Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends (2007)
Seßhaftigkeit paßte gar nicht
zur natürlichen Entwicklung der Art Mensch; sie brachte in der Tat die größten
Schwierigkeiten mit sich. Das gilt bis heute. Immer wieder bricht sich der tiefverwurzelte
Nomadismus der Menschen Bahn. (Ebd., S. 20).
Die Kirche verstand es, die Bereitschaft zur Buße zu nutzen.
Ablaßzahlungen sollten helfen (wie in unserer Zeit die »Klimasteuer«).
(Ebd., S. 96).
Gleich mehrere Hochwasser der letzten Jahre wurden »Jahrhundertfluten«
genannt. Sie scheinen nun in größerer Stärke und in gesteigerter
Häufigkeit als in früheren Zeiten zu kommen: Pfingsthochwasser 1999
am Alpennordrand, die Elbflut vom August 2002 und ein weiteres, sehr starkes Hochwasser
Ende August 2005, das gewaltige Schäden und großflächige Überschwemmungen
von der Schweiz bis in den Osten Österreichs verursachte. Unmittelbar davor
hatte es in den 1990er Jahren gleichfalls drei sehr starke Hochwasser an Rhein
und Oder gegeben. Drei Katastrophenhochwasser in den sechs Jahren von 1999 bis
2005 erwecken zwangsläufig den Eindruck, daß sich gegenwärtig
die Hochwasser in noch nie dagewesenem Maße häufen. Doch solche »Eindrücke«
haben mit Zeit und Vergessen zu tun. Die Angaben der Versicherungen bestätigen
die Häufung allerdings nur höchst vordergründig, weil sie auf (versicherte)
Schäden bezogen sind. (Ebd., S. 107). Das stärkste
Hochwasser im ganzen 20. Jahrhundert, das Julihochwasser von 1954, liegt noch
nicht einmal ein volles durchschnittliches Menschenalter zurück, und dennoch
wird es in der Öffentlichkeit kaum noch einmal erwähnt. Am Inn bei Passau,
dem zusammen mit dem Rhein wasserreichsten Alpenfluß Mitteleuropas, erreichte
dieses Hochwasser 6000 Kubikmeter pro Sekunde. Die Menge ließ sich recht
genau bestimmen, weil der untere Inn in eine Kette von Stauseen aufgegliedert
und in Dämme gefaßt ist, die kein Ausufern der Fluten mehr zulassen.
Das Hochwasser von 1954 übertraf alle seitherigen bei weitem, das schon zur
»Jahrhundertflut« ernannte vom 23. August 2005 mit eingeschlossen.
In der Rangfolge wurde es schon vom Hochwasser 1899 jedoch ganz klar an Pegelstandshöhe
und noch viel mehr an Menge des Wassers übertroffen. Weitaus größere
Überschwemmungen gab es 1786, und die höchste im letzten halben Jahrtausend
über Wasserstände an Gebäuden verzeichnete Flut fand 1598 statt.
Zahlreiche weitere Katastrophenhochwasser hatte es in den vier Jahrhunderten von
1500 bis 1900 gegeben. Sie wurden längst nicht alle an Gebäuden vermerkt,
wenn sie unterhalb der früheren Spitzenwerte geblieben sind. Aber aus anderen
Quellen lassen sich Häufigkeiten und ungefähre Höhe der Hochwasser
ermitteln. (Ebd., S. 107-108). Für den Rhein und seine
süddeutschen Nebenflüsse sowie für die obere Donau werteten R.
Glaser, J. Jacobeit, M. Deutsch, H. Stangl die Daten aus. Sie konnten zeigen,
daß es gut erkennbare Phasen unterschiedlicher Häufigkeit und Stärke
der Hochwasser gegeben hat. So ist für den Niederrhein bei Köln und
Koblenz die markanteste und stärkste Hochwasserperiode in den 100 Jahren
zwischen 1350 und 1450 ausgebildet. Von 1500 bis 1650 folgt eine breitere und
von 1700 bis etwa 1770 eine Zeit geringer Häufigkeit. Danach steigt die Hochwasserhäufigkeit
steil an und erreicht um 1800 einen neuen Höchstwert, der 1900 zu einem fast
historischen Tiefstand absinkt und seither wieder kontinuierlich auf das bislang
dritthöchste (!) Niveau des ganzen letzten Jahrtausends angestiegen ist.
(Ebd., S. 108). 
Hochwassermarken am unteren Inn in Schärding/Oberösterreich (Foto: Reichholf).
Linke Seite vom Innufer aus, rechte Seite landseitig oben anschließend.
Der Pfeil verweist auf die Position des Hochwassers 1954 in der landseitigen Fortsetzung
auf die jeweils gleiche Höhe. |
Für die obere
Donau ergeben die historischen Daten jedoch einen ganz anderen Verlauf. Der große
»Rheingipfel« von 1350 bis 1450 ist hier nur schwach ausgeprägt.
Erst nach 1500 steigt die Hochwasserhäufigkeit stark an und erreicht zwei
markante Gipfel zwischen 1650 und 1680 sowie 1750 bis 1800. Ab dem frühen
19. Jahrhundert liegen für alle größeren Flüsse Messungen
vor, die sowohl die Häufigkeit als auch die Stärke der Hochwasser hinreichend
genau dokumentieren. Ganz allgemein besagen sie, daß die Fluten im 20. Jahrhundert
weder häufiger gekommen noch stärker ausgefallen sind als in den Jahrhunderten
davor. Im Gegenteil: Für die beiden wasserreichsten Flüsse Süddeutschlands,
den Rhein und den Inn, der beim Zusammenfluß mit der Donau in Passau mehr
Wasser und erheblich stärkere Hochwasser als diese bringt, ergibt sich für
die vergangenen 100 Jahre eine Abnahmetendenz. Das zeigen die genauen Aufzeichnungen
für den Oberrhein und die Auswertungen zur Wasserführung des Rheins
von J. Karl sowie die zahlreichen Hochwassermarken an Ufergebäuden. Dabei
ist nämlich zu berücksichtigen, daß die großen Flüsse
erst im 19. Jahrhundert reguliert und in Dämme oder Deiche gefaßt worden
sind. Die Verminderung des Durchflußquerschnitts erzwingt einen Anstieg
der Fluthöhe bei gleicher Wassermenge. So hatte sich etwa das stärkste
Hochwasser des 20. Jahrhunderts am Inn im Juli 1954 praktisch nicht mehr über
die früheren Talweitungen ausbreiten können, die noch den starken Hochwassern
vom August 1897, Juni 1940, September 1920 und September 1899 zur Verfügung
standen, denn die Stauseen wurden erst ab 1942 gebaut. Die Abfolge der Jahreszahlen
gibt die Stärke der Hochwasser wieder (vgl. Abbildung).
1954 rückte die Fluthöhe bis auf etwa einen Meter an den letzten Höchstwert
von 1899 heran. Damals waren aber bereits erste »Abflußbeschleunigungen«
über Durchstiche und Längsverbau des außeralpinen Inn getätigt
worden. (Ebd., S. 109-110). | 
Die Entwicklung der Wasserführung des Rheins im hydrologischen Sommerhalbjahr
seit 1810 anhand der 10-jährigen Mittelwerte läßt keinen Rückgang
erkennen, obwohl die Gletscher so stark abgeschmolzen sind. (Daten: J. Karl, 1997). |
Am
Rhein fing die Regulierung mit der Tulla'schen Korrektur Anfang des 19. Jahrhunderts
an, am Inn dagegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Hochwasser zeigen dennoch das
gleiche Bild größerer Höhe im 19. als im 20. Jahrhundert. Aus
den Höhenlinien im Flußtal kann man einigermaßen verläßlich
abschätzen, wie groß die Wassermengen gewesen sein dürften, die
im Zustand des gänzlich unverbauten Wildflusses mehrere Meter höhere
Anstiege der Flutspitzen als nach der Regulierung verursachten. Die Inn-Hochwasser
von 1786 und vor allem das ganz gewaltige von 1598 müssen demnach noch ein
Mehrfaches der Wassermenge gebracht haben als die mit 6000 Kubikmeter pro Sekunde
gemessene Flut von 1954. Größenordnungen von 20000 Kubikmeter pro Sekunde
und darüber hinaus erscheinen realistisch, denn damals konnte sich die Überschwemmung
auf fünf bis sieben Kilometer Breite im Tal ausdehnen. Der Vergleich mit
dem Rhein vermittelt einen weiteren Aufschluß. Während sich im Donausystem,
zu dem der Inn gehört, der spätmittelalterliche Gipfel um 1400 noch
nicht abzeichnet, steigt die Hochwasserintensität nach 1500 stark an, obgleich
der Rhein nur eine mittlere Hochwasserhäufigkeit erreicht und dessen zweithöchster
Gipfel um 1800 deutlich verzögert auf die besonders großen und häufigen
Hochwasser im System der oberen Donau zwischen 1730 und 1800 folgt. Das Spitzenhochwasser
von 1786 am Inn deckt sich zeitlich recht gut mit dem Extremhochwasser an Main
und Neckar von 1784, das wohl in Zusammenhang mit dem Ausbruch des Vulkans Laki
auf Island in den Jahren 1783/84 steht und gleichfalls mit »alpiner
Verzögerung« den Inn und das Stromsystem der oberen Donau erfaßte.
Denn die wahrscheinlichste Erklärung für die in der Zeit verschobenen
Verläufe der Hochwasser an Niederrhein und Donau/Inn ergibt sich aus der
Zwischenspeicherung großer Mengen an Niederschlagswasser im Eis der Alpengletscher.
Diese wuchsen, wie die Untersuchungen von C. Pfister für die Schweiz gezeigt
haben, im Spätmittelalter sehr stark, allerdings um nach nur einem Jahrhundert
Gletschervorstoß schon wieder zu schrumpfen. Erst nach 1500 setzte ein anhaltendes
Gletscherwachstum ein, das im 19. Jahrhundert den Höchststand erreichte und
danach rasch zu Ende ging. Seither ziehen sich die Gletscher zurück. Auf
die Jahreswasserführung der Alpenflüsse hat das so gut wie keinen Einfluß,
denn der Anteil des Gletscherwassers macht darin nur wenige Prozent aus.
(Ebd., S. 109-111).Aber die Extremhochwasser müssen im Zusammenhang
mit den alpinen Gletschern, den winterlichen Schneemassen und der Eisbildung auf
den Flüssen gesehen werden. Viele der Katastrophenhochwasser der letzten
Jahrhunderte, die zweite Hälfte des 20. ausgenommen, waren spätwinterliche
Eisstoß-Hochwasser gewesen. Sie führten dazu, daß der Rhein über
die Mainmündung hinaus in manchen Jahren noch im April oder sogar Anfang
Mai Eisschollen abtrieb. Damit taucht ein noch komplexerer Zusammenhang zwischen
Hochwasser und klimatischer Änderung auf. In grober Bilanzierung läßt
sich feststellen, daß die warmen Jahrzehnte und Jahrhunderte auch die »guten«
gewesen sind, während die kalten und niederschlagsreichen die schlimmsten
Hochwasser gebracht hatten. (Ebd., S. 111).Werfen wir vor
der Behandlung der Kältewinter und ihrer Auswirkungen auf die Natur Mitteleuropas
noch einen etwas genaueren Blick auf den Zustand der Flüsse in den Jahrhunderten
vor Beginn der Regulierungen durch den Wasserbau. Was kennzeichnete sie damals,
und worin unterschieden sie sich von den heutigen Verhältnissen?
(Ebd., S. 111-112).Zunächst gilt es, ein weitverbreitetes
Mißverständnis auszuräumen. Die Flüsse Mitteleuropas waren
im 19. Jahrhundert vor den ersten Begradigungen und Ausbaumaßnahmen
sicher nicht »im Naturzustand«, wenn damit jener Zustand gemeint sein
sollte, in dem ein Fluß vom Menschen tatsächlich nicht nennenswert
verändert ist. Ihr Fließen war zwar nicht wesentlich reguliert und
ihre Hochwasser auch nicht gelenkt oder gebändigt. Aber dennoch waren längst
so gut wie alle größeren Fließgewässer und die meisten Bäche
nicht mehr »Natur«, auch wenn sie »natürlich« aussehen
mochten. Seit Jahrhunderten waren sie vielfältigen Einwirkungen der Menschen
ausgesetzt. Die Auen wurden genutzt zur Gewinnun von Brennholz und als Weide für
Rinder, Ziegen und Schafe. Sand und Kies wurden entnommen, Uferwege waren angelegt
und als sogenannte Treppelwege auch dazu benutzt worden, mit Pferdegespannen Lastkähne
gegen die Strömung flußaufwärts zu ziehen. Holz wurde geflößt,
und die Flößerei stellte in früheren Zeiten das dar, was heutzutage
die von starken Motoren getriebenen Lastkähne der Binnenschiffahrt sind:
Verkehrsmittel auf Wasserstraßen. Natürlich wurde gefischt. Reusenanlagen
sperrten ganze Flußarme ab. Es gab Korb- und Netzfischerei, Jagd und eine
Wasserverschmutzung, von der wir uns kaum eine Vorstellung machen können.
Aller Unrat, Schmutz und die Fäkalien aus den Städten gingen an den
Flüssen einfach »ins Wasser«. Auch das Vieh, das zur Tränke
kam, hinterließ Exkremente. Wenn wir die heutige Fischproduktion von Flüssen,
die aus den Alpen kommen, und die schon seit Jahrzehnten kein ungeklärtes
Abwasser mehr erhalten, mit den früheren Angaben zum Fischreichtum vergleichen,
scheint etwas grundsätzlich nicht zusammenzupassen. Wo seit geraumer Zeit
ein erwerbsmäßiger Fischfang nicht mehr lohnt und für das Sportangeln
immer wieder neuer »Besatz« aus Fischzuchtanstalten nachgesetzt werden
muß, wimmelte es »früher« nur so von Fischen unterschiedlichster
Arten. Die Fischerei war so einträglich, daß »Fischrechte«
auf Uferstrecken bezogen vergeben worden waren wie Rechte der Flur- und Waldnutzung
an Land. Auch noch die kleinsten Bäche wurden von Fischereirechten erfaßt.
Man faßte sie vielfach als »Verbundrechte« in den sogenannten
Koppelfischereirechten zusammen. Das Privileg zum ausschließlichen Fischfang
auf bestimmten Strecken konnte an Häuser gebunden sein, und es fiel automatisch
den jeweiligen Bewohnern zu, weil diese die dem Haus zugedachte Funktion, etwa
eine Fähre zu betreiben oder einen Uferbereich für das Anlanden von
Schiffen instand zu halten, zu erfüllen hatten. Unterließe man heute
in unseren sauber gewordenen Flüssen und Bächen den Besatz, würden
lange Strecken etwa von Inn oder Isar kaum zum Sportangeln locken. Großartige
Erträge lassen sich auch mit intensiven Besatzmaßnahmen nicht erzielen.
Schuld daran sind keinesfalls die fischefressenden Wasservögel, denn solche
hatte es in früheren Zeiten auch und wahrscheinlich sogar in weitaus größeren
Mengen gegeben als in der Gegenwart. Wo es in unserer Zeit außerordentlich
fischreiche Flüsse gibt, kommen auch Wasservögel in großen Mengen
und eindrucksvoller Vielfalt vor. Wie soll man aber die Chroniken verstehen, die
von Fischzügen solcher Stärke berichten, daß das Wasser schwarz
geworden war, weil die Fische Rücken an Rücken daherkamen? Raubfische,
wie die großen Huchen (Hucho hucho) in der Donau und ihren Nebenflüssen,
erreichten nach heutigen Standards wahre Rekordgrößen. Wanderfische
müssen durch viele Flüsse gezogen sein wie Heringsschwärme im Meer.
Im Hohen Mittelalter war es angeblich den Bürgern in Köln zeitweise
untersagt, den Dienstboten mehr als fünfmal die Woche Lachs zu essen zu geben.
Ob übertrieben oder nicht, daß damals Lachse den Rhein in Mengen hochgezogen
kamen, steht außer Zweifel. Kaum etwas anderes fällt für die früheren
Jahrhunderte so übereinstimmend aus wie die Angaben zum Fischreichtum in
den Gewässern. Kein Fluß, kein See ist davon anscheinend ausgenommen.
Die Chroniken berichten von großartigen Ergebnissen der Netzfischerei. Fisch
als Nahrungsmittel war so begehrt, daß im späten Mittelalter große
Fischteiche und Teichanlagen angelegt wurden, in denen vor allem Karpfen gezüchtet
wurden. Die Aischgründer und die Oberpfälzer Karpfenteiche, die riesigen
Teichanlagen von Mähren und in der Brenne Ostfrankreichs und viele weitere
Fischteiche wurden damals angelegt. Die meisten davon gehen auf Klöster zurück.
Bezeichnungen in der Teichwirtschaft wie »Mönch« zeugen davon.
(Ebd., S. 112-114).In unserer Zeit halten Ringkanalisationen die
meisten Seen sauber. Die menschlichen Abwässer werden über hochwirksame
Kläranlagen gereinigt, und wenn irgendwo Giftstoffe in einen Fluß gelangen,
berichten sogleich die Medien von dieser Umweltkatastrophe. Die Teichwirtschaft
sichert ihre (hohen) Erträge mit massivem Einsatz von Futtermitteln für
die Fische. Ohne diese würde sich heutzutage kaum noch eine rentieren.
(Ebd., S. 114-115). Die Paradoxie dehnt sich sogar noch weiter
aus, wenn wir auch anderes Wassergetier betrachten, das einstens (große)
Bedeutung hatte. Zum Beispiel die Krebs- und die Perlmuschelfischerei. Flußkrebse
gab es bis in das späte 18. Jahrhundert reichlich. Eine Fülle von speziell
auf den Krebsfang ausgerichteten Geräten gibt davon ebenso Zeugnis wie umgangssprachliche
Begriffe. »Krebsrot« zu werden benutzen wir als Zeichen für einen
starken Sonnenbrand. Das wirkliche »Krebsrot«, den nach dem Fluß-
oder Edelkrebs Astacus benannten Farbstoff »Astaxanthin«, kennt
aber kaum jemand aus eigener Erfahrung. Zwar erholen sich in manchen Bächen
die Flußkrebsvorkommen gegenwärtig wieder etwas, aber von früheren
Verhältnissen kann dennoch überhaupt nicht die Rede sein. (Ebd.,
S. 115). Noch schlechter steht es um die Flußperlmuschel
(Margaritifera margaritifera). Allen Bemühungen des Artenschutzes
zum Trotz, die letzten Restvorkommen zu erhalten, sieht es nicht gut aus für
sie. Die Muschelbänke erzeugen kaum noch Jungmuscheln, oder sie haben überhaupt
keinen Nachwuchs mehr. Nun waren aber in früheren Jahrhunderten, als zum
Beispiel im Bayerischen Wald die Glashüttenindustrie Einzug gehalten und
das Gebiet von weit mehr Menschen als heute besiedelt war, die hochgradig giftigen
Abwässer keineswegs geklärt worden. All das, was andernorts Gerbereien
oder Färbereien an Abwässern erzeugten, lief gleichfalls als stinkende
Giftsoße in die Bäche oder Flüsse. Dennoch hatten diese, von örtlichen
Schäden abgesehen, offenbar nicht nur keine geringere Produktivität
als gegenwärtig nach so gründlicher Abwasserreinigung, sondern eine
sehr viel höhere. Fische, Krebse und Muscheln lebten in den Bächen,
Flüssen und Seen in Hülle und Fülle, aber aus hygienischer Sicht
herrschten darin katastrophale Verhältnisse. Warum das so war, wird klar,
wenn man die Vorstellung von »unregulierten Flüssen im Naturzustand«
aufgibt. Zwar hatten die Menschen seit dem Mittelalter wenig sichtbaren Einfluß
auf die Struktur der Wasserläufe genommen, dafür aber umso mehr das
Leben in den Flüssen verändert. Denn die Abwässer von Mensch und
Tier düngten die Fließgewässer ununterbrochen und versetzten von
Natur aus »magere« Flüsse in hochproduktive Zustände. Was
Menschen und Haustiere ausscheiden, steckt voller verwertbarer Nährstoffe,
die keineswegs nur den Böden auf den Fluren als Biodünger zugutekommen
und ihre Erträge heben, sondern auch den Gewässern. Von den organischen
Reststoffen und den Massen von Bakterien, welche die Exkremente durch- und zersetzen,
leben die Kleintiere des Bodenschlammes und der flachen, wenig durchwirbelten
Uferzonen der Gewässer. Voraussetzung für ihr Wirken ist allerdings,
daß reichlich Sauerstoff vorhanden ist oder nach dessen Zehrung durch die
Wasserwirbel rasch genug wieder nachgeliefert wird. Der unregulierte, »offene«
Fluß hatte diese Struktur. Ihre Wirkung wurde sogar noch verbessert, weil
so viele und weitläufige Uferbereiche offen gehalten worden waren. Die Flußauen
dienten seit Jahrhunderten als Weideland. Die uralte Bezeichnung »Aue«
meint »Wasserwiese«. Das Vieh konnte bei drohendem Hochwasser vergleichsweise
rasch auf sicheren Grund herausgeführt werden. Denn die Siedlungen legte
man nicht in den von Überschwemmungen gefährdeten Niederungen, sondern
an deren Rändern an. Heute werden die meisten Flußauen als Ackerland
genutzt. Bei Überschwemmung geht die Ernte buchstäblich zugrunde. Ungleich
besser paßte die Weidewirtschaft zur Wasserdynamik in der Flußaue;
Besiedlung und feste Felder gab es kaum oder nur an solchen Stellen, die selten
genug vom Hochwasser heimgesucht wurden. Die alten Karten zeigen, daß die
Dörfer und Städte im allgemeinen den Flutgrenzen folgten und nicht in
die Überschwemmungsbereiche hineingelegt worden waren. Weidevieh und die
Abwässer der Siedlungen stellten also die Grundlage für die hohe Produktivität
der Flüsse an Fischen und Krebsen, an Muscheln und auch an Insekten dar.
Diese schwärmten in früheren Zeiten in solchen Mengen, daß sich
manchmal zentimeterdicke Schichten von toten Leibern bestimmter Arten von Eintagsfliegen
bildeten. »Uferaas« wurden diese Wasserinsekten genannt, deren Larven
im nahrungsreichen Flachwasser leben und zusammen mit anderen Arten der Gruppen
von Köcherfliegen, Eintagsfliegen und Steinfliegen die wichtigste Nahrung
für viele Fische darstellen. Sie selbst verbrauchen die organischen Reststoffe,
die ins Wasser hineinkommen. Im echten Naturzustand wäre dies der Abfall
an Blättern und anderen Pflanzenteilen aus dem Auwald gewesen, der die Ufer
dicht gesäumt und vor zu starken Abtragungen und Uferverlagerungen geschützt
hatte. Beweidung und Holznutzung degradierte frühzeitig die Auwälder
zu lückigem Buschwerk. Ganz entsprechend sind die Flüsse auf den Bildern
der Landschaftsmaler dargestellt. Es gibt weitflächige Kiesbänke und
vielfach einzeln stehende Baumgruppen, unter denen Hirten und Kühe Schatten
fanden. (Ebd., S. 115-117). Gewiß, die Flüsse,
zumal die größeren, machten unreguliert einen »wilderen«
Eindruck als die begradigten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In diesen
sollte das Wasser möglichst schnell und ungehindert abfließen. Natürlicher
waren sie jedoch dadurch nicht geworden. Der Wasserbau des 20. Jahrhunderts führte
sie dann von einem bereits menschengemachten Zustand in einen anderen über.
Unsere heutigen Vorstellungen von Sauberkeit entziehen den Flüssen die letzten
Möglichkeiten, biologische Produktivität zu entfalten, denn mit dem
Säubern des Abwassers von organischen Reststoffen wird ihnen die Nahrung
genommen. Früher gab es, auf den »Naturzustand« bezogen, viel
zu viel davon, jetzt aber zu wenig. Hieraus erklärt sich sowohl der frühere
Reichtum an Fischen und Krebsen, Perlmuscheln und Massenschwärmen von Eintagsfliegen
als auch ihr heutiger Rückgang oder das weitgehende Fehlen trotz »sauberen
Wassers«. Die organischen Reststoffe hatten den Fischen eine so überreiche
Nahrungsgrundlage an Insektenlarven und schlüpfenden Wasserinsekten geboten,
daß sie nicht in der Lage waren, die Schwärmflüge erkennbar zu
dämpfen. Von den organischen Resten lebten auch die Muscheln, die Perlmuscheln
in den Waldbächen zumal, weil die Täler von Ziegen und auch von Rindern
beweidet worden waren. Das hielt die Ufer der Bäche offen, sonnig und verhinderte,
daß wie gegenwärtig fast nur Nadeln als pflanzlicher Abfall in die
Bäche fallen und diese versauern lassen. Wo Muscheln leben können, gibt
es auch Wasserschnecken, große Würmer und anderes Kleingetier im Wasser,
von dem sich die Krebse ernähren. Sie dürften auch von zahlreichen Tierkadavern
profitiert haben, die früher ins Wasser gelangten. Frösche gab es an
den flachen Buchten, an die das Vieh zur Tränke kam, in großen Mengen.
In den früheren Jahrhunderten kannte man das Phänomen der »Krötenzöpfe«.
Diese entstehen, wenn mehrere Männchen der Erdkröte (Bufo bufo)
ein großes Krötenweibchen klammern und so lange unter Wasser drücken,
bis dieses stirbt und daher keine Abwehrlaute mehr von sich geben kann. Immer
mehr Männchen kommen nun hinzu und klammern ebenfalls, bis ein Gebilde entsteht,
das wie ein aus Kröten gemachter Zopf aussieht. Wo sich Erdkröten zum
Laichen zu Hunderten oder gar zu Tausenden einfinden, kann so etwas geschehen.
Abends schallten dann im Mai und Juni die Chöre der Laubfrösche aus
diesen flachen Ufergewässern kilometerweit übers Land. Die alten Angaben
zu Vorkommen und Häufigkeit sowie über Merkwürdigkeiten allgemein
bekannter Tierarten lassen sich gemäß den heutigen Verhältnissen
oft kaum noch verstehen. Erst wenn wir die früheren Verhältnisse in
der Landnutzung berücksichtigen, ergeben sich sinnvolle Zusammenhänge.
(Ebd., S. 117-118). Eine weitere bedeutsame Veränderung in
der Wasserführung der Flüsse ergab sich natürlich auch aus anhaltenden
Trockenperioden. Solche können kalte Winter mit Dauerfrost, aber auch heiße,
trockene Sommer verursachen. Vor wenigen Jahren hatte der so niederschlagsarme
Hitzesommer von 2003 gleichsam einen späten Nachtrag aus der Frühzeit
des 2. Jahrtausends vorgeführt. Im warmen Hochmittelalter gab es deswegen
kaum Hochwasser, die für wert befunden wurden, in den Chroniken vermerkt
zu werden, weil die Flüsse insgesamt viel weniger Wasser führten. Dieser
Zustand zeigte sich im Hoch- und Spätsommer 2003, als Rhein und Donau und
andere Flüsse in Mitteleuropa auf »Rekordtiefs« abgesunken waren.
Wie schon erwähnt, war der Trockenbau der berühmten Steinernen Brücke
in Regensburg deswegen möglich, weil die Donau damals so wenig Wasser führte.
Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten sich die »üblichen« Verhältnisse
der Wasserführung in der Wärmezeit des Hochmittelalters im Vergleich
zur Gegenwart regelrecht umgedreht: Viel Wasser kam im Winter und wenig im Sommer.
Der Wechsel auf ungefähr heutige Verhältnisse kam mit dem großen
Umschwung der Witterung zu Beginn der Kleinen Eiszeit, als Schnee und Eis dominant
wurden und langer, tiefer Frost das Wasser zurückhielt. Seither führen
viele Flüsse im Winter am wenigsten Wasser. Im Frühjahr steigt mit der
Schneeschmelze und dem Eisaufbruch die Menge rasch wieder an, und zwischen 1500
und 1900 gab es viele sehr schwere »Winterhochwasser«. Die Chroniken
zeigen erstaunlicherweise während der Kleinen Eiszeit auch vermehrt Extremhochwasser
im Spätsommer und Herbst. Die in den letzten 100 bis 150 Jahren gemessenen
Werte für den Jahresgang der Wasserführung unserer Flüsse müssen
deshalb keineswegs »typisch« sein. Die Hochwasser weisen mit Lage
und Stärke auf andere Abflußverhältnisse in früheren Jahrhunderten
hin, deren ökologische Folgen in den Flüssen wir nicht abschätzen
können. Die Wasserbaumaßnahmen änderten auch diese »Vorgaben«
der jüngsten Vergangenheit schon wieder. Das Niederschlagswasser kommt nun
immer schneller aus dem Einzugsgebiet zum Hauptlauf, wo die Scheitelwellen eines
Hochwassers entsprechend steiler auf- und durchlaufen als in früheren Jahrhunderten.
Was im 16. und 17. Jahrhundert noch gar nicht als Hochwasser angesehen worden
wäre, kann nun bereits zum mittleren Hochwasser anschwellen und am Unterlauf
Schäden verursachen. Wo vor den Regulierungen in weit auseinandergezogenen
und verzweigten Flußläufen das ganze Spektrum der Fließgeschwindigkeiten
zwischen Stillstand oder sogar rückwärts gerichteter Strömung bis
hin zu mehreren Metern pro Sekunde vorhanden war, schießt nun der allergrößte
Teil des Wassers durch einen engen Schlauch mit stark überhöhter Geschwindigkeit.
Das hat Folgen für Stärke und Häufigkeit der Überschwemmungen
und für die Sicherheit von Dämmen und Deichen, aber auch für die
ökologischen Vorgänge im Fluß. Die früheren Verhältnisse
sagen uns aber nicht einfach, wie der Fluß seiner Natur nach sein soll(te).
Vielmehr geht aus ihnen nur hervor, wie er einmal (auch) war. (Ebd., S.
118-120). Flüsse sind allerdings von Natur aus auch nicht
»festgelegt« auf bestimmte Zustände, die »richtig«
sind. Sie verändern sich beständig von den Quellen bis zur Mündung
und über die Jahreskreise und die Zeiten. Es gibt keinen Sollwert für
die Wasserführung des Rheins oder der Elbe und auch keinen idealen Verlauf
der Jahresgänge, so wenig, wie es die ideale oder die richtige Witterung
gibt. Anders als die viel beständiger erscheinenden, weil träger reagierenden
Wälder oder die Menschenwelt mit ihren Zielvorgaben drücken die Flüsse
aus, wie sehr die Natur »in Fluß« ist. Darin gleichen sie der
Witterung und dem Klima. Ob sie unnatürliche Extreme bringen, hängt
davon ab, was wir für Vorstellungen damit verknüpfen. Doch genauso unnatürlich
wäre es anzunehmen, daß die Flüsse immer gleich fließen
würden und das Wetter alle Jahre auf dieselbe Weise verlaufen sollte.
(Ebd., S. 120).
Wo ... die Ressourcen reichlich zur Verfügung stehen, vereinheitlicht
die verstärkte Nutzung. Aus Vielfalt wird Einförmigkeit. (Ebd.,
S. 144).Es ist der »Ertrag« der unsere Sicht der Natur
bestimmt! Nach wie vor verhält es sich so. Naturschützer werden für
»Romantiker« gehalten. (Ebd., S. 146).Unsere
Vorstellungen von Natur formten und prägten im 19. Jahrhundert vier geistesgeschichtliche
Hauptströmungen. Sie lassen sich an die Namen von vier Personen binden: Goethe,
Brehm, Darwin und Haeckel. Diese Großen Vier vertreten die idealistische,
die anthropomorphe, die evolutionäre und die ökologische Sicht der Natur.
Idealistisch suchte Goethe nach der »Urpflanze« als dem idealien Bild
oder Typ aller Pflanzen. Für eine noch stark wertende, auf den Menschen bezogene
(also anthropomorphe) Darstellung der Tiere steht Brehms Tierleben. Es
vermittelt neben Kenntnissen zur Lebensweise der Tiere auch viel Moralisches.
Charles Darwin entdeckte mit Variation und natürlicher Auslese (Selektion)
zwei der Hauptursachen des Wandels in der Natur und begründete damit die
biologische Evolution. Mit Darwin kamen Zeit und Veränderung in die Natur.
Ernst Haeckel schließlich stellte die Lebewesen in einen großen Naturhaushalt
hineien. Auf ihn geht die Wissenschaft der Ökologie zurück. Geschichtlich
eingebunden waren sie alle in die Hauptzeit des Kolonialismus. Die Europäer
versuchten in jenem Jahrhundert, sich die ganze Erde zu unterwerfen. Begründungen
hierfür holten sie sich, ganz direkt oder über die Fortschritte ihrer
Naturforschung, auch aus der Natur. Darwins berühmtestes Buch über den
Ursprung der Arten trug im Titel den Ausdruck der »begünstigten Rassen«
(favoured races). Vielleicht ist es nicht allzu überzogen anzunehmen,
daß damit auch einem allgemeinen Gefühl jener Zeit Ausdruck verliehen
worden war, sich als die Erfolgreichsten durchgesetzt zu haben im Überlebenskampf
mit der Natur, die so lange so hart mit den Menschen umgegangen ist. (Ebd.,
S. 147).
Bereits Carl von Linné (und nicht erst Charles Darwin) ordnete
auch den Menschen unter die Tiere ein, und zwar als Gattung Homo zu den »Herrentieren«
(Primaten) in nächster Nähe zu Schimpansen, Gorillas und Orang Utans.
Denn sein System begründete sich eigentlich schon auf der natürlichen
Verwandtschaft nach dem Prinzip von Arten, Fattungen, Familien und noch höheren
Einheiten. .... Zudem gab er den Lebewesen eindeutige Namen mit der Gattung als
Erstname und der Art als Zweitbezeichnung. Der Mensch wurde so zum Homo
(Gattung) sapiens (Art), wie der Hund zu Canis (Gattung: Hunde)
familiaris (Art: Haushund), während der Nächstverwandte (und
Stammvater aller Hunde, wie wir inzwischen wissen), der Wolf, Canis lupus
heißt. Zusammen mit einer ganzen Reihe weiterer Arten, die zum »Typ«
der Hunde gehören, bilden sie die Familie der Hundeartigen (Canidae).
(Ebd., S. 148).Je natürlicher die Städter leben, desto
verklärter wird ihre Sicht der Natur. Ihre Romantik durchdringt von Anfang
an den Naturschutz. Die Landbevölkerung sieht das ganz anders, nämlich
nahezu ausschließlich aus dem Blickwinkel der Nützlichkeit. Daran wird
sich auch nichts wesentlich mehr ändern. (Ebd., S. 154).
Der Katastrophismus ... bekommt ... immer mehr Zulauf. Längst
glauben im (christlichen!) Abendland mehr Menschen an ein katastrophales Ende
als an eine bessere Zukunft. (Ebd., S. 170).Katastrophismus.
Sein Einschüchterungspotential wird gegenwärtig wieder hemmungslos ausgenutzt.
Längst sind ganz natürliche und häufig wiederkehrende Wetterereignisse
zu Katastrophen gemacht worden. In früheren Jahrhunderten hätte man
sie nicht für wert befunden, wie Geburten und Sterbefälle in die Kirchenbücher
eingetragen zu werden. Die Medien nutzen unseren merkwürdigen Hang zu Katastrophen
bekanntlich höchst umfänglich aus und übertreiben in aller Regel
bis an die Grenzen des Zumutbaren und darüber hinaus. Vielleicht äußert
sich darin unsere kindliche Sehnsucht nach Sicherheit, die eine Gesellschaft nicht
mehr bietet, weil sie überaltert ist. Mangels Kinder möchten (zu) viele
selbst kindlich bleiben. (Ebd., S. 185).
Die große Wende löste im Stillen ein herausragender,
bis in die Gegenwart hoch geehrter deutscher Chemiker aus, als er das zugrundeliegende
Prinzip für die Produktivität der Natur erkannte. Justus von Liebig
formulierte es als das (sein) »Minimum-Gesetz«. Danach begrenzt jener
Nährstoff die (landwirtschaftliche) Produktion, der im Verhältnis zu
den anderen benötigten Stoffen im Minimum ist. Das kann etwas so Einfaches
sein wie das fehlende Wasser in der Wüste oder der Mangel an Wärme in
den polaren Regionen. Letztere lassen sich schwerlich heizen. In zu kalten Gebieten
können nur Glashäuser eine gewisse Lösung sein. Die Wüste
kann man bewässern. Das ist seit Jahrtausenden bekannt und vielfach gemacht
worden. Liebigs Leistung lag nun darin, den Schlüssel für die Produktionsverbesserung
gleichsam für das normale Land gefunden zu haben. Die chemische Analyse kann
feststellen, ob der Boden genug Stickstoff- oder phosphorverbindungen, Kalium
oder Eisen enthält, oder wie viel ihm davon, bezogen auf den Bedarf der Nutzpflanzen,
fehlt. Der Mangel läßt sich bestimmen und direkt im Verhältnis
zu den anderen Mineralstoffen messen. Das ermöglicht die richtige Versorgung
mit Kunstdünger. Das Zauberwort zur nachhaltigen und außerordentlich
starken Anhebung der Produktion lautete alsbald »Nitrophoska«. In
diesem Kunstdünger wurden die drei mengenmäßig bedeutendsten Wirkstoffe,
nämlich Stickstoff (Nitro), Phosphor (Phos) und Kalium (Ka), in ziemlich
genau den Verhältnissen geboten, in denen sie von den Kulturpflanzen für
Wachstum und Fruchtbildung benötigt werden. Entsprechend nachhaltig ließ
sich die Produktion, gemessen an Hektarerträgen, in kurzer Zeit steigern.
Sobald Kunstdünger preiswert genug zur Verfügung stand, merkten die
Landwirte, daß sie auch ohne aufwendige Analysen nach dem einfachen Prinzip
»viel hilft viel« ihre Erträge steigern konnten. Großtechnische
Erzeugung senkte die Preise für den Kunstdünger. Die Landwirtschaft
wurde zu einem der Hauptabnehmer von Produkten der chemischen Industrie. Deutsche
Firmen stiegen in die Weltspitze auf, weil in Mitteleuropa bei ziemlich guten
Böden ein Missverhältnis zwischen Produktionsflächen und Bedarf
zustande gekommen war. Die Bevölkerung brauchte weit mehr Nahrungsmittel,
als das Land in der herkömmlichen Weise erzeugen konnte. (Ebd., S.
187-188). Die großtechnische Erzeugung und der großflächige
Einsatz von Kunstdünger veränderten die Lage, aber richtig zur Wirkung
kam dieser erst, als nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Flurbereinigung ein ganz
neuer Anfang gemacht werden konnte. Die beiden Weltkriege hatten die Entwicklung
weitgehend unterbrochen und gleichsam auf den Anfang zurückversetzt. Noch
zwischen den Kriegen bestand die Vollwertdüngung deutscher Flur in einer
Menge von 30 bis 50 Kilogramm Stickstoff pro Hektar und Jahr. So viel gelangt
seit rund 20 Jahren allein auf dem sogenannten Luftweg als Dünger flächig
übers Land. Die Quellen davon sind die modernen Großfeuerungsanlagen,
die bei hohen Betriebstemperaturen Luftstickstoff mitverbrennen und so zu Dünger
aus der Luft werden lassen, aber auch der Autoverkehr, wenn die Motoren in hohen
Drehzahlen laufen. Der direkte Einsatz von Düngemitteln stieg unabhängig
von dieser »Düngung nebenbei« produktionsbezogen stark an. Gegen
Ende des 20. Jahrhunderts übertraf die Bilanz zwischen Ernteentzug und Düngung
fast überall in Mitteleuropa die Grenze von 100 Kilogramm Stickstoff (als
Reinstickstoff gerechnet) je Hektar und Jahr. In den agrarischen Intensivgebieten
verdoppelte sich dieser Überschuß und wurde zur Hauptbelastung für
Boden, Grundwasser und auch der Luft, weil immer größere Mengen organischen
Düngers nicht mehr, wie früher, als Festmist auf die Fluren gebracht
wurde, sondern in Form von flüssiger Gülle. Diese Entwicklung veränderte
das Grundwasser, die Nährstoffgehalte der Böden und über diese
Lebensgrundlagen auch die Artenzusammensetzung und -vielfalt der Fluren weit stärker
als alle früheren »Eingriffe«. Denn nun trat genau das auf, was
der Mangel verhindert hatte. Einzelne Pflanzen, die sehr »wüchsig«
sind und dafür auch reichlich Nährstoffe brauchen, wucherten und erdrückten
die genügsameren und zarteren Arten. Der Stickstoff wurde zum »Erstick-Stoff«
für die Artenvielfalt. Die Vegetation wächst nun seit Jahrzehnten schon
aufgrund dieser Düngung im Frühjahr viel früher und viel dichter
auf als in den »mageren Zeiten«. Bodennah wird es daher im Frühsommer
und Sommer feucht und kühl. Je dichter die Vegetation, desto stärker
wird dieser Abkühlungseffekt. Die wärmebedürftigen Arten nehmen
ab und verschwinden, obgleich »offiziell« das Klima im genau gleichen
Zeitraum wärmer wurde. Doch für die Pflanzen und für die meisten
Tiere zählen nicht die meteorologisch standardisierten Messwerte, sondern
die tatsächlichen Bedingungen in ihren Lebensräumen. Für die Grille
oder für die Raupe am Wiesenboden bleibt das Mikroklima kalt und feucht,
auch wenn einen Dreiviertelmeter darüber, wo die Pflanzendecke endet, schönster
Sonnenschein frühsommerliche Wärme liefert. Nicht das schmelzende Eis
der Gletscher ist, als rein physikalischer Vorgang, maßgeblich für
die Auswirkungen leichter Erhöhungder Durchschnittstemperaturen, sondern
die Art und Weise, wie die Pflanzendecke reagiert. Sie bestimmt in ausgeprägter
Weise die thermischen Lebensbedingungen und damit Mikro- und Mesoklima auf den
kleinen und mittleren Ebenen der Natur. In unserer Zeit drehte die übermäßige
Versorgung des Landes mit Pflanzennährstoffen somit die Verhältnisse
des 19. Jahrhunderts geradezu ins Gegenteil um. Damals wurden, wie schon ausgeführt,
die Fluren schnell aufgewärmt und abgetrocknet, weil sie weithin offen und
intensiv genutzt waren. Jetzt sind sie »zugewachsen«, weil weder Ziegen
noch Schafe oder fleißige Hände jeden Streifen und alle Ränder
frei halten. (Ebd., S. 189-190). Die Städte sind seit
Jahrzehnten »magerer«, artenreicher und vielfältiger als »die
Natur« draußen auf den Fluren. Denn in Städten, Siedlungen und
Industrieanlagen enthalten die Böden inzwischen vielerorts weit weniger Nährstoffe
für das Pflanzenwachstum als die anhaltend überdüngten Felder und
Wiesen. Die Bodenversiegelung mit Pflaster, Beton und Teer leitet das Niederschlagswasser
schnell in die Kanalisationen, so daß sich an vielen Stellen trockenwarme
Verhältnisse halten können. Die Aufwärmung der Gebäude durch
die Heizungen im Winter und die Aufnahme und (nächtliche) Speicherung von
Sonnenwärme im Sommer verstärkt diese Effekte und macht die Städte
zu »Wärmeinseln«. Entsprechend groß ist der Kontrast in
der Artenvielfalt geworden. Das Land verliert sie, während die Städte
umso mehr Arten gewinnen, je größer sie sind. Diese Entwicklung stellt
das Leitbild Artenvielfalt im Naturschutz seit geraumer Zeit grundsätzlich
infrage. Denn es stammt, wie ausgeführt, aus dem 19. Jahrhundert. Die damaligen
Verhältnisse werden jedoch auf absehbare Zeit sicherlich nicht wieder nachzuahmen
(und anzustreben) sein. Das geht allein schon darum nicht mehr, weil der erreichte,
sehr hohe Grad der Selbstversorgung mit den Grundnahrungsmitteln ohne Not nicht
wieder aufgegeben werden wird - und auch nicht mehr aufgegeben werden soll. Zurück
dreht sich das Rad der Zeit ohnehin nicht. Wie groß die Unterschiede zwischen
Stadt und Land in der jüngsten Vergangenheit geworden sind, illustrieren
die nachfolgenden Abbildungen. (Ebd., S. 191). |  Blick
auf München über die Isar um 1820. Gemälde von Ernst Kaiser. Das
Bild zeigt, wie offen und wie intensiv genutzt das Isartal wa1; wo heute der Englische
Garten und die Hirschau dicht bewachsen und eigentlich Hochwald geworden sind. Verteilung
des Artenreichtums von Vogelarten in Mitteleuropa, die in den betreffenden Lebensräumen
brüten, von den Innenstädten übers Land bis zu den für besonders
artenreich zu erachteten Flußauen. Die Befunde zeigen, wie reichhaltig die
Städte im Vergleich zur offenen Flur in unserer Zeit geworden sind. Ähnliche
Verteilungen im Artenreichtum wie bei den Brutvögeln ergeben sich bei
den nachtaktiven Schmetterlingen. Die Verödung der Fluren kommt noch deutlicher
zum Ausdruck. Flächenbilanzierung
der von der modernen Landwirtschaft ausgelösten Veränderungen im Artenreichtum
der Natur Mitteleuropas. Die Werte sind auf die Anteile der jeweiligen Lebensräume
an der gesamten Landfläche Deutschlands bezogen. Rückgang
der Artenvielfalt im Donautal von Regensburg in die offene Feldflur des »Gäubodens«.
Die Befunde (Zahl der Brutvogelarten) sind darin den Erwartungswerten gegenübergestellt,
die sich aus den Größen der untersuchten Flächen errechnen lassen.
Hieraus ergeben sich die Defizite. |
Die Defizite können
direkt berechnet werden, wenn der allgemeine Landesdurchschnitt zugrunde gelegt
wird. Für die Vögel gibt es genügend Befunde, aus denen ein solcher
berechnet werden kann. Danach sind pro Quadratkilometer Landfläche in Mitteleuropa
rund 43 Vogelarten zu erwarten, die auf dieser Fläche auch brüten. Mit
Hilfe einer Formel kann berechnet werden, wie viele Arten von Brutvögeln
auf Flächen unterschiedlicher Größe zu erwarten wären, wenn
diese durchschnittlichen Verhältnissen entsprechen. Die tatsächlichen
Befunde ergeben nun im Vergleich mit den Erwartungswerten das Ausmaß an
erhöhtem oder vermindertem Artenreichtum. Wo die Minderung unter die Grenze
zufälliger Schwankungen abfällt, handelt es sich um echte Defizite.
Solche treten, wie die Abbildung zeigt, ganz besonders auf den großflächig
landwirtschaftlich genutzten Fluren auf, während die Städte allgemein
über dem Durchschnitt liegen und oft einen Artenreichtum erreichen, wie er
in hochwertigen Naturschutzgebieten auftritt oder erwartet wird. Da nun aber der
gesamte Siedlungsraum, einschließlich der Industrieflächen, mit seinem
beträchtlichen Artenreichtum in Mitteleuropa nur rund 10 Prozent der Landesfläche
einnimmt, die Wälder mit geringen Defiziten an Diversität gut 30 Prozent
und die agrarisch genutzte Flur aber 55 Prozent ausmachen, während Naturschutzgebiete
und die besonders artenreichen Truppenübungsplätze oder weitere »Restflächen«
geringer Nutzungsintensität die restlichen 5 Prozent stellen, kommt insgesamt
der in »Roten Listen gefährdeter Arten« dokumentierte, so starke
Artenschwund zustande. Hauptverursacher ist die quasiindustrielle Landwirtschaft
mit ihrer Überdüngung und der zu ihrer Leistungssteigerung durchgeführten
Vereinheitlichung der strukturellen Verhältnisse auf den Fluren. Die in den
Abbildungen dargestellten Befunde drücken dabei gar nicht einmal den
Vergleich mit dem 19. Jahrhundert aus, sondern lediglich die relativen Verhältnisse
in der Gegenwart. Sofern zu Vorkommen und Häufigkeit der Arten vor 150 Jahren
brauchbare Angaben vorliegen, ergibt sich ein gewaltiger Artenschwund für
die Fluren. Denn diese waren damals die besonders artenreichen Lebensräume
gewesen und nicht die Städte. Pflanzen und Tiere der Fluren stellen daher
auch die weitaus höchsten Anteile in den »Roten
Listen«. Sie schwanken zwischen gut 50 und über 90 Prozent
bei den Rückgängen. Die »Roten Listen der gefährdeten Arten«
wurden auch immer länger, weil die Intensität der agrarischen Bewirtschaftung
zunahm, und nicht kürzer, weil Maßnahmen des Artenschutzes wirksam
geworden wären. Solche kamen nur wenigen Arten zugute, und zwar fast ausnahmslos
solchen, die früher intensiv verfolgt worden waren und nun geschützt
sind. Diese Zusammenhänge sind vielfach schon ausführlich beschrieben
worden. Hier geht es darum, eine Gesamtbilanz zu ziehen. (Ebd., S. 191-194).
Diese Gesamtbilanz ergibt für den flächengrößten
Anteil der mitteleuropäischen Landschaften, die Flur, die ganz starken Rückgänge
der Artenvielfalt und die größte Belastung des Landes. Die Entwicklung
führte in weniger als einem halben Jahrhundert vom Mangel zur massiven Überdüngung.
Diese, im internationalen Fachjargon Eutrophierung genannte Überversorgung
von Böden und Gewässern mit mineralischen und organischen Nährstoffen
stellt eines der wichtigsten Kennzeichen der Natur des 20. Jahrhunderts europaweit
dar. Doch auch in weiten Regionen der übrigen Welt schreitet die Eutrophierung
fort. Sie ist eine der Hauptquellen für klimawirksame Gase wie Methan und
Ammoniak, und sie wird im Zusammenhang mit den Klimaveränderungen aus anderem
Blickwinkel wieder aufgegriffen. Ausgelöst wurde sie von der Erfindung des
Kunstdüngers. Dieser machte Deutschland (später auch einige weitere
große Staaten Europas) zum Exporteur von landwirtschaftlichen Produkten
auf dem Weltmarkt. Die davon entscheidend mitdiktierten Preise nehmen Einfluß
auf die weitere Intensität der Produktion in Europa wie auch auf die übrigen
Produktionsgebiete global - mit ganz gewaltigen Folgen für die Natur und
für das Klima. Umgekehrt bedeuteten Kunstdünger und Ertragssteigerungen
natürlich die ungleich bessere Lösung der ... vorhandenen Versorgungsproblematik.
.... Verbesserte landwirtschaftliche Produktion und Zurückdrängung des
Hungers stabilisierten so dann die Weltlage ... gewiß mehr als alle politischen
Aktivitäten. Eine Zunahme der Nahrungsproduktion in diesem Ausmaß und
in so kurzer Zeit hatte es vorher noch nie gegeben. (Vgl. Klaus Hahlbrock, Kann
unsere Erde die Menschen noch ernähren?, 2007.). Die »Grüne
Revolution« entspricht in mancher Hinsicht der »Neolithischen Revolution«
mit der Entwicklung des Ackerbaus .... Nichts veränderte im ganzen letzten
Jahrtausend die Natur in Europa und darüber hinaus weltweit so sehr wie die
industrialisierte Landwirtschaft. Der globale »Impakt« der Industrie
bleibt weit hinter dem der Landwirtschaft zurück. (Ebd., S. 191-197).
Die Flußfischbestände erholten sich ... in solchen Flüssen
am besten, die wie der Rhein zwar viel Industrie in seinem Lauf, aber keine großflächigen
landwirtschaftlichen Intensivgebiete im Einzugsbereich haben. (Ebd., S.
208).Wer den Unterschied zwischen »physikalisch« und
»biologisch« nicht berücksichtigt, kommt nicht nur in Gefahr,
mit seinen Beurteilungen falschzuliegen, sondern gerät rasch in die Zone
des Unseriösen. (Ebd., S. 213).Was bedeuten die Befunde
von mehr als 200 Jahren Wetterverlauf am nördlichen Alpenrand? Lasen wir
extreme Einzelereignisse beiseite, so geht aus ihnen zunächst hervor, daß
die weit verbreitete Annahme, das Klima wäre in Mitteleuropa seit dem 19.
Jahrhundert kontinuierlich wärmer geworden, schlicht und einfach falsch ist.
Der ganze schwache Trend mag sich rein statistisch absichern lassen, aber er ist
für die Natur gänzlich bedeutungslos. (Ebd., S. 213).
In den 100 Jahren seit dem letzten markanten Minimum der Mitteltemperaturen
ergibt sich rein rechnerisch eine Erwärmung um gut ein halbes Grad Celsius.
Ob diese leichte Erhöhung des Durchschnittswertes, die kurz vor Ende des
20. Jahrhunderts nach Schönwiese (1995 **)
gerade wieder die anfängliche Höhe ausgangs des 18. Jahrhunderts erreichte,
für unsere Natur von Bedeutung war, ist nach den Darlegungen im letzten Kapitel
fraglich. Wahrscheinlich ist sie das nicht. Doch seit dem letzten großen
Kältewinter 1962/63 stiegen die Globaltemperaturen in einem, wie es
bei den meisten Klimaforschern heißt, »noch nie dagewesenen Ausmaß«
und mit »einzigartiger Geschwindigkeit« an (z.B. Graßl, 2005
**). Zwar
widerlegen die Eisbohrkerne aus Grönland und die Befunde zum Ende der letzten
Eiszeit beide Ansichten ganz klar, weil es damals in ähnlich kurzen Zeiten
sogar Temperaturanstiege von 7 Grad Celsius und mehr gegeben hatte, aber das hält
offenbar nicht davon ab, daß die »noch nie dagewesene Geschwindigkeit
der Erwärmung« in unserer Zeit öffentlich verbreitet und vielfach
wiederholt wird. Unbeschadet der klimageschichtlichen Fragwürdigkeit solcher
Feststellungen, die auf komplexen Annahmen und Umrechnungen, nicht aber auf direkten
Messungen, etwa der Temperaturentwicklung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts,
beruhen, wirft die jüngste Erwärmung die Frage auf, welche Auswirkungen
sie tatsächlich hatte. Es ist hierzulande üblich geworden, bei der Diskussion
der Folgen der Erwärmung, wie auch in anderen Fällen, in denen es um
den »globalen Wandel« geht, die angeblichen oder tatsächlich
vorhandenen konkreten Beispiele von möglichst fernen Orten heranzuziehen,
während das, was vor Ort, in der Region, geschah, ausgeblendet bleibt. Denn
das örtliche Geschehen sei ja unbedeutend. Nun sollte zwar die gleiche Argumentation
auch für das örtliche Geschehen andernorts gelten, aber auch dies wird
in der Regel ignoriert, weil sich das Ferne, falls überhaupt nur wenigen
Bekannte leichter aufbauschen und übertreiben läßt als das in
der Nähe Liegende, zu dem es jede Menge direkter Erfahrungen und Befunde
gibt. Die Wirbelstürme in der Karibik oder in Ostasien gelten sodann als
Kronzeugen für den Klimawandel, der bei uns stattfindet. Aber auch die jüngsten
Überschwemmungen in Mitteleuropa schiebt man nunmehr ganz selbstverständlich
auf den Klimawandel, auch wenn die sachverständigen Hydrologen klar feststellten,
daß die Ursachen in der Verbauung der Bäche und Flüsse und in
der viel zu schnellen Ableitung des Niederschlagswassers aus der Landschaft liegen
und darin, daß unseren Flüssen keine Überschwemmungsflächen
mehr zur Verfügung stehen. Mit dieser Vorgehensweise entledigt man sich vor
Ort ganz bequem der Verantwortung, entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen,
denn der Klimawandel sei eben ins Laufen gekommen, nicht mehr zu stoppen, höchstens
noch im Ausmaß der Erwärmung zu begrenzen, aber nicht »dingfest
zu machen«. Verursacher sind nun alle und nicht mehr diejenigen, für
die man die Flüsse so eingeschnürt hat, daß jeder mittlere Niederschlag
schon zu einem Hochwasser führt. Es kann auch den Kommunen keine Schuld zugewiesen
werden, wenn sie Baugebiete in den früheren (und als solchen bekannten) Überschwemmungsgebieten
der Bäche ausgewiesen hatten und damit Geld verdienten. Die alten Siedlungen
hielten sich an die Überschwemmungsgrenzen. Ganz normale Wetterereignisse,
wie längere Zeiten niederschlagsreichen und kühlen Sommerwetters oder
trockenheißer Wochen, werden nun als Naturkatastrophen erfolgreich beklagt,
weil die davon Beeinträchtigten ihre Einbußen an den günstigsten
Erträgen von Ernten bemessen und sich vom Steuerzahler »ausgleichen«
lassen. Global tatsächlich ablaufende Vorgänge werden so für eigennützige
Zwecke benutzt und mißbraucht. Denn die zahlende Allgemeinheit glaubt sich
schuld daran, daß das Wetter so verlief, wie es verlaufen ist. Der Naturschutz
bedient sich der ganz gleichen Art der Argumentation. Gerdezu begierig schlachtet
er Katastrophen aus, die gar nicht stattgefunden haben. (Ebd., S. 215-217). | 
|
Die
meisten der auffälligen und eine besondere »Besorgnis« hervorrufenden
Naturereignisse beruhen aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht auf der globalen
Klimaerwärmung, sonder auf der in etwa 11-jährigem Rhythmus schwankenden,
dabei sich aber verstärkenden oder sich abschwächenden Aktivität
der Sonne. Gemessen wird sie am Ausmaß der Sonnenflecken. Mit diesem Zyklus
verbinden sich direkt oder über die ökologischen Vorgänge, die
Zeit in Anspruch nehmen, etwas verzögert die markanten Schwankungen in Vorstößen
oder Häufigkeit vieler Tiere, vor allem solcher, die in höheren Breiten
leben. Auch Zyklen massenhafter Fruchtansätze bei Bäumen und Sträuchern
gehören dazu. Der gegenwärtig, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, festgestellte
Rückgang der Sonnenaktivität hat offenbar auch den Erwämungstrend
seit der Jahrtausendwende zumindest gestoppt, wenn nicht sogar wieder etwas rückläufig
werden lassen. Darüber zu urteilen, wäre verfrüht, denn erst wenn
ein neuer Aktivitätszyklus der Sonne beginnt, wird sich zeigen, ob eine nennenswerte
Minderung des globalen Temperaturanstiegs zustande gekommen ist. Die »Kleine
Eiszeit«, insbesondere ihre besonders kalten Abschnitte, fallen demnach
genau in Phasen stark verminderter Sonnenfleckenaktivität, während das
mitelalterliche Klima-Optimum wie unsere letzten Jahrzehnte von hoher Aktivität
gekennzeichnet ist. Nun soll damit keineswegs der globale Klimawandel infrage
gestellt werden. Vielmehr geht es darum, weil die Veränderung des Klimas
ein großes Problem ist, das ganz erhebliche Folgen nach sich ziehen wird,
die Diskussion zu versachlichen und auf die wesentlichen Vorgänge zu konzentrieren.
Falsche oder unsinnige »Zusammenhänge«, die konstruiert worden
sind und für die nur ein Zweck erkennbar ist, nämlich den Menschen Angst
zu machen, müssen unbedingt vermieden werden, um die Glaubwürdigkeit
zu wahren. Darin liegt auch die tiefe Verpflichtung der Forschung. (Ebd.,
S. 229-233).
Es ist den Naturschützern gelungen, Beaduern und Betroffenheit
zu wecken, wenn weitere Rückgänge oder Verluste festgestellt werden
mußten. Der andere Ansatz des Schutzes agiert mit Angst und Schuld. »Wir sind / ihr seid schuld, daß sich dieses oder jenes Schlimme ereignet hat oder
kommen wird!« Das wirkt ..., weil Fernwirkungen am wenigsten nachprüfbar
sind. Nichtfaßbares wie Klimawandel und »Global Change«, Themen
also, in die alles hineingepackt werden kann, was sich auch nur in irgendeiner
Weise verändert, bieten die besten Möglichkeiten, Ängste zu schüren
und Schuldgefühle zu erzeugen. Das war in alten Zeiten nicht anders als heute.
Natur- und Umweltschutz nutzen Zukunftsängste umfänglich. Die Anfälligkeit
der Menschen für Drohungen ist offenbar seit Urzeiten ziemlich gleich geblieben.
Und wie im späten Mittelalter werden auch heute »Ablaßzahlungen«
eingefordert und fast ohne Gegenwehr geleistet. Sie reichen von den Spenden für
den Naturschutz und der (nicht selten ganz klammheimlich privaten) Unterstützung
aggressiver Umweltaktivisten bis hin zu den Umwelt- und Klimasteuern, auch wenn
deren völlige Unwirksamkeit offensichtlich ist. Aber das schlechte Gewissen
wird beruhigt. (Ebd., S. 234-235).Nur fällt es dem staatlichen,
noch mehr aber dem in Verbänden organisierten Naturschutz sehr schwer, die
vielen und höchst beachtlichen Erfolge zu verkünden, obgleich es sie
gibt und obwohl der private Naturschutz wirklich stolz auf das unter solch widrigen
Rahmenbedingungen Erreichte sein kann. Viele Arten haben kräftig zugenommen,
vor allem größere Säugetiere und Vögel, die früher verfolgt
worden waren und nun seit Jahrzehnten geschützt sind. In Mitteleuropa leben
gegenwärtig mehr Großvögel und größere Säugetiere
als seit vielen Jahrhunderten. (Ebd., S. 237).Der Bevölkerung
wird ein ziemlich verzerrtes Bild vom tatsächlichen Zustand unserer Natur
vermittelt. In weiten Bereichen Mitteleuropas gibt es inzwischen, abgesehen von
wenigen, mit gewisser Berechtigung als gefährlich eingestuften Großraubtieren
(Braunbär, Wolf), wieder das nahezu gesamte Spektrum an Säugetieren
wie vor 200 oder 250 Jahren. Die meisten kommen sogar erheblich häufiger
vor als in früheren Jahrhunderten. Neue Arten kamen hinzu, so daß auch
bei den Säugern, wie bei den Vögeln, die Gesamtbilanz nach 100 Jahren
positiv aussieht. Mit den paar noch fehlenden »Großen« würden
wir durchaus auch leben können .... (Ebd., S. 243).Zusammengefaßt
bedeutet dies, daß für die größere Tierwelt, insbesondere
für Säugetiere und Vögel, unsere Zeit nicht die schlechteste ist.
Viele Arten treten viel häufiger auf als früher. Manche, die am Rand
der Ausrottung waren, kommen ... bei uns in Deutschland längst wieder in
gut gesicherten Beständen vor. Anzuführen sind hierzu neben den fast
überall so erfolgreich wiedereingebürgerten Bibern und den »an
den Grenzen im Osten stehenden« Elchen, die wohl bald, wie schon nach Österreich,
auch nach Deutschland kommen werden, insbesondere Großvögel wie Kranich
(Grus grus), Schwarzstorch (Ciconia nigra), Seeadler (Haliaaetus
albicilla) und Fischadler (Pandion haliaetus). Die beiden letzteren
kommen nach weltweiten Maßstäben in Ostdeutschland inzwischen in den
größten örtlichen Beständen überhaupt vor. Ihre Brutvorkommen
weiten sich aus. Bei See- und Fischadler ist zu erwarten, daß sie in naher
Zukunft in Deutschland schon mit jeweils 500 Brutpaaren vertreten sein werden.
Der Niedergang des Weißstorchs (Ciconia ciconia) konnte in den letzten
beiden Jahrzehnten erfolgreich gestoppt und offenbar in eine Wiedererholung des
Bestandes umorientiert werden. Steinadler (Aquila chrysaetos) besiedeln
den deutschen Alpenrand Revier an Revier, und auch die größte Eule,
der Uhu (Bubo bubo) gehört zu den Gewinnern im Artenschutz. Mancher
Fluß hat wieder Lachse (Salmo salar) oder Huchen (Hucho hucho)
und an der deutschen Nordseeküste entwickelte sich nach Einstellung der Jagd
der Bestand des Seehundes (Phoca vitulina) im Wattenmeer steil aufwärts.
Ausflügler können die zunehmend vertrauter werdenden Robben nun wieder
an zahlreichen Stellen bewundern. Der Naturschutz hat sich gelohnt. Er war erfolgreich,
und die Anstrengungen, das Erreichte zu erhalten, müssen fortgesetzt werden.
Die Nutzungsinteressen anderer bedrängen die meisten der häufiger gewordenen
Arten schon wieder. Die tatsächlich starken Rückgänge bei vielen
kleinen Arten, die ... von sonnigen, trockenen und »mageren« Lebensräumen
abhängen oder denen die Moore und Sümpfe trockengelegt und in fettes
Agrarland umgewandelt wurden, bilden die Verlustseite in der Entwicklung im Artenspektrum
der Tiere und Pflanzen in Mitteleuropa. Die Bestandserholungen und Zugewinne gerade
bei den größeren und auffälligeren Arten schlagen als Gewinne
zu Buche. Die Natur Mitteleuropas ist im 20. Jahrhundert, vor allem in dessen
zweiter Hälfte, sicherlich sehr stark verändert worden. Aber unsere
Tier- und Pflanzenwelt stellt keinen hoffnungslosen Fall dar. Wir kennen die Gründe
der Gefährdung und könnten diese daher, anders als das Wetter und das
Klima, an geeigneten Orten und im nötigen Umfang durchaus gezielt ändern.
(Ebd., S. 243-244).
Die tropischen Regenwälder waren nach dem nordischen Nadelwald,
der Taiga, die sich über den borealen Bereich von Eurasien und Nordamerika
erstreckt, bis in die jüngste Vergangenheit die größten Wälder
der Erde. Noch um die Mitte des 20. Jahrhunderts
bedeckten die tropischen Regenwälder, fast unangetastet, eine Fläche
von rund 12 Millionen Quadratkilometern (**).
Zur Jahrtausendwende, also nur 50 Jahren später, war davon bereits etwa die
Hälfte vernichtet. Satellitenaufnahmen, die seit den 1990er Jahren mit guter
Auflösungsqualität vorliegen, belegen, daß seit 1994 allein im
Regenwald Amazoniens pro Jahr zwischen 1,5 und 3 Millionen Hektar abgeholzt und
abgebrannt worden sind. Eine derart hohe Entwaldungsrate hatte es nur während
der Vernichtung der Wälder in den heutigen USA etwa zwischen 1750 und 1900
gegeben. Dieser Waldvernichtung fiel der Laubwald der gemäßigten Klimazone
Nordamerika bis auf wenige Prozent Restvorkommen zum Opfer. Die jährliche
Rodungsrate bewegte sich damals im Durchschnitt zwischen 0,7 und 1 Prozent pro
Jahr; in Brasilien liegt sie für die letzten 50 Jahre bei 2,2 Prozent pro
Jahr. Europa hatte seine bewaldeten Landschaften im Verlauf von 1500 Jahren mit
einer Geschwindigkeit von 0,1 bis höchstens 0,3 Prozent pro Jahr verändert.
Die größten historischen Rodungen fanden ... im frühen Mittelalter
statt. Der gegenwärtige Waldbestand macht in Mitteleuropa rund ein Drittel
der Landesfläche aus. Dieser Wert liegt höher als in Brasilien, das
mit dem größten Anteil an den amazonischen Regenwäldern auch der
Hauptakteur in der Tropenwaldvernichtung ist. Von 1990 bis 1995 rodete Brasilien
allein 128000 Quadratkilometer .... (Ebd., S. 245-246). |  Bevölkerungswachstum
pro Jahr und Fläche der Waldvernichtung pro Jahr (in 1000 km²) in den
12 Ländern mit der größten Tropenwaldvernichtung Ende des 20.
Jahrhunderts.
 Die
Wachstumsraten der Bevölkerung und die Raten der Waldbevölkerung ergeben
für die 12 bedeutendtsen Tropenländer keinen statistischen Zusammenhang..
|
Amazonien
enthält (enthielt) mit etwa 55 Prozent mehr als die Hälfte aller Regenwälder
der Tropen. Der Fläche nach folgt Afrika mit dem Kongobecken. Teile der südostasiatischen
Inselwelt bedeckt gleichfalls (noch) Regenwald. Die bedeutendsten Flächen
finden sich auf Neuguinea und Borneo. Die südasiatischen Regenwaldreste sind
hingegen so klein, daß sie in der globalen Bilanz in den Schwankungsbereichen
der regionalen Angaben für die großen Regenwaldgebiete verschwinden.
Von den 12 Ländern mit den größten Verlusten an Tropenwäldern
seit den 1990er Jahren liegt mit Brasilien, Bolivien, Venezuela, Mexiko und Paraguay
die Mehrzahl im tropischen Amerika. In Afrika trugen nur der Kongo und der (südliche)
Sudan stark zur Tropenwaldvernichtung bei; in Südostasien Indonesien, Malaysia
und Thailand. Doch während in diesen Ländern der asiatischen Regenwaldzone
durchschnittlich fast 100 Menschen pro Quadratkilometer leben, sind es in den
amazonischen Regenwaldländern, wo die größte Waldvernichtung stattfindet,
nur 16 und in Afrika 21 Menschen pro Quadratkilometer. Zum Vergleich: In Deutschland
leben lm Durchschmtt 233 Menschen je Quadratkilometer, im südasiatischen
Bangladesch 825 und in Indien derzeit etwa 300. Damit entfielen pro Brasilianer
0,75 Hektar vernichteter Regenwald von 1990 bis 1995, aber nur 0,25 Hektar pro
Einwohner in Indonesien und 0,08 im Kongo im selben Zeitraum. Der Kongo hatte
aber einen Bevölkerungszuwachs von 3,2 Prozent pro Jahr, Indonesien von 1,7
Prozent und Brasilien von 1,4 Prozent. Somit stehen Bevölkerungszuwachs und
Bevölkerungsdichte in keinem (positiven) Zusammenhang zur Rate der Waldvernichtung.
.... Aus diesen Daten geht somit klar hervor, daß kein Zusammenhang besteht
zwischen der Bevölkerungszunahme und dem Ausmaß der Waldvernichtung.
Das Land mit der mit weitem Abstand größten Vernichtungsrate, Brasilien,
hat mit nur 20 Menschen pro Quadratkilometer zudem bloß ein Fünftel
der Besiedlungsdichte der Nummer 2, lndonesien, mit über 100 Menschen pro
Quadratkilometer. Mit der üblichen Ansicht, die Tropenwälder würden
dem Bevölkerungswachstum der Menschheit zum Opfer fallen, weil sich diese
seit 1950 von 2,5 Milliarden auf nunmehr schon 6,4 Milliarden vergrößert
hat (**),
stimmen diese Befunde also nicht überein. (Ebd., S. 246-247).Welche
Gründe gibt es dann? Bevor diese Frage behandelt wird, sollte jedoch geklärt
werden, warum man sich überhaupt so sehr über die Tropenwaldvernichtung
sorgt, wo doch, wie oben ausgeführt, die USA in den beiden vorletzten Jahrhunderten
in noch viel größerem Umfang ihre Wälder (abgesehen von Alaska)
vernichtete und in Europa sowie anderen Regionen der Erde die Entwaldung längst
Geschichte ist. Eine häufig vorgebrachte Begründung, die tropischen
Regenwälder seien die Lungen der Erde, die dafür sorgen, daß wir
genügend Sauerstoff haben, stimmt so nicht. Tatsächlich erzeugt ein
ausgewachsener Tropenwald wie jeder andere Wald auch, der keinen Zuwachs mehr
hat, kein bißchen Sauerstoff. Denn dieselbe Menge, die tatsächlich
bei der Photosynthese von den Blättern oder Nadeln abgegeben wird, verbraucht
der ausgewachsene Wald wieder für Atmung und Zersetzung der erzeugten Stoffe
im Boden. Nur wachsende Wälder können in der Nettobilanz Sauerstoff
freisetzen und im Gegenzug Kohlenstoff aus der Atmosphäre (in Form von CO2)
aufnehmen und binden. Ansonsten gibt der Wald auch wieder das CO2 ab,
das er aufgenommen hat. Insofern stimmt der Vergleich mit der Lunge nur halb.
Diese atmet letztlich dieselbe Menge Kohlendioxid aus, wie sie Sauerstoff aufnimmt.
In anderer Hinsicht spielt der Vergleich aber durchaus eine Rolle. Da in nur 50
Jahren etwa die Hälfte der Tropenwälder vernichtet worden ist und davon
der weitaus größte Teil ihrer pflanzlichen Masse (Biomasse) verbrannt
wurde und in Rauch aufgegangen ist, ohne daß entsprechende Mengen durch
nachwachsende Vegetation wieder der Luft entnommen worden wären, trug ihre
Vernichtung sehr stark zur Zunahme von CO2 und Ruß in der Atmosphäre
bei. Wie schon ausgeführt, übertrifft die Verbrennung von Tropenwäldern
und Savannen jedes Jahr den gesamten Umsatz von Energie in Deutschland ganz erheblich.
Die Vernichtung der Tropenwälder trägt gleich in dreifacher Weise zur
Belastung der Erdatmosphäre bei, nämlich durch die direkte Aufheizung
mit der von den Bränden freigesetzten Wärme, durch die CO2-Abgabe
und durch die Erzeugung von riesigen Mengen Methan (CH4) durch die
Rinder und Termiten, die auf den solcherart geschaffenen oder »verbesserten«
Weideflächen leben. Rinder und Termiten liefern mehr als die Hälfte
des Methans, das als Treibhausgas in die Atmosphäre gelangt und dort über
20-mal stärker als das Kohlendioxid wirkt. Im Gegensatz zu diesem, das bekanntlich
Hauptnährstoff für die Pflanzen ist, wird Methan nur von wenigen spezialisierten
Bakterien verwertet, die für den Menschen keine Rolle spielen. (Ebd.,
S. 247-249).Hinzuzufügen ist weiterhin, daß sich großflächige
Rodungen in den Tropen selbstverständlich auch weit stärker aufheizen
als die Wälder, die es vorher an ihrer Stelle gegeben hatte. Man kennt dies
aus eigener Erfahrung von der Kühlwirkung des Waldes an heißen Tagen.
Die Verdunstung von Wasser, die Transpiration, durch die Bäume bewirkt eine
starke Kühlung. In den Tropen kann sie mehr als l0°C ausmachen. Gleichzeitig
erzeugt dieses transpirierte Wasser immer wieder Wolken und Niederschläge,
so daß sich große tropische Regenwälder zu einem Gutteil selbst
mit Wasser versorgen. In Oberamazonien stammen bis über 80 Prozent des Niederschlagwassers
aus diesem sogenannten kleinen Kreislauf. Er setzt das vom Atlantik mit den Passatwinden
antransportierte Wasser mehrfach um, bis es wieder über den Amazonas zum
Ozean zuruckfließt. Werden zu große Waldflächen vernichtet und
in Weideland oder Sojafelder umgewandelt, nehmen infolgedessen die Niederschläge
ab, während sich gleichzeitig die Atmosphäre weit stärker als über
Wald aufheizt. Es scheint zwar noch nicht ganz geklärt zu sein, ob die Vermutung
zutrifft, daß die Häufigkeit der Tropenstürme und Hurrikane in
der Karibik mit der zunehmenden Aufheizung der inneren Tropen mit den großflächigen
Waldrodungen zusammenhängt. Zahlreiche gute Indizien sprechen jedoch dafür.
So wie wir umgekehrt inzwischen auch wissen, daß die Tropenwälder Amazoniens
deshalb existieren und ihre unvermeidbaren Verluste an mineralischen Nährstoffen
ausgleichen können, weil die Passatwinde Nährstoffe aus der Sahara herüberwehen.
Die amazonischen Wälder wachsen nämlich fast überall auf äußerst
unfruchtbaren Böden, die außer Sand und Kaolinit kaum weitere Mineralien
enthalten. Globale Zusammenhänge gibt es also sehr wohl in den Tropen - wie
auch in außertropischen Regionen. Wo die natürlichen Transportwege
nicht ablaufen können, hat der Mensch inzwischen neue geschaffen. Gegenwärtig
fließt ein gewaltiger Strom von Nährstoffen aus den südamerikanischen
Tropen nach Europa und ernährt das Vieh in den Ställen. Europäische,
vor allem auch deutsche und französische Rinder »fressen Tropenwälder
auf«, weil für unser Stallvieh dort die Futtermittel angebaut werden,
die hier nicht zur Verfügung stehen. Denn unsere Viehbestände sind viel
zu hoch für eine Selbstversorgung auf mitteleuropäischem Weideland oder
mit heimischem Futtergetreide. Die Mast von Geflügel kommt mit weit über
100 Millionen Hähnchen allein in Deutschland hinzu. Der Nutzviehbestand übertrifft
hierzulande das Lebendgewicht aller Menschen um das Drei- bis Fünffache.
(Ebd., S. 249-250).Unsere Massentierhaltung könnte ohne die
Importe von Futtermitteln, die auf ehemaligen Tropenwaldflächen erzeugt werden,
nicht existieren. Deshalb trifft uns der zweite Vorwurf, der mit der Tropnewaldvernichtung
verbunden wird: Vernichtung der Biodervisität. Schon die ersten Naturforscher,
die sich intensiver mit den Tieren und Pflanzen der Tropenwälder befaßten
(allen voran: Alexander von Humboldt; HB), waren
von deren Artenfülle beeindruckt. Sie schien unerschöpflich, weil überall,
wo sie genauer suchten, neue Arten zu entdecken waren. Daran hat sich bis heute
kaum etwas geändert. Denn auch heute kann nicht einmal eine ungefähre
Abschätzung vom Artenreichtum der Tropen vorgenommen werden. Verschiedene
Hochrechnungen ergaben Werte zwischen 5 und mehr als 30 Millionen unterschiedlicher
Arten. Bekannt und wissenschaftlich beschrieben sind aber bislang nur 1,8 Millionen
Arten. Wenn auch in gemäßigten Breiten, die auf jeden Fall viel artenärmer
als die Tropen sind, Jahr für Jahr neue Arten erkannt werden, so weiß
man doch hier ganz gut Bescheid. In den Tropen gibt es jedoch zehn- bis hundertmal
mehr als in unseren Breiten. In mitteleuropäischen Wäldern wachsen pro
Quadratkilometer zwischen 5 und 20 verschiedene Arten von Holzgewächsen (Bäume
und sträucher), sofern es sich um Mischwälder handelt und nicht um gepflanzte
Einheitsforste. In tropischen Regenwäldern können auf dem Hundertstel
eines Quadratkilometers, einem Hektar, aber mehrere hundert verschiedene Arten
von Holzgewächsen vorkommen. In Amazonien und in Südostasien wurden
über 500 Arten von Bäumen und Lianen auf einem Hektar ermittelt. Vogelarten
gibt es doppelt bis viermal so viele pro Quadratkilometer wie in unseren Wäldern,
Schmetterlingsarten aber hundertmal mehr. Doch diese Vielfalt verbindet sich ...
mit Seltenheit. Die meisten Arten der Tropen sind nach europäischen oder
nordamerikanischen Standards selten bis sehr selten. Schon die frühen Naturforscher
stellten zu ihrer Verwunderung in unberührten Regenwäldern fest, daß
es viel leichter ist, zehn verschiedene Arten von Schmetterlingen zu sammeln als
zehn Exemplare einer einzigen solchen Art. In dieser Seltenheit liegt die Verletztlichkeit
des tropischen Artenreichtums. Die seltenen Arten sterben viel schneller aus als
die häufigen, und sie sind, was noch bedeutsamer ist, oft sehr kleinflächig
verbreitet. Vielfach bilden die Arten so etwas wie ein höchst kompliziertes
Mosaik, in dem jedes Steinchen eine Art mit winzigem Verbreitungsgebiet repräsentiert.
Wird so ein Steinchen entfernt, kommt diese Art unter Umständen nirgendwo
mehr vor. Die Forscher, die sich mit der tropischen Biodiversität intensiv
befassen, rechnen deshalb mit immensen Artenverlusten, weil auf den gerodeten
Flächen viele Arten vorgekommen sein dürften, die nun nicht mehr existieren.
Man hat mit den örtlichen Waldflächen auch ihren Lebensraum vernichtet.
Hieraus kann man die schon angedeuteten Hochrechnungen anstellen. Sie ergeben
für die derzeitige Vernichtungsrate tropischer Wälder Größenordnungen
von einer aussterbenden Art pro Stunde bis zu 500 Arten täglich. Wie viele
es wirklich sind, weiß niemand, weil die ausgerotteten Arten nicht bekannt
sind. Ihre Anzahl hängt entscheidend da von ab, welche Größenordnung
für den globalen Artenreichtum insgesamt zugrunde gelegt werden muß.
Die Angaben aus dem internationalen Naturschutz sind somit keine wilden, grundlosen
Schätzungen oder gar haltlose Vermutungen, sondern Rechenergebnisse auf einer
nicht hinreichend bekannten Basis. Sicher können wir nur sein, daß
es ein großes Artensterben in unserer Zeit gibt. Wie groß es ist,
könnten wir rasch erfahren, wenn ein paar Prozent der Geldmengen, die in
den Weltraum geschossen werden, der Erfassung der Lebensvielfalt der Erde zur
Verfügung gestellt würden. (Ebd., S. 251-253).Bei
diesem errechneten Artensterben in den Tropen handelt es sich daher um etwas grundsätzlich
anderes als bei den »Rote
Liste«-Arten in Deutschland und anderen Gebieten Europas. Die
allermeisten Pflanzen- und Tierarten kommen weit verbreitet in Europa und Asien
vor. Der Artenschutz beklagt ihr örtliches oder regionales Verschwinden,
nicht ihr generelles Aussterben, wie es den großen Walen drohte oder dem
Großen Panda, allen noch lebenden Arten der Nashörner und den fast
2000 verschiedenen Vogelarten, die vor allem in Amazonien und Südostasien
direkt vom Aussterben bedroht sind. (Ebd., S. 253).
In einer anderen Weise stehen die Tropenwälder in bemerkenswertem
Zusammenhang mit Mitteleuropa. Denn eine Form der Ausbeutung ist noch nicht aufgeführt
worden: Tropenholznutzung. Tatsächlich gibt es vier Hauptursachen der Tropenwaldvernichtung.
(1) Die erste und am besten bekannte ist der Eigenbedarf
der Menschen in den betreffenden Ländern. Roden, um Siedlungsland zu gewinnen,
das war überall das primäre Ziel der Umwandlung von Wäldern. Kleinflächig
und ohne nennenswerte Auswirkung auf die Größe der Tropenwälder
und auf ihren Artenreichtum wurden die Rodungen als Brandrodung schon seit Urzeiten
der Besiedlung durch Menschen betrieben. Die kleinflächige Nutzung im Wanderfeldbau
hatte die Regenwaldbewohner auch mit den Eigenschaften der Waldböden vertraut
gemacht. Daher kommt es nicht von ungefähr, daß bis in die Mitte des
20. Jahrhunderts die amazonischen Regenwälder fast unangetastet geblieben
sind, obwohl Brasilien und Peru schon erheblich länger als etwa Nordamerika
von Europäern besiedelt und kultiviert worden sind. (2)
Die zweite Ursache war und ist die Holznutzung. In den Tropenwäldern wachsen
Edelhölzer mit sehr hartem, gegen Termiten und Pilze widerstandsfähigem
Holz. Die Holzhärte weist übrigens darauf hin, daß diese Bäume
ziemlich langsam wachsen und nicht einfach unter tropischer Wärme und Feuchtigkeit
in die Höhe schießen. Sie gleichen mehr unseren Eichen, die sie allerdings
an Holzhärte noch weit übertreffen, als den schnellwüchsigen Kiefern
oder gar den Pappeln. Die mageren Böden der Regenwälder lassen kein
stürmisches Wachstum zu, außer sie sind jungen vulkanischen Ursprungs
und enthalten entsprechend reichlich mineralische Pflanzennährstoffe. Härte
und Formstabilität machen Tropenhölzer begehrt - auch in den außertropischen
Gebieten sowie für den Schiffsbau. Daher wurde in Zentralafrika weit mehr
Tropenwald gerodet, als die dortige Bevölkerung brauchte, um Bananen oder
Cassava anzupflanzen. Die tropischen Edelhölzer waren und sind das Ziel des
Holzeinschlags. Weltfirmen haben sich Konzessionen dazu gesichert. Auch in Indien,
wo es zwar seit gut 100 Jahren Plantagen für die Erzeugung von Teakholz gibt,
und in Südostasien bildet die meist raubbauartige Gewinnung tropischer Edelhölzer
den Hauptgrund der Waldzerstörung. Dort hat jedoch eine andere Nutzungsform
(3) als dritter Grund in den vergangenen Jahrzehnten
an Gewicht gewonnen: die Errichtung von Ölpalmenpflanzungen. Palmöl
wird von den Industrienationen für chemische und pharmazeutische Zwecke gebraucht.
(4) Der vierte Grund schließlich ist die Umwandlung
der Regenwälder in Rinderweiden und Sojafelder. Die mittel- und südamerikanischen
Tropenwälder sind davon bei weitem am stärksten betroffen. Mit Ausnahme
des ersten Grundes, der sich ausschließlich auf die örtlichen, bedürftigen
Bevölkerungen bezieht, sind die Industrienationen an allen anderen massiv
beteiligt. Sollten sie nicht in ihren Wäldern genügend Ressourcen haben,
um den Holzbedarf zu decken?! Der Verbrauch ist aber so groß, daß
das Holz aus den eigenen Wäldern nicht annähernd ausreicht, obgleich
es bis in die letzten Jahre kaum noch zum Heizen verwendet wurde. Zunehmend werden
in unserer Zeit Wälder des Nordens, in Nordwestrußland und in Ostsibirien,
für die Holzgewinnung genutzt. Schutzorganisationen befürchten, daß
nach den großen Kahlschlägen in den Tropen nun noch größere
in den borealen Wäldern bevorstehen, weil diese pro Quadratkilometer weit
weniger Bäume tragen als die dicht bewachsenen Tropenwälder. Noch
scheint die Taiga unerschöpflich mit ihren 15 Millionen Quadratkilometern
Nadelwald (**).
Doch das Schicksal der Laubwälder im östlichen Drittel der USA mahnt
zur Vorsicht. Was dort mit damals noch technisch primitiven Mitteln in eineinhalb
Jahrhunderten vollzogen wurde, wäre gegenwärtig schon in einigen Jahrzehnten
möglich. Die Maschinen stehen dafür zur Verfügung -und die Abnehmer
auch. Denn Holz ist ein gefragter Naturstoff. Den nordischen (borealen) Nadelwäldern
wird zwar weniger Aufmerksamkeit zuteil, weil sie recht einförmig aussehen
und im Vergleich zu den Tropenwäldern auch nicht mit eindrucksvoller Biodiversität
aufwarten können, aber mit den in deutschen Forsten vorherrschenden Fichtenmonokulturen
sind sie keinesfalls gleichzusetzen. Auch die Taiga hat ihren spezifischen, unersetzbaren
Artenreichtum. Und sie bedeckt in riesigen Bereichen Sibiriens insbesondere Bodenschichten,
die weder das in ihnen gebundene Kohlendioxid noch das Methan in den Sümpfen
freigeben sollten. Denn die dortigen Massen an potentiell klimabeeinflussenden
Gasen sind so groß, daß sie alle Anstrengungen zum Klimaschutz bedeutungslos
werden ließen, so sie in den kommenden Jahrzehnten in die Atmosphäre
gelangten. Winterfrost und ununterbrochen kalte Klimaverhältnisse speicherten
Massen von organischem Material und entziehen so den Kohlenstoff, der darin gebunden
vorliegt, dem Gaskreislauf der Atmosphäre. In den Tropen wachsen die Bäume
fast überall auf Böden, die kaum Humus haben und die daher auch nichts
freisetzen können. In den Tropenwäldern ist es der Wald selbst, der
in die Berechnungen zu den Belastungsfolgen mit einbezogen werden muß, während
in den nordischen Nadelwäldern die Böden und die teilweise sehr tiefgründigen
Sümpfe dazukommen. (Ebd., S. 254-256).In einer Hinsicht
ähneln die nordischen Wälder aber denen in den feuchten Tropen: Auf
den weitaus größten Flächen ihres Vorkommens lassen sie sich kaum
oder nur sehr schwer nachpflanzen. Bei den Tropenwäldern geht das Pflanzen
besonders schlecht. Deshalb scheiterten auch die mit vielen Millionen Dollar ausgestatteten
Plantagenprojekte in Brasilien, wie »Fordlandia« (vom Autokönig
Henry Ford in den 1930er Jahren) und am Jarí mit den Gmelina- und
Pinus(caribaea)-Pflanzungen des Milliardärs Ludwig. Die Tropenwaldverluste
bleiben daher in der Flächenbilanz unserer Zeit Verluste, weil sie nicht,
wie bei unseren Wäldern geschehen, in großem Umfang wieder aufgepflanzt
werden können. Kaum besser gedeihen gepflanzte Forste allerdings auch in
der borealen Waldzone. Sie lassen sich daher gleichfalls nicht mit dem vergleichen,
was die europäische Forstwirtschaft in den mittleren Breiten während
der zwei oder drei letzten Jahrhunderte erreichte. Unsere tatsächlich von
deutschen Forstleuten begründete nachhaltige Forstwirtschaft konnte sich
auf zwei besonders günstige Gegebenheiten stützen. Die eine liegt in
den Böden, die viel besser für den Waldbau als die tropischen und borealen
Böden geeignet sind. Der zweite Vorteil kam dadurch zustande, daß einige
ziemlich robuste Baumarten vom so wechselvollen Klimaverlauf der vergangenen Jahrtausende
ausgelesen worden waren, die sich durch eine vergleichsweise große Bandbreite
an Toleranz gegenüber den Faktoren der Umwelt auszeichnen. Die in dieser
Hinsicht beiden wichtigsten Baumarten wurden auch die »Brotbaumarten«
der europäischen Forstwirtschaft, die Fichte (Picea abies) und die
Waldkiefer (Pinus silvestris). Mit ihnen konnten im späten 18. und
im 19. Jahrhundert regelrechte Monokulturen begründet werden, die sogar leicht
in sogenannten Altersklassen aufwachsen und häufig aus einem einzigen Klon
sind. Ein Klon bedeutet, daß es sich um die Samen eines Baumes handelt,
so daß alle gepflanzten Jungbäume »Samengeschwister« sind
und sich folglich genetisch wenig voneinander unterscheiden. Die große genetische
Vielfalt der europäischen Baumarten, die, wie oben schon betont, den Härtetest
starker Umweltveränderungen in den letzten Jahrtausenden hinter sich haben,
ermöglichte es der Forstwirtschaft, besonders schnellwüchsige oder ertragreiche
Sorten und Klone zu wählen. Unsere Wälder entsprechen daher weit mehr
dem auf ähnliche Weise strenger Selektion des Saatgutes unterworfenen Getreide
als einem Naturwald mit hoher innerer Vielfalt an Arten und genetischen Linien.
Das macht sie anfällig. (Ebd., S. 256-257).Europas Forste sind
zwar produktiv, aber zu einheitlich, um den Angriffen gewachsen zu sein, die seitens
der Insekten, Pilze oder auch von der Witterung auf sie einwirken. Besonders deutlich
wurde dies um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und in dessen ersten Jahrzehnten,
als auf Hunderten oder Tausenden von Quadratkilometern Insektenkalamitäten
die jungen Forste heimsuchten. Es gab Massenvermehrungen von Kiefernspinnern (Dendrolimus
pini), Kiefernspannern (Bupalus piniarius) und sogar von den großen
Kiefernschwärmern (Hyloicus pinastri), der auch Tannenpfeil genannt
wurde. Riesige Schäden richteten Nonnenfalter (Lymantria monacha)
und in den Eichenwäldern die Eichenwickler (Tortrix viridiana) an.
Kiefern-, Fichten- und Eichenforste waren jeweils am stärksten betroffen.
Die Schäden reichten von Beeinträchtigungen des Holzzuwachses bis hin
zu so intensivem Kahlfraß, daß die Bestände abstarben und der
Wald nachgepflanzt werden mußte. In Laubwald- und Obstbaugebieten kamen
in den 1930er und ganz besonders stark wieder in den warmen Sommern Ende der 1940er/Anfang
der 1950er Jahre Maikäferkalamitäten hinzu. Auslöser waren sowohl
die braunen Waldmaikäfer (Melolontha hippocastani) als auch die gewöhnlichen
Feldmaikäfer (Melolontha melolontha). Viele weitere Insektenarten
und dazu diverse Pilze wie die schon für die Kartoffelkrise im 19. Jahrhundert
verantwortliche Kartoffelfäule durch Phytophthora-Pilze traten massiv
als Schädlinge auf. Borkenkäfer (Ipidae, insbesondere Ips
typographus) sorgen bis in die Gegenwart für Schlagzeilen, weil sie rasch
ganze Bestände befallen und die Bäume bis zu deren Absterben schädigen
können. In Mitteleuropa entwickelte sich ein besonderer Zweig der Forstkunde,
genannt Waldhygiene. Zum Schutz des Waldes wurden besonders die Großen Roten
Waldameisen (Formica rufa) geschützt; Lockstoffallen (Pheromonfallen
mit dem artspezifischen Sexuallockstoff) wurden entwickelt, um rechtzeitig Bestandszunahmen
bei den Schädlingen zu bemerken. Ab einer Häufigkeitsschwelle wurde
dann Gift angewandt. Es kam zum großen, aber recht kurzen
Siegeszug von DDT (Dichlordiphenyltrichloräthan), das als umfassendes Insektizid
wie ein Wundermittel zur Vernichtung der Malariamücken in den Tropen, der
Obstbauschädlinge in den Gärten, der Läuse, Flöhe und Wanzen
in den Häusern und eben auch der Schadinsekten in den Wäldern eingesetzt
wurde. Schon in den 1950er Jahren traten die verheerenden Nebenwirkungen deutlich
zutage. .... Schließlich ... wurde DDT verboten .... (Ebd., S. 257-259).Am
Grundproblem, an den Monokulturen, änderte man fast nichts. Vielartige Mischwälder
wären weit weniger schädlingsanfällig. Auch gegen Stürme,
Waldbrände und jene neue Gefährdung, die im letzten Drittel des 20.
Jahrhunderts zu einer Großkatastrophe aufgebauscht worden war, waren sie
widerstandsfähiger: das Waldsterben. (Ebd.,
S. 260).In den 1970er und 1980er Jahren traten in den mitteleuropäischen
Wäldern an vielen Bäumen Schäden auf, die große Besorgnis
bei den Waldbesitzern und Staatsforsten auslösten. Bei den Fichten lichteten
sich die Kronen, die Zweige hingen lamettaartig nach unten, die Nadeln verbräunten
vorzeitig und fielen ab. Solcherart stark geschädigte Bäume hatten geringen
Holzzuwachs oder gar keinen mehr, bevor sie dem Eindringen von Borkenkäfern
zum Opfer fielen und vollends starben. Ein System der Ermittlung der sogenannten
neuartigen Waldschäden wurde von den Forstdiensten eingerichtet und danach
alljährlich ein Waldschadensbericht vorgestellt. Verursacher war, darüber
herrschte schnell Einigkeit, die Luftverschmutzung. Merkwürdigerweise war
sie zwar viel schwächer als im 19. Jahrhundert geworden, als noch überall
die Schlote rußten und schwarzer Rauch den Himmel über England oder
dem Ruhrgebiet verdüsterte. Aber der Autoverkehr hatte zugenommen. Die Natur-
und Umweltschützer erklärten ihn zum Feind Nr. 1. Das Waldsterben bestätigte
ihre schlimmsten Befürchtungen. Bei der raschen Zunahme der Schadensgrade,
was allerdings hauptsächlich darauf beruhte, daß immer mehr und immer
»genauer« beurteilt wurde, prognostizierten einige Waldschadensforscher
öffentlich ein Ende des deutschen Waldes zum Ende des 20. Jahrhunderts. Denn
dann würde, so die damals in den Medien bereitwilligst verbreitete Befürchtung,
in Deutschland kein Wald mehr stehen. Viele Millionen D-Mark Forschungsgelder
flossen in die Waldschadensforschung. Kritiker, wie der renommierte Münchner
Botaniker Prof. Otto Kandler, fanden kein Gehör, denn der Tod des (deutschen)
Waldes war längst beschlossene Sache. (Ebd., S. 260-261).Der
Reihe nach hielt man das Schwefeldioxid (S02), stickstoffverbindungen
(NOx) und Ozon (03) für die Hauptschuldigen, verursacht
vom Autoverkehr. Aus allen Anschuldigungen wurde nichts, denn der deutsche Wald
geruhte nicht zu sterben. Vielmehr hatte er Ende der 1990er Jahre, als es um sein
Sterben allmählich stiller wurde, je näher der vorausgesagte Tod heranrückte,
massiv an Holzvorrat und sogar auch an Fläche zugelegt. Die Düngung
aus der Luft, die jahrzehntelang mit 30 bis 50 Kilogramm Stickstoff pro Hektar
und Jahr auf ihn niederging, ließ ihn schneller wachsen und machte manche
Bäume wohl auch wegen der erhöhten Wachstumsgeschwindigkeit anfälliger.
Trockenheit und Kälte waren dazugekommen. Die ganze Palette von Widrigkeiten
stand der Wald durch, verstärkt umsorgt von der Forstwirtschaft, die natürlich
Verluste befürchtete (und auf öffentliche Unterstützung hoffte).
Inzwischen kümmert sich in der Öffentlichkeit jedoch kaum noch jemand
um die alljährlichen Waldschadensberichte. Der Bevölkerung war offenbar
auch mit der Zeit aufgegangen, daß die Bäume in den Städten mit
ihrer schlechten Luft recht gut wuchsen und daß selbst der extrem trockene
und heiße Sommer 2003 den meisten Bäumen und den Wäldem nicht
sehr viel hatte anhaben können. Damit geriet der Umweltschutz als äußerst
erfolgreiche Bewegung ... zunehmend in Bedrängnis. Die Zeit des sich Erfüllens
vieler Prognosen war gekommen, aber die Befürchtungen traten nicht ein. Tiefes
Mißtrauen ist aufgekommen. Verhält es sich wirklich so mit der Natur
und mit unserer Umwelt, wie die Umweltaktivisten das behaupten und in ihren Weltuntergangsszenarien
immer wieder und immer schlimmer herbeibeschwören? War das 20. Jahrhundert,
zumal seine zweite Hälfte, wirklich die schlechteste Zeit, die überwunden
werden mußte oder die jetzt in eine noch viel schlimmere Zukunft überleitet,
weil mit dem globalen Wandel und der Klimaerwärmung nichts mehr kalkulierbar
sein wird? (Ebd., S. 261-262).
Wie die persönliche und häusliche Hygiene zu den besonders
fortschrittlichen Leistungen des 19. Jahrhunderts gehört, so kennzeichnet
der Umweltschutz als Hygiene unserer Umwelt das 20., insbesondere die zweite Hälfte
davon. Zwar rauchten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Fabrikschlote
schon nicht mehr so stark wie zu Beginn der Industrialisierung, aber die Luft
wurde dennoch rasch wieder schlechter, nachdem sich der Rauch der Bomben und der
Staub aus dem Schutt der im Krieg vernichteten Städte wieder verzogen hatte.
Höhere Kamine schickten nun die Rauchfahnen in höhere Luftschichten
und verteilten die Belastungen. Doch ging das nur bei den großen Fabriken
und Heizkraftwerken, nicht aber bei den Kaminen der Häuser, aus denen während
der Heizperiode, vor allem bei winterlicher Kälte mit Hochdruckwetterlagen,
stinkender Kohlerauch hervorquoll und mit dem Nebel Smog bildete. Wo schwefelreiche
Braunkohle verheizt wurde, wie insbesondere in der DDR, schädigte dieser
saure Rauch, aus dem sich »saurer Regen« entwickelte, die Atmungsorgane
der Menschen. In der Natur draußen zerstörte er die Flechten und stellenweise
die Bäume und die ganze übrige Vegetation. Dennoch war es nicht die
Luftbelastung mit ihren offensichtlichen Folgen für Menschen und Natur, die
Anlaß zum Umweltschutz gab und diesen zu einer weltumspannenden Bewegung
werden ließ, sondern die Vergiftungen, die von Produkten der Chemie ausgingen.
Der Fall des DDT wurde ... bereits angeführt.
Schließlich löste er die Abkehr vom naiven Glauben an die Wundermittel
der Chemie aus. Rasch zeigten die eingeleiteten Untersuchungen, wie allgegenwärtig
vom Menschen freigesetzte Giftstoffe in den Böden, im Wasser und auch in
der Nahrung geworden waren. Die Chemie hatte sich in wenigen Jahrzehnten zu einer
globalen Gefahr entwickelt. Plötzlich wurde klar, daß es um ernsthafte
Bedrohungen und nicht mehr um Kurioses ging, wie man solches in England entdeckt
und auch in den westdeutschen und belgischen Industriegebieten bestätigt
gefunden hatte. Dort war, beginnend im 19. Jahrhundert, eine seltene Form (eine
Mutante) des häufigen Birkenspanners (Biston betularius) immer öfter
aufgetreten. Schließlich war die grauweiße, nur fein schwarz gesprenkelte
Normalform die Rarität. In Experimenten konnte gezeigt werden, daß
Vögel die schwarze Form auf verrußten Stämmen bei weitem nicht
so leicht entdecken wie die sich stark abhebende helle Form und umgekehrt, wenn
die normalfarbenen Birkenspanner auf dem ihrer Flügelgrundfarbe entsprechenden
Bewuchs aus Flechten ruhen. Damit zeigte eine eklatante Umweltveränderung
erstmals in der Natur die Wirkung der von Charles Darwin entdeckten natürlichen
Selektion. Als 100 Jahre später, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, die Luft
fast keinen Ruß mehr enthielt und die starke Verminderung von Schwefeldioxid
das Flechtenwachstum nicht mehr hemmte, nahm die ursprüngliche Form des Birkenspanners
wieder zu und verdrängte die schwarze Mutante. Diese hatte auf geänderte
Umweltbedingungen genauso reagiert, wie das nach Darwin zu erwarten gewesen war.
Aber ausgestorben ist der Birkenspanner deswegen nicht. Als Art hatte er sich
lediglich an die neuen Verhältnisse angepaßt. Solche Erkenntnisse beunruhigten
daher nicht allzu sehr. Sie waren etwas für die Lehrbücher und die Evolutionsbiologen.
Die Öffentlichkeit brauchte sich nicht betroffen zu fühlen. Erst als
immer mehr Gifte an immer ungewöhnlicheren Stellen, bis hin zur Muttermilch,
wie oben ausgeführt im Fall des DDT,
festgestellt wurden, weil die Analysetechniken entsprechend verfeinert worden
waren, reagierten breite Kreise in der westlichen Bevölkerung. Auf anfängliche
Irritationen und frühe Proteste folgte eine politische Umweltbewegung, an
der weder die Industrie noch die Politiker vorbeikamen. Doch hier geht es nicht
um eine Kurzfassung der Geschichte der Umweltbewegung, sondern um die Frage, wie
stark Technik, Chemie und motorgetriebener Verkehr tatsächlich die Natur
verändert und beeinträchtigt hatten. Merkwürdigerweise gibt es
dazu nur wenige Befunde, die eindeutig genug sind. Deshalb werden die bekannten
Fälle wiederholt, wie das DDT, während
andere Umweltbelastungen vielfach in der Grauzone blieben, die sich zwischen »möglich«,
»wahrscheinlich« und »sicherlich« ausbreitet, jedoch bei
genauerer Betrachtung eigentlich nur Messergebnisse geliefert hatten. Was besagten
aber so und so viele (wenige) »ppm« oder »ppt« wirklich?
Ppm steht für Teile pro Million (parts per million), ppt entsprechend
pro Trillion. Als Mengen sind sie so unvorstellbar winzig, daß sie die eindrucksvolle
Kleinheit der Zahl wieder groß macht. Die Anreicherung über die Nahrungsketten
wurde zum Paradebeispiel für die Wirkung solcher Stoffe in der Natur, die
nach ihrer Freisetzung keineswegs verschwinden, sondern irgendwo in unvorhersagbarer
Weise weiterwirken und ihr Unwesen treiben. Das Grundschema ist einfach: DDT
(oder Reste polychlorierter Biphenyle, abgekürzt PCB genannt) gelangt ins
Wasser (oder in den Boden). Dort wird es von Mikroorganismen aufgenommen oder
einfach an deren Oberfläche angelagert. Winzig, wie diese sind, benötigen
größere Lebewesen, die sich davon ernähren, Tausende solcher Feinstteilchen.
Damit reichern sie deren Konzentration schon auf das Tausendfache oder noch stärker
an. Zu Tausenden werden die Kleinlebewesen nun von größeren, etwa von
Klein- oder Jungfischen, verzehrt. Von diesen ernähren sich, wiederum Hunderte
benötigend, größere Fische. So geht es weiter bis zu großen
Raubfischen, Fisch- und Seeadlern, Robben oder den Menschen, die sich von Fischen
ernähren. Am Ende kommt eine millionenfache Anreicherung zustande. Die Stoffe
haben nun eine Konzentration erreicht, von der echte Gift- oder Schadwirkungen
ausgehen. Der biologische Verstärkermechanismus der Nahrungskette hat das
bewirkt. Die starke Abnahme zahlreicher Tierarten, vor allem großer Säugetiere
und Vögel, wurde auf diese Giftanreicherung zurückgeführt. Doch
es war schwer, ihre Bestandseinbrüche oder ihr regionales Verschwinden allein
damit zu begründen, weil andere Veränderungen abliefen und das Ausmaß
der direkten Verfolgung oft die größere Rolle spielte. Hilfreich erwiesen
sich Vergleiche zwischen den Kontinenten. So wurden in Nordamerika große
Greifvögel wie die Weißkopfseeadler (Haliaaetus leucocephalus),
der Wappenvogel der USA, und die Fischadler oder die Pelikane praktisch nicht
bejagt. In weiten Teilen ihres Vorkommens waren und sind diese Großvögel
daher ähnlich vertraut wie in Europa die Weißstörche. Auch bei
Großsäugern gibt es entsprechende Unterschiede zwischen anhaltend starker
Bejagung mit dem Zweck des »Kurzhaltens« oder nur kurzzeitiger, an
der Bestandsentwicklung orientierter Nutzung oder gar keiner jagdlichen Verfolgung.
Diese Vergleiche zeigten, daß häufig die direkten Verfolgungen weitaus
entscheidender als die Umweltgifte waren, weil sie die gesunden, kräftigen
und Überschüsse produzierenden Bestände (auch) betroffen hatten
und nicht nur die ohnehin schon geschädigten Tiere. Daher erholten sich nach
dem DDT -Verbot die davon tatsächlich
stark betroffenen Arten in Nordamerika viel schneller als in Europa. Hier wurde
insbesondere bei der »Wieder«(?)-Vereinigung
Deutschlands und dem Fall des Eisernen Vorhangs deutlich, wie groß der Unterschied
zwischen »West« und »Ost« geworden war. Der Artenschutz
hatte sich auf die großen Arten konzentriert und war entsprechend erfolgreich.
Wo sich Biber ansiedelten, war nicht zu befürchten, daß sie gleich
wieder vertrieben oder getötet würden. Bären und Wölfe, Elche
und Luchse überlebten in den Wäldern, in denen nicht wie in Westdeutschland
und Österreich private Jagdrevierinhaber möglichst keine Verluste an
»ihrem« Wild hinnehmen wollten. Auf stark belasteten, nach westlichen
Maßstäben vergifteten Flächen, deren Boden unter die Sondermüllverordnung
gefallen wäre, entwickelten sich besondere Gesellschaften seltenster Pflanzen.
Kleintiere, allen voran die Insekten und die Kriechtiere, profitierten von der
Tatsache, daß solche belasteten Flächen von Intensivnutzungen frei
waren. Im Westen gab es zwei Parallelen. Die eine bilden die Bahnhöfe mit
ihren Gleisanlagen, die andere die Truppenübungsplätze. Wo die Natur
wohl am stärksten denaturiert worden war, auf den Gleiskörpern und ihrem
Umfeld in den (Groß-)Städten, und wo auf den Truppenübungsplätzen
regelmäßig »Krieg gespielt« wurde, ging es vielen ansonsten
bedrängten Arten am besten. Es war zwar folgerichtig und im Interesse der
Menschen notwendig, die Belastungen von Nahrung, Luft und Wasser mit Schadstoffen
zu vermindern und möglichst ganz auszuschalten, aber diese Vorgehensweise
des Umweltschutzes bedeutete keineswegs automatisch, daß damit alle Probleme
in der Natur gelöst worden wären. (Ebd., S. 262-267).So
teilte sich die Welt in der Anfangszeit der Ära des Umweltschutzes global
gesehen in zwei Großbereiche. Der fortschrittliche Westen, der dank seiner
Wirtschaftskraft zumindest partiell die Belastungen nachhaltig vermindern konnte,
und der große Rest, von dem manche geradezu das Recht auf Umweltverschmutzung
einforderten, um in der Entwicklung nachziehen zu können. Die Wirkungen auf
die Natur, auf die Lebensräume von Tieren und Pflanzen, standen - und stehen
- dabei so gut wie nie zur Debatte. Wir stünden sonst ziemlich schlecht da.
Denn unsere Erfolge im Umweltschutz schlagen sich bei weitem nicht so in der Umwelt
nieder, in der nicht nur wir, sondern auch Pflanzen und Tiere leben, wie sie das
sollten und wie es von der Bevölkerung, die für all diese Verbesserungen
sehr viel gezahlt hat, erwartet wird. Wie bereits ausgeführt, gehen die Hauptbelastungen
in den mitteleuropäischen Landschaften von der Landwirtschaft aus. Es sind
die von ihr ausgelöste Überdüngung und die Hilfsstoffe, die ins
Grundwasser und in die Oberflächengewässer gelangen, an denen der Umweltschutz
nicht angreifen kann, weil die Landwirtschaft von den Einschränkungen und
Gegenmaßnahmen ausgenommen blieb. Zwei Hinweise sollen dies verdeutlichen.
So müssen alle 83 Millionen Menschen in Deutschland ihr persönliches
Abwasser einer höchst kostspieligen Reinigung in modernsten Kläranlagen
unterziehen lassen, während die drei- bis fünffache Menge, die von den
Schweinen, Rindern und anderen Nutztieren erzeugt wird, gänzlich ungeklärt
auf die Fluren gelangen darf und dort als »Wertstoff« eingestuft wird.
Wenn, wie in den letzten Jahren immer wieder einmal geschehen, von einem chemischen
Betrieb ein paar Kubikmeter eines »die Atemorgane reizenden Gases«
austreten oder eine chemische Substanz gar in den Rhein gelangt, wird dies in
den Hauptnachrichten im Fernsehen der Öffentlichkeit als Umweltkatastrophe
kundgetan. Daß Mitteleuropa mehrfach im Jahr mit drei Schwerpunkten im zeitigen
Frühjahr, im Hochsommer und im Spätherbst, fürchterlich zum Himmel
stinkt, weil die Gülle ausgebracht wird, ist keiner Erwähnung wert.
Ein halbes Jahrhundert Umweltschutz ging einher mit einer Entwicklung der Landwirtschaft
zu industriebetriebsgleicher Bewirtschaftung. Die traditionell als Industrien
eingestuften Betriebe wurden strengen Auflagen unterworfen, die industrialisierte
Landwirtschaft jedoch nicht, obgleich sie mit Abstand am stärksten in der
Fläche wirkt. Wer immer das für sinnvoll oder unumgänglich halten
mag, muß umgekehrt begründen, warum die Einschränkungen für
die klassischen Industrien und für die Bevölkerung insgesamt zumutbar
gewesen sind. Auf welcher Basis wird geurteilt? An dieser Frage drückt sich
das Kernproblem des Umweltschutzes aus. Die Standards sind menschengemacht. Sie
ergeben sich nicht von selbst aus der Natur. Denn diese ist nicht, wie von der
großen Mehrzahl der Natur- und Umweltschützer angenommen wird, ein
geschlossenes, wohlgeordnetes Haus der Natur, sondern offen und veränderlich.
Urteile von vorgestern stellen sich häufig genug als Vorurteile heraus. Das
wäre nicht weiter schlimm, könnten wir die Vorurteile im Bedarfsfall
rasch wieder korrigieren. Doch dem ist nicht so. Der Umweltschutz liefert zu dieser
gänzlich ungelösten Problematik jede Menge Beispiele. So war es nicht
möglich, bei der »Wieder«(?)-Vereinigung
Deutschlands westliche Standards schnell und realitätsbezogen an die ostdeutschen
Verhältnisse anzupassen. Ostdeutschland, Tschechien und Polen waren uns offenbar
zu nah. Sie sollten durch Umweltstandards »werden wie wir«. Was China
macht, interessiert viel weniger. Sicher ist es richtig, daß Umweltschutz
in manchen Bereichen einen globalen Ansatz nötig hat. Die Luft zirkuliert,
ohne sich an Grenzen zu halten. Die Reichweite beim Wasser ist schon beschränkter,
wenn es sich um ein Flußsystem handelt, oder bleibt lokalisiert, wie im
Fall von Seen. Am stärksten orts- oder nahbereichsbezogen sind Einwirkungen
auf den Boden oder der Lärm. Infolgedessen wurde am meisten in diesen Nahbereichen
erreicht, gleichwohl gespickt mit Ausnahmen, etwa wenn riesige Traktoren zu den
Ruhezeiten betrieben werden, obwohl es nicht um das Einbringen von Ernte vor einem
nahenden Unwetter, sondern um das Ackern in der Nacht oder am Sonntagvormittag
geht. Für die »Natur« bleiben jedoch solche Belastungen, die
zweifellos viele Menschen stören, ärgern oder gesundheitlich beeinträchtigen,
zumeist reichlich bedeutungslos. Wiederum demonstrieren dies Erfahrungen aus den
Truppenübungsplätzen, wo auch scharf und vor allem sehr laut geschossen
wird, wo Panzer und Geländefahrzeuge umherrasseln - und beim Wild nicht einmal
mehr ein Anheben des Kopfes verursachen. Die Sicherheit, dabei selbst nicht erschossen
zu werden, ist ungleich wichtiger als der Lärm. Der hohe Artenreichtum und
die vielfach auch sehr hohe Siedlungsdichte der Vögel in den Großstädten
bestätigt dies in vergleichbarer Weise. Wenn mitten in Berlin am Rande des
brausenden Verkehrs die Nachtigall singt, so drückt dieses Vogellied, wie
andernorts die Gesänge der Amseln, deutlich genug aus, daß ihre Umwelt
nicht unserer gleichzusetzen ist. Umweltschutzmaßnahmen »dienen«
daher nicht automatisch der Natur. Der Naturschutz muß, sofern er die Erhaltung
und Förderung freilebender Tiere und Pflanzen als eines seiner Hauptziele
betrachtet (also Lebensschutz sein will; HB),
auch Umweltschutzmaßnahmen kritisch betrachten und auf ihre » Naturverträglichkeit«
hin überprüfen dürfen. Nicht alles ist gut, was uns gut dünkt.
Ein verdeckter, höchst bedeutsamer Zug im modernen Umweltschutz besteht darin,
mit den auf Menschen bezogenen Umweltzielen gleich auch festgelegt zu haben, was
»für die Natur gut« ist. Die Natur wurde dazu aber nicht befragt.
(Ebd., S. 267-270).Das beginnt bei so Unverdächtigem wie sauberem
Wasser von Trinkwasserqualität, in dem die allermeisten Lebewesen des Süßwassers
gar nicht leben könnten, und endet bei solch althergebrachten Vorurteilen,
daß das Wild »wild«, also scheu sein müsse, sonst sei es
kein Wild. Daß die Scheuheit den größeren Säugetieren und
Vögeln aber sehr viel möglichen Lebensraum nimmt, wird dabei nicht mehr
berücksichtigt. Die Naturfreunde fahren in ferne Länder, wo sie vertraute
Großtiere derselben Arten, die auch in Mitteleuropa vorkommen, in aller
Ruhe beobachten und photographieren können, weil dort der Mensch nicht als
Feind der Tierwelt empfunden wird. Das 20. Jahrhundert brachte global viele Nationalparks
und Naturschutzgebiete, aber keines in Mitteleuropa, wo wir die Natur so erleben
können wie in fernen Reservaten. In der Zeit des Natur- und Umweltschutzes
hat man uns durch eine Fülle von Verboten und Einschränkungen geradezu
naturentfremdet. Ihr Sinngehalt mag zwar nachvollziehbar sein, aber an Nachprüfung
ihrer Notwendigkeit und Wirksamkeit mangelt es. Vielleicht sollte verhindert werden,
daß die Natur in ihrer Vielfalt und Dynamik allzu direkt erlebt wird. Denn
wer sich der Veränderungen, die in Jahrzehnten ablaufen, bewußt ist,
wird nicht so leicht auf wohlfeile, aber falsche Argumente hereinfallen. Dann
sind die Silberreiher, die allmählich wieder häufiger geworden sind,
kein Zeichen einer Klimaerwärmung mehr, sondern der Beweis dafür, daß
früher zu viele um ihrer Schmuckfedern willen unmittelbar zu Beginn der Brutzeit
abgeschossen worden waren. Niemand wird die Zunahme der zweifellos »nordischen«
Seehunde im Wattenmeer auf das kältere Klima seit den 1970er Jahren zurückführen.
Denn das würde nicht »passen«. Warum dennoch immer wieder so
offensichtlich Falsches verbreitet wird, liegt auf der Hand. Es geht um die »gute
Sache«. Dafür ist (fast) jedes Mittel recht. Der uninformierten Gesellschaft
kann man nahezu alles erzählen, wenn es nur irgendwie zu passen scheint.
Daß damit das Anliegen selbst in Mißkredit gezogen werden könnte,
wird billigend in Kauf genommen. Die Vertreter der Warnergilde hoffen auf das
Vergessen. Es wird ihnen fast immer gnädig sein. Denn neue Nachrichten verdrängen
die alten Vorhersagen, so daß diese ungestraft dem Vergessen anheimfallen
können. Wen kümmert es, daß für 2005 in Mitteleuropa ein
heißer Sommer vorhergesagt wurde und die Prognose total falsch war. Die
Tageszeitungen, die diese Prognose aus Expertenmund in die Öffentlichkeit
trugen, haben längst andere Themen. Gleichgültig, wie das Wetter wird,
es wird immer »extrem« sein. An eine mehr als dreitägige Wettervorhersage
glaubt ohnehin kein vernünftiger Mensch. Die Sucht nach Zukunftswissen, das
Propheten zu haben behaupten, steckt offenbar so tief in uns Menschen, daß
sich die Wahrsager leichttun. Das habe ich in meinem Buch »Die
falschen Propheten« (2002) ausführlich dargelegt. Drei Prognosen,
die von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart die Umweltdiskussion beherrschten,
verdeutlichen Vorgehensweise und Fehlschläge. Das »Waldsterben«
ist bereits behandelt worden. Der Fehler, der gemacht worden war, lag in der Nennung
eines Termins für das Ende (des deutschen Waldes). Die von Kennern vorgebrachte
Kritik, sich doch erst einmal mit der Vergangenheit der Wälder und der Waldschäden
genauer zu befassen, um die Vorgänge in der Gegenwart besser beurteilen zu
können, blieb unberücksichtigt. Der Blick in die Vergangenheit und auf
die allgemeinen Entwicklungen in den Landschaften Mitteleuropas, ihre Überfrachtung
mit Nährstoffen, die auch das Wachstum der Waldbäume fördern, eingeschlossen,
hätte die Problematik relativiert. Das Waldsterben hätte womöglich
von Anfang an von einer Katastrophe zur Krise und schließlich zu einer Übergangszeit
im ausgehenden 20. Jahrhundert zurückgestuft werden müssen, was allerdings
auch mit Einbußen an Forschungsmitteln verbunden gewesen wäre. Die
Forschungen ergaben zwar sehr viel Interessantes, aber keinen schlüssigen
Zusammenhang mit dem Autoverkehr. Der Wald existiert seit seiner »Todeszeit«
weiter - und wird dies aller Wahrscheinlichkeit nach auch weiterhin tun, selbst
wenn sich das Klima erwärmt. (Ebd., S. 270-272).Einen
ganz ähnlichen Fehler, das »Ende« vorherzusagen, machten Dennis
Meadows und der »Club of Rome« mit den höchst spannenden Computermodellen
und ihren Ergebnissen in den »Grenzen des Wachstums«, Die wesentlichsten
Ressourcen der Menschheit sollten danach bereits in den (späten) 1990er Jahren
verbraucht worden sein. Die Vorhersage trat nicht ein. Es wurden weit mehr neue
Vorräte und Lagerstätten entdeckt, als in den Hochrechnungen angenommen
werden konnte. Ein für die Frühzeit solcher Modelle hervorragender Forschungsansatz
geriet in Mißkredit und führt dazu, daß nun auch andere, neuere
und »bessere« entsprechend kritisch betrachtet werden »sollten«.
Denn völlig unerwartet kam es im Prognosezeitraum der »Grenzen des
Wachstums« zu Ereignissen von weltpolitischer und europäischer Bedeutung:
zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums, zur Wende in China und zur »Wieder«(?)-Vereinigung
Deutschlands. Innerhalb von nur 30 Jahren hatten sich damit die globalen Rahmenbedingungen,
zudem auf ein Jahrzehnt konzentriert, grundlegend geändert. Der »siegreiche«
Westen stieg in Form des Hauptvertreters, der USA, zwar zur alleinigen Weltmacht
auf, blieb aber globalwirtschaftlich vom unterlegenen Rivalen Rußland im
Hinblick auf die Energieversorgung abhängig. Im Grunde genommen wurde der
Westen sogar noch abhängiger, weil mit der Wende in China ein Wirtschaftsaufschwung
ohne Beispiel einsetzte, der dieses bevölkerungsreichste Land zum Hauptkonkurrenten
um die globalen Ressourcen gemacht hat. Auch das war in den Prognosen nicht enthalten
und offenbar von niemandem (in einflußreichen Kreisen) vorausgeahnt worden.
Die neuen Rahmenbedingungen am Beginn des 21. Jahrhunderts sehen daher erheblich
anders als zu Beginn der 1970er Jahre aus. Trotz des Versuchs zwischenzeitlicher
Korrektur in den »Neuen Grenzen des Wachstums« blieb Meadows auf der
vorgegebenen Bahn. Das Ziel war offensichtlich zeitlich zu kurz gewählt und
ließ daher keine Kurskorrektur ohne grundsätzlichen Vertrauensverlust
in die Zukunftsberechnungen zu. Es wäre zu wenig übrig geblieben von
den Warnungen vor der schlimmen Zeit, die uns schon zum Ende des 2. Jahrtausends
ereilt haben sollte. Besser, viel besser steht es um das dritte Prognosemodell.
Es ist letztlich wohl auch der wichtigste Teil aller Zukunftsszenarien. Es geht
um die Entwicklung der menschlichen Bevölkerung auf der Erde. Vor Ende des
20. Jahrhunderts war die 6. Milliarde erreicht (**).
Die Bevölkerungsexplosion der Menschheit fand also hauptsächlich in
jenen drei Jahrzehnten statt, von denen die »Grenzen des Wachstums«
handelten. Die Zunahme der Zahl der Menschen war weitgehend richtig prognostiziert
worden (**).
Daß sich das Anwachsen der Menschheit abschwächt, wird nicht nur nicht
verheimlicht oder als zu geringfügig abgetan, sondern der Weltöffentlichkeit
möglichst wahrheitsgetreu dargelegt. Inzwischen ist ersichtlich, daß
auch der Mensch als biologische Art mit seiner »Bestandsentwicklung«
dem allgemeinen biologischen Grundmuster folgt, das mit einem nahezu ungebremst
exponentiellen Wachstum beginnt und nach Überschreiten der etwa halben Tragkraft
der Umwelt (Umweltkapazität) abflacht und auf einen Grenzwert einschwenkt,
der dieser entspricht. Daß die Höchstzahl der Menschen wohl erheblich
niedriger liegt als ursprünglich befürchtet, gehört gleichfalls
zu den guten Nachrichten in dieser Entwicklung, denn das Leben von 10 bis 12 Milliarden
Menschen zu sichern eröffnet weitaus bessere Zukunftsaussichten als bei 20
Milliarden oder mehr. Warum aber lief es ,bei den Prognosen zur Bevölkerungsexplosion
besser? Der fachliche Grund ist klar. Die statistische Zuwachsrate hängt
von der Altersstruktur der Bevölkerung ab. Diese war in den 1970er Jahren
gut genug bekannt. Sie bestimmte das Wachstum für die nächsten Jahrzehnte.
Die Verfolgung der globalen Bevölkerungsentwicklung unterlag auch keinen
politischen Einschränkungen. Die UN-Fachleute konnten so gut arbeiten, wie
die Daten waren, die aus den Entwicklungsländern kamen. Diese wurden immer
besser und daher auch die permanent korrigierten Prognosen immer zuverlässiger.
Schon die Ausgangsbasis war als Teilstück eines Entwicklungsprozesses angesetzt
und nicht als feste Ausgangsgröße, bei der noch alles (einigermaßen)
in Ordnung gewesen war. Den Grundfehler, letzteres anzunehmen, machten die meisten
Natur- und Umweltschützer bis hin zu manchen Klimaforschern, die anhand ihrer
Modelle die Zukunft bewerten, ohne ausreichend die Vergangenheit berücksichtigt
zu haben. Bei der Erfassung der globalen Bevölkerungsentwicklung gab es keine
Einschränkungen, wer berücksichtigt werden darf und wer nicht, wie beim
Klimawandel und dem Kioto-Prozeß. Wie immer die jeweiligen Zwischenergebnisse
ausfallen, sie blieben unverdächtig und neutral. Solche Prognosen tragen
die Selbstkorrektur gleichsam fest eingebaut in sich. Sie tragen auch keine Verpflichtungen
in sich, denn jedem Land bleibt seine eigene Bevölkerungsentwicklung von
anderen unbenommen. Solche Prognosen werden für die Zukunft gebraucht!(**)
Nicht »verbesserte« Vorhersagen, die einen für uns Lebende nicht
mehr nachkontrollierbar fern in der Zukunft liegenden Weltuntergang verkünden.
Vielmehr sollten wertungsfreie Verläufe, die beständig mit realen Messungen
justiert werden, die Grundlagen für die Beurteilung und für das Mitverfolgen
der bevorstehenden oder angelaufenen Entwicklungen liefern. Wo aber von vornherein
in gut und schlecht, richtig und falsch unterschieden wird, geraten die Modelle
in den Verdacht, zu einer Weltdiktatur zu führen. Die tatsächlichen
Entwicklungen, die Prognosen bestätigen, sollten die falschen von den zuverlässigen
Propheten scheiden, und nicht die Absichten zur Weltverbesserung, die vorgegeben
werden. Daß wir Prognosen nötig haben, steht außer Frage. Die
Welt ändert sich. Es wäre absurd, die Fortdauer eines festen Zustandes
annehmen zu wollen. Vielleicht ist das Tempo der Veränderungen gegenwärtig
tatsächlich besonders hoch; vielleicht dünkt es uns auch nur so, weil
wir hier und jetzt und nicht mehr im 19. Jahrhundert leben, in dem sich so vieles
so unfaßbar schnell verändert hatte. (Ebd., S. 272-275).
Es gehört zu den besonders spannenden Aspekten der Evolution
des Menschen und seiner Ausbreitung in die von den Tsetsefliegen bewohnten Feuchtsavannen
und Regenwälder Afrikas, die Wirkung der Tsetsefliegen entsprechend zu berücksichtigen.
(Vgl. Josef H. Reichholf, Das
Rätsel der Menschwerdung, 1990). In historischen Zeiten konnten nomadische
Viehzüchter jedenfalls nicht, zumindest nicht für längere Zeit
oder gar dauerhaft, den Tsetsegürtel Afrikas mit ihrem Vieh besiedeln.
(Ebd., S. 295-296).Tsetsefliegen sind daher die besten Naturschützer
Afrikas, ... vielleicht der Grund dafür, daß dort mit weitem Abstand
auch das global nachhaltigste Großtierleben (an Land) erhaltenn geblieben
ist. Ohne die Tsetsefliege hätten die Menschen vielleicht schon vor Jahrtausenden
die großen Säugetiere ausgerottet, für die Afrika bewundert und
um die es beneidet wird. (Ebd., S. 296).Europa fand ... den
»Ausweg« der Importe von Futtermittel für ... Viehbestände.
An ihnen, an den vielen Millionen Rindern, Schweinen und Hühnern in den Mastställen
Europas, wird sich die Zukunft der Natur auf den tropischen und subtropischen
Kontinenten entscheiden. Die Haustiere sind wirksamer als Veränderungen von
Wetter und Klima. (Ebd., S. 298-299).
Auf rund 40 Prozent der Landfläche nimmt die Menschheit gegenwärtig
starken Einfluß. Doch auch die übrigen drei Fünftel bleiben nicht
frei von Auswirkungen menschlicher Tätigkeiten. .... Unberührte Natur
im strengen Sinn der Bezeichnung gibt es nicht mehr. An kaum einem noch so entlegenen
Ort wird ein Mensch, der dorthin gelangt, annehmen dürfen, noch nie vor ihm
hätte ein Mensch seinen Fuß darauf gesetzt und seinen »ökologischen
Fußabdruck« direkt oder indirekt hinterlassen. (Ebd., S. 299).Die
Natur verliert nichts, weil sie keine Person im Sinne des Menschen ist.
(Ebd., S. 300).
Sicherlich ist es auch nicht übertrieben zu behaupten, daß
in den Wohnungen der Menschen in Deutschland oder in anderen Ländern weitaus
deren Ländern weitaus mehr Tiere unterschiedlichster Arten gehalten werden,
als in öffentlichen zoologischen Gärten zur Schau gestellt sind. Tierfutter,
nicht nur für solche besonderen Haustiere wie Hund und Katze, wird in einer
Vielfalt und Menge angeboten, daß das Angebot in entsprechenden Abteilungen
von Kaufhäusern in manchen westlichen Ländern das für Menschenbabys
bestimmte Angebot übertrifft. Somit braucht eigentlich gar keine besondere
Begründung für Schutz und Erhaltung der Artenvielfalt vorgebracht zu
werden. Die Menschen stellen selbst die lebendige Praxis des Interesses an Tieren
und Pflanzen dar. Insofern verwundert es nicht, daß in unserer Zeit, dank
des uneingeschränkten Austausches von Information, dem Artenschutz großes
Interesse entgegengebracht wird. Die Arten, um deren Schutz es geht, sollten nur
möglichst »ansprechend« sein. Dann finden sie rasch eine entsprechend
große Schar von Verteidigern, die auch bereit sind, Geld für ihre Erhaltung
auszugeben. In den erstaunlichen Summen, die für den Artenschutz gespendet
werden, kommt auch vom utilitaristischen Standpunkt aus betrachtet klar zum Ausdruck,
daß wesentliche Teile der Menschheit die Vielfalt der Arten erhalten möchten.
Umso befremdlicher muten mitunter die stümperhaften Versuche an, die Unentbehrlichkeit
einer Art für »den Naturhaushalt« mit sogenannten ökologischen
Argumenten zu rechtfertigen. Offenbar mangelt es den betreffenden Menschen selbst
an einer wirklichen Zuwendung zu diesen Arten. Es fehlt ihnen jene Empathie, die
aus innerer Überzeugung heraus ganz selbstverständlich und ohne sachliche
Begründung wirkt. Aus der Art der Begründung kann man oft ganz leicht
erkennen, daß es gar nicht um die betreffende »Rote-Liste-Art«
geht, sondern um die Verhinderung eines Bauvorhabens oder um die Hinauszögerung
einer sonstigen Änderung, die ihnen aus ganz anderen, zumeist sehr persönlich-eigennützigen
Gründen nicht paßt. Die Natur dient dann als Vorwand, um eigene Interessen
zu verschleiern. Wollen wir versuchen, zur Beurteilung der Lage der Artenvielfalt
solche Vorgehensweisen ,öglichst auszuschließen, was bleiben dann für
»Fakten«?. (Ebd., S. 300-302).Die europäische
Landwirtschaft ließ bisher nicht die geringste Bereitschaft erkennen, auf
Futtermittel aus Tropenländern zu verzichten oder auch nur die Mengen, die
von dort importiert werden, zu vermindern. Nach wie vor werden die Tropen in kolonialistischer
Weise ausgebeutet. (Ebd., S. 308).
Im
19. Jahrhundert herrschten mehr geistige Freiheiten und viel größere
Beweglichkeit als im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert. (Ebd.,
S. 317).Damals suchte man noch aktiv nach neuen Horizonten. Heute
wird fast immer das Neue erst einmal gebremst und bekämpft, weil es am bekannten
Zustand etwas ändern könnte. Altes behält man wider besseres Wissen
stur bei. Unsichere Zeiten wurden immer zu Katastrophenzeiten gemacht. Für
uns gilt dies als sprichwörtlicher Rückfall ins Mittelalter. Aber es
wa r nicht die gute Zeit des Hochmittelalters, sondern die Katastrophenzeit des
ausgehenden Mittelalters, das die die finsteren, ja abscheulichen Züge jener
Vergangenheit entwickelte, die glücklicherweise überwunden sind - hoffentlich!
Die Menschen konnten mit den Katastrophen, die tatsächlich über sie
hereinbrachen, nicht umgehen. (Ebd., S. 317-318).Wenn wir
verhindern wollen, daß ein neues Mittelalter heraufzieht, wie der Schriftsteller
Umberto Eco meint, der sich wirklich ausgiebig mit jenen Zeiten befaßt hat,
hilft Aufklärung allein nicht weiter. (Ebd., S. 318).Als
bloße Vermittlung von Fakten ist die Aufklärung gescheitert. Viel zu
wenige Menschen richten sich nach diesem Prinzip. Sie brauchen Vertrauen, um vom
Wissen zur Gewißheit zu kommen. Nachprüfbarkeit allein vermittelt dieses
Vertrauen. Die zweite Säule gründet sich in der Verantwortung. Das Übernehmen
von Verantwortung ist unserer Zeit fast vollständig abhanden gekommen. Für
falsche Prognosen steht niemand mehr gerade. Für falsche Entscheidungen auch
nicht. Die Folgekosten haben stets die »Gläubigen« zu tragen.
Sollte es tatsächlich einmal dazu kommen, daß die Verantwortlichen
zur Verantwortung gezogen werden, bleibt das, von den Ausnahmefällen gestürzter
Diktatoren mit schrecklichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit abgesehen, in
aller Regel dennoch ziemlich folgenlos. Was Wunder, wenn sich die große
Masse nicht bewegen möchte und den Status des Erreichten behalten will. Es
kommen doch nur schlechte Nachrichten auf sie zu. Gutes ist kein Thema.
(Ebd., S. 318).Somit bleibt der Hoffnung nur das Eigeninteresse.
Man mag das Egoismus nennen. Aber was den Menschen unmittelbar zugutekommt, werden
sie eher bereit sein zu tun als das, was zwar notwendig wäre, sich aber erst
in der Zukunft, in der nächsten oder übernächsten Generation, auszahlen
wird. Vielleicht! Sicher ist das auch dann nicht, wenn die besten Argumente dafür
sprechen. Das zeigte sich in der jüngsten Vergangenheit bei der Einführung
des Katalysators. Als es nach langen Widerständen der Autohersteller endlich
so weit war, boomten die Dieselfahrzeuge. Denn Diesel war (erheblich) billiger
als das bleifreie (Super-)Benzin. Wären die »Benziner« in den
Fahreigenschaften nicht schneller gewesen und wären die von einem Großteil
der Bevölkerung geforderten Geschwindigkeitsbegrenzungen gleichzeitig eingeführt
worden, wären damals vielleicht schon nach wenigen Jahren fast alle Autofahrer
auf Diesel »umgestiegen«, obgleich bestens bekannt war, worum es eigentlich
ging: um die Verbesserung der Luftqualität und um unsere Lungen. Aber die
Politik hat die 3-Wege-Kat-Fahrer mit den erheblich höheren Spritpreisen
für rückstandsarmes Superbenzin bestraft. Ähnlich ging es mit der
Energiesteuer, die zunächst angeblich das Weltklima retten sollte, dann aber
für ganz andere Zwecke eingesetzt wurde. Die Nachbarländer machten gewaltige
Profite, weil sie ihren Treibstoff nicht mit dieser Steuer belasteten. Wo sie
das können, fahren seither viele Menschen zum Tanken über die Grenzen.
Es ist den Mitbürgern auch kaum zu vermitteln, daß beim Pro-Kopf-Energieverbrauch
die Anteile der Heizkosten nicht berücksichtigt werden, die nun einmal aus
Gründen der klimatischen Lage nicht zu umgehen sind. Skandinavier oder die
Menschen in Sibirien und Kanada brauchen nun einmal viel mehr Energie in den langen
kalten Monaten als Tropenbewohner. Wer seine privaten Energiekosten betrachtet,
wird in der Regel feststellen, daß Ausgaben für die Heizung die Hälfte
oder mehr ausmachen. Wie hoch die Kosten werden, darüber befinden die Energieversorger
und nicht die Privatverbraucher, und natürlich auch die Dauer und Härte
des Winters. Milde Winter senken den Energieverbrauch in den kalten Regionen ungleich
mehr als die besten Sparmaßnahmen in anderen Bereichen. Eine grobe Bilanz
zur globalen Verteilung des ProKopf-Energieverbrauchs drückt diese Gegebenheit
ganz klar aus. Deutschlandliegt, seiner mittleren Position entsprechend, ganz
gut in der Mitte (Ebd., S. 318-319).Beispiele dafür,
daß vorhandene Gegebenheiten nicht zu umgehen sind und daß stets nach
Schlupflöchern gesucht wird, wenn Nachteile in Kauf zu nehmen wären,
aber damit vermieden werden können, gibt es so erdrückend viele, daß
die Hoffnung, auf das Gute im Menschen zu bauen, geradezu eine Zumutung für
die wirklich Gutwilligen geworden ist. Deshalb nochmals: Zukunft muß sich
lohnen! Sie ist zu wichtig, um die Menschen der Gegenwart damit abzustrafen.
(Ebd., S. 319-320).Verzicht zu üben mag moralisch anerkennenswert
sein. Die Nutznießer des Verzichts sitzen jedoch anderswo und werden sich
bemühen, das Moralische in uns hochzuhalten, für sich selbst aber, aus
welchen Gründen auch immer, die Ausnahme in Anspruch nehmen.. (Ebd.,
S. 322).
Würde
jede Generation so lebe, daß sie der nächsten das erhält, was
sie selbst vorgedunden hat, und nichts davon unwiederbringlich verbraucht. wäre
das Ziel der nachhaltigkeit erfüllt. Wir solten danach streben denn es gibt
wahrscheinlich kein besseres Ziel. Aber je mehr nachgemacht wird, desto mehr muß
auch »nachgelebt« werden, und umso weniger Individualität bleibt
übrig und kann sich entfalten .... (Ebd., S. 324).Was
wir, was die Menschheit brauchen würde, sind im evolutionären Sinn überlebensfähige
Ungleichgewichte. (Ebd., S. 324).
Interview: Historisch sind Warmzeiten gute Zeiten.
Ein Gespräch mit dem Evolutionsbiologen Josef Reichholf
über sein Buch Eine
kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends (Interview: Cord Riechelmann
/ Tobias Rapp; 2007).
Herr
Reichholf, »Eine Naturgeschichte des letzten Jahrtausends« haben Sie
ihr Buch genannt. Warum ausgerechnet dieser Zeitraum? Josef Reichholf:
Wir haben seit rund tausend Jahren entsprechend gute historische Aufzeichnungen
zur Verfügung. Damit können wir das, was wir als sogenannte Proxidaten
der Natur entnehmen, mit historischen Ereignissen zusammenführen. Und der
Zeitausschnitt ist ausreichend groß, um große klimatische Änderungen
sehen zu können. Es ist kein Kurzzeitrückblick, wie er sonst angestellt
wird. Der beginnt ja meistens Mitte des 19. Jahrhunderts, weil man da angefangen
hat, die Meßdaten der Klimastationen zu sammeln. Damit geht oft einher,
daß man so tut, als sei damals die Welt in Ordnung gewesen und als sei es
von da an bergab gegangen. Wie verlief denn die Klimaentwicklung der
letzten tausend Jahre in Mitteleuropa? Eigentlich muß man um das
Jahr 800 beginnen. Die Konsolidierung des Frankenreichs unter Karl dem Großen
hat ja ein großes Zentralreich in Europa geschaffen, das die alte Macht
des Römischen Reichs ablöste. In diesem Frankenreich wuchs die Bevölkerung.
Und zwar so sehr, daß man buchstäblich nicht mehr wußte, wohin
mit den Menschen. Es gab eine Masse von Städtegründungen in dieser Zeit.
Auch München ist in diesen Jahrhunderten des Mittelalters gegründet
worden. Die Funde aus der Natur und die Befunde zu den klimatischen Entwicklungen
zeigen, daß es eine gute Zeit war. Es war mindestens so warm wie heute.
Wahrscheinlich noch wärmer. In Bayern gedieh damals Wein, auch in wesentlich
kälteren Regionen als heute. Bayern hat damals Wein exportiert. Bis
es kälter wurde ...Im 13. und 14. Jahrhundert setzten die Klimaverschlechterungen
ein. Drei Großereignisse suchten Europa heim: 1342 die schlimmsten Überschwemmungen,
die jemals registriert worden sind. Und dann der Einbruch der Nordsee in das,
was heute Deutsche Bucht genannt wird. Diese schlimmen Überschwemmungen und
Sturmfluten haben im wesentlichen das heutige Bild von Inseln und Halligen hervorgebracht.
Vorher war die Küstenlinie viel weiter in die Nordsee hinein vorgelagert.
Dann kam die Pest. Sie wurde aus Schwarzmeerhäfen eingeschleppt. Von dort
gab es auch in früheren Jahrhunderten schon Schiffahrtsverkehr. Aber nun
mußte Getreide importiert werden aus jener Gegend, die heute Ukraine heißt.
Das waren die produktiven Gebiete und Europa brauchte Getreide. So kamen die Ratten
mit. Die kamen ja nicht mit einem Schiff, das Seide transportiert. Das dritte
Großereignis war der Mongolensturm. Die Gunst des Klimas hatte sich bis
nach Zentralasien hinein ausgewirkt, und als in Europa das Klima schlechter wurde,
reichten die Regenfälle bis in die zentralasiatischen Steppengebiete, die
damals hochproduktives Grasland waren, und Dschingis Khan und seine Mannen wurden
in die Lage versetzt, das größte Weltreich aller Zeiten zu gründen.
Mit einem Schlag - und mit Pferden. Dazu muß man sehr produktive Weiden
haben. Eine Katastrophenzeit. Und Bayern wird zum Bierland. Tatsächlich
ließ sich Wein in vielen Gegenden nicht länger anbauen, und die kalten
Winter sorgten dafür, daß bis weit ins Jahr hinein genug Eis zum Kühlen
des Biers da war. Am Ende des 15. Jahrhunderts gibt es eine kurze Zwischenerholung,
bis dann ein noch stärkerer Witterungsumschwung einsetzt: die sogenannte
kleine Eiszeit. Die ist etwa über die Bilder der holländischen Meister
dokumentiert - die Jäger im Schnee, die vereisten Grachten, auf denen die
Holländer Schlittschuh laufen. Das lernt man nicht in einem Eiswinter. Es
muß viele solche Winter gegeben haben. So große Seen wie der Bodensee
waren regelmäßig für lange Zeit zugefroren. Auch die Ostsee. Das
geht so bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts, als es sich zaghaft erwärmt.
Und seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es nun eine wirkliche Klimaerwärmung,
zunächst zögerlich und mit Schwankungen, mit Hitzesommern wie dem von
1807, der durchaus dem von 2003 vergleichbar ist. Aber vor allem mit einer Serie
kalter Winter, die dann immer seltener werden. Bis in die Gegenwart. Wie
kommt es, daß immer wieder gesagt wird, die heutigen Temperaturen seien
so ungewöhnlich hoch? Die heutigen Klimamodelle gehen von diesem
Tiefstand aus. Würde man sie auf den Durchschnitt der letzten 1000 Jahre
beziehen, dann sind wir noch gar nicht im oberen Bereich. Und vollkommen falsch
ist es, wie vielfach behauptet wird, daß es noch nie so warm gewesen wäre
wie heute. Das ist absurd: vor 120000 Jahren gab es Nilpferde am Rhein und an
der Themse. Diese Daten sollte man sich anschauen, bevor man die aktuellen Zahlen
zu Horrorszenarien aufbauscht. Außerdem, und das zeigt der Rückblick
in die vergangenen tausend Jahre in aller Deutlichkeit: Es waren die Kaltzeiten,
in denen wir und andere Teile der Welt von den großen Katastrophen heimgesucht
wurden. Nicht die Warmzeiten. Heißt das nun: Alles in Ordnung,
soll die Welt wärmer werden, umso besser für uns? Weiter den Regenwald
abholzen, so tun, als wäre nichts?Nein. In diesen Gebieten geht
es um die Vielfalt der vorhandenen Arten. Das ist der Kernpunkt. Und da geht es
mir gar nicht so sehr um die potentielle ökonomische Nutzung, die damit einhergeht,
die medizinische Forschung, die aus unbekannten Pflanzen neue Wirkstoffe gewinnen
könnte. Es gibt allemal Grund genug zu sagen: Wir müssen die Schönheit
der Natur erhalten. So wie wir auch vom Menschen Gemachtes erhalten. Niemand würde
den Kölner Dom abreißen, weil im Nahbereich gerade Steine benötigt
werden. Ein Tiger ist nicht ersetzbar. Wenn der ausgestorben ist, dann ist er
weg. Da kann man zu Recht die Frage stellen: Müssen Arten wie der Jaguar
in Südamerika aussterben, nur weil wir in Europa so unmäßig viel
Fleisch produzieren wollen, daß riesige Flächen in den Tropen abgeholzt
werden, um Futtermittel anzubauen? Zumal die Subventionen für die europäische
Landwirtschaft das unterstützen. Sie beschreiben die Natur als Kulturlandschaft.
Der Artenreichtum in Deutschland, sagen Sie, hat viel zu tun mit dem Menschen.
Wie kann es sein, daß so etwas Künstliches wie ein Stausee so vielfältige
Biotope ausbildet? Man muß sich die Frage stellen: Wie alt sind
unsere Seen? Nehmen Sie die Seen rund um Berlin, die sind kaum 10000 Jahre alt.
Das ist nichts im Vergleich mit dem Alter der Flüsse. Die Donau ist Millionen
Jahre alt. Seen sind von Natur aus vergänglich. Und die meisten Seen sind
aus zurückgestautem Eiswasser entstanden. Das bedeutet, daß das, was
die Technik mit Stauseen macht und was man jahrhundertelang mit Mühlteichen
gemacht hat, nichts Neues ist. Tiere, Pflanzen und Mikroben, die solche Gewässer
bewohnen, finden also keine grundlegend andere Situation vor, wenn solche Bauwerke
errichtet werden. Es gibt auch Seen, die abflußlos sind, und selbst die
sind von Fischen bewohnt. Deshalb ist auch das Argument, daß eine Staumauer
die Wanderung von Fischen behindert, zwar richtig, aber doch unzureichend. Denn
es steht nirgendwo geschrieben, daß alles so bleiben muß, wie es ist,
nur weil es ein paar tausend Jahre lang so war. Die mittelfristige Zeitdimension
ist der Umweltdiskussion vollkommen abhanden gekommen. Man tut so, als ob die
Welt im besten aller möglichen Zustände gewesen wäre, als die westlichen
Naturforscher sie entdeckten und angefangen haben, objektiv zu messen, zu beobachten
und aufzuzeichnen. Obwohl die Temperatur seit vielen Jahren steigt, nimmt
die Zahl der wärmeliebenden Tier- und Pflanzenarten in Bayern ab. Wie kann
das sein? Im 19. Jahrhundert war das Land in ganz Mitteleuropa massiv
übernutzt. So sehr, daß die Böden so ertragsschwach waren, daß
sie nicht mehr leisten konnten, was die Bevölkerung brauchte. Die Menschen
wanderten zu Tausenden aus, weil das Land nichts mehr hergab. Das änderte
sich mit einem Schlag, als Justus von Liebig den Kunstdünger erfand. Er fand
heraus, daß sich feststellen läßt, was den Böden fehlt.
Daß nicht nur der Mist das Wachstum fördert, sondern weitere Stoffe.
Mit dieser Erkenntnis konnte nicht nur gezielt Mangel behoben, sondern auch überdüngt
werden. so daß die Produktion über das normale Maß hinaus steigen
konnte. Die Folge dieser Überdüngung ist, daß mehr Wirkstoffe
in die Böden hineingebracht als über die Ernte wieder herausgeholt werden.
Früher war es umgekehrt, da hat die Ernte mehr entzogen, als über den
Mist zurückgebracht werden konnte, also magerten die Böden aus. Jetzt
reichern sie Nährstoffe an. Das bedeutet, daß immer weniger Pflanzenarten
immer besser wachsen können. Und weil die Vegetation so gut mit Nährstoffen
versorgt ist, wächst sie im Frühjahr schneller und dichter auf. Das
Land verschattet. Richtig. Der Aufwuchs erzeugt am Boden ein kühles
und feuchtes Kleinklima. Die meisten Arten, die wir als wärmeliebend einstufen,
brauchen trockene und offene Böden, das ist ihr Lebensraum. Die Überdüngung
macht alles zu. Also wird es kälter. Auch wenn die Metereologen höhere
Temperaturen messen. Sie benutzen explizit den Begriff »Naturgeschichte«.
Das ist ungewöhnlich, gerade in Deutschland. Seit Alfred Brehms »Tierleben«
hat das kein Biologe mehr gemacht. Heißt das, daß Sie geisteswissenschaftliche
Methoden in Ihre Arbeit einbeziehen? Den Begriff habe ich aus zwei Gründen
gewählt. Erstens sind die Abläufe in der Natur Geschichte. Also nicht
vergleichbar mit chemischen oder physikalischen Zuständen, die reversibel
sind. Dadurch müssen die Prinzipien der Geschichtswissenschaften in der Biologie
genauso oder zumindest gleichrangig angewendet werden. Man kann nicht so tun,
als ob es sich bei der Natur nur um die physikalischen oder chemischen Vorgänge
handeln würde. Und zweitens hat die Naturbetrachtung auch so angefangen.
Der Begriff der Geschichte ist aus der Biologie verdrängt worden, zugunsten
einer pseudowissenschaftlichen Art und Weise, mit der die Biologie sich an die
exakten Wissenschaften anbiedern wollte. Im Ergebnis kommt es fortwährend
zu Mißverständnissen, weil die Naturwissenschaften so tun, als sei
die Biologie gar keine exakte Wissenschaft, weil sie dem direkten Experiment nicht
zugänglich ist. Dann wäre Geschichte allerdings auch keine Wissenschaft,
sondern nur ein Aufzählen von Ereignissen, ohne daß man Gründe
oder Hintergründe erfassen könnte. Als Evolutionsbiologe sehe ich hingegen
keine Kluft im methodischen Vorgehen zwischen den rein auf den Menschen bezogenen
historischen Wissenschaft und der naturhistorischen Wissenschaft.Josef
Reichholf ist Professor für Naturschutz an der Technischen Universität
München, leitet die Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung in
München und ist Präsidiumsmitglied des deutschen World Wide Fund for
Nature. Er ist einer der renommiertesten Biologen Deutschlands. Sein neues Buch
»Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends« (2007) verbindet
die Geschichte Mitteleuropas mit der Entwicklung der klimatischen Bedingungen.
(Zitat-Ende).
Evolution. Was stimmt? Die wichtigsten Antworten (2007)
Es gehört zu den größten Entdeckungen in der
Biologie überhaupt, das Programm gefunden zu haben, das diese Entwicklung
steuert und in der richtigen Weise ablaufen läßt. Es handelt sich um
dasselbe Programm, das auch der Vererbung zugrunde liegt. Ein lang gezogenes und
wie eine Wendeltreppe gewundenes Großmolekül trägt in sich das
Alphabet des lebens. Seine wissenschaftliche Bezeichnung ist mit »Desoxyribonukleinsäure«
so schwierig, daß man sich schon seit seiner Entdeckung mit einer Abkürzung
behilft: DNS oder DNA (S steht für Säure im Deutschen, A entsprechend
für Acid im Englischen). (Ebd., S. 17).Die meisten Zellen
enthalten zwei komplette Kopien dieser DNS mit ihren Informationen zum Wachsen
und Funktionieren der Zelle und des ganzen Organismus. Die verschiedenen Arten
unterscheiden sich in den gleichsam als Betriebsanweisungen gespeicherten Informationen,
die in der DNS enthalten sind. Es liegt an ihr, ob aus einem Ei eine Raupe schlüpft,
die sich verpuppt und in einen Schmetterling verwandelt, in ein Pfauenauge etwa,
oder in einen Käfer. Oder ob ein Laubfrosch oder auch ein Mensch daraus wird.
Die Bezeichnung Erbgut umfaßt alles, was über dieses chemische Großmolekül
an Entwicklungs- und Funktionsanweisungen für ein Lebewesen auf die Nachkommen
weitergegeben werden kann. (Ebd., S. 18).In ihrer Grundstruktur
ist dieses Erbgut in allen Lebewesen gleich. Wie das Alphabet einer Sprache hat
es »Buchstaben«, allerdings nur vier verschiedene. Es gibt im Leben
kein »Latein« und »Chinesisch« oder weitere Sprachen und
Schriften als Anweisungen für das Lebendige, sondern nur die eine einzige
Schrift des Lebens. Seit einiger Zeit wissen wir darüber so viel, daß
die Schriftzeichen, die alle Erbinformation etwa des Menschen umfassen, »entziffert«
und aufgezeichnet sind. (Ebd., S. 18).Es gibt solch vollständige
Erfassungen für eine Reihe weiterer Lebewesen, für noch sehr viel mehr
liegen sie in Ausschnitten vor. Das Überraschende ist, daß alle Lebewesen
die gleiche »Schrift« benutzen und daß sich die Unterschiedlichkeit
der Arten in den Erbguttexten direkt ausdrückt. So stimmen Menschen und Schimpansen
zu 98,8 Prozent im Erbgut überein, und diese Menschenaffen stehen uns Menschen
damit eindeutig am nächsten. Zum Gorilla macht der Unterschied mehr als 2
Prozent und zum Orang-Utan etwa 2,5 Prozent aus. Mit kleinen Fliegen haben wir
nur noch etwa die Hälfte der Erbinformation gemeinsam. Nur noch? Was ist
damit gemeint? Noch weniger Übereinstimmung haben wir zwar mit Bakterien,
wie etwa den Coli-Bakterien in unserem Darm, aber genug, um zweifelsfrei daraus
die Verwandtschaft aller Lebewesen untereinander ableiten zu können. Bestimmte
Erbeigenschaften, Gene genannt, können bei den verschiedensten Lebewesen
gleich sein. Daraus folgt, daß alles Leben aus einer Wurzel stammt und daß
die Lebensformen einander umso ähnlicher sind, je mehr sie im Erbgut übereinstimmen
und umgekehrt. (Ebd., S. 18-19).Somit verbinden uns Gene
mit den einfachsten Lebewesen auf eine Art und Weise, die frappierend ist. Das
Leben stellt sich als Strom dar, der sich in vielfältiger Weise an den unterschiedlichsten
Stellen aufgespaltet hat. Der Lebensfluß fing an einer Quelle an, vergleichbar
dem Beginn eines neuen Lebewesens mit der Entwicklung der befruchteten Eizelle.
Mit unserer Gegenwart machen wir gleichsam einen Schnitt durch den vielfach verzweigten
Fluß und sehen an den Enden die heutigen Lebewesen, die Bäume und Vögel,
die Fische und uns Menschen. Von jedem existierenden Lebewesen kommen wir über
diesen Strom dey Lebens zurück zur Quelle, zum Anfang. (Ebd., S. 19-20).Alles
Leben auf der Erde, die Erde selbst und der ganze Kosmos sind aus einer sehr langen
Entwicklung hervorgegangen, die einen Anfang hatte und seit Millionen und Milliarden
von Jahren im Laufen ist. Dabei entstand aus einfachen Anfängen immer Komplexeres.
Einfachste Lebewesen beherbergte die Erde den allergrößten Teil ihrer
Existenzzeit, nämlich seit mindestens vier Milliarden Jahren. (Ebd.,
S. 21).Wir Menschen sind das höchstentwickelte Lebewesen!
(Ebd., S. 22).
Unter der Bezeichnung »Evolution« fassen die Biologie
und Paläontologie alle Entwicklungen vom Ursprung des Lebens bis zu seiner
heutigen Vielfalt zusammen. Die Erdgeschichte, die Geologie, kennt ähnliche
Veränderungen, die mit der Entstehung der Erde und der Verschiebung der Kontinente
auf ihrer Oberfläche zusammenhängen, verwendet aber den Ausdruck Evolution
dafür kaum. Hingegen ist es in der Astronomie und insbesondere in der Kosmologie
gebräuchlich, von der Evolution des Kosmos, der Galaxien, Sterne und Planeten
zu sprechen. (Ebd., S. 23).Begründet wird dies mit dem
Hinweis auf die Erfahrung, daß die Zeit eine »Richtung« hat,
also nur fortschreitet und nicht in sich wieder zurückkehrt oder Kreisläufe
macht. Jedes Jahr auf der Erde, das wir selbst erleben, trägt diese Richtung
in sich. Das letzte ist vorbei und kommt nicht wieder. Das neue Jahr, das kommt,
wird anders sein als das gegenwärtig laufende. Aus guten Gründen unterscheiden
wir zwischen Vergangenheit und Zukunft. Jahreskreise werden so zu Spiralen, die
dem »Zeitpfeil« folgen. Für das Leben bedeutet dies die unablässige
Aufeinanderfolge von Werden und Vergehen, von neuern Leben und Tod. (Ebd.,
S. 23-24).Auch das ist uns nur allzu geläufig, selbst wenn
wir uns noch so sehr gegen das Vergehen stemmen möchten. Die Zeit erscheint
uns unerbittlich. In ihrem Verlauf altern wir. Altert das Leben insgesamt? Eigentlich
nicht. Denn das Altern gehört zum einzelnen Lebewesen, die Bakterien und
andere ganz kleine Organismen ausgenommen, die sich durch Teilung vermehren. Der
Organismus durchläuft von der Entstehung in der befruchteten Eizelle über
sein Wachstum bis hin zum Tod jene Entwicklung, die wir Altern nennen. Mit der
Fortpflanzung erzeugen die Lebewesen jedoch immer wieder »neues«,
d.h. junges Leben, so daß das Sterben des Individuums im Lebensprozess so
lange nicht wirklich etwas ausmacht, wie sich die betreffende Lebensform erfolgreich
fortpflanzt. Damit erneuert sie sich ununterbrochen. Gealtert und zum Aussterben
verurteilt sind all jene Lebewesen, die sich nicht mehr oder nicht genügend
fortpflanzen. Auch das kennen wir: Ganze Familien »sterben aus«, weil
sie keine Nachkommen mehr hinterlassen haben. Mitunter trifft dies auch für
kleine Völker zu. Weiter kommt nur, wer sich erfolgreich genug fortgepflanzt
hat. Darin steckt das Kernstück der Evolution: Überleben heißt
sich mit nachhaltigem Erfolg fortpflanzen. (Ebd., S. 24).Halten
wir kurz inne: Alles Leben, das es hier und jetzt auf der Erde gibt, muß
sich folglich bislang mit Erfolg fortgepflanzt haben, sonst gäbe es all die
Blumen und Tiere, die Bäume und Bakterien nicht, die gegenwärtig existieren.
Allesamt haben die heutigen Lebewesen also den gleichen Erfolg gehabt. (Ebd.,
S. 24-25).Weitaus mehr, vielleicht das Hundertfache an Arten, überlebte
nicht bis in die Gegenwart. Sie sind irgendwann ausgestorben. Gründe dafür
sind viele vorstellbar. Wiederum liefert die Erfahrung eine ganze Reihe davon.
So erzeugen offenbar alle Lebewesen insgesamt mehr Nachkommen, als in den kommenden
Generationen überleben können. Welche Unmengen an Samen streuen die
uns umgebenden Pflanzen aus. Viele Millionen kommen auf den seltenen Erfolg, daß
ein Same keimt und aufwachsen kann. Die Masse der Anderen verhindert, daß
auch nur ein nennenswerter Anteil der Samen es schaffen wird. Nur in den seltenen
Fällen neuer freier Möglichkeiten zum Wachstum fällt der Erfolg
groß aus. Die Landwirtschaft kennt dieses Problem und schlägt sich
seit Anbeginn der Bodenbewirtschaftung mit den »Unkräutern«,
mit der Konkurrenz der anderen herum. Aber auch die eigene Konkurrenz ist groß
und kann mächtiger wirken als der Druck, der von anderen, ähnlichen
Arten ausgeht. Wo ein neuer Wald angesät oder gepflanzt wird, müssen
die meisten Bäume zu Grunde gehen, bis der Jungwuchs den Zustand eines ausgewachsenen
Waldes erreicht. Selbstausdünnung nennt der Forstmann diesen Vorgang im Naturwald;
im Forst beschleunigt er ihn mit seinen Durchforstungsmaßnahmen. Geradezu
verschwenderisch geht das Leben mit der Fortpflanzung um. Das ergibt jeder vertiefende
Einblick in die Lebensweise von Tieren und Pflanzen. (Ebd., S. 25-26).Warum
dieser Aufwand? Eine Antwort darauf kennen die Züchter von Pflanzen und Tieren
schon seit vielen Jahrhunderten. In der Natur geschieht ganz von selbst das, was
unter der Hand des Züchters vorgenommen wird: Auslese! Sie, die natürliche
wie auch die von Menschenhand getätigte Selektion, legt fest, wie sich das
betreffende Leben weiterentwickeln wird. Der Mensch geht nach seinen Gesichtspunkten
vor. In der Natur hingegen gibt es keine vorgegebenen Züchtungsziele. Die
Lebensbedingungen schwanken von Ort zu Ort und mit der Zeit. Sie können sich
anhaltend verändern und neue Zustände erzeugen oder allen Schwankungen
zum Trotz langfristig in etwa gleich bleiben. Kein Lebewesen, uns Menschen eingeschlossen,
kann aber wissen, wie die Lebensbedingungen in 10 oder 20 weiteren Generationen
sein werden. Die Antwort des Lebens auf diese Unsicherheiten der Zukunft liegt
in den Variationen, die es entwickelt und immer wieder erneuert. Wir sind damit
vertraut, daß kein Mensch einem anderen völlig gleicht. (Ebd.,
S. 26).Zu Recht halten wir uns alle für Individuen. Selbst
eineiige Zwillinge sind einander nichtwirkli ganz exakt gleich, wenn sie sich
auch für andere sehr ähnhch sehen können. Emzigartlg sind wir Menschen
aufgrund dieser Unterschiedlichkeiten. Wir empfinden diese Unverwechselbarkeit
als ein besonderes Gut. Sie schenkt uns die Identität mit uns selbst. Wir
sind nicht einfach vervielfältigte Ausgaben der Art Mensch. Jeder von uns
stellt etwas Besonderes, weil noch nie Dagewesenes dar. Diese »innere Vielfalt«
ist bei den Tieren und Pflanzen die Grundlage für die Variationen, die Züchter
genutzt haben, um Lebewesen zu »erzeugen«, die anders sind als die
Ausgangsform. Wer würde ohne Kenntnis der generationenlangen Züchtungen
vermuten, daß Dackel wie Mops die Nachkommen von Wölfen sind? Doch
nicht nur in der Individualität der Menschen und in den Ergebnissen der Züchter
sehen wir die Vielfältigkeit der Arten. Bei genauerer Betrachtung finden
wir viele Beispiele von mehr oder weniger ausgeprägter Variabilität
in der Natur. (Ebd., S. 26-27).Charles Darwin kam über
die Züchter darauf, die Abweichungen zu beachten, die ganz normal in der
Natur auftreten. Zusammen mit der Überproduktion von Nachkommen ergibt sich
das, was er das Ringen um die Existenz nannte. Er meinte damit also weit mehr
die Anstrengungen, gleichsam das »Strampeln « als den später
geprägten Ausdruck » Kampf ums Dasein«, von dem der Sozialphilosoph
Herbert Spencer sprach und meinte, die Natur sei rot von Blut an Zähnen und
Krallen. (Ebd., S. 27).Die menschliche Geschichte stellt
unabhängig davon, daß Veränderungen in ihr viel schneller als
in der Natur ablaufen, die winzig kleine Spitze der viel längeren Zeitspannen
dar, in denen die Naturgeschichte bisher abgelaufen ist. Als geschichtliche Vorgänge
sind beide im Grundsatz nicht wiederholbar. (Ebd., S. 28).Fit
fürs Überleben zu sein heißt nicht automatisch, über die
größte Kraft zu verfügen. Fit sein bedeutet Lebensgestaltung.
Was »tauglich fürs Überleben« ist, ergibt sich erst aus
der Rückschau. Die Gegenwart lebt für die Zukunft, und diese ist offen.
Der momentane Erfolg muß nicht von Dauer sein. Die Geschichte lehrt eher
das Gegenteil. Evolution sei zukunftsblind, meinen die meisten Evolutionsbiologen.
Das Wechselspiel zwischen Varation und Auslese (Selektion) findet in der Gegenwart
unter den gegenwärtigen Bedingungen statt. Auf die Zukunft sei dieses »Spiel«
nicht ausgerichtet. Die Evolution hat kein Ziel; kann und darf der Mensch als
Teil dieser Evolution folglich auch kein Ziel haben? (Ebd., S. 30).
Die auslesende Wirkung der Umwelt kann man sich leicht vorstellen.
Eigentlich experimentieren wir Menschen ja schon seit Jahrtausenden damit, weil
wir die Erde verändern und so der Evolution neue Bedingungen geschaffen haben.
Es gibt auch jede Menge von natürlichen Umweltveränderungen, wie verheerende
Überschwemmungen und Stürme, Vulkanausbrüche oder Klimawandel.
Vor 15000 Jahren reichte Gletschereis von den Alpen noch fast bis München
und von Skandinavien her bedeckte es weite Teile Nordostdeutschlands. Zehntausend
Jahre sind für die meisten Lebewesen »kurz«, denn die Entstehung
der Arten dauert in der Regel viel länger. Nahezu alle Tier- und Pflanzenarten,
die es gegenwärtig in Mitteleuropa gibt, gab es schon während der Eiszeit.
Sie lebten in Rückzugsgebieten, die das Eis verschont hatte, wie auf der
Iberischen Halbinsel oder im südöstlichen Balkan und Vorderasien. Andere
überdauerten die Vereisungszeiten im fernen Ostasien. Die letzte Eiszeit
ging vor gut 10000 Jahren ziemlich plötzlich zu Ende. Eine gewaltige Verschiebung
setzte daraufhin in der Natur ein. Sie ist bis heute noch nicht ganz abgeschlossen.
Das Wirken der Menschen stellt somit nichts grundsätzlich Neues dar. Züchtungen
gehen, da ein Ziel vorschwebt, allerdings weit schneller als natürliche Veränderungen.
(Ebd., S. 31).Doch woher kommt die Variation? Zweifellos ist sie
die Grundlage dafür, daß sich die Arten verändern können.
Wie aber kommt sie zustande? Diese Frage trieb Darwin sehr heftig um, aber er
konnte sie nicht beantworten, weil die Natur der Vererbung und die Träger
des Erbguts in seiner Zeit noch unbekannt waren. Man wußte nur, daß
es Vererbung gibt, aber nicht, wie sie funktioniert. Es war auch klar, daß
Kinder nicht einfach Abbilder ihrer Eltern sind, und die Mädchen den Müttern,
die Söhne den Vätern gleichen. Selten genug ist das der Fall, so daß
sich die meisten Eltern damit herumschlagen müssen, daß ihre Kinder
anders als sie sind - und die Kinder umgekehrt genauso! (Ebd., S. 32).Inzwischen
deckte die Biologie die Natur des Erbguts auf. Sie erwies sich als noch weitaus
vielfältiger, als man das angenommen, ja erahnt hatte. Die im Erbgut gespeicherten
Informationen können in so unfaßlicher Vielfältigkeit miteinander
kombiniert werden, daß die Möglichkeiten, die allein in zwei Menschen
stecken, in astronomische Zahlengrößen aufsteigen. Lottospiel-Wahrscheinlichkeiten
sind winzig im Vergleich zur Kombinationsvielfalt, die uns das Erbgut bereitstellt.
Daraus ergibt sich, daß es weder in der Vergangenheit jemals einen Menschen
gegeben hat, der mit einem heutigen im Erbgut identisch gewesen wäre, noch
daß es jemals wieder einen solchen geben wird!Kein Wunder also, daß
die Nachkommen so unterschiedlich aussehen und so verschiedene Anlagen oder Fähigkeiten
mitbringen. Die besonderen Qualitäteneines neuen Menschen lassen sich nicht
aus den Eigenschaften der Eltern vorhersagen. Weder in guter, noch in schlechter
Hinsicht! (Ebd., S. 32-33). Diese Vielfältigkeit schützt
uns davor, Erregern von Krankheiten gleich massenhaft zum Opfer zu fallen. Manchmal
gelingt es Bakterien oder Viren, in eine menschliche Bevölkerung hineinzukommen,
die nicht genügend Vielfalt aufweist. Dann gibt es furchtbare Verluste, wie
seinerzeit, als vor rund 500 Jahren die Europäer ihre Krankheiten nach Amerika
hinübergetragen hatten. Dort lösten für uns »einfache«
oder eher belanglose Krankheiten wie Masern, gewöhnliche Grippe oder Pocken
katastrophale Massensterben bei der indianischen Urbevölkerung aus. Normalerweise
schützt uns aber die innere Vielfalt recht gut vor den Angriffen der gefährlichen
Mikroben. Bei Tieren und Pflanzen verhält es sich grundsätzlich ähnlich.
Deswegen brauchen Land- und Forstwirtschaft die züchterische Vielfalt, damit
ihre Nutztiere und -pflanzen nicht plötzlich von Seuchen vernichtet werden.
(Ebd., S. 33).Die gute Seite dieses Krieges gegen die Mikroben
ist die Individualität. Wir brauchen sie also nicht nur, um jeder auf seine
Weise sich selbst erkennen und als Individuum einschätzen zu können,
sondern auch als Schutz vor den krankmachenden oder tötenden Feinden. Die
Folge dieser Gegebenheit ist der Wandel. Seit gut einem Jahrhundert wissen wir,
daß sich die Krankheitserreger immer wieder verändern und »anpassen«.
Mittel, die vorher sehr wirksam waren, verlieren oft viel zu schnell ihre Wirksamkeit.
Bei Krankheiten, wie der Malaria, spielt sich der Wettlauf zwischen den Erregern
und den Medikamenten gegen sie, buchstäblich vor unseren Augen ab. Noch drastischer
zeigte uns das AIDS-Virus die ungemein schnelle Anpassungsfähigkeit und Veränderlichkeit.
Natürliche Auslese, Selektion, verursacht weit seltener die »Natur«
, die wir zumeist meinen, also Wetter und Klima, Wasser oder Trockenheit oder
gar die Naturkatastrophen, sondern weitaus wirkungsvoller greifen die Mikroben
in den Gang des Geschehens ein. Krankheiten verursachen oft die hohen Verluste,
denen zufolge sich die genetische Zusammensetzung verändert. Solche Veränderungen
sind Evolution, weil sie vom Ausgangszustand abweichen und nicht wieder zu diesem
zurückkehren. (Ebd., S. 33-34).Warum ist das so wichtig?
Passen wir uns, passen sich die Betroffenen, nicht einfach auch dieser Art von
Umwelt an? Das ist richtig! Aber gerade weil es so ist, erfahren wir Entscheidendes
über die Veränderungen selbst. Denn von den Mikroben wissen wir, daß
die meisten Veränderungen zufällig zustande kommen. Fehler treten beim
Kopieren des genetischen Programms auf. Es kommen stückweise Verdoppelungen
zustande oder ein Teil des Erbguts wird an anderer Stelle eingesetzt. Bei Zigtausenden
von Genen und vielen Millionen einzelner Bausteine sind nahezu unberechenbar hohe
Anzahlen von Möglichkeiten dazu gegeben. Was »zufällig«
zustande kommt, kann in der neuen Zusammensetzung andere Wirkungen entfalten.
Genau darin steckt das Problem mit den Mikroben. Weil sie sich so schnell und
gleich in solchen Massen vermehren, gibt es auch entsprechend rasch zufällige
Veränderungen, die gegen die benutzten Medikamente resistent sind oder die
auf andersartige Weise infektiös werden können. (Ebd., S. 34-35).
Doch umgekehrt verhält es sich bei der Fortpflanzung der betroffenen
Lebewesen ganz ähnlich. Auch sie mischen ja das Erbgut immer neu und stellen
die Mikroben damit vor eine neu formierte Abwehr. Wer für seine Seite einen
»Treffer« landet, hängt von den geschilderten Zufälligkeiten
ab. Die zusammengefaßt sogenannten Mutationen gelten daher als Produkt des
Zufalls. (Ebd., S. 35).Das ist richtig und mißverständlich
zugleich. Denn wir meinen mit Zufall meist das, was beim Würfeln oder bei
der Ziehung der Lottozahlen herauskommt. Doch das ist der »reine Zufall«
und nicht jener ganz andere, der im Leben und Überleben die Hauptrolle spielt.
Im reinen Zufall des Würfelns hat die gerade gewürfelte Zahl keinerlei
Einfluß auf die nächste, die kommen wird. »Per Zufall«
kann es fünfmal hintereinander die Eins oder die Sechs geben, oder jedesmal
eine andere Zahl. Der jetzige Wurf beeinflußt den nächsten nicht. In
der Evolution sieht die Rolle des Zufalles jedoch ganz anders aus. Jede zufällige
Änderung hängt davon ab, in welchem Zustand sich das Erbgut befindet
und welche Neukombination oder Veränderung lebensfähig ist. Falsche
Kombinationen entwickeln sich erst gar nicht oder scheitern zu früh, bevor
sich der Träger dieser Änderung wieder fortpflanzen kann. Allein die
Voraussetzung, daß sich jede Veränderung in das Leben des Organismus
einfügen muß, sortiert einen Großteil der echten Fehler aus.
(Ebd., S. 35-36).Dennoch brauchen solche Mutationen, die im Erbgut
erhalten und weitergegeben werden, nicht gleich oder grundsätzlich vorteilhaft
zu sein. Es reicht, wenn sie zunächst keinen Schaden anrichten. Die große
Mehrheit aller Mutationen ist daher »neutral«. Sie bleiben unbemerkt
und werden mitgenommen, weil sie weder Schaden noch Nutzen bringen. Das kann sich
irgendwann ändern, wenn plötzlich solche Kombinationen auftreten, die
viele schon vorhandene Änderungen in einen neuen, in einen richtig guten
Zusammenhang bringen. Dann werden all diese Änderungen wirksam und das sie
tragende Lebewesen kann sich über die nächsten Generationen mit seinesgleichen
verändern. Nicht das einzelne Individuum trägt nämlich die Neuerung
in sich, sondern viele Artgenossen bereits mit ihm. (Ebd., S. 36). Um
zu einer nachhaltigen Veränderung zu kommen, würde ein Individuum allein
gar nichts beitragen können, wenn nicht viele Partner schon vorhanden wären,
die bereits ähnlich ausgestattet sind. Im Ergebnis scheint die Entwicklung
daher »gelenkt« oder »gerichtet«, weil nur bestimmte Veränderungen
zulässig sind. Alle anderen passen nicht, sind nicht fähig zu überleben
oder ergeben keine brauchbaren Kombinationen mit Artgenossen, die diese »Mutation«
nicht tragen oder ertragen können. Aus diesem Grund war und ist es auch gänzlich
undenkbar, einem Hund durch Züchtung Flügel wachsen zu lassen oder bei
Haushühnern das Eierlegen durch das Gebären von lebenden Jungen ersetzen
zu wollen. Das Wozu ergibt sich aus dem Woher und nicht aus einer vorgegebenen
Richtung oder gar aus einem festgelegten Ziel. Selbst wenn wir Menschen uns ein
Ziel vorgeben möchten, muß dieses »realistisch«, also auf
die gegebene Wirklichkeit bezogen sein. (Ebd., S. 36-37).Diese
Wirklichkeit beschränkt uns in so vielfältiger Weise, daß die
Lösungen, die der Mensch suchte und fand, fast immer mit Hilfe von Technik
und mit äußeren, von unserem Körper unabhängigen Produkten,
den Gerätschaften im weitesten Sinne, zustande kamen. Fliegen können
wir nicht mit eigenen Armen, die Schwingen von Adlern tragen, wohl aber mit Fluggeräten.
Beim Laufen stellen knapp 10 Sekunden für 100-Meter-Sprints die biologische
Grenze dar. Für Motoren oder Raketenantriebe spielen die Grenzen, die unser
Körper setzt, natürlich keine Rolle. Mehr noch: Weil die Vorgänge
bei der Neuzusammensetzung des Erbguts in den Organismen keine Möglichkeit
haben, in die Zukunft zu blicken, werden sie stets nur in der Gegenwart ihrer
Träger wirksam. Die Evolution ist zukunftsblind, wurde bereits betont. Das
stimmt hinsichtlich einer bestimmten Zielsetzung. Sie ist jedoch offen, sehr weit
offen sogar, für die Zukunft, weil sie mit der unfaßbaren Vielfalt
an Möglichkeiten zu neuen Kombinationen mehr »bietet«als die
Zukunft tatsächlich ausschöpfen und durchprobieren kann. (Ebd.,
S. 37).Was
oft als »blinder Zufall« mißverstanden wird, beinhaltet eigentlich
die denkbar beste Antwort des Lebens auf alle Unwägbarkeiten der Zukunft.
Weil das Leben zukunftsorientiert ist, konnte es bestehen und wird es weiter erfolgreich
bleiben. Komme, was da wolle! (Ebd., S. 38). |
Damit
löst sich die oft aufgeworfene Frage nach dem Woher und Wohin der Evolution
ganz von selbst. Das Woher umfaßt die ganze Geschichte des Lebens vom allerersten
Anfang an, als Materie sich so organisiert hatte, daß Vorgänge ablaufen
konnten, die wir in der Rückschau mit dem Leben verbinden: Abgrenzung von
innen und außen, Stoffwechsel, Aufnahme und Umsatz von Energie, Fortpflanzung,
Veränderung (also Evolution). Alle Teile davon lassen sich in der nichtlebendigen
Natur finden. Die besondere Kombination ergibt den Zustand, den wir für »lebendig«
halten, aber nicht immer so ganz eindeutig von nicht oder noch nicht lebender
Materie unterscheiden können. So tragen Viren prinzipiell gleichartig aufgebaute
Information in ihrem Erbgut wie alle »echten Lebewesen« auch. Dennoch
müssen sie anders betrachtet werden, weil sie lebende Zellen brauchen, um
selbst »lebendig« werden zu können. Man hat die Existenzform
der Viren als »geborgtes Leben« bezeichnet. Weniger geheimnisvoll
verhält es sich mit unseren Roten Blutkörperchen. Sie sind so kennzeichnend
geformt, daß sie bei mikroskopischer Betrachtung mit nichts anderem im Blut
verwechselt werden können. Da sie aber keinen Zellkern und damit auch kein
eigenes Erbgut haben, können sie sich auch nicht fortpflanzen. Zum »Leben«
brauchen sie das Blut des Körpers, um entstehen zu können das Rote Knochenmark.
Sie transportieren Sauerstoff und stellen damit einen ganz und gar unentbehrlichen
Bestandteil des Körpers dar. Sie entstehen, wachsen und sie altern, bis sie
schließlich nach rund 100 Tagen, wenn ihnen sonst nichts passiert, vergehen.
(Ebd., S. 38-39). Die modernen Methoden der Analyse erlauben
es inzwischen, freies Erbgut etwa im Boden oder in unseren Ausscheidungen nachzuweisen.
Bruchstücke von DNS-Erbgut halten sich noch lange in den Resten von Lebewesen,
die nach und nach zerfallen. Für sich allein genommen sind sie natürlich
nicht mehr lebendig, auch wenn sie vordem die Informationen getragen hatten, die
für das Leben der Art, von der sie stammen, die unentbehrliche Voraussetzung
gewesen waren. Lebendiges und Totes sowie Unbelebtes gehen somit andauernd ineinander
über. Das Wohin stellt sich als Frage daher beim Menschen, wenn er nach Sinn
und Zweck sucht. Die Evolution als Ganzes erweist sich als großartiger Vorgang,
bei dem im Verlauf von mindestens 4 Milliarden Jahren auf der Erde eine phantastische
Vielfalt von Lebewesen entstand, die nachhaltig und anhaltend die äußere
Natur der Erde veränderten. (Ebd., S. 39).Zu oft ziehen
wir ... den »falschen« »echten Zufall« heran, anstatt
den »richtigen«, den vom Vorhandenen gelenkten Zufall zu Grunde zu
legen. Die Vergangenheit, insbesondere das Aussterben, sagt uns vielleicht mehr
über die Zukunft! (Ebd., S. 40).
So unglaublich es auch klingen mag, es überlebten solche Verwandte
der Dinosaurier, die wir ohne genauere Kenntnisse ihnen gar nicht zuordnen würden,
nämlich die Vögel. Ihre große Zeit begann, als die Dinosaurier
ausgestorben waren. (Ebd., S. 44).Das Leben wurde auf seinem
Weg durch die Zeiten offenbar immer wieder von mehr oder weniger gewaltigen Katastrophen
getroffen. Dabei geriet es mitunter fast aus der Bahn und an den Rand der Vernichtung.
Vor etwa 400 Millionen Jahren wäre es beinahe ganz zu Grunde gegangen. Das
Ende der weitaus besser bekannten Dinosaurier wurde wahrscheinlich - so der gegenwärtige
Stand der Forschung - durch ein Zusammentreffen von mehreren gewaltigen Einschlägen
von Riesenmeteoriten und Vulkanausbrüchen ausgelöst. Sie veränderten
weithin auf dem Land wie auch im Meer die damaligen Lebensbedingungen so sehr,
daß nahezu alle Tiere ausstarben, die mehr als 10 Kilogramm Körpergewicht
hatten. Das Meer muß seinen Zustand plötzlich so stark verändert
haben, daß ein noch größerer Anteil des Lebens in diesem größten
und für gewöhnlich stabilstem Lebensraum zu Grunde ging. (Ebd.,
S. 45). Vorsichtige Bilanzen besagen, daß der allergrößte
Teil der Lebewesen - Einzeller und Bakterien, die die wahren Überlebenskünstler
sind, wohl ausgenommen - nicht auf Dauer überlebt hatte, sondern ausgestorben
ist. Mit 90 bis 99 Prozent »Fehlschlägen« ist zu rechnen. Das
Aussterben ist also völlig normal im Gang des Lebens; außergewöhnlich
sind die sogenannten lebenden Fossilien. Damit meint man solche Arten von Lebewesen,
die es seit vielen Jahrmillionen gibt. (Ebd., S. 47-48).Bei
uns Menschen gehören Fossilien mit eindeutig aufrechtem Gang, aberSchädelgröße
und -form, die sehr stark an Menschenaffen erinnert, zu ... Zwischen-oder Übergangsstadien.
Es war weahrscheinlich auch eine Katastrophe, die den Anstoß zur eigentlichen
biologischen Menschwerdung gegeben hatte. Vor zweieinhalb bis drei Millionen Jahren
schloß sich die Landbrücke zwischen den beiden Kontinentalblöcken
von Nord- und Südamerika und wurde über eine Reihe von Vulkanen zudem,
was wir heute die »mittelamerikanische Landbrücke« nennen. Als
sie vor etwa drei Millioenn Jahren weitgehend fertig war, erzeugte sie einen besonderen
Meeresstrom, der das Klima der ganzen Erde seither verändert hat und nachhaltigst
beeinflußt, den Golfstrom. Seine warmen Wassermassen ließen die riesige
Eiskappe über dem Nordpol weitgehend abschmelzen und das vorher ziemlich
ruhige Klima aus dem »Gleichgewicht« (Anführungszeichen
von mir; HB) geraten. Es setzte die »eiszeitliche Klimaschaukel«
mit ihrem Wechsel zwischen Kaltzeiten (= Eiszeiten) und Warmzeiten (= Zwischeneiszeiten)
ein, der bis in unsere Gegenwart andauert. Zusammen mit gewaltigen Vulkanausbrüchen
in Ostafrika gestalteten diese erdgeschichtlichen Großereignisse das Leben
neu. Für noch in den Tropenwäldern Afrikas vorhandene Formen von Menschenaffen
wurde die an Großtieren so reiche Savanne mit dem Wechsel von Regen- und
Trockenzeiten ein ergiebiger neuer Lebensraum. (Ebd., S. 48-50).Die
fernen Vorfahren der Menschen schafften es, sich diese neuen Lebensmöglichkeiten
nutzbar zu machen. Sie gewannen mit mehr Fleisch in ihrer Nahrung ganz erhebliche
Vorteile. Diese äußern sich bis heute in mehr Kindern pro Frau und
weit längerer Betreuungszeit des Nachwuchses als bei den Menschenaffen. In
der Bilanz ergab sich etwa eine Vervierfachung bis Verfünffachung der Fortpflanzungsleistung
für die werdenden Menschen. Die Katastrophen hatten dazu die neuen Rahmenbedingungen
geschaffen. (Ebd., S. 50). Überlegungen, daß die
durchschnittliche Existenzzeit einer Art (bei Säugetieren) mindestens eine
Million Jahre beträgt, mögen tröstlich erscheinen. Der Neandertaler
überlebte rund 200000 Jahre, also ein gutes Stück länger als der
moderne Mensch. Für diesen »modernen Menschen«, für Homo
sapiens (sapiens; HB), ist es jedoch ohne Belang, wie der Durchschnitt für andere Lebensformen
aussieht. Für die Zukunft des Menschen geht es wohl erstmals in der gesamten
Geschichte des Lebens darum, wie sich der Mensch benimmt, wie wir uns verhalten!
Wir haben es in der Hand, unser Überleben zu sichern und die Zukunft lebenswert
zu erhalten. Ob wir dieser Verantwortung gerecht werden können, hängt
auch keineswegs davon ab, was für ein Erbe wir in uns tragen. Die Genetik
spielte bis in unsere Gegenwart die überwältigende Rolle in der Evolution.
Deshalb verlief sie so langsam. Mit der Entstehung der Kultur sind die Entwicklungen
vielhundertfach beschleunigt worden. Was das bedeutet, ergibt sich am besten aus
einer genaueren Betrachtung der Genetik in der Evolution des Menschen. (Ebd.,
S. 51-52).
Geneteiker haben das Erbgut von Mensch und Schimpanse verglichen.
Ihre Befunde überraschten. .... Denn zu 98,8 Prozent sollten wir demnach
(noch) Schimpanse sein, weil wir die gleichen Gene wie sie haben. Und nur zu etwas
mehr als einem Prozent »Mensch«. Alle Menschen sind sich untereinander
genetisch aber so ähnlich, daß Unterschiede nur im Promillebereich
festzustellen sind. Was besagt dieser »Ein-Prozent-Unterschied« zwischen
Affe und Mensch? Zunächst einmal bedeutet der Befund, daß wir Menschen
eine ganze Anzahl, nämlich knapp 400 verschiedene Gene in uns tragen, die
Schimpansen und andere Menschenaffen nicht haben. Da sich die Stammeslinien von
Menschenaffen und Menschen aber bereits vor gut 6 Millionen Jalhren voneinander
getrennt hatten, würde sich rein rechnerisch ein neues oder anderes Gen alle
15000 Jahre ergeben. In dieser Zahl wird die Langsamkeit der biologischen Evolution
recht anschaulich. Tatsächlich besitzen die Menschenaffen im wesentlichen
sogar dieselben Blutgruppen wie wir Menschen. (Ebd., S. 53-54).Von
einer anderen Affenart, die uns noch viel ferner steht, stammen Befunde zu einem
weiteren wichtigen Blutfaktor, der z. B. über Erfolg oder Misserfolg von
Schwangerschaften mit entscheidet. Das ist der Rhesus-faktor, benannt nach den
südasiatischen Rhesusaffen. Das zeigt: Wir sind Teil des Lebens -und nicht
außerhalb der lebendigen Natur! (Ebd., S. 54).Es sind
die Eigenschaften und Fähigkeiten, wie die Sprache, die Fähigkeit, Schrift
zu entwickeln, zu erlernen und zu benutzen, Musik hervorzubringen, zu denken,
bewußt zu handeln und zu planen. Unser Denken in Zeit und Raum,. kurz unser
Geist, gehört fraglos weit mehr zum Menschsein als der Körperbau.
(Ebd., S. 56). Das Menschenkind kommt bei der Geburt mit einem
im Vergleich zum Schimpansenbaby oder zu andern Affenkindern viel zu großen
Kopf und einem geradezu unternetwickelten Kopf zur Welt. Kopf- und Körperentwicklung
scheuinen aus dem Gleichmaß geraten. Auch nach der Geburt entwickelt sich
der Kopf mit dem vergleichsweise riesigen Gehirn sehr rasch weiter, während
der Körper weit dahinter herhinkt. Deshalb dauert es auch rund ein Jahr,
bis das Neugeborene anfängt, sich auf die Füße aufzurichten und
das Gehen zu versuchen. Schneller erlernt es das Sprechen und die Sprache als
die völlige Beherrschung des Körpers. Ein drei- oder vierjähriger
Schimpanse ist längst ein blitzschneller, frecher »Lümmel«,
wenn das Kleinkind damit beginnt, beim Laufen in Schwung zu kommen. Die nachgeburtliche
Entwicklung des Kindes nimmt die doppelte bis fast dreifache Zeitspanne bis zum
Selbständigwerden in Anspruch, verglichen mit den Schimpansen. Was sich hierin
ausdrückt, sind unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten. Sie betreffen
nicht nur die kindliche Entwicklung insgesamt, sondern auch einzelne Phasen. Das
Gehirn kommt weit schneller voran als der Körper, die Hände greifen
rascher als die Füße zum Laufen taugen. Als Besonderheit kommt die
Verlagerung des Kehlkopfes nach unten hinzu. Anfänglich sitzt dieser beim
Neugeborenen noch so hoch, daß dieses gleichzeitig an der Mutterbrust trinken
und atmen kann. Dabei verschluckt es sich nicht. Mit der Absenkung des Kehlkopfes
gewinnt der Mund- und Rachenraum die Struktur, die eine voll artikulierte Sprache
ermöglicht. Aber nun kann sich der Mensch auch verschlucken und sollte tunlichst
vermeiden, während des Essens (Schluckens) zu sprechen. (Ebd., S. 58-60).Vorgeburtlich
kommt noch etwas höchst Merkwürdiges hinzu. Der sich entwickelnde Fötus
bildet ein embryonales Haarkleid aus, das schon vor der Geburt wieder abgestoßen
und dann nicht wieder erneuert wird. Die Anlagen zur Entwicklung eines Fells sind
also vorhanden. Sie werden jedoch normalerweise nachgeburtlich nicht wieder »angeschaltet«.
Nicht das Vorhandensein von Genen an sich ist entscheidend, sondern zu welchem
Zeitpunkt der Entwicklung sie tätig werden. Einzelne so genannte Regulator-Gene
können durch unterschiedliches Aktivieren anderer somit die weiteren Entwicklungen
sehr stark verändern, obwohl sich am Vorhandensein der Gene nichts geändert
hat. Kurz gefaßt: Der Mensch weicht bei seiner Entwicklung im »Zeitprogramm«
weitaus stärker von den Menschenaffen ab, als an dem Grad seiner Abweichung
inden Genen abzulesen ist. Die Menschwerdung liegt offensichtlich nicht allein
in den anderen Genen als vielmehr in einem anderen Programm begründet.
(Ebd., S. 60).
Die von einer Sprache unabhängige Verständigung funktioniert
recht gut. Sie bildete die Voraussetzung für die Kontaktaufnahme zu ganz
fremden, neu entdeckten Menschengruppen, die von der gesprochenen Sprache der
Ankömmlinge nichts verstehen konnten. (Ebd., S. 62). Der
Mensch konnte nur überleben durch Zusammenhalt, durch Kooperation. Im Kern
seiner Lebensweise steht die Familie. Sie konnte nur erfolgreich sein, wenn die
Kinder entsprechend gut und sicher über die so stark verlängerte Betreuungszeit
versorgt wurden. Wie schon ausgeführt, fällt diese bei Menschenkindern
doppelt oder dreimal so lange aus wie bei Schimpansen bis zur hinreichenden Selbständigkeit.
(Ebd., S. 64).Für das Überleben zählt in der Evolution
nur eines. Das sind die Nachkommen. Wer keine Nachkommen hinterläßt
oder zu wenige im Vergleich zu anderen, stirbt mit seiner Linie aus. Unter den
urzeitlichen Bedingungen, die bis in die jüngste Vergangenheit, nämlich
bis zur Entwicklung von Viehzucht und Ackerbau (**)
herrschten, hätte es sicherlich niemals ausgereicht, wenn Menschen nur in
Kernfamilien gelebt hätten. Die Frau mit hilflosen Kleinkindern vielleicht
tagelang zu verlassen, um auf der Jagd oder der Suche nach Fleisch von toten Tieren
erfolgreich zu sein, hätte über kurz oder lang mit Sicherheit das Auslöschen
der Familie zur Folge. Sie wäre Raubtieren oder Feinden der eigenen Art zum
Opfer gefallen. Auch der Geschickteste setzt sich allein im wilden Gelände
einer unverhältnismäßig großen Gefahr aus, verglichen mit
einer ganzen Gruppe von Jägern. Sie kann sowohl dem Wild nachstellen als
auch auf Gefahren achten und sich gegen Angreifer von anderen Gruppen zur Wehr
setzen. Bei Tieren, vor allem auch bei Affen, zeigt sich dies vielfach. Die Strategien
der Gruppen und die Rahmenbedingungen der Gruppenbildung sind gut erforscht. Zudem
wissen wir aus den Forschungen von Völkerkundlern an so genannten Steinzeitvölkern,
daß alle zumindest in Großfamilien, meistens aber in Clans organisiert
waren, die mehrere solcher umfaßten. Über die Zusammenschlüsse
wurden so lebenswichtige Maßnahmen möglich, wie Arbeitsteilung, Spezialisierung
auf bestimmte Aufgaben oder Leistungen und eben der so wichtige Schutz.
(Ebd., S. 64-65).Kooperation zahlt sich aus. Das geht aus allen
Studien hervor, die an sozial organisierten Lebewesen durchgeführt worden
sind. Die Vorteile wirken in doppelter Weise. Zunächst begünstigt die
soziale Kooperation den eigenen Nachwuchs, weil dieser niemals so gut und so gesichert
aufwachsen könnte, wie im Schutz der größeren Gruppe. Die Sorge
für die eigenen Nachkommen gewinnt mit der Kooperation. Aber auch wechselseitige
Vorteile ergeben sich ganz von selbst, denn so gut wie nie wird es jahraus jahrein
den gleichen Ertrag aus der Umwelt geben. Auf Tage und Zeiten des Überflusses
werden auf jeden Fall solche des Mangels folgen. Wer mit anderen teilt und kooperiert,
kann auf deren Bereitschaft, es auch so zu machen, zählen. Das mag nicht
immer klappen, denn betrogen wurde vermutlich von Anbeginn an, aber sicher häufig
genug, so daß sich kooperatives Verhalten langfristig lohnte. (Ebd.,
S. 65-66). Die Egoisten hatten auf Dauer keine Chance. Sie vereinzelten
und waren letztlich zum Aussterben verdammt. Wer sich jedoch der Gruppe gegenüber
kooperativ verhielt, dessen Altruismus wurde auch immer wieder belohnt. »Gibst
Du mir, geb ich Dir!«, sagt der Volksmund. Fachleute nennen das »reziproker
Altruismus«, was nichts weiter meint als wechselseitiger Ausgleich von Hilfen
oder Leistungen. Der Mensch ist daher aus gutem Grund »von Natur aus gut«,
wenn er »den Nächsten hilft«. Nächstenliebe ist so gemein,
und sie wurde seit Urzeiten auch so praktiziert. Wer hingegen nur von Anderen
nimmt, aber nichts gibt, muß in allen Kulturen dieser Welt damit rechnen,
ausgeschlossen oder gar ausgestoßen zu werden. (Ebd., S. 66). Das
mit Abstand beste Mittel, zu diesem wechselseitigen Ausgleich von Leistungen und
Interessen zu kommen, stellt natürlich die Sprache dar. Mit ihr verständigen
sich die Gruppenmitglieder untereinander. An ihr werden Fremde aus anderen Gruppen
erkannt und »eingestuft«. Nur wer versteht, was gemeint ist, kann
uneingeschränkt teilnehmen am Leben der Gemeinschaft. Die Sprache vermittelt
die Identität. Sie wird deshalb auch unbedingt benötigt, um ein gut
funktionierendes Gruppenleben aufzubauen und aufrecht zu erhalten. Von Anfang
an beeinflußt, ja prägt sie das Denken der Menschen. Denn was von klein
an in der Gruppe gelernt wird, das prägt sich auf eine fast unauslöschliche
Weise ein. Wir wissen, daß Erlebnisse und Eindrücke aus der Kindheit
im fortgeschrittenen Alter wieder auftauchen. Oder daß von Krankheiten schwer
beeinträchtigte alte Menschen im Gastland, dessen Sprache sie jahrzehntelang
uneingeschränkt benutzt hatten, wieder auf ihre Muttersprache zurückfallen.
(Ebd., S. 67). Wir benennen die Gefühle, die mit der Prägung
auf die Herkunft verbunden sind, mit den Wörtern »Heimat« und
»Heimweh«. Die Stärke dieser Gefühle drückt aus, ob
und in welchem Ausmaß die betreffenden Menschen mit ihrer Herkunft verbunden,
»verwurzelt« sind. Für »die Heimat« waren und sind
ungezählte Menschen bereit, ihr Leben zu geben. Kämpfe und Kriege verbinden
sich mit dieser starken Bindung an die eigene Gruppe, an das eigene Volk.
(Ebd., S. 67). Im Ausdruck »Nation« steckt das Wort
Herkunft (das Geborensein) und kaum eine andere Bereitschaft, sich mit den eigenen
Leuten kooperativ zusammenzutun, wird von so starken Gefühlen begleitet,
wie dann, wenn es um die Nation geht. Der guten, ja der besten Seite des Menschen,
seine Fähigkeit zu umfassender Zusammenarbeit mit dem Mitmenschen, steht
die so dunkle, andere Seite gegenüber, daß er mittels der Ausgrenzung
von Anderen für diese zum schlimmsten Feind wird. (Ebd., S. 67). Parallelen
dazu im Tierreich sollten uns nachdenklich stimmen: Die am höchsten entwickelten
»Staatswesen« bei Tieren gibt es bei Ameisen. In Ameisenstaaten sind
die einzelnen Ameisen so sehr dem »Wohl des Ganzen« unterworfen, daß
sie auf chemische Signale hin ohne zu zögern umfassend das eigene Leben einsetzen,
mit anderen Kolonien Kriege führen, Sklaven halten und raubend umherziehen.
Was sie praktizieren, fällt oftmals so »menschenähnlich«
aus, daß dieselben Wörter benutzt werden, auch wenn weder Denken, noch
Strategien vergleichbarer Art dahinter stehen. Der extreme soziale Zusammenschluß
hat auch die extremsten Verhaltensweisen »den Anderen« gegenüber
hervorgebracht. In der menschlichen Geschichte spiegelt sich vielfach dieses Ringen
zwischen Freiheit und Abhängigkeit, zwischen Eigenverantwortlichkeit und
einer Staatsräson, die blinden Gehorsam fordert. Ein totalitärer Staat
ist genauso unmenschlich wie ein extremer Individualismus unverantwortlich ist.
(Ein extremer Individualismus ist auch insofern totalitär
und unmenschlich, weil jedes Lebewesen nur genetisch-biologisch
ein »Individuum« und schon soziobiologisch kein »Individuum«
mehr ist; HB). Der Mensch gehört als soziales Wesen in eine menschliche
Gesellschaftsform. Nur dann wird er zu jener Kooperation bereit sein, die allen
daran Beteiligten zugute kommt. (Ebd., S. 67-68).
Aristoteles, der große Gelehrte der Alten Griechen, dessen
Lehren und Ideen bis in die Gegenwart nachwirken, vertrat eine gleich dreifache
Unterlegenheit der Frau. Sie sei dem Manne an Körperkraft (physisch), geistig
(intellektuell) und sittlich (moralisch) unterlegen. (Ebd., S. 69).Eine
der wichtigsten Wirkungen der sexuellen Fortpflanzung, wenn nicht die bedeutendste
überhaupt, liegt ... in der neumischung der Gene. Diese erschwert es den
Krankheitserregern, die Immunabwehr zu überwinden. Deswegen treffen sich
in dieser Funktion auch Kraft und Schönheit. Was die Vogelmännchen zur
Schau stellen, ist nämlich keineswegs eine nutzlose »reine Schönheit«,
sondern der sichtbare Nachweis dafür, daß sie kerngesund und topfit
sind. (Ebd., S. 74). Weibchen sind wahlerisch, weil sie einen
(sehr) hohen Einsatz für die Fortpflanzung leisten, Mannchen hingegen versuchen
jede Chance zu nutzen, die sich bietet. (Ebd., S. 75). Noch
immer, ohne zu werten, betrachten wir jetzt die Verhältnisse bei den nachsten
Verwandten, den Menschenaffen. Ihr Sozial- und Sexualverhalten ist sehr gründlich
erforscht worden. Bei den nächsten Verwandten durchzieht ein für viele
Säugetiere festzustellendes Verhalten den Bereich der Sexualität. Das
ist die Rangordnung. Gesellschaften von Affen und Menschenaffen sind in der Regel
ziemlich ausgeprägt hierarchisch organisiert. An der »Spitze«
der Gruppe steht das kräftigste Männchen, der Pascha oder »Alphamann«.
Er hat sich die Position im Kampf erobert; mitunter auch mit geschickten Allianzen
und List, nicht nur mit seinen Muskeln allein. Die Weibchen in der Gruppe versucht
er zu beherrschen, doch diese verstehen es durchaus, mit eigenen Allianzen gewisse
Gegengewichte und teilweise Unabhängigkeiten zu schaffen. (Ebd., S.
75).Doch gibt es nun im sexuellen Bereich etwas Merkwürdiges,
was die Menschen beim Betrachten der Vorgänge in Zoologischen Gärten
fasziniert oder befremdet. Sexuelles Verhalten wird nicht nur direkt zum ersichtlichen
Zweck der Fortpflanzung eingesetzt, sondern auch, um Bindungen in der Gruppe zu
erzeugen oder gar, wie bei den Bonobo-Schimpansen, um Konflikte zu bereinigen.
Diese Schimpansen können geradezu Frieden stiften mit Sexualität, die
allerdings nun treffender Erotik genannt werden sollte. Wie ausgeprägt und
wer mit wem, hängt von der Zusammensetzung der Gruppe ab. Es ist nicht einfach
»von Natur aus« festgelegt. In Schimpansengruppen geht es mitunter
weit brutaler zu als in Gemeinschaften der Bonobos. Paarung und Fortpflanzung
können zum rechten Zeitpunkt zusammenfallen, tun dies einen Großteil
des Jahres aber überhaupt nicht. Die Sexualität hat eine andere, eine
soziale Funktion. (Ebd., S. 76).Was läßt sich
daraus für den Menschen entnehmen? Erstens, daß die viel gerühmte
Natur keineswegs »das« Vorbild für ein gutes Leben »im
Einklang mit der Natur« sein muß. Die Bedingungen sind verschieden,
die Entwicklungswege, welche die verschiedenen Arten genommen haben, sind es auch.
Wenn etwas in der Natur so ist, heißt das nicht, daß es für immer
und ewig und überall so sein muß! Genau das ist die Botschaft, die
sich aus dem Gewordensein, aus der Evolution ergibt. Zweitens lassen sich Geschlechterrollen
keineswegs nur über die Fortpflanzung bestimmen. (Ebd., S. 76).Das
Verhältnis zwischen Mann und Frau konzentriert sich ... in allen Gesellschaften
der Menschen ungleich stärker auf die Bindung als auf die bloße Zeugung.
Je kleiner die Kernfamilien werden, desto stärker steigt dieser Bindungsanteil
an. In Großfamilien und eng zusammenhaltenden Familienclans garantiert das
viel weiter gefächerte Netzwerk sozialer Bindung die Sicherheit des Nachwuchses.
Der extreme Rückgang der Geburtenrate in den modernen westlichen Gesellschaften
ergab sich aus der weitgehenden Auflösung der Großfamilien. An ihre
Stelle trat auf höchst zweifelhafte und gänzlich unzureichende Weise
»der Staat« als anonyme Auffangorganisation. Die Folgen sehen wir
im gesamten Sozialbereich. Sie stehen in Zusammenhang mit der hohen Arbeitslosigkeit
und belasten die Zukunftssicherung durch die Renten. In der Natur würden
solche Sozietäten als »sterbend « eingestuft werden. Politische
Maßnahmen werden kaum etwas dagegen ausrichten können, so lange sie
nicht an den Ursachen ansetzen. (Ebd., S. 77).
Die Grundlage der Vererbung liegt ... darin, daß väterliches
und mütterliches Erbgut bei der Befruchtung in jeweils einfacher Ausführung
zusammenkommen und zum »Doppelstrang« der Erbinformation vereint werden.
Die Fehler, die auf dem einen Strang auftreten, gleichen die »richtigen
Positionen« auf den andren wechselseitig aus. So enbtsteht nicht nur die
für die Abwehr von Krankheitserregern so wichtige Neukombination, sondern
es wird auch weitestgehend vermieden, daß Erbgutschäden auftreten.
(Ebd., S. 78). Sogar bei vielen Tieren sind Verhaltensweisen gefunden
worden, die verhindern, daß Verpaarungen zwischen allzu eng Verwandten regelmäßig
vorkommen. (Ebd., S. 79). Die Samenzelle kann sich nicht
teilen. Sie hat die nötige Ausstattung dazu bei ihrer Entstehung nicht mitbekommen.
Insbesondere fehlen winzige, aber äußerst wichtige Bestandteile, die
mit dem Fachausdruck Mitochondrien bezeichnet werden. Bei diesen handelt es sich
gleichsam um Mini-Organe (wissenschaftlich Organellen genannt). Sie liefern die
Energie für das Leben der Zelle. Man könnte sie die kleinen Kraftwerke
der Zellen nennen. Diese gibt also nur die Mutter mit dem Ei, das befruchtet wird,
dem neuen Lebewesen mit. Die Mitochondrien teilen und erneuern sich selbst. Sie
stammen daher alle von der mütterlichen Linie ab. Da auch sie ein wenig Erbgut
enthalten, in dem es im Lauf der Zeiten zu Mutationen kommt, läßt sich
durch genau Ermittlung der Menge der Mutationen das Alter der Stammeslinie berechnen.
(Ebd., S. 80). In einem einfachen Vergleich könnte man sagen,
wenn der Familienname stets nur über die Mütter weitergegeben wird,
und es mit der Zeit zu veränderten Schreib- oder Aussprechweisen (durch Dialekte)
kommt, sollte sich auch herausbekommen lassen, wann der Name zum ersten Mal aufgetreten
ist. (Ebd., S. 80). Im Prinzip geht so die Forschung bei
der Untersuchung der Mitochondrien vor. Sie dienen als molekulare Uhr; eine Uhr,
die sehr langsam tickt. Sie mißt die Zeit nicht nach Tagen oder Jahren,
nicht einmal nach Jahrhunderten, sondern erst in Tausenden bis Hunderttausenden
von Jahren. Was die moderne Molekulargenetik damit fand, war der afrikanische
Ursprung von uns Menschen. Er wird nach heutigem Kenntnisstand auf die Zeit vor
etwa 150000 Jahren zurückdatiert. Aus Afrika heraus nach Vorderasien und
Europa kamen die Menschen erst vor 70 bis 50000 Jahren. Doch da sich in so langen
Zeiträumen auch anderweitige Mutationen ereignen und, wenn sie nicht sehr
schädlich sind, auch anreichern, ergibt sich die Möglichkeit, die Wege
der Menschen damit nachzuverfolgen. Unsere Ausbreitungsgeschichte steht in groben
Zügen in den Genen geschrieben. Übrigens deckt sie sich für die
letzten 40000 Jahre weitestgehend mit der Geschichte und geographischen Ausbreitung
der Sprachen. (Ebd., S. 80-81).Kriege sind keine Folge der
Bevölkerungsexplosion der Menschheit, sondern sie begleiten die Wege der
Menschheit offenbar von Anfang an. (Ebd., S. 83). Klimaveränderungen
und Bedrohung durch Krankheiten dürften die äußeren Triebkräfte
für die Auswanderungen aus der afrikanischen Urheimat gewesen sein.
(Ebd., S. 83).
Vor Ursprung des Lebens vor mehr als vier Milliarden Jahren an
entwickelte sich eine zunehmende Komplexität. Die am einfachsten gebauten
Lebensformen sind die ältesten. (Ebd., S. 87-88). Die
Kompliziertesten, die am weitesten von der unbelebten Natur verselbständigten
Formen sind die jüngsten. Dabei geht es nicht allein um die Größe
der Lebewesen, sondern um die Komplexität im inneren Aufbau und in der Leistungsfähigkeit,
vor allem im Nervensystem und im Gehirn. Als Grundtendenz läßt sich
die fortschreitende Lösung von den Umweltbedingungen feststellen, die »Emanzipation
des Lebens«. Es schafft sich vielfach die Existenzbedingungen selbst.
(Ebd., S. 88). Aus den langen Zeiten des frühen Ursprungs
stammen die Grundlinien der Entwicklung. Sehr klar erscheinen uns in der Gegenwart
Tiere und Pflanzen voneinander getrennt, aber in der femen Anfangszeit der Evolution
treffen sie zusammen auf ununterscheidbare Weise. Evolution bedeutet daher auch
die Entstehung von Vielfalt, die voneinander getrennt ist und nicht einfach allmählich
ineinander übergeht. Die stoffliche Grundlage der Evolution bildet das Erbgut,
das Genom. Es enthält die Bau- und Betriebsanweisungen für alle Organismen.
Diese sind Computerprogrammen vergleichbar gespeichert und in ihrer konkreten
Form wie ein Text »aufgeschrieben«. Sie sind veränderlich. Die
Mechanismen ihrer Veränderungen kennen wir: Vervielfältigung, Versatz
von Teilstücken, Hinzufügung neuer Information aus anderer Quelle und
Änderungen durch Mutationen. (Ebd., S. 88). Letztere
sind keineswegs, wie vielfach und fälschlich angenommen wird, die alleinigen
Auslöser von Veränderungen. Sie setzen so komplizierte Gebilde wie die
Augen nicht »per Zufall« zusammen, sondern aus der Gesamtheit von
Informationen, die im Genom gespeichert sind und die in Zusammenhang mit Lichtempfindlichkeit
und Bildung von Lichtsinnesorganen (»Augen«) stehen. Hunderte und
Aberhunderte unterschiedlicher Augenformen gibt es dazu. Vom einfachsten, auf
Licht reagierenden Sehfarbstoff (»Sehpurpur« ) und Zellansammlungen,
die diesen enthalten, über kleine, nach innen gesenkte Grübchen, die
einfachste Möglichkeiten zur Richtungserfassung des Lichtes eröffnen,
bis zu komplizierten Augen mit Linsen oder ganzen Komplexen von Linsen gibt es
alle Übergänge - bis heute! Darin steckt ein weiteres Merkmal der Evolution:
Sie baut ausnahmslos auf dem Vorhandenen auf. Nichts kommt plötzlich ganz
neu hinzu. Das gilt auch für die so genannten geistigen Prozesse. Wir Menschen
nehmen sicherlich zu Recht in Anspruch, einen menschlichen Geist zu haben. Zu
gern aber vergessen wir, das »menschlich« hinzuzufügen.
(Ebd., S. 88-89). Denn ohne Zweifel sind Vorgänge, die über
Nerven ablaufen und in Gehirnen ausgewertet werden, zumindest auch bei vielen
Tieren (die wir als »höhere« oder »intelligente«
Tiere ganz von selbst einstufen!) vorhanden. Katze und Hund, Vogel und Fisch haben
sicherlich auch »Geist«, nur eben nicht den menschlichen! Schimpansen,
die uns so nahe stehen, ähneln uns Menschen in zahlreichen Formen des Verhaltens.
Sie begreifen viel, was wir tun oder wollen. Auch Hunde können das bekanntlich.
Dennoch bleiben sie mit ihrem Geist Schimpansen oder Hunde und werden keine nur
etwas unterbemittelten Menschen. Worum es sich bei dem, was wir so ganz allgemein
(und nicht auf den Menschen beschränkt) Geist nennen, wirklich handelt, wissen
wir nicht. Vielleicht können wir einschränken: noch nicht? Denn auch
In diesem Bereich macht die moderne Forschung enorme Fortschritte. Schon sind
die Kenntnisse so gut, daß mit »Gentechnik« Veränderungen
möglich geworden sind, die man sich in der Zeit nach der Entdeckung der DNS
(DNA) nicht hätte erträumen können. Gerade die Gentechnik weist
mit ihren Erfolgen nach, daß die Natur des Erbguts und die von ihr getragene
und ermöglichte Evolution richtig verstanden worden ist. (Ebd., S.
89-90). Nach und nach wird auch die Rolle des Stoffwechsels deutlicher.
Das Erbgut kann seine »Anweisungen« nur dann umsetzen, wenn es die
Möglichkeiten dazu in den Zellen gibt. Diese stellt der Stoffwechsel her.
Viele Abläufe darin sind erforscht und verstanden. Die Forschung wird intensiv
weitergeführt, auch um herauszubekommen, warum sich mitunter das Erbgut (oder
Teile davon) so ganz falsch verhalten und unkontrolliertes Wachstum in Gang setzen
kann, das nicht mehr oder nur mit massiven, schädigenden Eingriffen von außen
zu stoppen ist. Krebs nennen wir dieses rätselhafte Phänomen, bei dem
sich das Erbgut wie ein Parasit verhält, der sein eigenes Leben zerstört.
Dieser Punkt leitet zu einem noch allgemeineren Befund über: Die Gesamtheit
der Lebewesen ist (zumindest aus unserer Sicht) nicht einfach und umfassend »gut«.
Die Welt des Lebendigen enthält außerordentlich viel Zerstörerisches.
(Ebd., S. 90). Schönheit entsteht im Auge des Betrachters.
das gilt seit langem als eine Art von Lebensweisheit. Wir sollten daher Tiere
und Pflanzen nicht nur nach unseren menschlichen Empfindungen »messen«,
weil wir von Natur aus damit Schönes von Häßlichem, harmonisch-symmetrisch
Aufgebautes von Abartigem und von Missbildungen ganz von selbst unterscheiden.
(Ebd., S. 90-91). Ergibt sich aus alledem die Notwendigkeit, eine
lenkende, die Richtung vorgebende Kraft für die Evolution anzunehmen oder
gar einzufordern? Die meisten Evolutionsbiologen werden dazu genauso nein sagen
wie die Physiker und Chemiker als »exakte Naturwissenschaftler« ein
zeitweises Außerkraftsetzen der Naturgesetze durch Wunder ablehnen. Es liegt
in der Naturgesetzlichkeit, daß sich die Welt nicht nur in physikalischer
und chemischer Hinsicht entwickeln konnte, sondern auch im gesamten Bereich des
Lebendigen. Lenkende Eingriffe oder Wunder sind nirgends in der Evolution zu finden
oder als Erklärung für die Vorgänge notwendig. Schließlich
gibt es auch keine Anzeichen dafür, daß die Evolution einer bestimmten,
festgelegten Richtung folgen würde. Im Gegenteil: Sie erscheint uns offen
und frei für die Zukunft, nicht vorbestimmt und in eine Bahn gezwungen. Freiheit
kennzeichnet den Verlauf - und eben diese Freiheit wollen wir auch für uns,
für unser eigenes Leben in Anspruch nehmen. Wir betrachten uns nicht wie
Marionetten, denn wenn wir solche wären, hätten wir auch keine eigene
Verantwortung und keinen freien Willen. Diesen unseren »freien Willen«
(**)
näher zu betrachten, gebietet das Nachdenken über die Evolution und
über uns selbst. (Ebd., S. 91).
Kann ich wollen, was ich will, oder will ich, weil ich (so) wollen
muß? (Ebd., S. 92). Psychologie und Psychoanalyse sind
... gleichermaßen ... umstrittene Wissenschaften .... (Ebd., S. 94).
Eine Wiederholung ist unmöglich. (Ebd., S. 94). Freiheit
und Notwendigkeit greifen so sehr und so untrennbar ineinander, daß sie
eine Einheit bilden. (Ebd., S. 94). Nein, es gibt keine allgemeine
Festlegung der Evolution durch unverrückbare »Gesetze«! Nein,
es sit auch nicht alles frei! Die Abläufe in der zeit, die wir als »Evolution«
zusammenfassen, zeichnen sich durch beides aus: Bedingtheit und Freiheit! Aus
dem in mancher Hinsicht einem langbeinigen Hasen ähnlichen Urpferdchen mußte
nicht ein Pferd entstehen - so, wie wir es kennen -, aber es konnte so werden,
weil die Freiheit dazu gegeben war. Nilpferde oder gar Seepferdchen hätten
sich daraus nicht entwickeln können. (Ebd., S. 95).Vom
Alten hängt das Neue ab und wird durch jenes weiter bestimmt und geprägt.
Es handelt sich um eine von sogenannten Rahmenbedingungen eingeschränkte
Freiheit. Wahrscheinlich ist es mit unserem »freien Willen« auch so.
Wir können nur im Rahmen dessen frei entscheiden, was wir wollen können.
Der »freie Wille« wird daher von manchen Forschern, etwa aus dem Bereich
der Hirnforschung, als Wunschbild abgetan. Gern würden wir frei sein, können
es aber nicht, von unwesentlichen Kleinigkeiten abgesehen. (Ebd., S. 95).
Evolution bedeutet Anpassung und Freiheit. Gerade aus diesem allgemeinen
Befund gewinnt der »freie Wille« (**)
des Menschen seine stärkste Stütze. Freiheit ist vorhanden. Aus jeder
Einschränkung erwachsen neue, bisher nicht dagewesene Freiheiten. Betrachten
wir dazu, um vom Menschen abzusehen, die Evolution der Vögel. Sie nahmen
ihren Ursprung in Kriechtieren (Reptilien), und zwar in solchen, die auf die Hinterbeine
halb aufgerichtet schnell laufen konnten. Die Vorderbeine waren dabei eher hinderlich.
Einige heute noch existierende Reptilien drücken sie bei schnellem Lauf seitlich
an den Körper und bewegen sie nicht im Wechselschritt mit, wie wir Menschen
beim Laufen die Arme, die vormals auch Vorderbeine gewesen waren. Als nun durch
Verstärkung der Stoffwechseltätigkeit dauerhaft warmes Blut im Körper
und sich vergrößernde, auffransende Schuppen entstanden waren, wurde
der Zustand erreicht, daß die beschuppten Vorderbeine wie eine einfache
Tragfläche wirkten und einige Meter Flug ermöglichten. Wir können
dies bei Küken beobachten, wenn sie in Freiheit aufwachsen, Federn und Flügelchen
entwickeln. Die Verbesserung dieser kleinen Gleitstrecken mit raschen »Flügelschlägen«
vergrößert die Reichweite. Bald erreichen die jungen Hühner dann
den Zustand, richtig fliegen zu können. (Ebd., S. 97). Ganz
ähnlich muß es sich bei der Evolution der Vögel abgespielt haben,
weil zu den verschiedenen Stadien Fossilfunde vorliegen. Diese zeigen, daß
es durchaus mehrere, vielleicht sogar viele unterschiedliche Ansätze dazu
gegeben hatte. Wichtig ist aber nur, daß nach anfänglicher Einschränkung
der Benutzung der vorderen Gliedmaßen und deren allmählicher Umbildung
zum flugtauglichen Flügel buchstäblich eine neue Welt erschlossen werden
konnte. Aus Echsen, die zwar gut und schnell laufen konnten, aber an den Boden
gebunden blieben, waren Vögel geworden, denen der Luftraum der ganzen Erde
offen stand. Keine anderen Lebewesen, nicht einmal wir Menschen, wenn wir ohne
technische Hilfsmittel sind, können die Erde so umfassend von Pol zu Pol
und rund um den ganzen Globus in allen Höhen und tief hinab ins Weltmeer
nutzen wie die Vögel. Der konstruktive Zwang der Zweibeinigkeit mit Umgestaltung
der beiden Vordergliedmaßen zu den Flügeln eröffnete ihnen den
Luftraum. Besser als jedes Flugzeug fliegen sie mit ungleich größerer
Sicherheit durch die Nacht über Land und Meer. Sterne reichen ihnen zur Orientierung
oder das Magnetfeld der Erde. Dennoch finden sie zielgenau, was sie suchen. Viele
Millionen Jahre vor ihnen eröffneten sich an Land gehende Fische die große
Welt außerhalb des Wassers. So baut auf jede größere evolutionäre
Veränderung neue Vielfalt auf. (Ebd., S. 97-98). Vielleicht
sollten wir Menschen uns mit unserer eigenen Mannigfaltigkeit als eine solcherart
neue Stufe des Lebens empfinden. Wir fügen uns damit ein in den großartigen
Vorgang der Evolution und heben uns gleichzeitig daraus hervor mit dem Hinausgreifen
in die Welt des Geistes. Mag sein, daß dieser noch nicht weit genug entwickelt
und gediehen ist, um sich seiner selbst in umfassender Weise bewußt zu werden.
Das Geistige existiert dennoch, auch wenn es stofflich nicht faßbar ist.
Zur Evolution wäre dies nicht nur kein Widerspruch, sondern vielmehr Fortsetzung
der grundlegenden Vorgänge in eine weitere Sphäre hinein. Das Auftauchen
des Geistigen, die »Emergenz« von materielosem Geschehen, das gleichwohl
an Materie in bestimmter Organisationsform gebunden ist (Nervensysteme und Gehirne),
fügt sich nahtlos in das Evolutionsgeschehen und macht dieses noch großartiger,
als es bei Betrachtung der rein materiellen Ausdrucksformen des Werdens schon
gesehen werden muß. Doch erneut und noch stärker als vordem wirft dies
die Frage auf, ob es eine Zielstrebigkeit in der Evolution gibt. (Ebd.,
S.98-99).
Charles Darwin hatte die Evolution nicht erfunden. Der Entwicklungsgedanke
war lange vor ihm schon vorhanden. Darwins Leistung bestand darin, mit der »natürlichen
Auslese« (natural selection) einen nachvollziehbaren Mechanismus
vorgeschlagen zu haben, dessen Wirken überprüft werden konnte. Sein
Vorbild waren die Tier- und Pflanzenzüchter. Doch diese hatten Ziele. Wenigstens
ungefähre Vorstellungen, wie das betreffende Tier oder die Gartenpflanze
werden sollte, leiteten ihr Tun. .... Darwin Schlußfolgerung war, daß
die natürliche Selektion eben keine vorgegebene Richtung hab. Diese ergibt
sich ganz von selbst aufgrund der herrschenden Bedingungen. An diese, an die sogenannte
Umwelt passen sich die Lebewesen an. (Ebd., S. 100). Nach
Darwin mußte Evolution außerordentlich langsam verlaufen, weil sich
die Veränderungen immer nur nach statistischen Zufälligkeiten ergeben,
anhäufen und über die natürliche Selektion sortiert werden. Die
Befunde der Erdwissenschaften, zumal der Geologie, unterstützten Darwin.
(Ebd., S. 101). Als die Natur des Erbguts erkannt war, schien ein
für allemal die Frage geklärt, ob die Evolution Ziele habe, wie Lamarck
meinte, oder im Sinne Darwins ein Zufallsprozeß sei. Die Gene selbst geben
keine Richtung vor. Was von Generation zu Generation wirklich zählt, das
sind die Veränderungen in der Häufigkeit von Genen und den von ihnen
bestimmten Merkmalen. Meistens »stabilisiert« die Umwelt, weil solche
Gene bessere Chancen haben, in die nächsten Generationen zu gelangen, die
den Umweltbedingungen am besten entsprechen. So lange sich diese nicht nachhaltig
und rasch verändern, ändert die Selektion die Richtung nicht. In diesen,
zumeist recht lang anhaltenden Zeiten scheint die Evolution Roulette zu spielen.
Das Ergebnis bleibt sich im Endeffekt gleich, weil »Rot« und »Schwarz«
sehr nahe beieinander liegen. Die zufällig unterschiedlichen Häufigkeiten,
mit denen sie auftreten, bewirken nichts. Erst wenn sich die Außenbedingungen
stark verändern, kommt Richtung in das »Spiel«, in das evolutionäre
Spiel auf der Bühne der Natur. (Ebd., S. 101-102). Richtungsänderungen
können auf zwei recht unterschiedliche Weisen zustande kommen. Die eine,
überwiegend angenommene beruht auf einem »Druck« der Umwelt.
Die betreffende, unter Druck geratene Art weicht nach und nach aus, weil diejenigen
Individuen, die gleichsam zum Bereich der dem Druck abgewandten Seite gehören,
etwas günstiger dran sind als die dem Druck ganz unmittelbar ausgesetzten.
(Ebd., S. 102). Weit weniger bekannt, für die großen
Veränderungen aber unvergleichlich bedeutungsvoller ist die ganz andere Möglichkeit:
Es haben sich neue Lebensperspektiven ergeben, die genutzt werden können.
Die Art, die angefangen hat, diese zu nutzen, entwickelt sich auch ohne Druck
in diese hinein. Die Evolution des Menschen gehört zu diesem Modell. Die
Nutzung der freien Savanne mit ihrem Reichtum an hochwertiger Nahrung (in Form
des Fleisches und der Markknochen von Großtieren) stellte vor gut sechs
Millionen Jahren so eine »große Chance« dar. Die fernen Vorläufer
der Menschen nutzten sie und gelangten so auf eine ganz neue, höchst vorteilhafte
Entwicklungsbahn, während die Vorfahren der Schimpansen und der anderen Menschenaffen
diese Möglichkeit nicht ergriffen hatten, sondern in den Wäldern blieben.
Sie machen seither kaum nennenswerte Fortschritte - ganz im Gegensatz zum Menschen.
(Ebd., S. 102-103). Wiederum tun sich sogleich Parallelen in der
jüngeren Geschichte der Menschheit auf. Sie reagierte nicht als Ganzes. Vielmehr
folgten einzelne Völker oder Regionen den »fortschrittlichen neuen
Möglichkeiten«, während andere im Traditionellen verhaftet blieben
und zurückfielen. (Angemerkt werden muß jedoch,
daß die »Fortschrittlichen«, das sind die Abendländer und
ihre »Ableger«, sich nicht vermehren, also aussterben, während
die »Traditionellen«, die Nichtabendländer, sich explosionsartig
vermehren, also überleben; HB). Manche führen eine Lebensweise
wie zu biblischen und vorbiblischen Zeiten, während die »fortschrittlichen«
Völker, die wir heute die »entwickelten« nennen, mit Wissenschaft
und Technik enorme Fortschritte machten, die Oberhand gewannen und den weiteren
Weg der Geschichte entscheidend bestimmen. Der Selektion durch massiven Druck
waren zum Beispiel die Ureinwohner Amerikas ausgesetzt, denen die Europäer
verheerende Krankheiten gebracht hatten. (Ebd., S. 103). Die
Bilanz erzeugt zwangsläufig den Eindruck von Zielstrebigkeit, weil Erfolg
auf Erfolg aufbaut und Mißerfolge bedeuten, daß die betreffenden Bevölkerungen
(oder Arten in der Natur) zurückfallen. Der Wandel ist es, der dem Leben
Beständigkeit garantiert. Eigentlich wissen wir, daß dies auch in unserem
Leben so ist ! (Ebd., S. 103).
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Geschichte, daß
ausgerechnet der heftigste Verfechter von ~s Sicht der Evolution in Deutschland,
Ernst Haeckel, eine umfassende Geistigkeit der Materie seinem »Monismus«
zugrunde gelegt hatte. Es gibt nichts außerhalb der Natur; alles ist Natur.
Materie und Geist sind eins. Jedes Atom trägt sein Quäntchen Geist in
sich. Je komplexer die Organisation desto mehr Geist kann sie erzeugen. Die Milliarden
untereinander vernetzter Gehirnzellen stellen die bislang erreichte höchste
Stufe der Geistigkeit dar. Wenn sie absterben, verschwindet der Geist. Unabhängig
von der Materie kann nichts Geistiges existieren. Daher gibt es weder Seelen noch
ein Leben nach dem Tod. (Ebd., S. 105). Diese als Materialismus
bezeichnete Sicht mag im Grundsatz von vielen Menschen geteilt werden, nicht nur
von Evolutionsbiologen, die sich dann selbst auch mitunter als Agnostiker zu erkennen
geben. Großreligionen der Menschheit stecken die beiden Pole ab, die sich
daraus ergeben: Ein vollständiges Bezogensein auf das »Diesseits«,
weil es kein »Jenseits« gibt, oder eine umfassend beseelte Natur,
in die der Mensch eingebettet ist und sich über die Seelenwanderung durchaus
auch in anderen Lebewesen wiederfinden kann. Das Ringen um Einsicht in das Phänomen
des Geistes drückt sich darin aus. Ein völlig geistfreies, rein maschinenhaft-mechanistisches
Weltbild vertreten sicherlich nur sehr wenige Menschen. (Ebd., S. 105-106).
Nun kann man sich zwar fragen, was denkt sich eigentlich ein Computer,
der mit so viel Daten, intelligenten Verknüpfungen und anderen Computern
verbunden ist. Merkwürdigerweise halten wohl die allermeisten Menschen solche
Fragen für eine Spielerei oder für eine Denksportaufgabe. »Die
Natur« hingegen sind sie bereit zu personifizieren. Sie sprechen über
die Natur wie zu Urzeiten von der »Mutter Erde«, von »Gaia«
oder einfach auch nur von »der Natur«, die über dem Menschen
stehe. Man bescheinigt ihr Schönheit und Vollkommenheit. Und wie gelungenes
Menschenwerk einen (oder zahlreiche) Erzeuger hat, so müsse »die Natur«
zwangsläufig einen Schöpfer haben, der all das Schöne und Vollkommene
in ihre Entwicklung legte. Alles paßt so wunderbar zueinander. Darwin gestand,
daß ihm der Anblick des so vollkommenen Pfauenrades größtes Kopfzerbrechen
bereitete. Weil es offenbar keine äußere Notwendigkeit dafür gab,
eine solche Pracht zu erzeugen, die sogar für den Träger hinderlich
sein müsse und sein Überleben gefährde, weil ihn der überlange
Schmuck so auffällig mache. (Ebd., S. 106). Nun ist
bereits darauf hingewiesen worden, daß es gute Gründe dafür gibt,
Schönheit als solche erkennen zu können. Sie verrät dem ersten
Blick, daß es diesem Lebewesen gut geht und daß es ohne nennenswerte
Schwierigkeiten aus dem befruchteten Ei aufgewachsen und zur Reife gelangt ist.
Schönheit spiegelt Lebenskraft (oder Fitneß, wie es in der Evolutionsbiologie
genannt wird, um keine Mißverständnisse mit einer geheimnisvollen Kraft
aufkommen zu lassen!). Belasten Krankheiten und Parasiten einen Organismus zu
sehr, büßt er nach und nach an Schönheit ein. Alterung ruft andere
Eindrücke und Empfindungen hervor als die Schönheit einer lebensvollen
Jugend. Das wissen wir alle, und so empfinden wir, ohne dazu angeleitet werden
zu müssen. (Ebd., S. 107). Schönheit und Vollkommenheit
tragen also zumindest teilweise überlebenswichtige Botschaften nach außen:
Dieser Organismus ist gesund und tauglich für die weitere Fortpflanzung.
Wenn mit dieser auch noch weiterer Aufwand verbunden ist, wird der Nachweis von
Kraft, Stärke oder Ausdauer wichtig. Auch dazu finden wir eine Fülle
höchst überzeugender Beispiele in der gesamten Natur. Es ist auch noch
gar nicht so lange her, daß etwa in Europa junge Männer, die heiraten
wollten, nachweisen mußten, daß sie in der Lage sind, eine Familie
zu ernähren. Daß der Bursche jung und hübsch war, wurde als nicht
ausreichend erachtet. (Ebd., S. 108). Die Natur in uns drängt
uns immer wieder das Vorurteil auf, das uns dazu verleitet, nach dem ersten Eindruck
zu reagieren. Viele Menschen sind darauf hereingefallen, noch mehr wurden deswegen
unfair behandelt. Wir sollten daher unseren Blick auf »die Natur«
mit mindestens derselben nüchternen Skepsis begleiten, die beim Blick auf
andere Menschen angebracht ist. Allzu leicht fallen wir auf die Vorurteile herein.
(Ebd., S. 108).Es rührt uns nicht,
daß über 90 Prozent aller Lebewesen, die jemals auf der Erde existierten,
wieder ausgestorben sind; vielleicht auch mehr als 99 Prozent. Ob die Menschheit
irgendwann auch zu diesen Ausgestorbenen zählen wird, bekümmert uns
Gegenwärtige nicht. Wir gehen mit der Erde und ihrem Leben um, als ob alles
uns allein gehörte und wir auf keine Zukunft Rücksicht nehmen müßten.
Der allergrößte Teil der Menschheit, mindestens sechs Milliarden Menschen,
lebt so völlig zukunftsblind in der Gegenwart, wie es alle Organismen zu
allen Zeiten getan haben. Wer das Wirken der Menschheit auf der Erde in seiner
Gesamtheit betrachtet, wird schwerlich daran zweifeln können, daß der
Mensch genauso weitermacht, wie alle anderen Lebewesen in der Evolution auch.
(Ebd., S. 109). Ob die Evolution, ob das leben selbst, ob vielleicht
die gesamte Natur bis zum letzten atomaren Teilchen und zur fernsten Galaxie von
einem geistigen Prinzip durchdrungen ist, wird sich so lange unserer Kenntnis
entziehen, wie wir die Natur der Materie nicht verstanden haben. Davon sind wir
bekanntlich noch weit entfernt. Vielleicht werden wir das sein auch nie begreifen,
nur glauben können. (Ebd., S. 110).
Wie klein, wie stümperhaft ist doch Menschenwerk, verglichen
mit der Größe der Natur! Nicht einmal allein das Leben offenbart das
Wirken einer solchen höheren Instanz, sondern auch die nichtlebendige Natur.
Es gäbe in ihr kein Leben, zumindest nicht dieses, so wie wir es kennen und
erleben, hätte das Wasser nicht so besondere Eigenschaften. Es durchsetzt
alles Lebendige. Ohne Wasser gäbe es zumindest kein höheres Leben. Doch
dieses Wasser verhält sich in höchst merkwürdiger und außerordentlich
bedeutsamer Weise anders als andere, vergleichbare chemische Verbindungen. Seine
Schwere (genauer; seine Dichte) nimmt nicht zu, wenn die Temperatur abnimmt, sondern
unter vier Grad Celsius beginnt es wieder leichter zu werden. Wenn es gefriert,
also zu Eis wird und damit in den festen Zustand übergeht, wird es noch einmal
leichter, so daß es auf dem Wasser schwimmt. Wäre das nicht so, würde
das Eis zum Boden aller Gewässer absinken. Das Weltmeer wäre längst
ein vollständiges Eismeer, das nur an der Oberfläche Pfützen getauten
Wassers tragen würde. Auch das Bodenwasser würde wie in den polaren
Breiten zu Bodeneis gefrieren. Keine günstigen Lebensbedingungen wären
das. Die Erde wäre im wesentlichen eine Eiskugel und kein Wasserplanet.
(Ebd., S. 111-112). Eine ganze Anzahl weiterer wichtiger Voraussetzungen
für das Leben ließen sich anführen, von denen nur ein Stoff noch
genannt werden soll, der Sauerstoff. Wir brauchen ihn zur Atmung. Die Tiere und
auch eigentlich die Pflanzen brauchen ihn. Ohne Sauerstoff können nur winzig
kleine, zur Großgruppe der Bakterien gehörige Lebewesen auskommen.
Für diese ist er allerdings ein zerstörerisches Gift. Freien Sauerstoff
gab es jedoch in der langen Phase der Urzeit der Erde gar nicht. Seine heutige
Fülle, die etwa 21 Prozent der Gase ausmacht, welche die Lufthülle der
Erde bilden, stammt von Pflanzen. Von winzig kleinen pflanzenartigen Lebewesen,
die noch zu den Bakterien gehören. Früher wurden sie Blaualgen genannt.
Aber da sie keine Algen, sondern eben Angehörige einer bestimmten Gruppe
von Bakterien sind, sollten sie zutreffender als Blaugrünbakterien (Cyanobakterien)
bezeichnet werden. Hunderte von Millionen Jahre lang erzeugten in der fernen Urzeit
der Erde diese Blaugrünbakterien Sauerstoff. Denn sie, und nur sie allein,
beherrschen einen chemischen Vorgang, den wir Photosynthese nennen. Dabei wird
mit Hilfe der Energie des Sonnenlichts aus Kohlendioxid (CO2) und Wasser
(H20) Zucker hergestellt. Als »Abfallprodukt« entsteht
Sauerstoff. (Ebd., S. 112-113). Die grünen Pflanzen,
die in unserer Gegenwart wie schon seit gut 500 Millionen Jahren diese Photosynthese
betreiben, bedienen sich dazu jener Blaugrünbakterien. Sie hatten diese zu
Beginn der Entstehung der Pflanzenwelt in ihre Zellen aufgenommen, einquartiert
und seither benutzen sie diese »Mitarbeiter« (Symbionten) zur Erzeugung
von Zucker und anderen organischen Stoffen. Der Sauerstoff, der dabei nach wie
vor frei wird, sammelte sich in der Atmosphäre an und ermöglichte den
Tieren und viel später auch den Menschen die Atmung. Er leistet aber noch
mehr, denn aus dem von den Pflanzen freigesetzten Sauerstoff entsteht durch die
»harte« Strahlung der Sonne das Ozon. Dieses schützt das Leben
auf der Erde wie ein Hochleistunmgs-Sonnenschirm. Gäbe es die Ozonschicht
nicht, hätte das Leben gar nicht aus dem Meer an Land kommen können.
(Ebd., S. 113-114.Die wirklich Guten sind so rar wie die wahren
Heiligen. (Ebd., S. 116).Die weitaus meisten Arten, die das
Leben hervorbrachte, sind auch wieder ausgestorben (**).
Die Erde ist weit davon entfernt, ein ausgewogenes System darzustellen. Viele
Millionen Jahre lang wucherten Wälder so sehr, daß die Überproduktion,
die sie erzeugten, nicht wieder in den Kreislauf der Stoffe zurückkehren
konnte. Die Folge war, daß große Teile dieser Wälder gleichsam
an sich selbst erstickten. Dabei entstanden Steinkohle und Erdöl. Andere
Überschüsse kamen zustande, weil Korallentiere so sehr wuchsen, daß
ihre Ausscheidungen riesige Kalkriffe bildeten. Nur an ihrer obersten Fläche
können die Polypen leben, die all das erzeugten, auf dem sie sitzen. Aus
ausgeschiedenem Kalk wuchsen durch Verschiebungen der Kontinente Gebirge in die
Höhe. Nicht einmal die feste Kruste der Erde ist »fest«, sondern
in Bewegung. Wir bemerken diese Bewegung erst dann, wenn sich wieder einmal irgendwo
ein gewaltiger Druck aufgestaut hat und sich in einem Erdbeben löst.
(Ebd., S. 116).Vulkanausbrüche, Erdbebenwellen aus dem Meer,
Stürme, Feuersbrünste und sonstige Katastrophen vernichten offenbar
ziel- und planlos Leben in großem Umfang. Und sollte der intelligente Plan
gar falsch gewesen sein, daß mit der Urgewalt kosmischer Einschläge
von Riesenmeteoriten das Leben mehrfach auf eine neue Bahn gebracht wurde?
(Ebd., S. 116). Entgleisungen in der Tätigkeit des Erbguts,
wie der Krebs, den es bei Pflanzen und Tieren und nicht nur beim Menschen gibt,
lassen sich nicht so recht nachvollziehbar einem intelligenten »Designer«
zuschieben, wohl aber der allgemeinen fehlerhaften Natur. (Ebd., S. 117).
Bekanntlich gibt es ja selbst in der Bibel zwei verschieden Schöpfungsberichte,
die, würde man sie wörtlich nehmen, einander widersprächen (vgl.
Genesis, 1,1-2,4 und 2,4-2,25). (Ebd., S. 120). Am
Anfang steht die Energie, aus der Materie entsteht, die gesondert werden kann,
weil sie aus verscheidenen Formen (Elementen) besteht. (Ebd., S. 120). Der
»Kreationismus«, der den biblischen Schöpfergott wörtlich
nehmen will, mißachtet Jahrtausende Erfahrung, Forschung und Auslegung.
(Ebd., S. 122). Die Grenzfragen betreffen Materie und Geist, den
Materialismus, der alles »nur« auf die Materie bezieht, und die Energien,
die wirken oder umgesetzt werden. (Ebd., S. 123). Stren genommen
kann die Naturwissenschaft auch nicht klären, was gut oder böse, was
Recht oder Unrecht ist. Die Wertungen gehen vom Menschen aus. (Ebd., S.
123).
Stabile Ungleichgewichte. Die Ökologie der Zukunft
(2008)
Nichts
ist bekanntlich von Dauer; auch das härteste Gestein unterliegt der Erosion
und dem Zerfall mit der Zeit. Das Leben muß dieser Gesetzmäßigkeit
allein schon deswegen massiv entgegenwirken, um sich überhaupt erhalten zu
können. Die Physik bezeichnt dieses Naturphänomen als Entropie und betont
ihre unvermeidbare Zunahme mit der Zeit. Das Leben muß sich gegen diese
Entropie stemmen. Wie es das schafft, ist im Grundsatz bekannt, aber in vielen
Details noch immer reichlich unverstanden. Der Grundsatz besagt, daß Leben
Energie aufnehmen muß, um beständig gegen den Zerfall, gegen die Entropie,
sich selbst immer wieder aufzubauen. .... Der Physiknobelpreisträger Ilya
Prigogine bezeichnete die Organismen daher als »dissipative Strukturen«,
weil sie schneller, als es dem physikalischen Zerfall entspricht, Energie in Entropie
umwandeln und davon selbst leben. Sie halten sich - solange sie leben - »fern
vom Gleichgewicht«. Nähern sie sich dem physikalischen Gleichgewicht
an, gehen sie zugrunde. Der Tod ist das Erreichen des (thermodymischen) Gleichgewichts.
In einer solcherart physikalischen Beschreibung erscheint Leben als ein Prozeß,
der sich von der unbelebten Welt abgelöst, also emanzipiert hat. (Ebd.,
S. 39).
Der aus der romantischen Naturschwärmerei und dem Heimatschutz
hevorgegangene Naturschutz erhielt mit dieser auf Harmonie abgestimmten Ökologie
eine wissenschaftliche Grundlage. Von diser aus ließen sich Ziele entwickeln,
wie »die Natur« sein oder bleiben soll und warum Arten geschützt
werden müssen. Der Naturhaushalt braucht sie, sonst gerät er aus dem
Gleichgewicht. Eine Verherrlichung der Natur griff um sich. Die Natur war gut
.... Die Natur war gut, weil sie den Kontrast zu den schrecklichen Zuständen
in den durch die Industrialisierung enorm wachsenden Städten bildete.
(Ebd., S. 43).Die Pflanzen benötigen mehr
als nur Kohlendioxid, Wasser und Sonnenlicht zum Wachstum. Auch wir können
wie alle Lebewesen nicht nur von Energie leben. Die Stoffe, um die es wirklich
geht, das sind die Proteine, die essentiellen Aminosäuren, die lebenswichtige
Verbindungen sind. (Ebd., S. 47-48).Das
erkannte Anfang des 19. Jahrhunderts der deutsche Chemiker Justus von Liebig -
und revolutionierte mit seiner Erkenntnis die Landwirtschaft. Die Felder und Fluren
Mitteleuropas waren und blieben trotz Sonnenlicht, Wasser und zumindest einigen
Sommern mit ausreichender Wärme ertragsschwach, weil die Böden ausgelaugt
und an Mineralstoffen verarmt waren. Liebig ermittelte das richtige Verhältnis
der Mineralstoffe und erfand den Kunstdünger. Seine Hauptbestandteile sind
Stickstoff, Phosphor und Kaliumverbindungen, und eine lange Zeit benutzte Abkürzung
lautete demzufolge Nitrophoska (Nitro für Stickstoff). Das »richtige
Verhältnis« führte ihn auch auf die richtige Spur. Liebig formulierte
den Befund als Gesetzmäßigkeit: Die Höhe der (pflanzlichen) Produktion
hängt von jenem Stoff oder Faktor ab, der im Vergleich zu den anderen im
Minimum ist. Als »Liebigsches Minimumgesetz« ist es bekannt geworden .
Die Landwirtschaft nahm ... daraufhin einen ungeahnten Aufschwung zu gänzlich
unerwarteten Produktionshöhen. (Ebd., 2008, S. 48).Im
Mutterland der Ökolgie, in Deutschland. (Ebd., S. 49).
3 grundlegende Eigenschaften eines Organismus ...: Abgrenzung des
Innenlebens nach außen, zentrale Funktionssteuerung und Fähigkeit zur
Fortpflanzung. (Ebd., S. 51).Wärme begünstigt das
Leben, wenn es genug Wasser gibt. Doch selbst in den trockenen Hitzewüsten
exitieren noch weit mehr verscheidenartige Lebewesen als in den Kälteregionen,
wo zumindest zeitweise reichlich Wasser zur Verfügung steht. Warum ist das
so - und warum macht der Mensch eine auffällige Ausnahme? Leben doch die
weitaus meisten Menschen in den gemäßigten Klimazonen und erheblich
mehr in den kalten Regionen als in tropischen Regenwäldern. (Ebd.,
S. 57).
So finden wir auch in der globalen Nutzung der Landschaften einen
höchst bedeutsamen Zusammenhang: Je instabiler, desto attraktiver und einträglicher.
Wo langfristig, über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg, Stabilität
herrscht, tut sich der Mensch schwer. Und nicht nur die Menschen, sondern auch
die Tiere. Ihre Häufigkeit geht zurück, wenn Mangel eintritt, aber ihre
Artenvielfalt nimmt dabei zu. (Ebd., S. 70).Daß es
die Vielfalt an Arten überhaupt gibt, hängt wahrschienlich mit der Bewältigung
des Mangels zusammen. Wo Ressourcen knapp sind, überleben die Spezialisten
besser, die mit dem wenigen auskommen können, das es gibt. Die Stabilität
solcher Systeme wäre demnach nur der Eindruck, der entsteht, wenn sich wenig
ändert, weil sich nicht mehr ändern kann. Wo es higegen viel zu holen
gibt, wird sich auch viel ändern. (Ebd., S. 72).Wir
können in den höchst bedeutsamen, weil das ganze Leben auf der Erde
grundsätzlich charakterisierenden Vorgängen zwei Richtungen erkennen.
Die eine, die alte und und ursprüngliche geht von der schnellstmöglichen
Vermehrung aus. Die Organismen selbst bleiben (winzig) klein, und es sind die
Produkte ihres Stoffwechsels, die sich anhäufen und die zu neuen Ressourcen
mit der Zeit werden. Die andere sammelt gleichsam Kapital an. Ihr Anwachsen ist
mit starker Größenzunahme verbunden. Die Ressourcen, die Bäume
in ihren Stämmen ansammeln, sind den anderen, den Konkurrenten, weggenommen.
Man kann diese Verfahrensweise auch »Monopolisierung« nennen. Bäume,
die schneller als ihre Nachbarn wachsen, übergipfeln diese und unterdrücken
sie. Von Zehntausenden, die als Sämlinge angefangen haben, bleibt vielleicht
einer übrig. Die anderen sind durch die zunehmende Konkurrenzkraft dieses
einen Baumes erdrückt und verdrängt worden. Der »Gewinn«
liegt in der Langlebigkeit und in der damit verbundenen Dauerhaftigkeit. Der Nachteil,
am Ort festgesetzt zu sein, muß dadurch ausgeglichen werden, ansonsten würde
sich diese Lebensweise nicht lohnen und keinen Bestand auf Dauer haben können.
Je nach Art der örtlichen Lebensbedingungen, ob stark flukturierend oder
länger andauernd gleichbleibend, hat die eine oder die andere Form Vor- und
Nachteile. Eine absolut überlegene Strategie gibt es nicht. Die »Mitte«
zwischen den Extremen, zwischen mikroskopisch kleinen Organismen und den gewaltigen
Bäumen, bilden unter den Pflanzen vor allem die langlebigen Gräser.
(Ebd., S. 76).Wird das Holz der Wälder genutzt, dauert der
Wiederaufbau mindestens Jahrzehnte, bei »Harthölzern« Jahrhunderte.
Nachhaltige Nutzung ist daher nur mit langfristiger Vorausplanung möglich.
Das erkannten die Forstleute im 17. und 18. Jahrhundert und schufen mit ihrem
Grundsatz der forstlichen Nachhaltigkeit die heutige Forstwirtschaft. Auch wenn
sie ganze Bäume oder größere »Schläge« nutzt,
bleibt sie im Rahmen des auf der Gesamtfläche zu erzielenden Zuwachses undd
amit in der Nachhaltigkeit. Einzig die Gräser im weiteren Sinne vertragen
kurzfristige Totalnutzungen. (Ebd., S. 77-78).
Die Ressourcennutzung gliedert sich ... in zwei einander entgegengesetzte
Enden eines Spektrums von Möglichkeiten, in die freie Ausbeutung und in die
soziale Unterdrückung. Die nach menschlicher Wertung mittleren, »vernünftigeren«
Bereiche sind nicht besetzt. Daraus folgt der Schluß, daß sie unter
Naturbedingungen auch nicht wirklich überlebensfähig sind. Sie stelle,
so der Fachausdruck, keine »evolutionär stabile Strategie« dar.
Gemeint ist mit dieser Bezeichnung, daß ihr Auftreten, sollte es aus irgendwelchen
Umständen heraus tatsächlich zu einer »moderat-vernünftigen«
Nutzung und dazu passenden »gerechten« Vermehrung für alle Beteiligten
kommen, nur von kurzer Dauer sein wird. (Ebd., S. 83).Die
Ausbeuter leben mit hohem Risiko aus hohen Gewinnen, die »Nachhaltigen«
erkaufen sich ihre Beständigkeit mit massiven Zwängen und Einbußen
an Freiheit (Ebd., S. 84).
Vögel dürfte es gar nicht geben, wenn das Prinzip vom
sparsamen Umgang mit der Energie allgemeine Gültigkeit in der Natur hätte.
(Ebd., S. 84).
Leben bedient sich der Ungleichgewichte. Sie sind auch da vorhanden,
wo wir Gleichgewichte zu erkennen vermeinen. Auch in der nichtlebendigen Natur
herrschen sie vor. (Ebd., S. 92).Entscheidend ist jedoch
das Verhältnis des Sauerstoffs zum Kohlendioxid. Dieses ist mit rund 0,3
Promille im Minimum; ein paar weitere Prozent Sauerstoff mehr spielen demgegenüber
nur eine nachrangige Rolle. In diesem so ausgeprägten Spannungsverhältnis
von 209 Promille Sauerstoff zu 0,3 Promille Kohlendioxid läuft der bei weitem
größte Teil allen lebens auf der Erde ab. Dieses Ungleichgewicht hält
die »tragende Spannung« aufrecht. (Ebd., S. 93-94).
Das Fließgleichgewicht
bleibt, dem Bild des strömenden Flusses durchaus entsprechend, fernab vom
Gleichgewicht. (Ebd., S. 96).Die Lebewesen bauen die Ungleichgewichte
über die aktive Aufnahme von Energie auf .... Organismen können daher
die Intensität ihrer Fließgleichgewichte verändern. (Ebd.,
S. 98).Aktives Leben bedeutet in jedem Fall die Aufnahme von Energie,
die das lebende System fern vom Gleichgewicht hält. Wie schon ausgeführt,
muß die aufgenommene Energie schneller umgesetzt werden, als es dem natürlichen
Zerfall in Wärme entspräche. Nur dann kann die lebendige Materie Aktivität
entfalten. (Ebd., S. 99).Nur die klare Trennung von innen
und außen hält die Spannung aufrecht, unter der sich die Lebensprozesse
entwickeln können. Organismen sind, ihrem Namen gemäß, Organisationsformen
von Materie, die durch ein inneres Fließgleichgewicht fern vom Gleichgewicht
mit der Umwelt gehalten werden. Bricht diese Trennung zusammen, ... erlischt das
Leben, und der Körper ist, wenngleich noch vorhanden, tot. (Ebd., S.
99-100).Die Ökosysteme sind offen. Lebewesen sind das nur
eingeschränkt. Die Ökosysteme haben keine feste Struktur. Die Lebewesen
entwickeln sich über flexible Strukturen. (Ebd., S. 101).
Eingriffe in den Naturhaushalt, Störung des Gleichgewichts
der Natur, Gefährdung ganzer Ökosysteme oder gar ihr Zusammenbruch:
solche Begriffiichkeiten bilden längst nicht nur Schlagworte im besonderen
Wortschatz von Natur- und Umweltschützern. Sie haben auch Eingang in Gesetze
und Verordnungen gefunden. Neue Versionen davon sind Bezeichnungen wie unsere
»ökologischen Fußabdrücke«, die wir hinterlassen,
weil wir einen viel zu voll geladenen »ökologischen Rucksack«
tragen. Das klingt fast wie Erbsünde; zumindest für all jene Menschen,
die in der Ersten Welt geboren wurden und hier aufgewachsen sind. Von Geburt an
tragen sie nun den Makel, das Kainsmal der hochentwickelten Zivilisation. Viel
besser sind die in der Dritten Welt geborenen, weil es ihnen schlechter geht.
Daraus folgt die Forderung, allen Menschen sollte die gleiche Menge an Energie
zugemessen werden, die sie verbrauchen und als Kohlendioxid freisetzen.
(Ebd., S. 105).
Am ehesten entsprechen die naturfernsten Betätigungsbereiche
den Idealen von Ausgewogenheit. So die regeln, die für den Straßenverkehr
gelten, und die Bestimmungen in der Luftfahrt, die wirklich fast alle gleichermaßen
treffen. Aber mit natürlichen Gleichgewichten haben ausgerechnet diese Gleichbehandlungen
von vornherein nichts zu tun. (Ebd., S. 115).
Seit dem »Umweltgipfel von
Rio de Janeiro« 1992 gilt das Konzept der Nachhaltigkeit als eines der Leitmotive
für die Entwicklung. »Nachhaltige Entwicklung« ... hatte der
maßgeblich vom damaligen deutschen Umweltminister Klaus Töpfer gestaltete
Umweltgipfel der Vereinten Nationen gefordert, ohne dem Ausdruck konkreten Inhalt
gegeben zu haben. Allenfalls die in der Forstwirtschaft praktizierte Nachhaltigkeit
der Nutzung von Wald läßt sich einigermaßen konkret mit diesem
Konzept zur Deckung bringen. Die forstliche Nachhaltigkeit ist so einfach wie
problematisch: Dem Wald soll/darf nicht mehr Holz entnommen werden, als nachgewachsen
ist, um die Substanz langfristig zu erhalten. (Ebd., S. 115).Gibt
es ... überhaupt ein natürliches und von Menschen nutzbares System,
das nachhaltig produziert? Genaugenommen nicht, denn es müssen immer wieder
von woanders die Stoffe und die Energien kommen, um einen bestimmten Landschaftsausschnitt
langfristig produktiv zu erhalten. (Ebd., S. 116).Gäbe
es tatsächlich vollständige Kreislaufwirtschaften (ein perfektes Recycling),
würde dies den Grundgesetzen der Natur widersprechen, genauer: dem zweiten
Hauptsatz der Thermodynamik. Die perfekte Nachhaltigkeit wäre ein
»Perpetuum mobile«. Sie ist eine Unmöglichkeit. Somit kann Nachhaltigkeit
ohne steuernde und ergänzende Eingriffe durch den Menschen nur bedeuten,
vorhandene Ressourcen so schonend zu nutzen, daß sie möglichtst lange
vorhalten. Das bedeutet Verzicht in der Gegenwart zugunsten späterer Nutzungen.
Verzichten kann man dort am ehesten, wo viel vorhanden ist. Herrscht Mangel, schränkt
dieser die Nutzungsmöglichkeiten entsprechend ein. Kapital für die Zukunft
läßt sich unter solchen Bedingungen schwerlich zurückhalten und
aufbauen. Wo hingegen Überschüsse vorhanden oder (leicht) zu erwirtschaften
sind, könnte zwar gespart werden, aber so ein zurückhaltend-schondender
Umgang mit den Ressourcen erzeugt unausweichlich das Problem der Konkurrenz. Wer
in der Gegenwart mehr Umsatz macht, gewinnt Vorteile. Und das um so mehr, je stärker
sich der Konkurrent zurückhält. Konventionen und Beschränkungen
sollen in der menschlichen Gesellschaft die Wirtschaft »sozial« -
und damit im Zaum - halten. Das gelingt bekanntlich selbst innerhalb eines Staates
zumeist nur unbefriedigend. Zwischen den Staaten und insbesondere zwischen verschiedenen
Wirtschaftssystemen funktioniert die Zurückhaltung zugunsten der Zukunft
noch weniger. Wer nur ein wenig abweicht, gewinnt gleich viel, solange sich die
anderen beschränken. Der Verbrauch an Ressourcen wird dadurch kaum gebremst.
Das hat die jüngste Vergangenheit seit den weltweit verbreiteten Warnungen
von der Endlichkeit der Ressourcen durch den »Club of Rome« und die
»Grenzen des Wachstums« von Dennis Meadows klar gezeigt. Sicher hätten
Meadows und der »Club of Rome« recht bekommen mit ihren Hochrechnungen,
wenn seit den 1970er Jahren nicht neue Funde von Ressourcen und veränderte
Technologien die Grenze(n) hinausgeschoben hätten. Daß es um die Jahrtausendwende
nicht zum prognostizierten globalen Crash gekommen ist, verdanken wir auf keinen
Fall einsichtigem Handeln nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit, sondern neuen Funden
von Vorräten und verbesserten Technologien. (Ebd., S. 117-118).Es
darf eben nicht der Kardinalfehler gemacht werden, der sich aus unangebrachten
Anwendung des wissenschaftlichen Ökosystembegriffs eingebürgert hat,
nämlich abgegrenztes Systeme zu betrachten. Weder der Acker, auf dem Energiepflanzen
angebaut werde, noch Deutschland oder Europa stellen solcherart weitgehend geschlossene
Systeme dar, die nur im Inneren bewertet werden dürfen. Die Energiepflanzung
in Europa hat Folgen in Südamerika und auf den Weltmeeren sowie in der globalen
Atmosphäre. Für jegliche Form von Nachhaltigkeit gilt, daß letztlich
die weltweite Wirkung das Maß abgibt, und nicht die lokale. Die Zeit kommt
hinzu. Was gegenwärtig verzögert wird, um »nachhaltiger«
zu werden, baut sich mit der Zeit um so mehr auf. Kurzfristige Zeitgewinne können
mittel- und langfristig verheerende Folgen zwitigen. Oder auch sehr »gute«,
weil sich in der Zwischenzeit Neues, anderes hat aufbauen lassen. Ohne die umfängliche
Nutzung fossiler Brennstoffe seit dem späten 18. Jahrhundert anstelle von
Holz trüge die Erde praktisch keinen Wald mehr. .... Ohne die so massive
Steigerung des Energieeinsatzes hätten wir weder die moderne Medizin noch
all die technischen Hilfsmittel, deren wir uns längst ganz selbstverständlich
bedienen .... (Ebd., S. 118-119).Die hochentwicklte westliche
Kultur will doch ihren Zusammenbruch nur noch hinauszögern. (Ebd.,
S. 120).Oswald Spengler hatte den »Untergang des Abendlandes«
bereits vor einem Menschenalter vorhergesagt. Neue Kulturen werden die aufgebrauchte,
zu keiner Erneuerung mehr fähige alte ersetzen. Dafür spricht, daß
die jungen, wachsenden Völker ungleich hoffnungsvoller als wir im »Abendland«
in die Zukunft blicken. Die Ökokrise unserer Zeit drückt nur mit anderen
Worten aus, was der »Untergang des Abendlandes« meinte. Nur die Schuld
am Untergang hat sich verlagert - von der kulturellen Unfähigkeit zur landeskulturell-ökologischen
Fehlentwicklung. Die »Guten« sind die jungen Völker der Dritten
Welt, die unschuldig ins Schlepptau des Niedergangs gerieten, weil sie von den
Kolonialmächten abhängig gemacht worden waren. Die »Bösen«,
das sind wir, weil wir der Menschheit den »Fortschritt« aufgezwungen
haben. Paul Watzlawick hat schon vor zwanzig Jahren gezeigt, wie schnell das geht,
vom anfänglich Guten ins Schlechte hineinzugeraten. Der Übergang verläuft
in bezeichnender Ähnlichkeit mit Naturvorgängen als schneller Phasenübergang.
So wie ein sehr gedüngter See in kurzer Zeit »kippt« oder ein
Wirtschaftsaufschwung in eine Rezession übergeht. Gegensteuerungen und Sanierungen
dauern lange und kosten sehr viel. Wenn sie überhaupt gelingen. (Ebd.,
S. 120-121).
Abgesehen von den Vögeln, die noch feiner ihre inneren Zustände
abstimmen und ihre Körpertemperatur knapp unter der Todesgrenze von 42 bis
43 Grad Celsius regulieren, halten wir, solange wir gesund sind, unser Innenleben
präzise eingestellt im Gleichgewicht auf dem richtigen Sollwert. Ohne genauere
Erklärungen zu brauchen, empfinden wir intuitiv, daß Abweichungen von
diesem sollwert gefährlich oder tödlich sein können. Unser inneres
Gleichgewicht zu erhalten gehört daher für uns zu den wichtigsten Lebenstätigkeiten.
Die Vorstellung, daß es draußen in der uns umgebenden Natur so sein
müsse, liegt auf der Hand. Dennoch halten wir uns nicht daran, sondern verändern
diese Natur so, daß sie möglichst viel abgibt. Wir schaffen Ungleichgewichte,
um unser Gleichgewicht zu stabilisieren. (Ebd., S. 122).Kapitalismus.
Seine Wurzeln stecken in jedem von uns. Die Notwendigkeit, unseren inneren Zustand
auf hohem Niveau aufrechtzuerhalten und mit dem Älterwerden weiterzuentwickeln,
erzeugt automatisch den Drang, Ressourcen für sich zu beanspruchen, zu monopolisieren.
Es gilt als normal und richtig (und als rechtmäßig in den Erbgesetzen
festgelegt), die eigenen Nachkommen mit dem vorhandenen Besitz zu beglücken,
zumindest zu begünstigen. Für edler wird es gehalten, einen Grund sozialen
oder kirchlichen Einrichtungen zugute kommen zu lassen. Von einem für alle
gleichen Zugang zu den Ressourcen haben hingegen so gut wie alle menschlichen
Gesellschaften nichts gehalten. Der Kommunismus ist nicht zuletzt auch an diesem
Prinzip der Gleichmacherei gescheitert, weil es sich im wirklichen Leben als nicht
praktikabel herausgestellt hat. Wir müssen also feststellen, daß das
Leben selbst ausgeprägter egoistisch lebt als sozial. Wo es besonders auf
die Gemeinschaft ausgerichtet erscheint, zeigt sich bei näherer Betrachtung,
daß mehr Vor- als Nachteile für die Beteiligten gegeben sind. Sie handeln
also, dem Anschein zum Trotz, weiterhin egoistisch. Persönliche Erhaltung
des inneren Gleichgewichts und Egoismus bestimmen somit weitestgehend das Verhalten
der Menschen (und aller anderen Lebewesen auch!). Das erzeugt Ungleichgewichte
nach außen. Genau in der Art und Weise, wie wir es überall in »der
Natur« vorfinden. (Ebd., S. 123-124).
Einen stabilen Zustand zu erwarten ist irreal; einen solchen künstlich
einstellen zu wollen absurd oder schlichte Überheblichkeit. (Ebd.,
S. 125).Menschen haben immer in die Natur »eingegriffen«.
Seit Urzeiten war das so, als sie als Jäger und Sammler unterwegs waren,
und nicht erst in unserer Zeit. Mit Feuer und Waffen veränderten sie ihre
Umgebung, bekämpften einander, vermehrten sich, gerieten an den Rand des
Untergangs, kamen da und dort wieder hoch und machten weiter wie gehabt bis in
unsere Zeit. Sie werden weitermachen, weil sie alle Menschen sind. Nie lebten
sie »im Einklang mit der Natur«. Wo uns das so scheint, liegen entweder
romantische Mythen zugrunde, die wenig mit der harten Wirklichkeit zu tun hatten,
oder man übersah, daß die Natur einfach nicht mehr zugelassen hatte.
Jeder technische Fortschritt, ob Pfeil und Bogen oder Gewehr, Feldbau oder Motorenkraft,
verstärkte die Eingriffe in die Natur. Vernichtet wurde sie dennoch nicht.
Vielmehr erzeugten die Veränderungen neue, bislang nicht dagewesene Ungleichgewichte.
(Ebd., S. 126).Staatslenker und Wirtschaftsbosse machen Fehler;
häufig ganz ähnliche, wie sie immer wieder gemacht worden sind. Offenbar
sind sie unfähig, aus den Fehlern anderer und aus der Geschichte zu lernen.
(Ebd., S. 126-127).Ist es da nicht besser, den Dingen und vor allem
den Menschen einfach ihren Lauf zu lassen? Nach den Prinzipien der Evolution werden
sich die erfolgreichen Strategien ganz von selbst zeigen. Untaugliches wird der
Unerbitterlichkeit der Selektion zum Opfer fallen. Anderes überdauert in
der Grauzone zwischen beiden eine Zeitlang. Daraus könnte wie der berühmte
Phoenix aus der Asche Neues entsteigen, das weder in der einen noch in der anderen
Richtung zu extrem (angepaßt) war. Wer eine solche Einstellung vertritt,
wird als Fatalist eingestuft. Der Lebensprozeß selbst, die Evolution, wäre
demzufolge fatalistisch. (Ebd., S. 127).Die Gleichheit aller
Kulturen würde jegliches Kulturschaffen zum Erliegen bringen. Sie kann nicht
Ziel der Entwicklungen in die Zukunft sein. Ganz von selbst werden in jeder zu
gleichartig gewordenen Kultur von der Basis her neue Formen entstehen, die sich
von der Vorgabe unterscheiden wollen. (Ebd., S. 131).Sicher
scheint mir allerdings, daß die Lösungen nicht im Streben nach Gleichgewichten
liegen, sondern in jenem schwer zu begreifenden Fließgleichgewichten fern
vom Gleichgewicht, die in der Physik, in der Thermodynamik zumal, spätestens
seit Erwin Schrödingers Essay Was ist Leben? von 1948 bekannt
sind. In der wissenschaftlichen Ökologie sind diese Fließgleichgewichte
viel zu wenig beachtet worden. Die populäre Vereinfachung zum »Gleichgewicht
des Naturhaushalts« hat weiterhin Erwartungen geweckt, die weder erfüllt
werden können noch erfüllt werden sollten. Denn das erhoffte Gleichgewicht
wäre günstigstenfalls gleichbedeutend mit Stillstand, schlimmstenfalls
das Ende. Wir brauchen deshalb ein neues Denken in und mit Ungleichgewichten:
in der Ökologie wie in der Gesellschaft. Überlebensfähige Ungleichgewichte
werden aus der Gegenwart wie in der Vergangenheit in die Zukunft führen.
Wir werden sie auch in der Wirtschaft, in den Gesellschaften und allen voran auch
in der Politik brauchen - als menschenwürdige Ungleichgewichte in einer zwar
globalisierten, aber unterschiedlich beschaffenen Welt. (Ebd., S. 132 ).
Auf »Harmonie« und schöne Gleichgewichte waren
Tiere und Pflanzen oder Mikroben nie aus. Der sich zumeist rasch einstellende
Mangel hat sie in solch scheinbare Gleichgewichte hineingezwungen. Gerade deshalb
sind die »stabilsten« natürlichen Lebensgemeinschaften der Erde
kein praktikables Vorbild für die Zukunft der Menschheit und ihre Bedürfnisse.
Wir müssen diese selbst gestalten. (Ebd., S. 136).Dazu
brauchen wir ungleich bessere Kenntnisse über die Grenzen von produzierenden
Ungleichgewichten, als die uns bislang zur Verfügung stehen. Wir müssen
wissen, wie groß die Energieflüsse und Matreialumsetzungen werden dürfen,
um den Rahmen nicht zu sprengen und andere Menschen und die örtliche, regionale
oder globale Natur nicht zu schädigen. (Ebd., S. 136).Die
Schwankungen und ihr Ausmaß sind viel wichtiger für die Natur und für
die menschlichen Nutzungsansprüche als statistische Mittel. (Ebd.,
S. 137).Nur funktionierende Ungleichgewichte können »nachhaltige
Entwicklungen« ermöglichen. (Ebd., S. 137).
Warum die Menschen seßhaft wurden. Das größte
Rätsel unserer Geschichte (2008)
|  Abrupte
Klimaschwankungen gegen Ende der letzten Kaltzeit, der Würm-Eiszeit,
vor dem Übergang in die gegenwärtige Warmzeit, das Holozän. | Ziemlich
rasch, dn Eisbbohrkernen aus Grönland zufolge vielleicht in kaum mehr als
100 Jahren, stieg vor etwa 14000 Jahren die Temperatur um über 10 Grad Celsius
an. Sie erreichte dabei fast schon den nacheiszeitlichen Durchschnittswert, der
unserer Klimazeit zugrunde gelegt wird. Der Anstieg währte allerdings nur
kurz. In heftigen Stufen fiel die Temperatur innerhalb von einem Jahrtausend wieder
auf jene Kälte ab, aus welcher der ... Anstieg hervorgegangen war, verweilte
in diesem Zustand kurz für ein paar Jahrhunderte und schnellte sodann gleich
um 16 bis 17 Grad Celsius in die Höhe. Etwa 11000 bis 9000 Jahre vor heute
(also: 9000 bis 7000 v. Chr.; HB) war es wärmer
als oder zumindest ähnlich warm wie in der Gegenwart. Vor 8200 Jahren (also:
6200 v. Chr.; HB) kam ein neuerlicher Kälteeinbruch, bei dem
die Temperatur um etwa 3 Grad Celsius zurückgimg. Darauf folgten sehr warme
Zeiten mit Höchstständen der Temperatur, die wahrscheinlich erheblich
über die gegenwärtigen Verhältnisse hinausragten. (Vgl. Abbildung).
(Ebd., S. 27-28).Das Ende der letzten Eiszeit trat ... weder abrupt
ein noch kam es zu allmählich, sondern mit heftigen Schwankungen, die Jahrtausende
anhielten. (Ebd., S. 29).
Gegen Ende der letzten Eiszeit verschlechterten sich die Lebensbedingungen
für die Jäger und Sammler in Euurasien. Jahrtausendelang hatten sie
Mammuts, Wisente, Hirsche, Wildpferd und andere Großtiere gejagt. Doch nach
und nach wurden diese immer seltener. Die Verbesserung der Jagdtechnik konnte
lange den Niedergang des Wildes ausgleichen. Mit Pfeilspitzen aus Obsidian und
mit Speeren, die von Wurfschlingen wuchtig und treffsicher geschleudert wurden,
gelang es, auch scheuere oder große Beute zu erlegen. Da und dort boten
sich natürliche Engpässe an, durch die das Wild kommen mußte,
wenn es im Frühjahr auf die schneefrei werdenden Flächen hinaus- und
im Herbst davon wieder zurückzog. Aber die verstärkte Bejagung beschleunigte
den Rückgang der Wildbestände. Fleisch, von dem sich die Menschen bis
dahin weitgehend ernährt hatten, wurde bald zur raren Köstlichkeit.
Es galt, auf Pflanzenkost auszuweichen. Doch abgesehen von den bis dahin schon
genutzen Pflanzen war kein ersatz in Sicht. (Ebd., S. 32).Die
beginnende Erwärmung zwang ... die Eiszeitmenschen immer weiter nach Süden
in Regionen, in denen im Sommer recht dürftig anzuschauende Gräser aufwuchsen.
An diesen entwickelten sich Körner. Vögel kamen zu Beginn der Reife
von weit her geflogen, um sie zu verzehren. Die hungernden Menschen taten es ihnen
gleich. .... Sie merkten mit der Zeit, daß sich reife, hart gewordenen Körner
längere Zeit aufbewahren lassen. man konnte sie als Vorrat für kommende,
noch schlechtere Zeiten zurücklegen. (Ebd., S. 33).Die
junge Saat, das keimende, heranwachsende Wildgetreide, lockte Ziegen und Schafe
herbei. Das reife Korn aber würde später den menschen helfen, über
die Hungerzeit zu kommen. Einzige Bedingung: Man mußte an Ort und Stelle
bleiben. Wer jedoch von der Jagd allein lebte, konnte nicht länger an einem
Ort bleiben, denn das vorhandene Wild war schnell dezimiert. Die Jäger mußten
dem Wild folgen. Nun aber kam es von selbst herbei. .... Gelang es den Menschen,
die Mütter zu erlegen, bleiben die Jungen ganz von selbst. Sie wurden leichte
Beute. waren sie schon groß genug, um sich vom Gras der Umgebung zu ernähren,
konnte man sie in Umzäunungen einsperren und später, bei Bedarf, töten.
Während ihnen die Menschen Schutz boten, wurden die heranwachsnden Ziegen
oder Schafe zutraulicher. Die Haustierwerdung konnte beginnen. Da die Menschen
nur an den Körnern, nicht aber an den Wildgräsern selbst interessiert
waren, kam eine Verwertungsgemeinschaft zustande, die einander ergänzte.
(Ebd., S. 34-35).Von Anfang an sollte sich ... ein Konflikt
aufgetan haben zwischen der einen Notwendigkeit, am Ort zu bleiben, die Äcker
zu versorgen und die Ernte abzuzwarten, also Bauer zu werden, und der anderen,
mit dem Vieh herumzuschweifen, um die jeweils günstigen Weidegründe
aufsuchen zu können. Den Grundkonflikt zwischen der seßhaften lebensweise
der Ackerbauer und der nomadischen Viehzüchter schildert die Bibel. der Ackerbauer
Kain erschlägt den Hrietn Abel, seinen »Bruder«. (Ebd.,
S. 37-38).Die Dörfer und Städte wuchsen. Es mag nicht
lange gedauert haben, bis konkurrierende Gruppierungen entstanden, die anfingen,
sich zu bekriegen. Zunächst dürfte es nur um gespeicherte Vorräte
gegangen sein, dann um das Land selbst, das produktiv geworden war, und schließlich
um Menschen, die von den Siegern versklavt wurden. Wanderhirten hätten gar
kein vergleichbares Sozialsystem entwickeln können, um attraktiv für
die Versklavung als Hirten unter fremder Herrschaft zu werden. Das freie Umherziehen
hätte sich damit nicht verbinden und vor allem nicht ausreichend kontrollieren
lassen. Das Wanderhirtentum hielt die eigene Bevölkerungsentwicklung in vergleichsweise
engen Grenzen, weil das Wohl und Wehe der Herden und damit ihre Nutzbarkeit für
die Menschen von den äußeren Unwägbarkeiten der Witterung und
nicht von eigener Hände Arbeit abhängen. Die Natur setzte der Steigerung
der Produktivität enge Grenzen. Die Ackerbauern hingegen veränderten
die Natur und machten diese immer produktiver. Erst damit konnte die Bevölkerung
wachsen. Auf die Entwicklung des Ackerbaus folgte ein markanter demographischer
Wandel. Aus ihm ging nicht nur eine vielfältig strukturierte Gesellschaft
hervor, die anfingzunehmend arbeitsteiliger zu wirtschaften, sondern auch ein
starkes Wachstum der Bevölkerung. Auf die Entwicklung des Ackerbaus folgte
eine Bevölkerungsexplosion. Wo in früheren Zeiten im Durchschnitt nur
einige wenige Menschen pro Quadratkilometer leben konnten, ernährte der Ackerbau
nun das Zehnfache und mehr. Die Entwicklung wurde zum Selbstläufer. Mehr
Nahrung bedeutete mehr Kinder, größere Bevölkerung mehr Arbeitskräfte
und diese eine weitere Steigerung der Produktivität. Eine Zunahme von individueller
Sicherheit in größeren Gemeinschaften ergab sich von selbst. Der Ackerbau
hatte die Tür zu einem ganz neuen Raum für die kulturelle Entwicklung
der Menschen geöffnet. Die Natur wurde fortan Gegensatz zur Kultur. Es gab
kein Zurück mehr. Aus dem »colere« der Lateiner stammt unser
Wort für Kultur (»colere« [latein] = [be]bauen,
[be]wohnen, pflegen; HB). Darin steckt noch die Ahnung davon, welch
grundlegende Bedeutung das Pflegen und Bebauen des Landes am Anfang der Geschichte
hatte. Der Mensch wurde damit zum Kulturwesen. Als Wanderhirte hätte er noch
weitestgehend »Natur« bleiben können. Naturverbunden zumindest,
wie wir diese Lebensweise verstehen wollen, oder »im Einklang mit der Natur«,
so die gegenwärtig bevorzugte Phrase. (Ebd., S. 39-40).All
das paßt in recht überzeugender Weise zusammen. Die Verschlechterung
der Lebensbedingungen, die zum Rückgang des Wildes geführt hat, gibt
einen klaren Grund für den Umschwung. Die geeigneten Wildgräser zu entdecken,
sollte leicht gewesen sein, weil die Vögel darauf aufmerksam machen, wenn
sie zur Reifezeit in Schwärmen einfallen. Die Körner, die anfangs noch
recht klein waren, sind nahrhaft und ungiftig. Als Gräsersamen enthalten
sie recht viel Eiweiß. Somit eignen sie sich auch als Ersatz für das
tierische Eiweiß, das mit der Abnahme des Wildes rar geworden war. Körner
sind haltbar. Aussaat und Ernte verlaufen in festen Zyklen zu bestimmten Jahreszeiten.
Der Ertrag läßt sich steigern, wenn den Wildgräsern durch Bearbeitung
des Bodens günstigere Wachstumsbedingungen geboten werden. Gräser bilden
von Natur aus ziemlich leicht Hybride. Bessere Sorten konnten einfach per Zufall
dadurch entstehen, daß die Wildformen in größeren Beständen
beisammen aufwuchsen und von anderen Orten mitgebracht wurden. (Ebd., S.
40).
Skepsis ist die Mutter der Wissenschaft. Sie wirft unangenehme
Fragen auf: Mußte es so kommen wie angenommen, oder hätte es auch
anders kommen können? Und warum kam es zu den Entwicklungen der Neolithischen
Revolution nur an besonderen Orten zu ganz bestimmten Zeiten? (Ebd.,
S. 42).Konkret gefragt: Stimmt das mit der Verknappung des Wildes?
Warum wurde der Ackerbau ausgerechnet im Vorderen Orient entwickelt, jedoch nicht
überall, wo späteiszeitlich das Wild selten geworden war?
(Ebd., S. 42).Warum sollte ausgerechnet dort, wo die passenden
Wildpflanzen wuchsen, aus denen Getreide werden konnte, das Wild so selten geworden
sein, daß sich die Menschen darauf umstellen mussten, wenn das an vielen
anderen Stellen I nicht der Fall war? Das ist bis heute nicht so: Wo gutes Gras
wächst, sammelt sich auch das Wild, und oft halten sich dort Jäger und
Sammler mit ihrer althergebrachten Lebensweise auf. Die (ein)gängige Modellvorstellung
wankt noch stärker, wenn Ort und Zeit näher betrachtet werden. Ausgerechnet
im Vorderen Orient, im Bereich des aus guten Gründen so bezeichneten »Fruchtbaren
Halbmondes«, der sich vom unteren Niltal und Palästina über die
östliche Türkei zum Zweistromland (Mesopotamien) hin erstreckt, sollte
das Wild so selten geworden sein, daß die Menschen dort den Ackerbau erfinden
mußten. Wie paßt die Fruchtbarkeit der dortigen Böden mit der
Seltenheit der Wildtiere zusammen? Müßte es sich nicht gerade umgekehrt
verhalten? Hätte es nicht auch in Afrika passende Pflanzen für die Kultivierung
geben können? Und Haustiere dazu, wo doch bis heute die größte
Vielfalt an größeren Säugetieren in Afrika lebt! Warum also ausgerechnet
zuerst der Vordere Orient, dann, mit ganz anderen Pflanzen, Ostasien, wo nicht
Gerste und Weizen, sondern Reis kultiviert wurde, und Jahrtausende später
sodann Mittel- und Südamerika mit Mais und Kartoffeln? Die drei Hauptgebiete,
in denen der Ackerbau erfunden wurde, liegen sehr weit auseinander. Unabhängige
Entwicklungen anzunehmen, liegt nahe. Doch diese fanden zu sehr verschiedenen
Zeiten statt. Das spricht gegen die Klimaänderung als alleinigem Auslöser
der Neolithischen Revolution. Die Kultivierung von Reis, Mais und Kartoffeln war
zudem nicht mit der Züchtung von Haustieren verbunden. Diese Tatsache stellt
den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Nutzpflanzen und Haustieren in
Frage. Darüber hinaus herrschen in den vier Regionen, in denen die vier mit
Abstand bedeutendsten Nutzpflanzen der Menschheit kultiviert wurden, höchst
unterschiedliche klimatische Bedingungen: im Vorderen Orient (Brotgetreide) mediterranes
Halbtrockenklima, in China (Reis) subtropisches Monsunklima, in Mittelamerika
(Mais) tropisches und im Heimatbereich der Kartoffel auf den Hochflächen
der Anden ein kaltes Höhenklima. (Ebd., S. 45-46).Allenfalls
taugt somit das übliche Modell zur Entstehung des Ackerbaus für den
Vorderen Orient, nicht aber allgemein. Die zahlreichen anderen Nutzpflanzen, die
andernorts nach und nach in Kultur genommen und weitergezüchtet wurden, können
unberücksichtigt bleiben, weil sie nur lokale Bedeutung erlangten und zumeist
erst viel später in Kultur kamen, als der entscheidende Durchbruch zum Ackerbau
längst geglückt war. Und dann müssen auch jene nicht wenigen Fälle
berücksichtigt werden, in denen Jäger-und-Sammler-Kulturen überlebten,
obwohl sie in der näheren oder weiteren Nachbarschaft von Ackerbauern existierten.
Ein ganzer Kontinent, Australien, blieb von der nacheiszeitlichen Entwicklung
ausgenommen. Ein anderer, seiner Natur nach Europa recht ähnlicher, ebenfalls
größtenteils: Nordamerika. Zum führenden Getreideland wurde dieser
am besten dafür taugliche Kontinent erst in den letzten Jahrhunderten. Der
aus dem nahen Mittelamerika stammende Mais gedeiht im »corn belt«
der Vereinigten Staaten ähnlich ausgezeichnet wie der aus dem Vorderen Orient
stammende Weizen. Nordamerika war der Fläche nach noch stärker vereist
als Europa und Westasien. Die klimatischen Änderungen am Ende der letzten
Eiszeit verliefen dort ähnlich gewaltig wie in Europa. Damit ist die übliche
Begründung für das Zustandekommen des Ackerbaus eigentlich schon gefallen.
Sie kann nur noch stark eingeschränkt auf den speziellen Bereich Vorderasiens
in Betracht gezogen werden. Doch der Fruchtbare Halbmond war nie isoliert vom
großen Rest Eurasiens. (Ebd., S. 46).Besondere Abläufe
für dieses Gebiet annehmen zu wollen, bedarf entsprechend überzeugender
Begründungen. Denn das Klima veränderte sich am Ende der letzten Eiszeit
global und nicht nur in Vorderasien. So gut wie alle Menschen müssen irgendwie
von den Änderungen betroffen gewesen sein. Wie war es, dieses Eiszeit- und
Späteiszeitklima? Warum sollte es so bedeutende Anstöße für
jene neuen Entwicklungen gegeben haben, denen wir die Kultur verdanken? Im Grunde
genommen verschoben sich doch nur die Klimazonen, und zwar in den Kaltzeiten (Glaziale)
äquatorwärts und in den Warmzeiten (Zwischeneiszeiten, Warmzeiten, Interglaziale)
wieder polwärts. Die Menschen hätten doch nur, wie die Tiere, die sie
jagten, entsprechend mitpendeln müssen. Das ganze Eiszeitalter ... funktionierte
dies offenbar auch. (Ebd., S. 46-47).
Vieles in unserer heutigen Natur, insbesondere in ihren jahreszeitlichen
Abläufen, stammt noch aus der Eiszeit. 10000 Jahre sind zu kurz, um die Lebensweise
grundsätzlich zu ändern. (Ebd., S. 52).
Die Eiszeitmenschen ernährten sich hauptsächllich wie
Raubtiere. Wir müssen sie von dieser Warte aus betrachten, wenn wir die großen
Veränderungen am Ende der letzten (Kaltzeit der jetzigen)
Eiszeit verstehen möchten. (Ebd., S. 61).
Die Sprecher der ural-altaischen Sprachen (sie
gehören zur Supersprachfamilie »Nostratisch« [**];
HB) ... sind als Völker und Mischgruppe untereinander auch näher
verwandt als solche ganz anderer Sprachfamilien. (Ebd., S. 158).Die
Sprache stärkt das »Wir«. (Ebd., S. 159).
Die Bezeichnung »Hopfen« (englisch »hop«,
französisch »houblon«) hängt mit lateinisch »Humulus«
zusammen, hat aber nicht mit Humus (Erdboden) zu tun. Der name wurde vielmehr
aus dem altnordischen »humle« (angelsächsisch »hymele«)
lateinisiert. Beide stamme von »qumlix« aus dem efrnen Wogulischen.
Der Name des Hopfens komt also aus Zentralasien, den Wugulisch ist eine ural-altaische
Sprache. Diese sprachliche Herkunft deckt sich mit der Herkunft der Hopfenpflanze
selbst, für die zentralasien als Ursprungsgebiet angenommen wird. Das ist
ein bedeutender Befund, auf den ich zurückkommen werde. (Ebd., S. 246).
Herkunft und Ausbreitungsgeschichte
des Getreides erzeugen das Bild eines Zentrums in Asien, von dem aus vier große
»Strahlen« ausgehen. Einer nach Westen, nach Europa, ein zweiter stärker
südwärts gerichtet nach Südasien und Vorderasien mit Ausläufern
nilaufwärts bis ins nordostafrikanische Hochland (Äthiopien). Ein dritter
biegt sich auf der Ostseite nach Süden hinein ins heutige China und Südostasien,
während der vierte hinübergreift nach Amerika und dort im wesentlichen
den großen Gebirgen im Westen bis ins südliche Südamerika folgt.
Dieses Bild deckt sich weitgehend mit der späteiszeitlichen und nacheiszeitlichen
Ausbreitung der uralaltaiischen Völker und ihrer Sprachen (vgl. Luigi Luca
Calli-Sforza Gene, Völker und Sprachen, 1999). Für ein Teilstück
davon wissen wir genauer Bescheid. Es ist dies die Ausbreitung der Indogermanen
(oder Indoeuropäer). Sie geschah zur selben Zeit, in der auch Ackerbau und
Viehzucht nach Europa kamen. Ihre Spuren haben sie im Erbgut der Völker hinterlassen.
Sie verwischen nicht, auch wenn sie sich mit den vorher schon ansässigen
Völkern mischten. Die Ausbreitung der Indogermanen etwa im mittleren Drittel
der letzten 10000 Jahre der »Nacheiszeit« stellt jedoch nur einen
Teil der Expansion ural-altaiischer Völker dar, wie die Doppelanalyse von
genetischen Spuren und Sprachen von Cavalli-Sforza (1999) gezeigt hat. Wir nähern
uns mit unserer Analyse offenbar einem historischen Großereignis. Denn diese
Völkerwanderung, um die es hier geht, war ungleich größer und
nachhaltiger als jene historische, an deren Beginn die Zeit des Römerreiches
endete und die ein halbes Jahrtausend lang, zwischen dem 2. und dem 8. nachchristlichen
Jahrhundert, gewaltige Verschiebungen in Westasien und Europa verursacht hatte.
Für diese kleinere, die in der europäischen Geschichte sogenannte Völkerwanderung,
ist der Auslöser bekannt. Es war dies eine massive Verschlechterung des Klimas
auf der Nordhemisphäre. Sie drückte Völker, die weiter im Norden
und im Innern Asiens viele Jahrhunderte gelebt hatten, nach Süden und vor
allem nach Südwesten, weil in Zentralasien die gewaltigen Hochgebirgsmassive
eine direkte Verschiebung südwärts nicht erlaubten. Eine weit ausgeprägtere
Verschlechterung des Klimas hatte es vor etwa 6200 Jahren gegeben. Ihr kann die
Wanderung der Indogermanen zugeschrieben (oder angelastet) werden. Dabei geht
es nun allerdings nicht, wie ganz zu Beginn diskutiert, um das Problem der Verknappung
des Jagdwildes, sondern um großräumige Wanderungen von Völkern
in neue Räume. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf die noch frühere,
wenigstens 12000 bis 14000 Jahre zurückliegende Wanderung von Menschen aus
Nordostasien, die gleichfalls zur Gruppe der Ural-Altaier gehörten, hinüber
nach Amerika. Die breite Landverbindung »Beringia« zwischen Nordostsibirien
und Alaska war begehbar, eine rasche Klimaerwärmung fast bis auf die »nacheiszeitlichen«
Warmzeitverhältnisse folgt auf diese Zeit und danach ein ganz abrupter Rückfall
für Jahrhunderte in eine weitere Kälteperiode, bis sich vor rund 10000
Jahren das warme Klima der Nacheiszeit vollends durchsetzte (vgl. Abbildung).
Wir können daraus schließen, daß die Einwanderer nach Amerika
bereits das Wissen um Rauschmittel und vielleicht sogar über Pflanzen mitgebracht
hatten, das die spätere Entwicklung von Mais als Getreidepflanze ermöglichte.
Noch wahrscheinlicher ist es, daß im südlichen Ostasien der Reis nicht
einfach so als Körnerpflanze entdeckt worden ist, sondern daß die Nutzung
von Gräserkörnern bereits bekannt war und Zusammenhänge mit Gerste
und Weizen im vorderasiatischen »Fruchtbaren Halbmond« bestanden.
Denn die Völker, die sich zu Beginn der »Nacheiszeit« in diese
Räume Vorderasiens und Ostasiens verlagerten, waren aus dem gleichen Ursprungsgebiet
im westlichen Zentralasien, aus dem ural-altaiischen Raum, gekommen. Es waren
somit Ural-Altaier, von denen die Neolithische Revolution ausging. Abgewanderte
Gruppen von ihnen brachten die Kenntnisse zur Nutzung von Rauschmitteln und Alkohol
in die Räume mit, in die sie vordrangen. Die Nutzung von Getreide hing somit
anfänglich nicht wesentlich mit der Ernährung zusammen. Die gesammelten
Körner dienten der Erzeugung von Bier. (Ebd., S. 256-258).
Das Brot als »Frucht des Ackers« muß nicht nur
im Schweiße des »Angesichts« erworben werden, sondern unter
harter körperlicher Arbeit insgesamt. (Ebd., S. 281).Fröhlich,
wie das Jagen, war der Ackerbau nie. Die Ackerbauern waren die Arbeitskräfte,
die sklavengleich das zu erzeugen hatten, was die Herrscher- und die Priesterkaste
beanspruchte. (Ebd., S. 281).Die Neolithische Revolution
war keine schnelle Umwälzung, sondern ein nachgerade träger Vorgang,
der letztlich bis in die Gegenwart hineinreicht. Denn noch immer gibt es kleine
Völker, die verhältnismäßig frei als Jäger- und Sammler
oder als Hirtennomaden leben, die sich am liebsten nicht den Gesetzen von Besitz
an Grund und Boden unterwerfen möchten. Sie haben keine Zukunft. Die Staaten,
auf deren Territorien sie sich bewegen, wollen keine Zugeständnisse mehr
an ein freies Leben machen, zumal wenn sich dieses über festgelegte Grenzen
hinweg erstreckt. Doch nicht einmal mehr die Landbevölkerung ist bodenständig
genug verwurzelt, um sich der Entwicklung entziehen zu können, die zu immer
größeren, immer stärker verdichteten Städten führt.
Was mit befestigten Orten wie Jericho vor mehr als 10000 Jahren begann, entwickelte
sich in unserer Gegenwart zur Megalopolis, in der mehr Menschen leben als »auf
dem Land«. Daß gerade diese Stadt-Menschen ein besonders ausgeprägtes
Bedürfnis nach Mobilität verspüren, steht in krassem Gegensatz
zur Beständigkeit ihrer Gebäude aus Beton und Stahl, die sogar den meisten
Erdbeben trotzen. Jahr für Jahr sind die Stadtmenschen zu Wasser, zu Lande
und in der Luft in größeren Mengen unterwegs als in allen Völkerwanderungen
der Geschichte. Urlaub nennt man dieses Phänomen von »Zugzeiten«,
die Menschen anscheinend mit einer ähnlichen inneren Macht wie die Zugvögel
erfassen. Der Nomadismus steckt uns noch im Blut. Die Seßhaftigkeit ist
eine Neuerung, die nicht einmal ein Zehntel der Zeitspanne unserer biologischen
Existenz einnimmt. Sie erwies sich als die erfolgreichere Lebensweise. Der Hauptgrund
ist einfach: Menschen, die sich von den Früchten des Feldes und ihrer eigenen
Hände Arbeit ernähren, brauchen kaum ein Zehntel des Lebensraumes, den
Wanderhirten benötigen. Menschengruppen, die sich von Jagen und Sammeln ernähren,
nehmen etwa das Hundertfache von Ackerbauern pro Kopf an Fläche in Anspruch.
Hieraus ergibt sich das Anwachsen der Weltbevölkerung ganz von selbst. Gesteigerte
Produktion von Nahrung ermöglicht das Überleben von mehr Menschen.
(Ebd., S. 282-283).Auch dieser Befund spricht gegen eine von Anfang
an direkte Verbindung von Getreide und Ernährung. Zu viele Jahrtausende Verzögerungszeit
liegen zwischen den Anfängen der Nutzung von Wildgetreide und dem Anstieg
der Bevölkerungszahlen. Nicht einmal von Natur aus besonders ertragreiche
Flussoasen-Kulturen, wie die am unteren Nil, an Euphrat und Tigris oder am Indus,
erzeugten Bevölkerungsmassen, die von sich aus expansiv wurden. Im Gegenteil:
Sie selbst wurden immer wieder das Ziel von Eindringlingen und Eroberern. Die
großen Reiche errichteten Reitervölker aus Asien; das größte
von allen die Mongolen unter Dschingis Khan. Ähnlich erfolgreich, wenngleich,
wie das bei allen Großreichen der Fall war, nur für verhältnismäßig
kurze Zeit, waren Seevölker im Aufbau von Imperien. Die Landwirtschaft diente.
Sie lieferte Masse für die »Klasse«. (Ebd., S. 283).Ihre
Wirkung entfaltete sich auf subtilere Weise als mit kriegerischen Eroberungen.
Mit dem Übergang zur seßhaften Lebensweise waren die Menschen weit
abhängiger vom Jahresgang der Witterung und ihrer Vorhersagbarkeit geworden
als die mobilen Wanderhirten oder Jäger-und-Sammler-Gruppen. Insbesondere
in niederen geographischen Breiten ohne klaren Wechsel zwischen Winter und Frühling
zwang die Dauer des Wachsens und Reifens des Getreides zu einer kalenderartigen
Erfassung des Jahreslaufes. Die Anfänge der Astronomie gingen aus dieser
Notwendigkeit hervor. In höheren Breiten wurden einfach die Tage länger
oder kürzer, gleichgültig wie die Witterung verlief. Für die küstennahe
Seefahrt reichte nachts (bei klarem Himmel) die Nordstern-Orientierung. Es war
nicht sonderlich wichtig, den Orion zu (er)kennen, wenn die Mittsommertage ohnehin
sehr lang oder die sternklaren Winternächte bitterkalt waren. Der Gang der
Jahreszeiten verläuft umso verläßlicher, je näher die Gegend
zu den Polen liegt und umgekehrt. Die frühen astronomischen Beobachtungsstellen
befinden sich aus gutem Grund vornehmlich in den sub- und randtropischen Zonen
- in Nordafrika und im Vorderen Orient über Indien und Südostasien bis
Mittel- und Südamerika. Die Position der Sterne, die als Bilder gesehen wurden,
war wichtiger geworden als die in der Entwicklungsgeschichte unserer Gattung so
mächtigen Mondzyklen. Denn nun ging es um Voraussicht; um die Abschätzung,
wann welche Witterung eintreten wird. Die Nilflut ließ sich ebenso ungefähr
vorhersagen wie die Winterregen im östlichen Mittelmeerraum oder die Wasserfluten
aus der Schneeschmelze von den vorder- und südwestasiatischen Hochgebirgen.
So wurden die »Seßhaften« auch Initiatoren von Naturforschung
und Fortschritt, weil sie sich in der Gegenwart immer intensiver mit dem Kommenden
befassen mußten. (Ebd., S. 283-284).
Nach einer ganzen Reihe guter Jahre, in denen die Produktion der
Grundnahrungsmittel schneller anwuchs, als die Bevölkerung global zugenommen
hat, ist die Menschheit gegen Ende des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert in
eine massive Ernährungskrise geraten. Getreide wird rar und teuer. Die Weltbevölkerung
wächst weiter. Sie wird um das Jahr 2010 die 7. Milliarde erreichen oder
übersteigen (**).
Doch die Ackerflächen nehmen nur noch unwesentlich zu. Zwei andere Konkurrenten
sind mit Macht auf den Plan getreten, das Fleisch und die Energie für Mobilität.
Dem Vieh, das Fleisch erzeugt, wird Getreide und Soja verfüttert. Von beidem
können Menschen direkt leben. Aber Fleisch ist begehrt. Die sich rasch entwickelnden
großen Volkswirtschaften der sogenannten Schwellenländer gieren nach
Fleisch, das ihnen bisher in weitaus geringeren Mengen als den reichen Ländern
des Westens zur Verfügung stand. Je mehr Menschen sich Fleisch leisten könnten,
desto größer wird der Hunger bei den Armen. Denn pro Kilogramm Fleisch
wird mehr als das Zehnfache an Nahrung und Energie verbraucht als pro Kilogramm
Getreide. Vom gegenwärtigen Fleischkonsum der Erdbevölkerung könnten
ohne weiteres nicht nur die heute Hungernden, sondern weitere Milliarden Menschen,
die noch kommen, leben, wenn es in Form von Getreide erzeugt würde. Das Fleisch,
das wir konsumieren, brauchte Weideland und Energie. Ein Teil davon wäre
als Ackerland nutzbar. Viel, sehr viel Energie ließe sich einsparen. Die
zweite, noch gefährlichere Konkurrenz ist die Erzeugung von Bio-Sprit. Ihr
werden bereits große Flächen von landwirtschaftlich hochproduktivem
Land gewidmet und Millionen Hektar Wald fallen den Energie-Plantagen zum Opfer.
Mit Folgen, die nicht nur das Klima der Erde betreffen. Der alte Konflikt zwischen
Ackerbau und Seßhaftigkeit, Viehzucht und Mobilität ist in neuer, global
gewordener Dimension ausgebrochen. Aus dem Anregungsmittel Alkohol ist ein Betriebsmittel
geworden. Wohl dosiert und nur zu besonderen Festen angewandt, die in der Gemeinschaft
gefeiert wurden, trug er dazu bei, neue Stufen von Kultur aufzubauen. Als er praktisch
frei für die Massen verfügbar wurde, geriet er »über das
Lot« des Maßes der Alten, wurde zum »Ubiloz«, zum Übel
und zur Gefahr für viele. Mit seiner Erzeugung in noch größeren
Mengen soll er gewährleisten, daß die zu seßhaft gewordenen Menschenmassen
mobil genug bleiben können. Pessimisten sehen darin das Ende der Kultur.
(Ebd., S. 287-288).
Der chinesischen Überlieferung zufolge waren vor dem Xia-Herrschern
(auch: Hsia-Herrschern; Anm HB), also vor gut 4000
Jahren, »Fünf Vergöttlichte« ins Land gekommen und hatten
die Landwirtschaft aund das Regieren gelehrt. Hierin kommt direkt zum Ausdruck,
daß die Kenntnis der zum Ackerbau geeigneten Pflanzen von außen und
der Geographie zufolge vom Bereich der Mongolen (Ural-Altaier) her gekommen und
die Landwirtschaft die Basis für den Ackerbau eines zentral organisierten
Staates geworden war. (Ebd., S. 292).Der Stern schreib
2003: »Eine Gruppe südkoreanischer Archäologen hat nach eigenen
Angaben die bisher ältesten Reiskörner der Welt entdeckt. Die Hand voll
verkohlter Körner stamme aus der Zeit vor 14000 bis 15000 Jahren und unterscheide
sich genetisch von den heute angebauten Sorten, sagte Lee Yung Jo von der Chungbuk
National-Universität in Chongju. Bisher hatten Wissenschaftler den Beginn
der Reis-Kultivierung vor etwa 12000 Jahren in China angenommen. Bis jetzt
waren die Wissenschaftler davon ausgegangen, daß der Ursprung des Reises
der Jangtse-Fluss in China ist, sagte Lee. Der Fund der 59 Reiskörner
in Südkorea zeige, daß sich das Getreide auch weiter nördlich
von China, vielleicht auch in Japan, entwickelt habe.« (Ebd., S. 292-293).
Der Unterschied in der zeitlichen Beurteilung sieht auf den ersten
Blick zu groß aus, um glaubwürdig zu sein. Doch entspricht eine solche
Datierung tatsächlich dem, was aus biologischer Sicht anzunehmen ist. Auch
beim Reis dauerte es viele Jahrtausende, bis er den Zustand einer produktiven
Kulturpflanze erreichte! Ein Massenanbau von Weizen als Nahrungsmittel läßt
sich gleichfalls erst mit langer »Verzögerungszeit« nach den
frühen Datierungen von Körnern der Wildform feststellen. Wildgetreidekörner,
die vermutlich von Menschen genutzt worden sind, datieren aus der Zeit um 8000
v. Chr.. (Ebd., S. 293). Historisch gesicherte Getreidekulturen
in Mesopotamien und am Nil in Unterägypten entstanden 5000 Jahre später.
Wildreis und Kulturreis liegen in China ähnlich weit auseinander. Der Reis
rückt den neuen Funden in Südkorea zufolge jetzt sogar deutlich hinein
in die Endphase der letzten (Kaltzeit der jetigen)
Eiszeit. Damit wird die bislang noch so bruchstückhafte Geschichte spannend.
Denn vor rund 15000 Jahren, also zur selben Zeit in die die Wildreiskörner
aus Südkorea zurückdatiert werden, fanden der Auszug von (Nord-)Ostasiaten
und ihre Einwanderung nach Amerika statt. Könnte es sein, daß die Kenntnisse
solcher »Körnerpflanzen« vielleicht tatsächlich bis in jene
Zeit zurückreichen, in der die ural-altaiischen Völker in Bewegung gekommen
waren und neue Regionen besiedelten? Dann wäre auch ein Zusammenhang mit
der »Erfindung« des Maises als Kulturpflanze vorstellbar. Sein Ursprung
in Mittel- oder im nördlichen Südamerika gibt gleichfalls Rätsel
auf. Wir sollten also nicht nur die Datierungen zum Anbau dieser Kulturpflanzen
als Grundnahrungsmittel den Forschungen zugrunde legen, wenn es um ihren Ursprung
geht, sondern auch einen Transfer von Kenntnissen in bisher nicht einmal angedachtem
Ausmaß in Betracht ziehen. Es könnte durchaus sein, daß Getreide
nicht an drei weit auseinanderliegenden Gebieten dreimal unabhängig voneinander
»erfunden« wurde, sondern daß es einen grundlegenden gemeinsamen
Zusammenhang gibt. Die Rätsel um die Entwicklung von Mais als Kulturpflanze
verstärken den Verdacht, daß die Annahme unabhängiger Entstehung
kaum mehr als unsere Unkenntnis ausdrückt. (Ebd., S. 293-294).Doch
auch wenn in China der Reis ursprünglich kultiviert wurde, ist der Einfluß
ural-altaischer Völker nicht auszuschließen, denn solche sind etwa
zur Zeit der indoeuropäischen (indogermanischen; Anm
HB) Expansion auch nach China vorgedrungen und die Koreaner gehören
wie auch die Japaner ohnehin der nord(ost)asiatisch-mongolischen Gruppe an, die
das östliche Gegenstück zu den Indoeuropäern bildet und (wie
diese; Anm HB) den »Nostratischen
Sprachen« (**)
angehört. So dämmert allmählich eineVorgeschichte herauf, die weit
vor unserer Vorgeschichte liegt. Noch ist davon viel zu wenig Konkretes faßbar,
um sie deuten zu können. Sicher ist jedoch, daß »die Geschichte« nicht
erst mit der vorderasiatisch-europäischen Geschichte beginnt. Den Hochkulturen
im Großraum des » Fruchtbaren Halbmondes« ist eine weit ältere
Kultur vorgelagert, über die wir so gut wie nichts wissen. Sie entstand in
Asien und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach im zentralen Bereich, nicht an den
Rändern des Kontinents. In diese strahlte sie erst nachträglich aus,
als sich in Zentralasien die Lebensbedingungen nachhaltig veränderten. Um
eine Verschlechterung hatte es sich wohl gehandelt. Vielleicht war dieser aber
eine so günstige Zeit vorausgegangen, daß die Bevölkerung wuchs
und Abwanderungen nötig wurden: Nach wie vor ist nicht entschieden, aus welchem
Anlaß heraus Nordostasiaten nach Amerika wanderten. Sicher ist den Sprachforschungen
wie den genetischen Übereinstimmungen zufolge (vgl. Abbildung
[**]),
daß die Vorfahren aller Uramerikaner den Mongolen und Koreanern näher
stehen als jeder anderen asiatischen Bevölkerung. (Ebd., S. 296-297).
Keine menschliche Kultur war und ist offenbar ganz frei von Anregungs-
und Suchtmitteln. Am umfangreichsten bedient man sich ihrer gemeinsam in der Gruppe,
insbesondere bei Festen. (Ebd., S. 300). |