Annäherung und Kolonialisierung
Die
Päpste des Mittelalters waren sich der Bedeutung dieses geheimnisvollen Imperiums
bewußt. Immer wieder hatten sie den Versuch unternommen, durch die Entsendung
kirchlicher Emissäre an den Hofvon Peking... ein Bündnis gegen die rasante
Ausbreitung der islamischen »Futuhat« zu schmieden, die sich des Grabes
Christi bemächtigt hatten. Schon dehnte sich der unaufualtsame Eroberungsritt
der Muselmanen rund um das Mittelmeer, ja bis nach Zentralasien aus. Die Bemühungen
des Heiligen Stuhls sind allesamt gescheitert. Der staunende Okzident blieb in
seiner Kenntnis der blühenden Zivilisation zwischen den Strömen Hoang
Ho und Yangtsekiang im wesentlichen auf die umstrittenen und extravaganten Reiseschilderungen
Marco Polos angewiesen. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen
Mannes, 2009, S. 287 ).Eine
wirkliche Verbindung zwischen dem Stellvertreter Christi in Rom und dem chinesischen
Himmelssohn in Peking kam erst zustande, als der Jesuitenorden seine hochgebildeten
Emissäre über Macao in die Verbotene Stadt entsandte. Noch heute gibt
die Sternwarte - von der kolossalen Silhouette der chinesischen Hauptstadt fast
erdrückt - Kunde vom Bemühen der Societas Jesu, auf dem Wege eigener,
zumal astronomischer Wissenschaft Rang und Ansehen in einer exotischen Umgebung
von Höflingen, Feldherren, Kurtisanen und Eunuchen zu finden. (Peter
Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 288 ).Manche
von ihnen, so der Pater Schall aus Köln, wurden mit den höchsten Würden
des Mandarinats ausgezeichnet. Sogar auf dem Gebiet der Kriegskunst suchte sich
die Gesellschaft Jesu unentbehrlich zu machen, indem sie ihrem Gastvolk, das das
Pulver längst erfunden hatte, das Gießen von Kanonen beibrachte, um
die Nomadenvölker der nördlichen Steppe besiegen zu können, die
sich wieder einmal anschickten, den Drachenthron zu erobern und der erlahmenden
Ming-Dynastie den Todesstoß zu versetzen. (Peter Scholl-Latour, Die
Angst des weißen Mannes, 2009, S. 288 ).Um
die Umgebung des Papstes für ihre Missionsarbeit zu gewinnen, hatten dieJünger
des Ignatius von Loyola ein überaus positives, fast idyllisches Bild vom
Reich der Mitte entworfen. Ihr Ehrgeiz war auf die Bekehrung des Kaisers von China
zum katholischen Glauben gerichtet, in der Annahme, daß die Hinwendung seiner
zahllosen Untertanen zur Botschaft des Kreuzes dann nur noch Frage eines imperialen
Erlasses wäre. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen
Mannes, 2009, S. 288 ).Die
Societas Jesu hat verzweifelt versucht, die starren, dogmatischen Vorstellungen
der Päpste zu durchbrechen und insbesondere den Ahnenkult, der für das
konfuzianische China unverzichtbar war, nach bewährter kasuistischer Methode
mit der heiligen Verehrung der Katholizität in Einklang zu bringen. DieJesuiten
sind nicht nur an der Weigerung Roms gescheitert, dieser exotischen Abschweifung
nachzugeben. Ihr ganzes Konzept war möglicherweise verfehlt. Abgesehen von
einer Reihe hoher Würdenträger, die sich taufen ließen, verharrte
der Hof in der unwandelbaren Rigidität der konfuzianischen Sittenlehre und
ihrer pedantischen Riten. Selbst die Mandschu-Eroberer, die sich, kaum dem Barbarentum
entronnen, auf dem Drachenthron einrichteten, unterwarfen sich den uralten Regeln
des Meisters Kong, ja praktizierten seine Vorschriften mit dem Eifer von Neophyten.
(Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 288-289 ).Die
Berichte der Jesuiten hatten die päpstliche Riten-Kongregation nicht umgestimmt.lmJ
ahr 1742 setzte Papst Benedikt XIV. mit seinem kategorischen Edikt einen Schlußstrich
unter diese fernöstliche Akkulturation und verbaute damit möglicherweise
eine einmalige Missionierungschance der Geschichte. Paradoxerweise fanden die
frommen Patres eifrige, begeisterte Lehrer unter ihren schärfsten ideologischen
Gegnern, den kirchenfeindlichen Philosophen und Dichtem der Aufklärung. In
ihrem Bemühen, abendländisches Interesse für das Reich der Mitte
zu wecken, Subventionen und Anerkennung für ihre entsagungsvolle Tätigkeit
in Peking zu gewinnen, war das Reich der Mandschu-Kaiser, das bereits im achtzehnten
Jahrhundert mit vielen Kennzeichen des Verfalls und der geistigen Sklerose behaftet
war, von den europäischen Geistlichen als eine ideale Gelehrtenrepublik platonischen
Zuschnitts beschrieben worden. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen
Mannes, 2009, S. 289 ).Der
Kaiser thronte lediglich als wohlwollendes Symbol erdentrückter Despotie
über ihr, während der Stand der Krieger, der im spätfeudalen Europa
hohes, fast exklusives Ansehen genoß, bei den Söhnen des Himmels auf
der untersten Gesellschaftsstufe rangierte und sich keinerlei Achtung bei jenen
Gebildeten erfreute, die die höchste Autorität innehatten. Daß
in Peking das Erlangen mandarinaler Würden an das Bestehen von philosophischen,
ja literarischen Examina gebunden war, die - theoretisch zumindest - jedem begabten
Untertan des Kaisers offenstanden, daß die Rangordnung der hohen Verwaltung
einer »Meritokratie« entsprach, von der im damaligen Europa kaum jemand
zu träumen wagte, schürte zusätzliche Begeisterung. (Peter
Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 289 ).Die
Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts entdeckte ein utopisches Spiegelbild
ihrer eigenen Wunschvorstellungen in jenem femen Imperium des Ostens, das Europa
bereits mit seinen Porzellanfiguren entzückte. Die Mode der »Chinoiseries«
erfreute die Höfe des Abendlandes. Friedrich der Große ließ im
Park von Sanssouci einen chinesischen Pavillon errichten, und die Philosophen
- Leibniz, Voltaire und Fénelon an der Spitze - waren des Lobes voll für
eine asiatische Staatsform, die Friedfertigkeit, Toleranz, geistige Harmonie und
vor allem die Priorität der Gebildeten zu garantieren schien. Konfuzius,
der alte Lehrmeister, der fünfuundert Jahre vor Christus den Söhnen
des Drachen den Weg des Einklangs zwischen Himmel und Erde gewiesen hatte, wurde
an hervorragender Stelle in das Pantheon der »Lumieres« eingereiht.
(Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 289-290 ).Wie
plötzlich und unerbittlich der Verfall eines Imperiums ablaufen kann, das
sich eben noch als Zentrum des Universums betrachtete, dem alle anderen mehr oder
minder barbarischen Potentaten sich nur mit Geschenken und Huldigungen als Vasallen
nähern konnten, wurde unter der späten Qing- oder Mandschu-Dynastie
auf geradezu exemplarische Weise vorgeführt. Noch im Jahr 1793 hatte der
letzte große Kaiser Qian Long von dem Botschafter Seiner britischen Majestät
Lord Macartney, der ein für beide Seiten vorteilhaftes Handelsabkommen aushandeln
wollte, verlangt, daß er sich dem demütigenden Ritual des Kotau, dem
dreimaligen Niederknien mit jeweilig dreimaliger Verbeugung bis zum Boden, unterwürfe,
was der Beauftragte Londons resolut ablehnte. (Peter Scholl-Latour, Die
Angst des weißen Mannes, 2009, S. 290 ).Unter
Qian Long hatte die lange Kette kaiserlicher Herrlichkeit noch einmal einen Höhepunkt
erreicht. Er hatte die heutigen Autonomen Regionen der Volksrepublik - die Mongolei,
Ost-Turkestan und vor allem auch Tibet - unter die Autorität seines Drachenthrones
gebracht. Sechzig Jahre lang hatte er regiert, und es war ihm gelungen, seinen
Untertanen jene verheerenden Bürgerkriege und Bauernaufstände zu ersparen,
die die Grundfesten des Staatsgebäudes in vier Jahrtausenden immer wieder
erschüttert hatten. Als Folge dieser Friedensperiode und einer klugen Agrarpolitik
hatte sich die Bevölkerung Chinas von 150 Millionen Menschen auf das Doppelte,
300 Millionen, vermehrt. Zur gleichen Zeit verfügte England über ganze
acht Millionen Einwohner. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen
Mannes, 2009, S. 290 ).Dennoch
war der Niedergang vorprogrammiert .... Kaiser Qian Long hatte - von langer Herrschaft
ermattet - auf den Himmelsthron verzichtet. Er war sich bei aller Glorie seines
Regnums wohl bewußt geworden, daß er einem verkrusteten, in steriler
und immobiler Tradition erstarrten System verhaftet blieb, während Europa
in einer Phase ungestümer industrieller Revolution und strahlender Fortschrittsgläubigkeit
davonstürmte. Das Aufeinandertreffen von zwei so unterschiedlichen Kulturen
war von vornherein entschieden. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen
Mannes, 2009, S. 290-291 ).Es
gehörte bis dahin zum Wesen Chinas, daß es ganz auf Beharrung ausgerichtet
war. Konfuzius hatte bei der Dekretierung seines Gesellschaftsmodells, das - fern
von aller Metaphysik - auf das harmonische Zusammenleben der Menschen unter festgefügten
Autoritäten und Regeln ausgerichtet war, stets nach rückwärts geblickt,
auf eine legendäre Vergangenheit, auf das »Goldene Zeitalter«
der mythischen Dynastien Shang (Schang [1500-1000])
und Zhou (Schu bzw. Chou
[1000-256]), deren Perfektion es wiederherzustellen galt. (Peter
Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 291 ).Das
Abendland hingegen - an erster Stelle das Königreich England, das mit der
protestantischen Reformation, mit dem Ausbau seiner welterobernden Flotte, dem
Aufkommen einer dynamischen Ethik von Handel und Bereicherung sich schon auf eine
technische Revolution zubewegte - blickte gebannt auf die Zukunft und widmete
sich der Erfüllung seiner »great expectations«. (Peter
Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 291 ).Niemals
hat sich der westliche Imperialismus so skrupellos und raffgierig dekuvriert wie
bei dem Opiumkrieg 1839. Das wesentliche Ziel Londons war es, den gewaltigen chinesischen
Markt für den ungehemmten Import und Konsum des Rauschgiftes zu öffnen,
das die britische East India Company auf ihren Plantagen in Indien produzierte.
Den englischen Händlern ging es darum, das Handelsdefizit, das vor allem
durch den Ankauf von chinesischem Tee und chinesischer Seide entstand und sich
laufend zu Ungunsten der Briten vergrößerte, dank des tödlichen
Kompensationsgeschäftes auszugleichen. (Peter Scholl-Latour, Die
Angst des weißen Mannes, 2009, S. 291 ).Bei
dieser Gelegenheit war den Söhnen des Himmels zum ersten Mal ihre groteske
militärische Unterlegenheit vor Augen geführt worden. Aber es sollte
ein volles Jahrhundert vergehen, ehe die kommunistischen Umstürzler, auf
die revolutionäre Inbrunst ihrer Volksbefreiungsarmee gestützt, die
letzten Spuren dieser Unterjochung auslöschten. (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 291-292 ).Schneller
noch als der Absturz in eine schändliche Unterwürfigkeit, die durch
die Greuel der japanischen Besatzung vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ins
Unerträgliche gesteigert wurde, hat sich dann das fulminante Wiedererstarken
des Reiches der Mitte vollzogen. Der Westen mag vor allem die erbarmungslose kommunistische
Tyrannei und deren fürchterliche Hekatomben der Revolution Mao Zedongs (Tse-tungs)
in Erinnerung behalten. Die Masse der heute lebenden Chinesen bewertet diesen
radikalen Umbruch als positive geschichtliche Leistung. Mao schuf die Voraussetzungen
dafür, daß die von ihm gegründete, von Deng Xiaoping (Teng
Xiao-ping) gründlich reformierte Volksrepublik sich neuerdings anschickt,
die Vereinigten Staaten von Amerika aus ihrer hegemonialen Rolle als einzig verbliebene
Supermacht zu verdrängen. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen
Mannes, 2009, S. 292 ).Wer
sich heute über die Annexion und Gleichschaltung Tibets durch Peking entrüstet,
sollte zudem bedenken, daß die Qing-Dynastie schon im Jahr 1720 ihr Protektorat
über das Dach der Welt verhängte. Wenn in der Folge der bizarre Mönchsstaat
der Dalai Lama nicht dem britischen Empire angegliedert wurde, das über den
Himalaya nach Norden ausgriff, so war das lediglich dem Erlahmen jenes »great
game« zu verdanken, das sich London und Sankt Petersburg in schwindelnder
Gletscherhöhe um die Kontrolle Zentralasiens lieferten. (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 292 ).
Ende der anmaßenden Kolonialisierung
Chinas
Der Schlußstrich unter die anmaßende
europäische Präsenz in China - ein halbes Jahrtausend nachdem die Portugiesen
an der Küste von Kwantung ihre Dependenz aisbauten - war erst im Dezember
1999 gezogen worden. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen
Mannes, 2009, S. 282 ).Dem
letzten Repräsentanten der britischen Krone war es gelungen, für die
Einwohner des ehemaligen Empire-Juwels einige parlamentarische Sonderprivilegien
durchzusetzen, an deren Gewährung zur Zeit der Kolonialherrschaft keine Regierung
im fernen London jemals gedacht hätte. (Peter Scholl-Latour, Die
Angst des weißen Mannes, 2009, S. 282 ).Angela
Merkel ... huldigte der »political correctness« ( ),
wie sie von Washington vorgegeben war. Sie versäumte keine Gelegenheit, den
roten Mandarinen von Peking ins Gewissen zu reden, sie mit erhobenem Zeigefinger
auf die Einhaltung »demokratischer« und »humaitärer«
(reine Polit-Rhetorik, die auch darauf hinweist, wer die
»Politische Korrekteit« befiehlt [ ];
Anm HB) Normen zu verweisen, denen die deutsche Diplomatie in anderen,
weit skandalöseren Fällen nur geringe Bedeutung schenkte. Die Kanzlerin
fühlte sich einer »werteorientierten Außenpolitik« (reine
Polit-Rhetorik, die auch darauf hinweist, wer die »Politische Korrekteit«
befiehlt [ ];
Anm HB) verpflichtet und war aich offenbar nicht bewußt, daß
außerhalb des nordatlantischen Kuklturkreises eine Reihe wirtschaftlich
und machtpolitisch aufstrebender »Schwellenländer« über
ganz andere gesellschaftliche Kriterien und Traditionen verfügen, um den
Fortschritt und das Erstarken ihrer Völker zu forcieren. (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 284-285 ).Am
Beispiel Chinas offenbart sich mit betrüblicher Deutlichkeit, in welchem
Ausmaß den Europäern und Amerikanern das geschichtliche Bewußtsein
abhanden gekommen ist. Die Fehldiagnose des Politologen Fukuyama vom »End
of History« war auf allzu fruchtbaren Boden gefallen. So begegnet die westliche
Welt dem phänomenalen Aufstieg Chinas in den Rang der zweiten Weltmacht mit
einem Gemisch aus Arroganz und Mißgunst. Noch halten allzu viele »Experten«
an der Vorstellung fest, sie hätten es bei den 1,3 Milliarden Angehörigen
der Ran-Rasse mit einer unterentwickelten, allenfalls zum Plagiat westlicher Errungenschaften
befahigten Menschheitsgattung zu tun. Auf der anderen Seite erzeugt die explosive
Dynamik Chinas wachsende Furcht, ja die Ahnung des eigenen Rückfalls in unerträgliche
Mittelmäßigkeit. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen
Mannes, 2009, S. 285 ).Nach
relativ kurzer Unterbrechung findet China wieder zu jenem erhabenen Rang zurück,
der ihm seit seit vier Jahrtausenden zusteht. (Peter Scholl-Latour, Die
Angst des weißen Mannes, 2009, S. 287 ).
Staatskapitalismus als Lösung?
Der
gewaltige Umbruch jedoch, der die Welt erbeben läßt, wie Napoleon es
auf Sankt Helena voraussagte, vollzog sich in China. Nach dem Abflauen, ja dem
Scheitern des Maoismus ... kam dort eine originelle Formel für gigantisches
industrielles Wachstum, für Entwicklung von High Technology und sensationelle
Anhebung des Lebensstandards zum Zuge, die sich auf einen seltsamen Synkretismus
stützt. Unter der Autorität der Kommunistischen Einheitspartei und einer
straffen Form des Staatskapitalismus entfesselte sich die wissenschaftliche und
vor allem merkantile Begabung der Han-Rasse. (Peter Scholl-Latour, Die
Angst des weißen Mannes, 2009, S. 274 ).In
der Lehre einer utopischen Harmonie, die das Politbüro von Peking der parlamentarischen
»Streitkultur« des Westens entgegensetzt, finden sich Konfuzius, Mao
Zedong (Mao Tse-tung) und jener erste legendäre
Kaiser Qin Xi Huangdi (Schi Hoang-ti) wieder. Dessen
Reichsgründung zweihundert Jahre vor Christus erlaubt es heute der offiziellen
Propaganda, die verblaßte Doktrin des Marxismus-Leninismus durch einen ehrgeizigen,
alle Normen sprengenden Nationalismus zu ersetzen. (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 274-275 ).
Demographisches
Dem Abendland kann es nicht gleichgültig sein, je es stellt
sich die nackte Überlebensfrage, wenn - um nur diese Beispiele zu
erwähnen - die Zahl der Algerier zwischen 1960 und 2000 von 8 auf
30 Millionen, die der Iraker zwischen 1950 und 1990 von 5 auf 25 Millionen
hochgeschnellt ist, währen der eigene Bevölkerungsstand nur
durch den unablässigen Zustrom außereuropäischer Migranten
auf dem bisherigen dem bisherigen Niveau gehalten wird. Für die außereuropäischen
großen Siedlungsgebiete der weißen Menschheit - Nordamerika
und Sibirien zumal - gelten ähnlich düstere Perspektiven.
(Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009,
S. 319-320 ).
Vor
zweihundert Jahren waren die europäischen Kolonialmächte noch zutiefst
davon überzeugt, ihnen sei der göttliche Auftrag erteilt, den in barbarischer
Rückständigkeit und Willkür dahindämmernden Völkern Asiens
und Afrikas die erlösende Botschaft des Christentums oder der Aufklärung
zu vermitteln. Rudyard Kipling bezeichnete diese zivilisatorische Mission als
»Bürde des weißen Mannes«. (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 320 ).Bei
manchen allzu selbstherrlichen Philanthropen kommt mir das Zitat in den Sinn:
»Der Freund des Menschengeschlechts ist niemandes Freund.« (Peter
Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 323 ).
Auftrag des Himmels?
Einem
hochrangigen Funktionär des Olympischen Komitees ist der geniale Gedanke
gekommen, in Zukunft sollten die weltumspannenden sportlichen Wettkämpfe
nur in Staaten ausgetragen werden, die den Ansprüchen von Menschenrechten
und westlicher Demokratie entsprechen. Damit würde jedoch die Zahl der qualifizierten
Veranstalter auf eine extrem bescheidene Anzahl der sogenannten Völkerfamilie
reduziert. Das Atlantische Bündnis sollte sich nicht länger um die Erkenntnis
herumstehlen, daß nicht nur gewisse Prozeduren des Parlamentarismus ihre
Fragwürdigkeit offenbaren, sondern daß der pauschale Begriff »Demokratie«,
der im klassischen Griechenland alles andere als einen Idealzustand menschlichen
Zusammenlebens definierte, einer globalen Erosion ausgesetzt ist. Um nur ein griffiges
Beispiel zu erwähnen: In Schwarzafrika ist die tribalistische Bindung und
Verpflichtung das oberste und exklusive Gesetz politischen Kräftemessens.
(Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 325 ).Bei
der überwiegend negativen Berichterstattung deutscher Politiker und Publizisten
über die Entwicklung in der Volksrepublik China dürfte neben einer schwärmerischen
Präferenz für Indien vor allem die Tatsache den Ausschlag gegeben haben,
daß Peking im Begriff steht, die Bundesrepublik wirtschaftlich und industriell
zu überholen, ihr den Rang der bedeutendsten Exportnation streitig zu machen,
auch wenn die Qualität chinesischer Produkte oft noch zu wünschen übrigläßt.
Aber auf Dauer werden sich die als beleidigte Verlierer auftretenden Industriellen
aus Europa und Amerika nicht damit herausreden können, die Erben Mao Zedongs
(Mao Tse-tungs) seien zwar unübertreffliche
Meister der Nachahmung, aber zu eigener Kreativität nur in geringem Maße
befähigt. Mit solchen Behauptungen versucht man, unser Wissen um das erfinderische
Genie zu verdrängen, das dem Reich der Mitte zwei Jahrtausende lang gegenüber
dem Abendland einen deutlichen Vorrang verschaffte. (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 325-326 ).Noch
versteifen sich die Auguren des Westens auf die Behauptung, daß sich der
asiatische Gigant nur unter Verzicht auf seine sozialistische Ideologie zu einer
rüden Form des Frühkapitalismus durchgerungen habe .... Inzwischen haben
die völlig unerwartete Finanzkrise des Jahres 2008 ( )
und die drohende Rezession in der Realwirtschaft die extreme Fragilität der
angelsächsisch-calvinistisch ausgerichteten Finanzkonzepte bloßgelegt.
In der breiten Öffentlichkeit des Westens kommt der Verdacht auf, daß
die jüngsten Auswüchse des spekulativen Vabanquespiels den Anforderungen
einer anfangs überschwenglich gepriesenen Globalisierung nicht gewachsen
sind. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009,
S. 326 ).Wer
hätte vor zehn Jahren vorauszusagen gewagt, daß New York und London
das Heil ihrer Börsen in der Verstaatlichung einiger Großbanken suchen
würden, daß die unbegrenzte Wachstums-Euphorie der Friedman-Schule
und ihrer Chicago Boys mit einem Schlag recht altmodisch aussehen würde,
während eine Rückwendung zu John Maynard Keynes und seiner These des
»deficit spending« neuen Zuspruch gewänne? (Peter
Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 326 ).Geradezu
demütigend für die europäischen Hasardeure der »New Economy«
ist die Tatsache, daß der ungebrochene Wirtschaftsaufstieg Chinas weit weniger
durch die allgemeine Ratlosigkeit und Katastrophenstimmung betroffen war als die
Systeme der übrigen großen Industrienationen. Die Bank of China ist
infolge einer gewaltigen Anhäufung us-amerikanischer Wertpapiere, Schatzanleihen
und Dollarreserven ein lebenswichtiger Partner der Vereinigten Staaten von Amerika
und für eine eventuelle Stabilisierung beziehungsweise Konsolidierung der
US-Ökonomie unentbehrlich geworden. Die Europäer sind demgegenüber
auf eine zweitrangige Position zurückgefallen. (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 326 ).Daß
das gewaltige Reich der Mitte vor Zerreißproben nicht gefeit ist, dessen
dürfte sich das Parteikollektiv des Generalsekretärs Hu Jintao, dessen
interne Spannungen selten nach außen dringen, sehr wohl bewußt sein.
Der »Drachensohn«, der gottähnliche Kaiser in der Verbotenen
Stadt, mußte stets befürchten, daß - als Folge von Naturkatastrophen,
administrativer Mißwirtschaft oder militärischen Niederlagen - das
Volk sich gegen ihn auflehnte und er selbst des »Auftrags des Himmels«
verlustig ging. Da half es ihm auch nicht, daß jedes seiner Dekrete mit
der Weisung »Zittere und gehorche!« endete. (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 326-327 ).So
war der kriegerische Tumult der »Roten Turbane«, der im vierzehnten
Jahrhundert der mongolischen Fremdherrschaft der Yüan-Dynastie ein Ende setzte,
Ausdruck der geballten Unzufriedenheit des Volkes. Er war durch die Wühlarbeit
von Geheimgesellschaften, deren Strukturen sich unter dem Namen »Triaden«
bis auf den heutigen Tag erhalten haben, vorbereitet worden. (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 327 ).Schon
tausend Jahre zuvor hatte eine Art chinesischer »Bundschuh« der »Gelben
Turbane« die kaiserliche Herrschaft erschüttert. Für den Bestand
des Reiches stellte die kurz darauf folgende mystische Massenbewegung der »Gelben
Kopftücher« jedoch eine weit größere Gefahr dar, entsprach
sie doch einem Hang zu magischer Sektenbildung, die im Taoismus wurzelte und gegen
die Mißstände des konfuzianischen Mandarinats anstürmte.
(Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 327 ).Noch
im neunzehnten Jahrhundert wäre die Mandschu-Dynastie fast vom Thron gefegt
worden, als der Bauernsohn Hong Xiuquan sich in seinem religiösen Wahn als
jüngerer Bruder Jesu Christi ausgab. Er predigte die »allgemeine Gleichheit
auf Erden«, die manche Elemente der maoistischen Zwangskollektivierung auf
verblüffende Weise vorwegnahm. Nach einer Periode unsäglicher Greuel
und Massaker, die fast fünfzig Jahre andauerte, wurde der Usurpator, der
sich den Titel eines »Himmlischen Königs des Himmlischen Reiches des
Friedens« zugelegt hatte, aus seinem Regierungssitz Nanking vertrieben.
Es hatte eines Aufgebots europäischer Söldner und Abenteurer unter dem
Befehl des britischen Generals Gordon bedurft, um die Taiping-Revolte -unter diesem
Namen ist sie in die Geschichte eingegangen -im Blut zu ersticken. (Peter
Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 327 ).Die
derzeitige Staatsführung weiß, daß die ansonsten so nüchtern
und pragmatisch wirkende Rasse der Han gegen gewaltsam ausufernde Anwandlungen
mystischer, chiliastischer Hirngespinste keineswegs gefeit ist. So läßt
sich in unseren Tagen die unerbittliche Verfolgung der Falun-Gong-Sekte erklären.
Mit allen Mitteln versucht Peking zu verhindern, daß der beachtliche Zulauf,
den Falun Gong vor allem bei der Jugend findet, sich nicht zu einer neuen pseudo-religiösen
Erweckungsbewegung ausweitet. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen
Mannes, 2009, S. 328 ).Fremdherrschaft
ist den Chinesen nicht erspart geblieben. Aus Westen kommend, eroberten die mongolischen
Erben Dschingis Khans das Reich der Mitte und verhalfen ihm unter Kaiser Kublai
Khan zu beachtlicher Expansion. Knapp dreihundert Jahre später stürmten
die Mandschu-Horden aus Norden heran und bemächtigten sich des Pekinger Drachenthrones.
Ihre am Ende dekadente und in Palastintrigen erstickende Yüan-Dynastie wurde
erst im Jahre 1911 nach der Ausrufung der Republik durch Sun Yatsen aus der Verbotenen
Stadt vertrieben. Aber die der Han-Rasse und ihrer Zivilisation innewohnende Kraft
erwies sich als so gewaltig und überlegen, daß die Eindringlinge binnen
kurzer Zeit einer totalen Assimilation erlagen und sämtliche Bräuche
und Riten des konfuzianischen Hofes übernahmen. (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 328 ).In
diesen geschichtlichen Prüfungen kam den Chinesen zugute - so unterschiedlich
ihr Aussehen zwischen der Hoang-Ho-Ebene und den Bergen Yünans auch sein
mochte, so sehr sie bislang durch diverse Sprachbarrieren, die erst heute durch
die obligatorische Einführung des Mandarin überwunden werden, getrennt
waren -, daß sie sich stets allen anderen Völkern des Erdballs weit
überlegen fühlten. Die Geringschätzung aller Fremden macht übrigens
auch vor den Europäern nicht halt, wie jeder bestätigen kann, der gelegentlich
von seiner erzürnten chinesischen Geliebten als »redfaced Barbarian«
beschimpft wurde. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes,
2009, S. 328 ).Man
mag einwenden, daß - um im ostasiatischen Raum zu bleiben- die Vietnamesen
mit ähnlicher Geringschätzung auf die artfremden Gebirgsvölker
herabblicken, die sie als »Moi«, als Wilde, bezeichneten .... Sogar
die sanftmütigen Laoten suchten die ethnischen Gegensätze ihres kleinen
Mekong-Staates zu überwinden, indem sie die fremdrassigen Meo, Yao oder Kha
kurzerhand zu »Lao Theung«, Laoten der Berghänge, deklariertenähnlich
wie Atatürk im femen Anatolien aus seinen kurdischen Untertanen »Bergtürken«
gemacht hatte. Die entscheidende Differenz besteht allerdings darin, daß
sich der Superioritätskomplex der Han auf die ganze übrige Menschheit
erstreckt und sie zu potentiellen Vasallen ihrer riesigen Einzigartigkeit herabstuft.
(Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 328-329 ).Das
törichte Gerede von der »gelben Gefahr« hat vor allem in USA
neue Aktualität gewonnen. Wie sähe sie wohl aus, die chinesische Weltherrschaft,
die manche Phantasten bereits an die Wand malen? Eine »Pax Sinica«
würde vermutlich kaum länger dauern als die »Pax Americana«,
die gerade zu Ende geht. Sie böte auch keinerlei Gewähr dafür,
daß sich unter ihrer Ägide eine harmonische Konvivialität und
eine für alle ersprießliche Zukunft einstellen würde. Aber hüten
wir uns vor den Schimären des verstorbenen Kaisers Wilhelm II. (gemeint
ist dessen »Hunnerede«; HB). (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 329 ).
Imperiale Nostalgie?
Für
politische Informationsgespräche in Peking blieb nicht viel Zeit nach den
Umbuchungen, die ich vorgenommen hatte. Ich tröstete mich damit, daß
ich jenseits der üblichen Freundschaftsbeteuerungen über den Rüstungsstand
der Volksbefreiungsarmee ohnehin nichts Relevantes erfahren hätte. Die in
Peking akkreditierten Verteidigungs-Attaches des Westens werden systematisch von
jeder realistischen Einschätzung abgeschirmt oder ganz gezielt mit falschen
Angaben gefüttert. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen
Mannes, 2009, S. 329 ).Ich
bat das Hotelpersonal, die Telefonnummer eines alten Kollegen aus der Zeit des
us-amerikanischen Vietnamkrieges ausfindig zu machen, eines englischen »Schlachtrosses«,
dessen profunde Kenntnis des Femen Ostens mich stets beeindruckt hatte. Seine
Heirat mit einer Singapur-Chinesin hatte ihm auch einen Zugang zur chinesischen
Mentalität verschafft, die den meisten Ausländern verschlossen ist.
(Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 329-330 ).Nach
Erreichen der beruflichen Altersgrenze war Derrick Turner als Freelancer in Peking
geblieben. Der joviale, immer noch robuste Engländer stand im Ruf, für
den britischen Auslandsdienst MI6 eine wertvolle Nachrichtenquelle zu sein. Nach
längerem Suchen entdecke ich sein diskretes Büro in einem der monströsen
Hochhäuser, deren Spitze in der gelben Dunstglocke der Hauptstand verschwindet.
Nichts verbindet so sehr wie gemeinsame Erlebnisse auf exotischen Schlachtfeldern.
Wir sind beide gealtert, aber die Herzlichkeit ist schnell wiederhergestellt.
Derrick gehört zu jener Kategorie von »gentlemen adventurers«,
die heute kaum noch anzutreffen ist und für die nachwachsende Generation
so fremd bleibt wie Kiplings »Der Mann, der König sein wollte«.
Seine chinesische Ehefrau Suey serviert uns lächelnd und diskret den Tee
und verzieht sich dann in ihre Wohngemächer. »Es ist seltsam«,
bemerkt Derrick, »daß ich eine ganze Reihe von Europäern und
Amerikanern getroffen habe, die mit Töchtern der Han-Rasse verheiratet und
im allgemeinen damit recht gut gefahren sind. Hingegen sind mir kaum chinesische
Männer bekannt, die eine Weiße geehelicht haben.« (Peter
Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 330 ).Nichts
verbindet so sehr wie gemeinsame Erlebnisse auf exotischen Schlachtfeldern. Wir
sind beide gealtert, aber die Herzlichkeit ist schnell wiederhergestellt. Derrick
gehört zu jener Kategorie von »gentlemen adventurers«, die heute
kaum noch anzutreffen ist und für die nachwachsende Generation so fremd bleibt
wie Kiplings »Der Mann, der König sein wollte«. Seine chinesische
Ehefrau Suey serviert uns lächelnd und diskret den Tee und verzieht sich
dann in ihre Wohngemächer. »Es ist seltsam«, bemerkt Derrick,
»daß ich eine ganze Reihe von Europäern und Amerikanern getroffen
habe, die mit Töchtern der Han-Rasse verheiratet und im allgemeinen damit
recht gut gefahren sind. Hingegen sind mir kaum chinesische Männer bekannt,
die eine Weiße geehelicht haben.« (Peter Scholl-Latour, Die
Angst des weißen Mannes, 2009, S. 331 ).Wir
erwähnen beiläufig die rassischen Vorurteile, die bei den »Himmelssöhnen«
mindestens so weit verbreitet sind wie im Westen. Während ich mich in dicht
gedrängten asiatischen Massen niemals durch Körpergeruch belästigt
fühle, nehmen die Chinesen bei den Weißen spezielle Ausdünstungen
wahr. Derricks Frau Suey hatte im Scherz erwähnt, daß ihr Mann ähnlich
rieche wie ihr heißgeliebter Hund Dragon, bei dem man stets auf der Hut
sein müsse, daß er nicht als Leckerbissen in einem chinesischen Kochtopf
enden werde. Für andere Töchter der Han-Rasse, so hatte ich erfahren,
schmecke der Weiße irgendwie nach Milch oder Butter. (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 331 ).Nachdem
Suey die Teekanne durch eine Whiskyflasche ersetzt hat - glücklicherweise
verzichtet Derrick auf Gin and Tonic, das Standardgetränk englischer Journalisten,
das sie in riesigen Gläsern in sich hineinzuschütten pflegen -, kommen
wir zur Sache. »Sehr nützlich kann ich dir mit meinen Kenntnissen über
die chinesischen Rüstungsfortschritte nicht sein«, gesteht der englische
Kollege. »Aus reiner Freundlichkeit bin ich vor ein paar Wochen zu einem
großen Manöver eingeladen worden, bei dem ansonsten nur die Militärattaches
der diversen Botschaften zugelassen waren. Die Volksbefreiungsarmee hat uns bei
dieser Gelegenheit mit aller Deutlichkeit zu spüren gegeben, daß sie
sich nicht in die Karten schauen läßt. Die donnernden Übungen,
die uns dort mit fingierten Panzerschlachten und Artillerieduellen vorgeführt
wurden, waren so altertümlich und konventionell, als gelte es, noch einmal
die Armee Tschiang Kaischeks und seiner Kuomintang zu besiegen. Von irgendeiner
Anpassung an den asymmetric war der Gegenwart war jedenfalls keine
Spur zu entdecken.« (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen
Mannes, 2009, S. 331-332 ).Hingegen
ist dem englischen Kollegen von us-amerikanischer Seite eine Studie zugespielt
worden, die vor einem dramatischen Machtverfall der USA warnt, falls es dem Pentagon
nicht gelänge, im Verbund mit den Streitkräften der Indischen Union
ein Gegengewicht zu den Ambitionen Chinas herzustellen. Nun neigen die us-amerikanischen
Chiefs-of-Staff seit langem dazu, das zunehmende militärische Gewicht Pekings
ins Gigantische zu steigern, um für den eigenen maßlosen Kreditbedarf
die Zustimmung des US-Kongresses zu erlangen. Derrick erscheint der vorliegende
Situationsbericht dennoch interessant, weil er das strategische Schwergewicht
vom Atlantik und sogar vom Pazifik weg auf die Fluten des Indischen Ozeans verlagert.
(Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 332 ).Das
Dokument »Marine Corps Vision and Strategy 2025« betont diese Umschichtung
mit Nachdruck. Natürlich wird in diesem Zusammenhang auf jene gewaltige Armada
verwiesen, die im vierzehnten Jahrhundert zur Zeit der Ming- Dynastie mit ihren
riesigen Dschunken alle verfügbaren Flotten jener Zeit bei weitem überragte.
Unter dem Befehl des Eunuchen-Admirals Zheng He übte sie die absolute Seeherrschaft
zwischen China und Indonesien, Sri Lanka und dem Persischen Golfbis hin zur Ostküste
Afrikas aus. Die Vormachtstellung, über die die USA auf sämtlichen Ozeanen
noch verfügten, sei zeitlich ebenso begrenzt wie die Allmacht der britischen
Royal Navy, die heute eine geringere Feuerkraft aufzubieten habe als die französische
Marine Nationale. Die Zahl der us-amerikanischen Kriegsschiffe sei seit dem Ende
des Zweiten Weltkriegs von 1600 auf etwa 300 geschrumpft. Dem stehe eine rasante
Vermehrung der chinesischen Flotte gegenüber. (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 332 ).Die
Lobbyisten des militärisch-industriellen Komplexes in Washington würden
zweifellos weit übertreiben, so meint Derrick, wenn sie der Volksrepublik
China binnen einer Dekade eine erdrückende maritime Überlegenheit zutrauen.
Vor allem der Erwerb von U-Booten übertreffe jedoch das entsprechende us-amerikanische
Potential um das Fünffache. Dazu geselle sich eine formidable Entwicklung
neuwertiger Seeminen, perfektionierter Trägerwaffen und vor allem einer ausgefeilten
Computertechnologie, die auf die Lähmung der us-amerikanischen Kommandosysteme
im Falle eines gigantischen Cyber War hinziele. (Peter Scholl-Latour, Die
Angst des weißen Mannes, 2009, S. 332 ).Diese
Kassandra-Rufe werden relativiert durch die Tatsache, daß die chinesische
Admiralität noch über keinen einzigen Flugzeugträger verfügt.
Doch die Seeschlachten der Zukunft, so vermutet der Militärexperte Martin
van Crefeld, werden nicht mehr, wie im 2. Weltkrieg, durch die stählernen
Ungeheuer der Air Force Carrier entschieden. Die Gefährdung der Flugzeugträger
durch die Entwicklung geräuschloser U- Boote dürfte deren Bedeutung
drastisch reduzieren, und der Vergleich mit den britischen Super-Schlachtschiffen
des Ersten Weltkrieges, den »Dreadnoughts«, die zu keinem sinnvollen
Einsatz gelangten, sei angebracht. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des
weißen Mannes, 2009, S. 332 ).Überschätzt
Washington nicht die Bereitschaft Indiens, in die Bresche zu springen, die Delhi
durch den Zustand US-Amerikas als »slowly declining hegemon« zugewiesen
wird? Kann Indien ein neues militärisches Schwergewicht bilden in einer »post-us-american
world«? Die forschen Aussagen des indischen Planers Raja Mohan aus dem Jahr
2006 klingen recht anmaßend, wenn er vorgibt: »Indien hat niemals
auf eine us-amerikanische Erlaubnis gewartet, wenn es galt, ein Gegengewicht zu
China zu bilden.« (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen
Mannes, 2009, S. 332-333 ).Derrick
Turner ist vor einer Landkarte Asiens stehengeblieben, die eine ganze Wand seines
Büros ausfüllt. Er äußert sich als erfahrener Beobachter,
wenn er von den allzu theoretischen Spekulationen der Militärakademien auf
seine persönliche, frontnahe Erfahrung zurückgreift. (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 333 ).»Ist
dir eigendich aufgefallen, daß seit dem Triumph der Alliierten über
Deutschland und Japan kein einziger Krieg mehr nachhaltig gewonnen wurde?«
doziert er. »Nirgendwo, nicht einmal in den belanglosen Scharmützeln
von Somalia, beim gescheiterten Blue-Strike-Unternehmen im Iran, bei der dilettantischen
Landung in Suez im Jahr 1956, beim Einsatz der Contras in Nicaragua
- von dem Debakel Kennedys in der kubanischen Schweinebucht ganz abgesehen - ist
es den beiden Supermächten und ihren Trabanten gelungen, einen dauerhaften
militärischen Erfolg an ihre Fahnen zu heften. Selbst die Israeli stolpern
seit dem fatalen Rückschlag des Yom-Kippur-Krieges von einer Fehlentscheidung
zur anderen.« (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen
Mannes, 2009, S. 333 ).Im
Bodenkampf, so kommen wir überein, habe sich im Südlibanon, im Irak,
in Afghanistan längst bestätigt, daß die konventionelle Kriegführung
der NATO-Stäbe, aber auch Rußlands und Israels, mit der Abnutzungsstrategie,
die den Kern des »asymmetrischen Krieges« bildet, nicht zurechtkommt.
Die ungeheuerliche Durchschlagskraft neuer Monsterbomben, inklusive der »bunker
buster«, hat sich sowohl im Hindukusch als auch im levantinischen Küstengebiet
als untauglich erwiesen, die El-Qaida- Truppe Osama bin Ladens oder die Hizbollah
des Scheikh Nasrallah in irgendeiner Weise zu zermalmen. (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 333-334 ).Der
klarsichtige Professor van Crefeld ... zitiert den Nordvietnamesen Truong Chinh
als Kronzeugen einer erfolgreichen Guerrilla. Bei diesem Gefahrten Ho Tschi Minhs
heißt es: »Das Leitprinzip der Strategie unseres gesamten Widerstands
muß es sein, den Krieg in die Länge zu ziehen. Den Krieg zu verlängern
ist der Schlüssel zum Sieg. Warum muß der Krieg verlängert werden?
Weil es offensichtlich ist, wenn wir unsere Kräfte mit denen des Feindes
vergleichen, daß der Feind noch stark ist und wir noch schwach sind. Wenn
wir unsere ganzen Truppen in wenige Schlachten werfen und versuchen, die Entscheidung
zu erzwingen, dann werden wir mit Sicherheit geschlagen werden, und der Feind
wird siegen. Wenn wir auf der anderen Seite unsere Kräfte bewahren, sie ausweiten,
unsere Armee und das Volk ausbilden, militärische Taktiken lernen und gleichzeitig
die feindlichen Kräfte zermürben, dann werden wir sie so sehr demoralisieren
und entmutigen, daß sie, so stark sie auch sein mögen, schwach werden
und die Niederlage sie erwartet, nicht der Sieg.« (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 334 ).Ähnlich
hatte sich Henry Kissinger geäußert, von dem man erhofft hätte,
daß er den zunehmend sinnlosen Einsatz der NATO in Afghanistan mit Kritik
überzöge: »Die Ordnungskräfte«, so argumentierte der
ehemalige Außenminister Richard Nixons, »die Ordnungskräfte verlieren,
weil sie nicht gewinnen. Rebellen hingegen gewinnen dadurch, daß sie nicht
verlieren. Das trifftweitgehend zu, ob die Täter nun Weiße oder Schwarze
sind, traditionalistisch oder modern, kapitalistisch oder sozialistisch und so
weiter. Es gilt auch unabhängig davon, ob es sich um gottesfürchtige
Amerikaner oder um atheistische Kommunisten handelt.« (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 334 ).Mein
Freund Turner hält plötzlich inne. Er hat sich zu einer Mitteilsamkeit
hinreißen lassen, die für ihn ganz ungewohnt ist. »Der Arzt hat
mir mit Rücksicht auf den hohen Blutdruck von Whisky dringend abgeraten,
und jetzt erlebst du meine Geschwätzigkeit. Aber mit wem soll ich mich denn
noch aussprechen? Etwa mit unseren Militärexperten, die krampfuaft versuchen,
auf den Niedergang unseres Empire mit der ihnen anerzogenen stiff upper
lip zu reagieren? Oder mit einer Crew jüngerer Fernost-Reporter, die
sich auf Geheiß ihrer Chefredakteure am allgemeinen Chinabashing
beteiligen?« (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen
Mannes, 2009, S. 334-335 ).Es
sei doch ein schändlicher Witz, daß an einer Schlüsselstellung
internationaler Seefahrt, im Golf von Aden, vom Bab-el-Mandeb bis zum Archipel
der Komoren eine lächerliche Fischereiflotte somalischer Hungerleider mit
ihren brüchigen Schlauchbooten allein im Jahr 2008 annähernd 100 Handelsschiffe
und Tanker attackiert und 35 von ihnen ohne nennenswerte Gegenwehr mit ein paar
Kalaschnikovs gekapert hätten. Inzwischen hat sich eine internationale Streitmacht
ungewöhnlichen Ausmaßes, darunter auch zwei chinesische Fregatten,
dort eingefunden, und eines Tages werde es dieser Koalition wohl gelingen, dem
Spuk dieser primitiven Korsarenmannschaft ein Ende zu bereiten. Aber welcher Blamage
habe der Westen sich dort ausgesetzt! (Peter Scholl-Latour, Die
Angst des weißen Mannes, 2009, S. 335 ).Am
Beispiel der somalischen Freibeuter lasse sich ermessen, welche Katastrophe über
die US Navy hereinbrechen könnte, wenn das Pentagon sich zu einem Militärschlag
gegen die Islamische Republik Iran aufraffen würde. Die perfektionierten,
mit Sprengstoff gefüllten Schnellboote der Revolutionswächter, der Pasdaran,
die nur darauf warten, als Märtyrer, als »Schuhada«, in die Gärten
Allahs einzugehen, würden in der schmalen Fahrrinne von Hormuz die weitaus
wichtigste Erdölversorgung des Westens zum Erliegen bringen, ganz zu schweigen
von dem Raketenhagel, der über den Petroleumfeldern und Raffinerien Kuwaits,
Saudi-Arabiens und der Emirate niedergehen würde. Ob es wirklich so weit
kommen wird, wie es der us-amerikanische Kommentator Robert D. Kaplan beschreibt:
»Zum ersten Mal seit dem Eindringen der Portugiesen in den Indischen Ozean
im frühen sechzehntenjahrhundert befindet sich hier die Macht des Westens
in einem Zustand des Niedergangs. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des
weißen Mannes, 2009, S. 335-336 ).In
Zukunft werden die Inder und die Chinesen in diesen Gewässern ihre dynamische
Großmacht-Rivalität austragen.« (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 336 ).Mein
englischer Gefährte hat das neu gefüllte Glas erhoben. »Ich bin
kein törichter Nostalgikervon Empire-Größe«, meint er, »und
neige nicht dazu, historische Tränen zu vergießen. Aber ich muß
dir gestehen, daß mich jedes Mal auf dem Höhepunkt des Londoner Concert
of the Proms Wehmut überkommt, wenn die Hymne angestimmt wird: Rule
Britannia, Britannia rule the waves.« (Peter Scholl-Latour,
Die Angst des weißen Mannes, 2009, S. 336 ).Suey
hat unserem Austausch sehr aufmerksam zugehört. Sie streicht sich eine graue
Strähne aus der Stirn und lächelt uns zu. »Ich bin ja froh, daß
ihr wenigstens darauf verzichtet habt, eure Erlebnisse aus dem Vietnamkrieg wieder
aufzuwärmen.« Liebevoll beugt sie sich über Derrick, dessen Gesicht
unter der Einwirkung des Whiskys tatsächlich die Farbe eines »red lobster«
angenommen hat. - »Do not listen to him«, scherzt Suey, »he
is a silly old man.« »So am I«, füge ich hinzu und umarme
sie freundschaftlich. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen
Mannes, 2009, S. 336 ). |