zurückziehen kann, andererseits die naive
Verbindung von heroischem Einsatz und paschahafter Beanspruchung: Weil
ihm mehr oder weniger alle Sachen, mit denen er zu tun hat, seine Sachen
sind, an denen er hängt, ist er bereit, sich für sie einzusetzen,
will sie aber auch haben. Für den Introvertierten ist die Grenze
zwischen persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt scharf
gezogen, und seine Sorge gilt in erster Linie der persönlichen Eigenwelt.
Seine Gefahr ist die Versteifung in eine Schutzhaltung an der bedrohten
Grenze beider Teilwelten, sei es durch Abpanzerung, die den Anschein der
Abstumpfung bewirken kann, oder durch Rückzug aus mimosenhafter Überempfindlichkeit.
Beim Ultrovertierten ist die Grenze ebenso scharf gezogen wie beim Introvertierten,
aber er geht über die persönliche Eigenwelt hinweg (daher »ultro«)
und widmet seine Sorge, sein Engagement der persönlichen Fremdwelt,
z. B. als Funktionär eines politischen oder wirtschaftlichen Betriebes,
der für ihn um seiner selbst willen funktioniert, oder als Perfektionist
einer unmenschlichen Sachlichkeit in den Rollen von Ingenieur, Mathematiker,
Naturwissenschaftler, Mediziner. (Ein typischer Ultrovertierter ist der
[sächsische] Grundtoffel: » Er greift Wichtiges und Unwichtiges,
Zweckvolles und Zweckloses, Alltägliches, Spezielles und Abseitiges
mit dem gleichen verbissenen Ernst auf, dreht und wendet es umständlich
und knorrig hin und her und sieht für die Dauer seiner handlichen
und gedanklichen Untersuchung nichts als den isolierten, unbezogenen
Gegenstand seiner Frage.« »Allgemein interessieren ihn die
Aufgaben als solche mehr als die eigene Leistung.« »Sich selbst
ist er gewöhnlich uninteressant.« (Heck in: Menschenformen
- Volkstümliche Typen, a.a.O., 1941, S. 88-91, angeführt
in: Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band IV, 1980, S.
406.) Das wird möglich wegen der breiten Grauzonen, in denen die
Subjektivität der Bedeutungen in Neutralität oder Objektivität
ausläuft. Ein leichtes Grau dieser Art liegt schon über jeder
Äußerung in eigener Sache. Wer wenigstens noch »Ich bin
traurig« sagen kann, ist schon nicht mehr ganz so traurig wie einer,
dem die Sprache versagt. Bei vielen Äußerungen von Menschen
über sich selbst ist nicht leicht zu entscheiden, ob sie als Bekenner
sprechen, denen das nahegeht und am Herzen liegt, was sie über sich
sagen, oder ob sie in rein sachlicher Einstellung von sich wie von irgendeinem
Objekt reden; dann gehen beide Einstellungen in einander über. Für
den Ultrovertierten ist schon so viel Subjektivität ausgelaufen,
daß er den Rest, ohne ihn los zu werden, gleichsam in seine persönliche
Fremdwelt nachwirft. Seine Gefahr ist es, über Leichen zu gehen,
nicht nur über die der Mitmenschen, die er in seine persönliche
Fremdwelt abschiebt, sondern auch über die Leiche des eigenen affektiven
Betroffenseins, das sich aber nicht wirklich abtöten läßt,
weil der Ultrovertierte dann sein Selbstbewußtsein (mit und ohne
Selbstzuschreibung) und damit seine Personalität verlieren würde;
die scheintote Leiche rumort in der persönlichen Eigenwelt und rächt
sich manchmal an deren Überkippen in die persönliche Fremdwelt.
(Hermann F.-H. Schmitz, Sechste Stunde, in: Kurze Einführung
in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 110-112).
Die persönliche Situation ersetzt die abgeschlossene
private Innenwelt der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen
Vergegenständlichung in allen ihren Gestalten, nicht nur die Seele,
sondern auch das Bewußtsein, das seit Descartes der Seele Konkurrenz
macht und über Kant bis zu Husserl und Sartre zu ihrem Erben aufsteigt,
mit so großem Einfluß, daß die ältere Phänomenologie
sich als Bewußtseinsanalyse ausgibt, orientiert an angeblich im
Bewußtsein vorgefundenen intentionalen Akten. Husserl prägte
dafür den Slogan: »Alles Bewußtsein ist Bewußtsein
von etwas.« In dieser Formel wird das Wort doppelsinnig verwendet.
An der ersten Stelle bezeichnet es ein Sammelbecken von Inhalten des Bewußtseins;
Husserl erwähnt Akte, hyletische Daten (d. h. Empfindungen) und Retentionen
(Frischerinnerungen). An der zweiten Stelle bezeichnet es das Bewußthaben
eines Bewußthabers, dem etwas bewußt ist. Nach meinem Dafürhalten
gibt es das Bewußtsein im zweiten Sinn, das Bewußthaben, nicht
aber das Bewußtsein im ersten Sinn, die Innenwelt. Das ist eine
starke These, die weitverbreiteten vermeintlichen Selbstverständlichkeiten
widerspricht. Ich stütze sie auf ein altes Argument für die
Einfachheit des Bewußthabers oder, wie ich es wende, des Bewußthabens.
Das Argument begegnet uns zuerst bei Plotin (Schrift der 4. Enneade [2.
Schrift in chronologischer Reihenfolge] Kapite16, Zeilen 1-34 46 usw.)
mit einer für mich besonders interessanten Vorform bei Aristoteles
(De anima, 426b12-427a16), die sich auf die Beurteilung der Verschiedenheit
von Daten verschiedener Sinne bezieht. Auch Plotin erwähnt die Verschiedenheit,
stellt aber die Wahrnehmung von Komplexen in den Vordergrund. Ich werde
mich ausschließlich auf das Beziehungsbewußtsein berufen.
Als Beispiel wähle ich die Vorstellung der Ähnlichkeit von Sonne
und Mond (als leuchtende Himmelskörper). Sie enthält drei Teilvorstellungen,
die sich im Gegenstand nirgends überschneiden; denn weder ist der
Ähnlichkeit etwas von der Sonne anzumerken, noch der Sonne etwas
vom Mond . Daher kann auch keine Zusammensetzung der drei Teilvorstellungen
die Gesamtvorstellung erreichen, wie Kant - auf Komplexe statt auf Beziehungen
bezüglich - in seinem verfehlten Widerlegungsversuch meinte, indem
er die Gesamtvorstellung eines Verses aus den Teilvorstellungen der Wörter
ebenso zusammensetzen wollte, wie »die Bewegung eines Körpers
die zusammengesetzte Bewegung aller Teile desselben« sei. (Vgl.
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781, S. 353 48). Wenn
man die Vorstellungen von Ähnlichkeit, Sonne und Mond zusammenstellt,
kommen drei verknüpfte Vorstellungen mit getrennten Gegenständen
heraus, aber nichts von der Ähnlichkeit zwischen der Sonne und dem
Mond; das Bewußthaben dieser Ähnlichkeit ist in den Teilvorstellungen
zwar fundiert, aber nicht aus ihnen zusammengesetzt. Daraus folgt die
Einfachheit des Bewußthabens von Beziehungen beliebigen Komplexitätsgrades.
Dieses Bewußthaben muß aber ebenso vielfach wie einfach sein,
denn es umfaßt alle Beziehungsglieder und ihr Verhältnis. Wie
ist diese Vielfalt mit der Einfachheit verträglich? (Ein ähnliches
Problem beschäftigt schon Aristoteles, siehe obige Anmerkung.) Dieses
Problem ist dasselbe wie am christlichen Trinitätsdogma das der Vorstellung,
daß mehrere Personen trotz ihrer Verschiedenheit derselbe einfache
Gott sein sollen. (Hermann F.-H. Schmitz, Sechste Stunde,
in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009,
S. 112-114).
Die Lösung des Rätsels ist nur so möglich, wie
sie in der vierten Stunde (**)
mit dem Modell der Husserlschen Puppe für die Zeit ausgeführt
und für die Antinomien angedeutet wurde. Die Konkurrenz verschiedener
Weisen des Bewußthabens um Identität mit demselben ist aber
keine Quelle verwirrender Unruhe, weil anders als dort die Konkurrenten
nicht miteinander unverträglich sind. Sie besteht nur darin, daß
die Teilvorstellungen, von denen jede für sich einzeln und von jeder
anderen deutlich unterschieden ist, im einfachen Beziehungsbewußtsein
(genauer: Bewußthaben der Beziehung zwischen ihnen) so unendlich
schwach unentschieden sind, daß weder ihre Identität noch ihre
Verschiedenheit in der Gesamtvorstellung feststeht, noch Unentschiedenheit
darüber, noch endlichfach iterierte Unentschiedenheit (in der Weise,
daß unentschieden wäre, ob dies unentschieden ist, oder unentschieden
wäre, ob unentschieden ist, ob dies unentschieden ist usw. ad infinitum).
In der Grauzone unendlichfacher Unentschiedenheit versagen alle diese
Festlegungen. Vielmehr liegt eine Mannigfaltigkeit anderen Typs vor als
die numerische Mannigfaltigkeit einzelner Sachen, eine Mannigfaltigkeit,
die auch durch keine synthetische Einheit, keine Zusammensetzung, zu erreichen
ist; ich spreche von instabiler oder ambivalenter Mannigfaltigkeit, in
der Einfachheit des Ganzen und Vielfachheit der Teile durch Konkurrenz
der Teile um Identität mit dem Ganzen verträglich werden. Von
dieser Art ist das Bewußthaben von Beziehungen und sogar jederlei
Bewußthaben einzelner Sachen (Sache hier = etwas überhaupt).
Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. In dieser Vorstellung ist
die Verschiedenheit von dem um 1 verminderten Zustand enthalten. Insofern
ist jede Vorstellung einer einzelnen Sache ein Beziehungsbewußtsein.
(Hermann F.-H. Schmitz, Sechste Stunde, in: Kurze Einführung
in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 114-115).
Es war der Fehler der Bewußtseinstheoretiker von Descartes
bis zu Husserl und seinen Epigonen, ein Bewußtsein mit numerischer
Mannigfaltigkeit vieler Bewußtseinsinhalte und deren Arrangement
anzunehmen (*), statt eines ambivalent mannigfaltigen
Bewußthabens, das in unendlichfacher Unentschiedenheit zwischen
Einfachheit und Vielfachheit sehr wohl fähig ist, gleichzeitig viele
einzelne Themen oder Gegenstände zu haben und scharf zu unterscheiden.
(* Bezeichnend für dieses Arrangement
ist Husserls Feststellung: »z. B. der Akt, der dem Namen das Messer
auf dem Tische entspricht, ist offenbar zusammengesetzt. Der Gegenstand
des Gesamtaktes ist ein Messer, der Gegenstand eines Teilaktes ist ein
Tisch.« (Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, 2. Band,
1. Teil, 5. Untersuchung § 17, 1900, S. 402). Man hat ein Körpermodell
aus der Außenwelt in eine Innenwelt projiziert, die es so nicht
gibt, mit lauter einzelnen Bewußtseinsinhalten als Partikeln oder
Figuren in ihr, dem Geist, den Hume einem Theater verglich. (Hermann
F.-H. Schmitz, Sechste Stunde, in: Kurze Einführung in
die Neue Phänomenologie, 2009, S. 115-116).


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