In Wirklichkeit fällt also die Beweislast
gerade dem Idealismus zu, eben weil er es ist, der sich vom natürlichen
Gegenstandsbewußtsein und von der Sachlage des Erkenntnisphänomens
entfernt und eine Behauptung aufstellt, die von vorn herein den Stempel
der Widernatürlichkeit trägt.
Paul
Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis,
1921, S. 229 |
Wie das Transobjektive in der verlängerten Richtung des
Erkannten liegt, so liegt das Transintelligible in der verlängerten
Richtung des Erkennbaren.
Paul
Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis,
1921 |
Durch die kategoriale Grundrelation begreifen
wir, wissen wir aber nicht um das Dasein; durch die psychophysische Grundrelation
wissen wir um das Dasein, begreifen es aber nicht.
Paul
Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis,
1921 |
Sofern das (das »Handeln«
gemäß Kants »kategorischem Imperativ«; HB)
besagt, daß wirklich die jedesmalige »Maxime« der
Handlung ihre Richtschnur daran hat, ob sie zugleich allgemeines Gesetz
sein könnte oder nicht, so liegt darin offenkundig etwas, was der
Mensch als Persönlichkeit nicht prinzipiell wollen kann. Er muß
vielmehr zugleich wollen, daß über alle Allgemeingültigkeit
hinaus noch etwas Eigenes in seinem Verhalten sei, was an seiner Stelle
kein Anderer tun sollte oder dürfte. Verzichtet er hierauf, so ist
er eine bloße Nummer in der Menge, durch jeden Anderen ersetzbar;
seine persönliche Existenz ist vergeblich.
Paul
Nicolai Hartmann, Ethik, 1926 |
Der finale Determinismus der göttlichen
Vorsehung hebt die ethische Freiheit (und damit die Voraussetzung jedes
sittlichen Handelns) auf. Läßt man aber die Freiheit der Person
gelten, so hebt sie unfehlbar jenen auf. Beider stehen zueinander
kontradiktorisch, als These und Antithese.
Paul
Nicolai Hartmann, Ethik, 1926 |
Jede Seinsschicht hat ihren eigenen Kategorialkomplex,
und zu jedem solchen gehört ein eigener Determinationstyp. Und wie
die Kategorien jeder niederen Schicht in der höheren abgewandelt
und um ein spezifisches Novum verstärkt wiederkehren, so natürlich
auch die niederen Determinationstypen in den höheren.
Paul
Nicolai Hartmann, Ethik, 1926 |
Die Tragik des Menschen ist die des Verhungernden, der an der
gedeckten Tafel sitzt und die Hand nicht ausstreckt, weil er nicht sieht,
was vor ihm ist. Denn die wirkliche Welt ist unerschöpflich an Fülle,
das wirkliche Leben ist wertgetränkt und überströmend,
wo wir es fassen, da ist es voller Wunder und Herrlichkeit.
Paul
Nicolai Hartmann, Ethik, 1926, S. 11 |
Das Wertreich ist ... eine Sphräre ideal ansichseiender Wesenheiten.
Paul
Nicolai Hartmann, Ethik, 1926, S. 26 |
Werte sind ... Gebilde einer ethisch idealen Sphäre eines
Reichs mit eigenen Strukturen, eigenen Gesetzen, eigener Ordnung.
Paul
Nicolai Hartmann, Ethik, 1926, S. 29 |
Die Werte selbst verschieben sich nicht in der Revolution des
Ethos. Ihr Wesen ist überzeitlich, übergeschichtlich. Aber das
Wertebewußtsein verschiebt sich.
Paul
Nicolai Hartmann, Ethik, 1926, S. 49 |
Es gibt eben ein reines Wert-Apriori. Das unmittelbar, intuitiv,
gefühlsmäßig unser praktisches Bewußtsein, unsere
ganze Lebensauffassung durchzieht, und allem, was in unseren Gesichtskreis
fällt, die Wert-Unwert-Akzente verleiht.
Paul
Nicolai Hartmann, Ethik, 1926, S. 116 |
Alles, was Sollenscharakter hat, kann ebendeswegen
nicht Freiheitscharakter tragen.
Paul
Nicolai Hartmann, Ethik, 1926, S. 760 |
Gerade eine allseitige Weltnähe, Fühlung mit allem,
was in der Welt werthaltig ist, liegt im praktischen Sinn der Weisheit.
Paul
Nicolai Hartmann, Ethik, 1926, 45. Kap. |
Das geplante Ganze bildet den fundamentalphilosophischen
Hintergrund meiner seither erschienenen systematischen Arbeiten
der »Metaphysik der Erkenntnis« (1921
erschienen; HB), der »Ethik« (1926
erschienen; HB) und des »Problems des geistigen Seins«
(1933 erschienen; HB), hat sich wohl
auch in deren Aufbau wiederholt angekündigt.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
V |
Eine neue, kritische Ontologie ist möglich geworden. Sie
zu verwirklichen ist die Aufgabe.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
V |
Zugleich mache ich hiermit den Anfang, eine alte Schuld einzulösen.
Es hat in meinen früheren Arbeiten nicht an ontologischen Voraussetzungen
gefehlt, die ich machen mußte, ohne sie zureichend begründen
zu können. Durch eine Reihe kleinerer Abhandlungen (»Wie ist
kritische Ontologie möglich?« [1924 erschienen;
HB], »Kategoriale Gesetze« [1926
erschienen; HB]u.a.) habe ich diesem Mangel zu begegnen gesucht.
Das konnte auf die Dauer nicht genügen, da es sich ja nicht um Klärung
von Randfragen, sondern um die Grundlegung eines Ganzen handelte.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
VI |
Von »Ontologie« haben wir in den letzten Jahrzehnten
mancherlei gehört. Nicht nur was den Titel führt, wie die Werke
von H. Conrad-Martius und Günther Jacoby, gehört hierher. Auch
Meinongs Gegenstandstheorie, Schelers metaphysische Ansätze, Heideggers
»Sein und Zeit« sind hier zu nennen, desgleichen manche weniger
beachtete Versuche. Das Aufkommen dieser Tendenz hängt aufs engste
mit dem Wiedererwachen der Metaphysik zusammen, das seinerseits als Reaktion
gegen die inhaltliche Leere des niedergehenden Neukantianismus, Positivismus
und Psychologismus im Beginn unseres Jahrhunderts einsetzte. Es kündete
sich darin offensichtlich eine Bewegung allgemeinen Auflebens des philosophischen
Geistes an, und sie wäre wohl in größerem Maßstabe
durchgedrungen, wenn nicht in eben diese Zeit die Höhe des Historismus
gefallen wäre, der durch seine Relativierung des Wahrheitsbegriffs
ein skeptisch hemmendes und auflösendes Gegengewicht zur Seinsproblematik
bildete.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
VII |
Wohin ich blicke in diesen Ansätzen, ich finde überall
nur die Ankündigung der kommenden Ontologie, nirgends einen Versuch,
sie selbst wirklich durchzuführen. Teils bleiben sie in der Voruntersuchung
hängen, die das Verhältnis von Erkenntnis und Sein betrifft
wobei dann der ontologisch ungeklärte Erkenntnisbegriff alles
weitere a limine illusorisch macht; teils verwechseln sie die Seinsfrage
mit der Gegebenheitsfrage, oder gar das Seiende selbst mit dem subjektbezogenen
»Gegenstande«: teils suchen sie nach Cartesischer Art den
Ansatzpunkt überhaupt im Subjekt einerlei ob dieses nun als
der Mensch, die Person oder das »Dasein« ausgelegt wird ,
wobei von vornherein die Indifferenz des Seienden gegen jede Art von Erkennen
und Verhalten des Subjekts verfehlt wird.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
VII |
Man muß es aussprechen: es ist im Ganzen bei der Ankündigung
geblieben, die Ontologie selbst ist nicht gefolgt. Ihr Thema wurde gar
nicht eigentlich gestellt, geschweige denn in Angriff genommen
nicht weil man es nicht im Ernst gewollt hätte, sondern weil man
es nicht zu fassen wußte. Es zu fassen ist auch weder im Geleise der hergebrachten Theorien noch mit deren bloßer Destruktion möglich;
das erstere beweist plastisch der Versuch Jacobys, das letztere der Heideggers.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
VIII |
Eine besondere Stellung dagegen nimmt Hans Pichler ein. Er ging
als einer der ersten voran mit seinem kleinen, aber gewichtigen Buch Ȇber
die Erkennbarkeit der Gegenstände« (1909), einer Schrift, die
ihrem Titel zum Trotz weit mehr ontologisch als erkenntnistheoretisch
angelegt ist und wohl eben deswegen zu wenig gewürdigt worden ist.
Auch Pichler freilich ist weit entfernt, eine Durchführung zu geben.
Doch hat er das hohe Verdienst, als Einziger das Seinsproblem wirklich
getroffen zu haben; wie denn seine ausdrückliche Bezugnahme auf Wolfs
(Wolffs; HB) Lehre von der ratio sufficiens,
sowie seine spätere Schrift über »Christian Wolfs Ontologie«
(1910), seine Orientierung an der maßgebenden geschichtlichen Quelle
bekundet.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
VIII |
Pichlers Vorgang war es, der mich seinerzeit in der Überzeugung,
den rechten Weg eingeschlagen zu haben, bestärkte. Er gab mir gleichzeitig
in meiner Einschätzung Wolfs (Wolffs; HB)
recht, mit der ich mich damals wie heute so gut wie allein sah.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
VIII |
Das Verdienst der Hegelschen Logik, die in ihren ersten beiden
Teilen allerdings eine Ontologie ist und von Hegel selbst als eine solche
bezeichnet ist, sehe ich in ganz anderer Richtung. Sie schlug den Weg
in die Besonderung des Seienden ein und hat damit Bahn gebrochen für
das Verständnis der kategorialen Mannigfaltigkeit, ja für die
innere Einheit von Ontologie und Kategorienlehre überhaupt. Sie ist
die größte durchgeführte Kategorialanalyse, die wir besitzen,
und ist sie die einzige geblieben, die in diesem Felde etwas Durchschlagendes
geleistet hat. Sie philosophisch auszuschöpfen ist bis auf den heutigen
Tag noch keineswegs gelungen. Als Ontologie verstanden aber blieb sie
in derselben Halbheit stecken, die allen spekulativen Systemen eigen ist,
sofern es ihnen letzten Endes um die Rechtfertigung metaphysischer Thesen
zu tun ist. Die Ausweitung der Hegelschen Logik ist eine Aufgabe der speziellen
Kategorienlehre, nicht die einer Ontologie der ersten Grundlagen.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
VII-IX |
Der Universalienstreit ist nicht abgetan, nicht eine Sache ferner
Vergangenheit, über die wir glücklich hinausgewachsen wären.
Er ist, so möchte ich behaupten, noch eine heutige Angelegenheit.
Was uns an ihm fast absichtlich vorbeisehen läßt, als wäre
er ein Atavismus, den man belächeln dürfte, das ist die eigene
ontologische Problemlosigkeit unserer Zeit.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
X |
Ob Kategorien Auffassungsweisen des Menschen oder unabhängig
von aller Auffassung bestehende Grundzüge der Gegenstände sind,
ist heute noch die ontologische Grundfrage der Kategorienlehre.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
X |
Sieht man hier von den extremsten Zuspitzungen ab, so zeigt sich,
daß die Grundfrage immer noch dieselbe ist, und daß der alte
Gegensatz von Nominalismus und Realismus ein immer noch fortbestehendes
Kardinalproblem ausmacht.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
X |
Die scholastischen Theorien haben das Problem nur weit allgemeiner
gefaßt und eine größere Mannigfaltigkeit der Auffassungen
hervorgebracht, als dem heutigen Denken geboten scheinen würde. Doch
dürfte gerade das heutige Denken hier einer Selbsttäuschung
unterliegen. Denn fast in gleicher Ausdehnung findet sich auf seinen eigenen
Spezialgebieten das Problem wieder. Es fehlt nur das Wiedererkennen des
Alten im neuen Gewände. Was heißt es denn, wenn heute die exakte
Wissenschaft von Naturgesetzen redet, an denen es in ihrer eigenen Auffassung
höchst fraglich bleibt, inwieweit sie wirklich Gesetze bestehender
Naturzusammenhänge, inwieweit bloße Gesetze wissenschaftlichen
Denkens sind? Daß der heutige Positivismus von dieser Zweideutigkeit
bis in die Wurzeln zersetzt ist, daß es unter seinen Vertretern
Köpfe gibt, die ohne es zu ahnen, bei ausgesprochen nominalistischen
Folgerungen angelangt sind, ist kein Geheimnis. Die Konsequenz aber finde
ich nirgends gezogen. Hier geht es zwar nicht um die ontisch fundamentalen
Wesenheiten, sondern um weit speziellere. Aber eben das ist lehrreich.
Das Problem ist nur dem besonderen Inhalt nach verschoben; im Prinzip
ist es das alte: ob das, was man als Wesensstücke des Erkannten heraushebt
und in Urteilen ausspricht, ein Sein in rebus hat, oder bloß post
rem, d. h. in der Abstraktion, besteht.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
X |
Von endgültiger Lösung ... ist die große Problemgruppe
des »Seienden als Seienden« heute wie ehedem weit entfernt.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
XI |
Die Aufgabe also ist neben aller aufbauenden Arbeit eine doppelte:
die alte Ontologie in ihrem Problembestande wiederzugewinnen und zugleich
Distanz gegen sie zu gewinnen.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
XI |
Zu alledem kommt, daß es im heutigen philosophischen Denken
eine gewisse Problem-Müdigkeit gibt. Der tief eingerissene Relativismus
in Deutschland am bekanntesten in der Form des Historismus
hat hier erschlaffend gewirkt. Um Probleme eindeutig sehen und in Angriff
nehmen zu können, muß man den Sinn von wahr und unwahr einsehen;
denn alle forschende Arbeit geht auf Erringung der Wahrheit. Wie aber,
wenn als wahr alles gilt, was der geschichtlichen Geisteslage einer bestimmten
Zeit konform ist? Da wird das Ringen selbst illusorisch, weil der Sinn
dessen, wonach man ringt, sich aufzulösen scheint. Und dann kann
es auch keine Problembestände mehr geben, die unaufhebbar wären
und irgend etwas unnachsichtig von uns erheischen könnten. Scheinen
sie doch selbst der gleichen Relativität zu unterliegen wie die Teilerningenschaften
der Erkenntnis, an denen sie haften.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
3 |
So glaubt man schließlich nicht mehr an Probleme. Man nimmt
sie so wenig ernst wie die Wahrheit, auf die man mit ihnen abzielt. Und
damit hebt man den Sinn der Forschung auf zugleich aber auch den
eindeutigen Sinn der Position, die man mit eben dieser Aufhebung einnimmt.
Es ist die Selbstaufhebung des philosophischen Denkens.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
3 |
Ein wirklich problemlos gewordenes Denken wäre wahrscheinlich
auch nicht belehrbar. Soweit aber ist es nun doch nicht gekommen. Aller
Gegentendenz zum Trotz hat jede Zeit ihren Problembestand, kein Relativismus
kann ihn ohne weiteres auskehren. Was in unserer Zeit der Erweckung bedarf,
das sind vielmehr nur die metaphysischen Hintergrundsprobleme. Und dem
kommt das spontane Erwachen des Sinnes für metaphysische Fragen überhaupt
entgegen, das seit dem Beginn des Jahrhunderts sich meldet und nur vom
Relativismus niedergehalten worden ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
3 |
Ein theoretisches Denken, das nicht im Grunde ontologisch wäre,
gibt es in keiner Form und ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist
offenbar das Wesen des Denkens, daß es nur »etwas«,
nicht aber »nichts« denken kann. So hat es schon Parmenides
ausgesprochen. Das »Etwas« aber tritt jederzeit mit einem
Seinsanspruch auf und beschwört die Seinsfrage herauf.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
4 |
Es ist eben nicht ein und dasselbe, ob etwas wahr »ist«
oder für wahr »gilt«.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
5 |
Auch Irrtümer können einer langen Folge von Generationen
als Wahrheit gelten, auch Wahres kann ihrem Denken verborgen oder unverständlich
sein und, wo es ausgesprochen wird, als Irrtum verschrieen werden. Das
ist eine einfache Überlegung. Sie genügt vollkommen, um das
Phänomen geschichtlicher Geltungsrelativität zu klären,
das diesen Theorien vorschwebt.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
5 |
Wäre Wahrheit ein greifbares Merkmal am Erkenntnisinhalt,
so müßte das Unwahre sich im Bewußtsein jederzeit von
selbst ankündigen sei es als Unstimmigkeit oder sonstwie -,
und kein Irrtum könnte sich im Bewußtsein halten. Das Gesetz
des Irrtums ist eben, daß er sich aufhebt, sobald er als solcher
erkannt wird.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
5 |
Sofern aber der historische Relativismus auch das Seinsproblem
antastet, begeht er einen noch weit gewichtigeren Fehler. Diese Ausdehnung
der Theorie liegt nah, weil Wahrsein nun einmal das Zutreffen auf Seiendes
bedeutet. Auch die Realität der Welt wird demnach als relativ auf
die Geistesart der Zeit verstanden. Und damit meint man nicht nur die
Selbstverständlichkeit, daß in der realen Welt selbst sich
vieles ändert, sondern die Veränderlichkeit eines und desselben
einmaligen Geschehens, je nach der geschichtlichen Geformtheit des Geistes,
der es zu seinem Gegenstande macht. Über die Extravaganz solcher
Schlüsse ist kein Wort zu verlieren. Wohl aber ist es lehrreich,
daß die Theorie gerade von dieser Konsequenz her eine Korrektion
erfährt, die sie vernichtet. Der Wandel der Geformtheit des Geistes
ist nämlich hier selbst als ein realer vorausgesetzt, und nur unter
dieser Voraussetzung kann er jene Veränderlichkeit" bewirken.
Dann aber gehört er derselben realen Welt an, deren Relativität
auf die Geformtheit des Geistes gefolgert wurde. Es wird also entweder
seine Realität oder diese Relativität aufgehoben. Im ersteren
Falle ist der Wandel des Geistes kein wirklicher, kann also auch keine
Relativität des Seienden bewirken; im letzteren Falle besteht er
zwar zurecht, aber das Seiende kann nicht auf ihn relativ sein.
Das klingt, wenn man es so ausspricht, reichlich gekünstelt. Nur
liegt die Künstlichkeit in der Theorie, nicht in der Widerlegung.
Das schlicht positive Resultat dieser Überlegung aber ist die Einsicht,
daß selbst der extreme Relativismus noch ein ontologisches Fundament
voraussetzt. Woraus man denn wohl schließen darf, daß Theorien,
die ohne ein solches auskämen, ein Ding der Unmöglichkeit sind.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
5-6 |
Wichtiger indessen als das Zeugnis der Theorien und Systeme ist
das der inhaltlichen, nach Problembeständen sich gliedernden philosophischen
Arbeitsgebiete. (Die genauere Rechenschaft über die Gesamtlage der
Metaphysik in unserer Zeit findet sich in meinem Beitrag zu der von H.
Schwarz herausgegebenen Sammlung »Deutsche Systematische Philosophie
nach ihren Gestaltern«, Berlin 1931, S.283ff..) Man kann hier
um bei dem Lieblingsthema heutiger Spekulation, der Relativität,
noch zu verweilen gleich bei der Naturphilosophie einsetzen. Hier
steht es nicht mehr wie zu Schellings Zeiten, niemand denkt mehr daran,
die Natur nach Analogie des Geistes zu verstehen. Aber auch die Methodologie
der exakten Wissenschaft befriedigt nicht mehr. Ist doch diese selbst
in ihren Grenzgebieten höchst konstruktiv geworden.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
6 |
Die Exaktheit der positiven Wissenschaft wurzelt im Mathematischen.
Dieses als solches macht aber die kosmischen Verhältnisse nicht aus.
Alles quantitativ Bestimmte ist Quantität »von etwas«.
Substrate der Quantität also sind in aller mathematischen Bestimmung
vorausgesetzt. Sie selbst als solche, einerlei ob es sich um Dichte, Druck,
Arbeit, Gewicht, Dauer oder räumliche Länge handelt, bleiben
identisch in der quantitativen Mannigfaltigkeit, und man muß sie
schon anderweitig kennen, wenn man auch nur verstehen will, was die mathematischen
Formeln besagen, in welche die Wissenschaft ihre besonderen Verhältnisse
faßt. Hinter ihnen selbst aber steht eine Reihe kategorialer Grundmomente,
die selbst offenkundig substrathaften Charakter haben und sich aller quantitativen
Fassung entziehen, weil sie Voraussetzungen der realen Quantitätsverhältnisse
sind. Von dieser Art sind vor allem Raum und Zeit, nächst ihnen aber
nicht weniger auch Materie, Bewegung, Kraft, Energie, Kausalprozeß
u.a.m..
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
6-7 |
Um diese Kategorien der Natur ist von jeher der Streit gegangen.
Auch heute sind es die Thesen der Relativitätstheorie, die sich auf
sie beziehen. Das Metaphysische dieser Theorie besteht in dem Versuch,
die Substratmomente in Raum, Zeit, Materie usw. aufzulösen. Sie stößt,
vom Quantitativen ausgehend, in das Wesen der unquantitativ-ontischen
Fundamente vor. Sie setzt in der Sphäre der Messung ein, stößt
auf die Grenzen eindeutiger Meßbarkeit; statt aber hierin die Grenzen
des Quantitativen in der Natur zu erkennen, zieht sie die Konsequenz nach
der anderen Seite: sie relativiert die Substrate möglicher Maßverhältnisse.
Statt zu fragen: welche Begrenzung des mathematisch Formulierbaren genügt
dem Wesen von Raum und Zeit? fragt sie vielmehr: Welche Begrenzung des
Wesens von Raum und Zeit genügt den mathematischen Formeln?
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
7 |
So werden die Folgerungen vom ontisch Sekundären aus in
die Region des Primären hineingetrieben. Die Substrate der Beziehung
werden in Bezogenheiten aufgelöst. Man bemerkt nicht, daß man
damit in die Sackgasse des leeren Relationalismus gerät.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
7 |
So werden die Folgerungen vom ontisch Sekundären aus in
die Region des Primären hineingetrieben. Die Substrate der Beziehung
werden in Bezogenheiten aufgelöst. Man bemerkt nicht, daß man
damit in die Sackgasse des leeren Relationalismus gerät. Man kann
hieraus ohne Schwierigkeit die Lehre ziehen, daß die methodische
Grenzüberschreitung des mathematischen Denkens geradeswegs das Gegenteil
dessen beweist, was sie erstrebte, nämlich seine eigene Begrenztheit
im Gegenstandsgebiet der Natur. Was hier wirklich als sehr relativ erwiesen
wird, ist die Eindeutigkeit der mathematischen Verhältnisse. Diese
Relativität aber ist nur ein Spezialfall der allgemeinen Abhängigkeit
des Begreifens von den Formen und Kategorien des begreifenden Bewußtseins.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
7 |
Das kategoriale Problem, das in dieser Sachlage greifbar wird,
ist offenkundig ein ontologisch.es. Keine noch so exakte Naturwissenschaft
kann sagen, was Raum, Zeit, Materie, Bewegung selbst eigentlich sind,
geschweige denn, was Wirken und Bewirktwerden ist. Sie setzt dies alles
schon voraus, und zwar ohne sich um Begründung oder Rechenschaft
über das Vorausgesetzte zu bekümmern. Das Problem, das in diesen
Voraussetzungen steckt, erfordert ein ganz anderes Vorgehen, und sei es
auch nur, um es phänomengerecht zu fassen. Die Aufgabe, die hier
erwächst, ist eine durchaus metaphysische. Und nur eine strenge Kategorialanalyse
kann es zuwege bringen, den unlösbaren Teil der einschlägigen
Probleme sauber herauszuarbeiten, um dadurch den lösbaren erst einer
Lösung zugänglich zu machen.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
7 |
Im biologischen Problemfelde wächst der metaphysische Einschlag
gleich bei den ersten Schritten bis zu völliger Ratlosigkeit. Von
alters her herrscht in der Philosophie des Organischen die teleologische
Auffassung des Lebendigen. Allzu deutlich scheinen die Lebensvorgänge
zweckmäßig zu verlaufen. Daß der Mensch, dessen Verhalten
im Leben in durchweg zwecktätiges ist, diese Zweckmäßigkeit
als Zwecktätigkeit und reale Zweckläufigkeit deutet, ist nicht
zu verwundern. Dem Anthropomorphismus, der in dieser Umdeutung liegt,
auf die Spur zu kommen, ist erst spät gelungen. Ja, daß hier
überhaupt eine Deutung vorliegt, dürfte vor Kants Kritik der
ideologischen Urteilskraft schwerlich jemandem ernstlich in den Sinn gekommen
sein.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
7-8 |
Die mechanistische Deutung dagegen, vom Materialismus öfters
versucht, von Darwin und seinen Nachfolgern ernstlich in Angriff genommen,
leidet an der Schwierigkeit, daß Prozesse von der Komplexheit der
organischen sich auf keine Weise in ihrer Ganzheit kausal verstehen lassen.
Es sind und bleiben immer nur Teilprozesse und Teilabhängigkeiten,
die sich aufzeigen lassen. Über die bloße These, »daß«
überhaupt es kausal geordnete Prozesse sein sollen, kommt man nicht
hinaus.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
8 |
Beides zusammengenommen läuft deutlich auf die Tatsache
hinaus, daß wir das wirkliche kategoriale Determinationsverhältnis
der Lebensprozesse nicht kennen. Hier ist etwas, was uns in aller augenfälligen
Gegebenheit doch unzugänglich bleibt, ein Irrationales, ein metaphysischer
Probleinrest, unabweisbar und unlösbar zugleich, und zwar gerade
das Kernstück der Lebendigkeit betreffend.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
8 |
Die Gegebenheitsweise des Organischen läßt diese Sachlage
auch durchaus verständlich erscheinen. Sie ist eine doppelte, eine
innere und eine äußere, und beide klaffen inhaltlich weit auseinander.
Es gibt ein unmittelbares Bewußtsein der eigenen erlebten Lebendigkeit
und ihrer Zustände, und es gibt ein objektiv-dingliches Bewußtsein
fremden Lebens. Das letztere sieht und erkennt den Organismus in seinen
Teilerscheinungen, faßt aber nicht die Ganzheit; das erstere dagegen
erlebt ihn als Ganzes, weiß aber nicht um seine Funktionen. Daß
beide Arten der Gegebenheit sich gegenseitig ergänzen, ist nicht
zu verkennen. Aber das genügt nur für die Praxis des Lebens,
nicht für das Verstehen des Wesens. Denn sie schließen nicht
aneinander an, stimmen auch durchaus nicht durchweg überein. Der
Kranke und der Arzt haben ein sehr divergierendes Bewußtsein von
ein und demselben Zustand. Jener fühlt nur, daß ihm etwas fehlt";
was es ist, weiß er nicht; dieser weiß es wohl, aber nicht
aus seinem Lebensgefühl, sondern auf Grund äußerer Symptome.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
8 |
Wir kennen sowohl Kausalzusammenhänge als Finalzusammenhänge.
Beide aber treffen auf den Prozeß des Lebens nicht recht zu. Hier
eben klafft die große Lücke in unserem Erkennen: den eigentümlichen
Determinationstypus im Lebensvorgang kennen wir nicht. Das ist der Grund,
warum in unserem Bewußtsein des Lebendigen dauernd entweder Kausaloder
Finalvorstellungen sich vordrängen und die Tatsache verdunkeln, daß
das Eigentümliche des Lebensvorganges ein metaphysisches Rätsel
bleibt.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
9 |
Ganz so schwierig ist die Sachlage auf dem Arbeitsgebiet der
Psychologie nicht. Die Sphäre der Gegebenheiten ist hier eindeutig
und in sich zusammenhängend. Doch gibt es auch hier einen metaphysischen
Problemhintergrund, der in neuester Zeit sich immer greifbarer zeigt.
Er fällt um so schwerer ins Gewicht, als die Psychologie des 19.
Jahrhunderts ihn nirgends zu fassen bekommen hat und sich deshalb der
trügerischen Gewißheit hingab, eine reine Tatsachenwissenschaft
zu sein und aller systematischen Schwierigkeiten überhoben zu sein.
Auf dieser Täuschung beruhte ihre scheinbare Überlegenheit über
die anderen philosophischen Disziplinen, sowie zuletzt ihre Anmaßung,
diese zu ersetzen.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
9 |
Täuschung und Anmaßung des Psychologismus sind gefallen.
Das Metaphysische des Grundproblems ist geblieben. Es liegt in der Seinsweise
der psychischen Realität, ist also von vorn herein ein ontologisches
Problem.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
9 |
Solange man Realität als ein Eigentümliches der sog.
Außenwelt ansah der Dingwelt, des Physischen , konnte
die Psychologie sich metaphysisch unbelastet dünken. Aber nicht einmal
der Art, wie wir das Seelische erleben, entspricht diese Ansicht. Jedermann
rechnet im Leben mit der Gesinnung des Mitmenschen als mit etwas durchaus
Wirklichem, die Ereignisse mit Bestimmendem; jeder kennt die eigenen Zustände,
Gefühle, Aversionen, Sympathien, Wünsche, Sehnsüchte, Ängste
als etwas Gewichtiges, das auch ohne sein Wissen stets vorhanden ist und
ihn aus der dunklen Tiefe des eigenen Ich heraus bestimmt, überfällt,
ja gelegentlich vollkommen überrascht. Es gibt offenbar ein reales,
unabhängig vom Grade des Erkanntseins ablaufendes Seelenleben, und
dieses ist nicht identisch mit dem Bewußtsein. Es verläuft
in derselben realen Zeit, in der auch die physischen Geschehnisse verlaufen,
wandelt und entwickelt sich in demselben eindeutig-irreversiblen Folgeverhältnis,
zeigt denselben Modus des Entstehens und Vergehens; ja, es steht in mannigfaltiger
Wechselbedingtheit mit dem äußeren Geschehen. Nur die Unräumlichkeit
scheidet es von ihm.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
9-10 |
Hält man die Räumlichkeit und die mit ihr eng verbundene
Materialität für einen Wesenszug des Realen überhaupt,
so kann man die Realität der psychischen Akte natürlich nicht
fassen. Man hat sie durch eine falsche Definition falsche ontologische
Passung des Realseins von ihnen ausgeschlossen. Gibt man aber der
Fülle der angedeuteten Phänomene einmal Raum, so kann man umgekehrt
jene Definition nicht mehr halten. Die seelische Welt erweist sich dann
als genau ebenso real wie die physische. Damit aber erwächst der
Psychologie eine Reihe weiterer Aufgaben. Es fällt ihr nicht nur
die ontologische Frage zu, wie diese psychische Realität überhaupt
zu fassen ist; es eröffnet sich auch der Ausblick auf ein verzweigtes
Feld der unerlebten und unbewußten Zustände und Akte, das offenbar
inhaltlich weit reicher ist als das unmittelbar Erlebte und Aufweisbare.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
10 |
Daß die Welt des Geistes noch einmal eine besondere Seinssphäre
über der des Seelenlebens ausmacht, ist in der heutigen Zeit, die
den Geist selbst vorwiegend historisch sieht, kein Geheimnis.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
10 |
Die geistige Sphäre ... ist eine gemeinsame, ein verzweigtes
Ganzes von Anschauungen, Überzeugungen, Wertungen, Tendenzen, Urteilen
und Vorurteilen, Wissen und Irrtümern, Lebens- und Ausdrucksformen;
eine Sphäre von jeweiliger Einheit und Ganzheit, und dennoch fließend,
sich entwickelnd, um Güter, Ziele, Ideen ringend, ein Geistesleben,
das in geschichtlichen Schritten fortschreitet.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
10-11 |
Und wenn man bedenkt, daß es sich um die Seinsweise sehr
bekannter und gewichtiger Gegenstände handelt der Sprache,
des Rechts, der Sitte, des Ethos, der Kunst, der Religion, der Wissenschaft
, so meldet sich hier deutlich die Notwendigkeit, ihr auf den Grund
zu gehen.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
11 |
Welche Seinsweise hat denn ein Urteil? Darin, daß es von
jemandem im Denkvollzuge gefällt wird, geht es offenbar nicht auf.
Es wird vom fremden Bewußtsein aufgegriffen, verstanden, nach vollzogen,
es wird Gemeingut Vieler, einer ganzen Zeitgenossenschaft, überdauert
sie geschichtlich.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
12 |
Nennt man nun diese Sphäre die »logische Sphäre«,
so erhebt sich die Frage, von welcher Art sie ist, welche Seinsweise sie
hat. Sie ist nicht identisch mit der idealen Seinssphäre; denn auch
unwahre Urteile, die nichts Seiendes treffen, gehören ihr an. Auch
Irrtümer »wandern« in geprägter Urteilsform.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
12 |
Der Urteilssinn als solcher ... hat weder Zeitlichkeit noch Realität.
Er wandelt sich nicht. Nur seine Anerkanntsein, seine Geltung im Dafürhalten
der Menschen wandelt sich. Diese Geltung ist aber nicht der logische Sinn
des Urteils.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
12 |
Dasselbe gilt von ganzen Urteilszusammenhängen und -folgen,
von dem also, was die Logik »Schlüsse« nennt. Die sog.
Schlüssigkeit, die innere Richtigkeit im Folgeverhältnis von
Prämissen und Konklusion, besteht offenbar auch da zu Recht, wo sie
nicht eingesehen und vollzogen wird. Und diese Seinsweise überträgt
sich schließlich auf Begriffe der komplexesten Art, die schon auf
Grund ganzer Serien von Urteilen und Schlüssen zusammengebaut sind.
Die »Merkmale« des Begriffs sind eben die ihm durch Urteile
eingefügten Prädikate.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
12 |
Das Sein des Seienden ist eines, wie mannigfaltig dies auch sein
mag. Alle weiteren Differenzierungen des Seins sind aber nur Besonderungen
der Seinsweise.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
38 |
Sein ist ein Letztes, nach dem sich fragen läßt. Ein
Letztes ist niemals definierbar. Definieren kann man nur aufgrund eines
anderen, das hinter dem Gesuchten steht.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S.
43 |
Sein ist ein Letztes, nach dem sich fragen läßt. Ein
Letztes ist niemals definierbar. Definieren kann man nur auf dem Grund
eines anderen, das hinter dem Gesuchten steht. Ein Letztes aber ist ein
solches, hinter dem nichts steht.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935 |
Alle apriorische Einsicht ist objektiv allgemein, d.h. sie spricht
in jedem Urteil, zu dem sie führt, von einer Totalität möglicher
Realfälle, gleichgültig ob diese in Wirklichkeit vorkommen,
vorgekommen sind oder vorkommen werden. Diese Totalität erstreckt
sich darüber hinaus auf Fälle, die im Realzusammenhang der Welt
niemals wirklich werden. Ideale Gegenstände (insbesondere logische
und mathematische) sind rein a priori gegeben.
Paul
Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935 |
Es ist das zweite Stück der Ontologie,
das ich in diesem Bande vorlege. Es knüpft aufs engste an die vier
Untersuchungen »Zur Grundlegung der Ontologie« an ...; es
verhält sich zu den letzteren wie das Kernstück einer Wissenschaft
zu den Präliminarien.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. V |
Die Modalanalyse dringt in das Gefüge von Möglichkeit
und Wirklichkei, Notwendigkeit und Zufälligkeit ein und gewinnt aus
dem eigenartigen Verhältnis, welches die Modi im Zuge des Weltgeschehens
miteinander eingehen, den ontologischen Innenaspekt des Realseins als
solchen, der seine positive Bestimmung wenigstens mittelbar möglich
macht.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. V |
Es geht in diesem Buch also nicht um »Möglichkeit
und Wirklichkeit« allein. Es geht noch um vieles mehr, was ein Buchtitel
nicht aussprechen kann. Möglichkeit und Wirklichkeit stehen nur insofern
im Zentrum der neuen Untersuchungen, als in ihrem Verhältnis fast
sämtliche Aufschlüsse über das mancherlei Größere
und Wichtigere zu suchen sind, das hier seinen Austrag finden muß.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. V |
Der einzige gangbare Weg zur Bestimmung der Seinsweise ist der,
sie aus ihrem kategorialen Aufbau heraus zu verstehen, d. h. sie an ihren
eigenen Strukturen sich selbst von innen heraus erleuchten zu lassen.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. V-VI |
Da die Strukturen des Seienden sich als Kategorien fassen lassen,
so kann man sagen, daß hiermit bereits die Kategorienlehre anfange.
In der Tat ist zwischen dieser und der Ontologie keine scharfe Grenze
zu ziehen. Alle Ontologie, wenn sie ins Besondere geht, wird zur Kategorienlehre;
genau so wie ja auch alle Erkenntnistheorie und alle Metaphysik. Darin
stehen diese Arbeitsgebiete der Philosophie einander nah und zeigen auch
geschichtlich verwandte Entwicklungskurven. Das Inhaltliche der Welt,
die es zu erkennen gilt, ist eben in der Besonderung des Prinzipiellen
verwurzelt, das in ihr herrscht. Ob man also auf diese Welt selbst aus
ist oder auf ihre Erkennbarkeit, immer wird die Untersuchung es mit Prädikamenten
zu tun haben, die das Prinzipienartige in ihr zu fassen angetan sind.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. VI |
Die Modalitätsstufen sind die allgemeinsten und fundamentalsten
Kategorien sowohl des Seienden als auch der Erkenntnis des Seienden. Ihre
Untersuchung geht insofern mit Recht derjenigen der inhaltlichen Kategorien
voraus. Die letzteren sind »konstitutive« Prinzipien. Man
kennt nun aus Kant den Unterschied der »konstitutiven und regulativen«
Prinzipien; man erwartet daher vielleicht eine gewisse Gleichstellung
des Modalen mit dem Regulativen. Damit indessen würde man das Problem
der Modalität von vornherein verfehlen. Jener Kantische Gegensatz
ist ein rein erkenntnistheoretischer, er scheidet das Inhaltliche der
Erkenntnis vom Methodologischen, berührt also das Seinsproblem überhaupt
nicht. Methode gibt es nur im Gange der Erkenntnis als solcher. Das Seiende
als Seiendes hat keine Methoden. Es hat neben seinen konstitutiven Aufbauprinzipien
und, ihnen vorgelagert, seine Seinsmomente (Dasein und Sosein), seine
Seinsweisen (Realität und Idealität) und Seinsmodi (Möglichkeit,
Wirklichkeit, Notwendigkeit). Sie alle stehen in sehr bestimmtem, wiewohl
verschieden dimensioniertem Gegensatz zu den konstitutiven Kategorien.
Aber keine dieser Arten des Gegensatzes deckt sich mit der Kantischen.
Da nun die Seinsmomente vonuitersucht sind, die Seinsweisen aber sich
erst nach und nach klären können, so tritt nunmehr an die Stelle
des Kantischen Gegensatzes der ontologisch fundamentale Gegensatz des
Konstitutiven und Modalen.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. VI |
Erst die heutigen Versuche in der Ontotogie sind es, die sich
eine Modalanalyse sparen zu können meinen. Oder vielmehr, das Bewußtsein
ihrer Notwendigkeit ist nach dem großen Tief stände
der Ontologie, der im Ausgang des 18. Jahrhunderts einsetzte, in
diesen Versuchen noch gar nicht wiedergekehrt. Man muß es erst wieder
erwecken.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. VII |
Die Modalanalyse ist, wenn man es recht überlegt, eine ganze
Wissenschaft. Sie ist bisher nur sporadisch getrieben worden ähnlich
wie ja auch die Logik einst vor ihrer ersten Zusammenfassung durch Aristoteles
eine nur sporadisch getriebene Wissenschaft war. Sie ist in ihrer philosophischen
Bedeutung vielleicht nicht geringer als diese. Aber das kann erst sichtbar
werden, wenn man sie systematisch in Angriff nimmt. Einstweilen ist nur
so viel zu erkennen, daß sie ein Gebiet der Überraschungen
und des Umlernens ist, und zwar keineswegs bloß in ontologischer
Hinsicht. Es ist kein Seinsdogmatismus, in den sie hineinführt, kein
Primat irgendwelcher passiv substantiellen Mächte, die der menschlichen
Aktivität Schranken setzten. Es ist gerade das Werk der Befreiung
von mißverstandener Bindung, dem sie dient, die geradlinige Fortführung
dessen, was Kant und Fichte anstrebten, die Wegbereitung einer von den
Fundamenten her wohlgegründeten Philosophie des Menschen und der
schöpferischen Tat. Das sind freilich nicht Dinge, die auf den ersten
Blick ins Auge springen können; sie erfordern den mühevollen
Gang stetigen Eindringens. Aber wohl will es mir scheinen, daß die
Modalanalyse allein eine solche Grundlegung vollziehen kann. Denn sie
allein ist in der Lage, das einst ebensosehr gefürchtete wie gemiedene
Dunkel des Determinationsproblems aufzuhellen. In keinem Punkte aber waren
von jeher die traditionellen Begriffe der alten Metaphysik verhängnisvoller
als in diesem.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. VIII |
Angesichts solcher Aufgaben hätte ich mich in der Untersuchung
vielleicht auf die Modi des Realen beschränken können. Sie eben
bilden das Thema, das jene weiten Ausblicke eröffnet. Aber es gibt
eine solche Fülle von Irrtümern, die Modi des idealen Seins,
des Logischen und selbst der Erkenntnis betreffend, daß es nicht
möglich war, diese aus dem Spiele zu lassen.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. VIII |
Im ausgehenden Mittelalter verstand man unter dem Modus die Besonderung
der Substanz. Man unterschied am Subsistierenden die Attribute als ständige
und notwendige, die Modi als wechselnde und zufällige Bestimmtheiten,
verstand jene als Wesensstücke, diese als bloße Zustände
der Substanz. Diese Bedeutung von »Modus« erhielt sich in
denjenigen philosophischen Systemen der Neuzeit, die sich auf einer Substanzmetaphysik
aufbauten. Sie war mit ihnen die herrschende in ihrer Zeit und ging mit
ihnen zugrunde, als das kritische Denken den Substanztheorien ein Ende
machte. Sie hat mit dem heutigen Sinn von Modalität nichts zu schaffen
und mag hier auf sich beruhen bleiben. Im Gegensatz zu ihr hat sich spät
wohl nicht vor dem 18. Jahrhundert in der Logik eine andere
Bedeutung des Wortes »Modus« herausgebildet. Sie betrifft
eine vierte Dimension der Urteilseinteilung neben denen der Quantität,
Qualität und Relation. Sie geht von dem Unterschiede aus, ob das
Urteil ein Möglichsein, ein Sein schlechthin, oder ein Notwendigsein
aussagt. Diese drei Fälle bilden die drei »logischen Modi«.
In ihrem Gegensatz besteht die Modalität des Urteils"
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 1 |
Solange die logisch orientierte Erkenntnistheorie herrschende
Grunddisziplin der Philosophie war, konnte man sich damit begnügen.
In dem Augenblick aber, als das alte Seinsproblem wieder durchzubrechen
begann wovon die ersten Anzeichen bereits in der Hegelschen Logik
vorliegen , besann man sich auch darauf, daß im Inhalt der
Urteile ein Seinssinn steckt, und daß folglich auch den Modi des
Urteils bereits solche des Seins zugrunde liegen müssen. Man übersetzte
also nun die Modalität des Urteils in eine solche des Seins zurück,
stieß aber zugleich damit auf die uralte Problematik von Möglichkeit
und Wirklichkeit, die das ontologische Denken von seinen Anfängen
her begleitet, oder vielmehr sehr wesentlich beherrscht hatte
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 1 |
Der Ausdruck »Modalität des Seins« ist somit
eine neue Prägung. Die Sache aber ist alt. Das neue Gewand konnte
ihr nicht genügen, weil es der Welt des Gedankens entlehnt war; und
ebensowenig konnte der alte Gehalt der Sache einer neuen, erweiterten
Problemlage genügen, wie das Wissen der Neuzeit sie heraufgeführt
hatte. Vor allem versagte der logische Wirklichkeitsbegriff, wenn man
mit ihm an die Härte des Realen herantrat; aber auch die Seinsmöglichkeit
führte auf ein Gewicht der Realsituation zurück, mit dem das
luftige Gefüge des bloß widerspruchslos Denkbaren nur noch
entfernte Ähnlichkeit zeigte. Hier war es nun, wo das alte Kategorienpaar
»Potenz und Aktus« sich zur Erfüllung jener logischen
Modi mit Seinsgehalt anbot. Aber weder deckte es sich mit dem eigentlich
modalen Gegensatz von Möglichkeit und Wirklichkeit, noch hatte es
Spielraum für den dritten, nunmehr hinzugekommenen Seinsmodus, die
Notwendigkeit.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 1-2 |
In diesem Interferieren der heterogenen Wortbedeutungen und der
hinter ihnen noch erkennbaren, nicht weniger heterogenen Problemlinien
hat das Forschungsgebiet der Seinsmodalität sich bis zu einer gewissen
Spruchreife herauskristallisiert, ohne doch bisher auch nur in den Grundlagen
einige Festigkeit gewonnen zu haben. Der Mangel, der hiermit ausgesprochen
ist, hängt indessen keineswegs am Zustande des Modalitätsproblems
allein; er haftet vielmehr der Sachlage in der ganzen Ontologie an, geht
letzten Endes auf die Unklarheiten im Seinsbegriff, in der traditionellen
essentia-Lehre, in der Fassung von Dasein und Sosein, sowie in der Gegebenheit
des realen und des idealen Seins zurück. Ein neuer Anfang konnte
erst gemacht werden, wenn in diesen Punkten Klarheit geschaffen war. (Solche
Klarheit zu schaffen, war die Aufgabe des ersten Bandes: »Zur Grundlegung
der Ontologie« [1935], dessen vier Teile den angegebenen Punkten
entsprechen.)
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 2 |
Nachdem dieses geschehen, steht wenigstens der Weg offen. Es
hat sich gezeigt, daß in dem traditionellen Gegensatz von essentia
und existentia zwei verschiedene Gegensatzpaare stecken, das von Idealität
und Realität einerseits, das von Sosein und Dasein andererseits.
Die Seinsweisen hängen stets an dem Moment des Daseins, sie sind
die Besonderungen oder Weisen des Daseins. Es tritt nun aber zum Gegensatz
der Seinsweisen und dem der Seinsmomente als dritter noch der Gegensatz
der Seinsmodi hinzu. Denn innerhalb jeder Weise des Daseins gibt es wiederum
den Unterschied des Möglichseins, Wirklichseins und Notwendigseins,
sowie den der entsprechenden Negativa, des Unmöglichseins, Unwirklichseins
und Zufälligseins. Diese Seinsmodi sind es, die ja nach der Seinssphäre
und ihrer Seinsweise sehr verschieden ausfallen und verschiedene Gesetzlichkeit
in ihrem gegenseitigen Verhältnis zeigen.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 2 |
Die Untersuchung dieser Verhältnisse ist verzweigt und muß
für jede Seinssphäre gesondert geführt werden. Das gilt
nicht nur für die primären und selbständigen Sphären,
sondern ebensosehr auch für die sekundären, d.h. für die
des Logischen und die der Erkenntnis. Hätte in der Geschichte der
Philosophie das Problem der Seinsmodi eine geradlinige Entwicklung genommen,
so ließe sich solche Komplikation wohl vermeiden. Nachdem es aber
einmal den Umweg über die Logik und Erkenntnistheorie eingeschlagen
hat, und seine Zurücklenkung auf die Seinssphären eine noch
unabgeschlossene ist, ergibt sich die Notwendigkeit, das Problem der Modi
in ganzer Breite aufzurollen.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 2 |
Wie sehr solche Umständlichkeit vonnöten ist, beweist
schon die Tatsache, daß es den Heutigen noch schwer fällt,
Seinsmoment, Seinsweise und Seinsmodus auseinander zu halten. Nichts ist
in unseren Tagen geläufiger als die Verwechslung von Dasein und Realität,
Realität und Wirklichkeit. Was für die Zwecke der Ontologie
erforderlich ist, erschöpft sich aber nicht im bloßen Klären
und Unterscheiden. Es gilt vielmehr, das positive Verhältnis, das
zwischen ihnen waltet, zu erarbeiten. Nur so kann dem Problem des »Seienden
als Seienden« gedient werden.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 3 |
Sieht man näher zu, so findet man in den Aristotelischen
Bestimmungen ein Bild der Welt, in dem für das eigentliche Werden
kein Platz ist. Das ist erstaunlich genug, da sich ja andererseits nicht
verkennen läßt, daß es dem Aristoteles gerade um die
Bestimmung des Werdens geht. Aber man halte sich vor Augen: in dem Dualismus
von Dynamis und Energeia gibt es nur einen Modus für das Anfangsstadium
der Prozesse und einen für das Endstadium und zwar beide statisch-zuständlich
gefaßt , aber keinen für den Prozeß selbst, das
Übergehen, den Fluß. Der Zustand der Dynamis liegt »vor«
dem Prozeß, der Zustand der Energeia »nach« dem Prozeß.
Der Prozeß als solcher geht leer aus. Da aber der Prozeß die
kategoriale Grundform des Realen ist nicht also ein Übergang
von Sein zu Sein, sondern die Art und Weise, wie überhaupt Dinge,
Lebewesen, Menschen u.a.m. sich im Dasein halten, so stellt sich
die Aristotelische Fassung als Verfehlung des Realseins dar. Das Gewicht
liegt hier ganz auf den statisch verstandenen Formprinzipien, die sich
in den Prozessen »verwirklichen«; der Prozeß aber spielt
nur die Rolle des Übergangs.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 6 |
Wie die Modalprinzipien des Aristoteles sich in der Antike und
im Mittelalter ausgewirkt haben, soll hier nicht verfolgt werden. (Es
ist das ein verzweigtes Thema, das neuerdings bei August Faust eine zusammenfassende
Darstellung gefunden hat: »Der Möglichkeitsgedanke«,
2 Bde., Heidelberg 1931/32.) Potenz und Aktus der späteren Jahrhunderte
blieben nicht identisch mit dem ursprünglichen Sinn von Dynamis und
Energeia; doch blieb das teleologisch-konstitutive Element in ihnen erhalten.
Und dieses wurzelte zu tief in der metaphysischen Vorstellungsweise des
Abendlandes, als daß eine grundlegende Revision der Modalbegriffe
hätte aufkommen können.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 7 |
Man sieht ..., daß hier zwischen vorschwebender Möglichkeit
und Realmöglichkeit ein Unterschied zu machen ist. Jene beansprucht
mit Recht den breiten Spielraum einer Vielzahl von »Möglichkeiten«,
hält aber dem althergebrachten Anspruch auf Realität nicht stand;
diese dagegen erweist sich als strenge Bezogenheit auf eine Reihe von
Realbedingungen und wird damit zum Ausdruck eines Realverhältnisses.
Beide Arten des Möglich - seins haben damit den traditionellen Charakter,
ein »Zustand des Seienden« zu sein, abgestreift. Ob auch das
gespenstische Dasein des »bloß Möglichen« in der
Realsphäre sich damit in leeren Schein auflöst oder nicht, ist
freilich so schnell nicht zu entscheiden. Immerhin hat sich ein anderer
Bereich des Möglichen gezeigt, in den es sehr wohl gehören könnte.
Ob dem so ist, hängt von einer Reihe anderer Probleme ab.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 8-9 |
Ein bloß Mögliches eben ist, was auch anders sein
kann; notwendig aber ist, was nicht anders sein kann.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 21 |
Es ist klar, daß in dieser Fassung alle Vorentscheidung
über die Art der Determination vermieden ist; und nicht nur darüber,
sondern auch über den Umfang des Notwendigen im Reiche des Seienden.
Euer ist nicht, wie in den Vorsehungstheorien, vorausgesetzt, daß
alles, was ist, notwendig sei; ja streng genommen nicht einmal, daß
es überhaupt Notwendiges gibt. Nur daß das Notwendigsein, wo
immer es vorkommen mag, etwas anderes ist als Möglichsein und Wirklichsein,
ein neuer Seinsmodus neben ihnen, tritt klar zutage und zwar in
bewußtem Unterschied zu allem bloßen Gelten und zum Gewißheitsgrade;
denn nowendig »sein« kann natürlich sehr wohl etwas,
was gar nicht für notwendig gilt. Und ebenso umgekehrt.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 21-22 |
Diese Wendung der Dinge bedeutet nichts Geringeres als den Beginn
der geschichtlichen Reife des ganzen Modalitätsproblems. Solange
man das Gegenstück der Möglichkeit in der Wirklichkeit erblickte,
konnte man ihren kategorialen Charakter auf keine Weise rein erfassen.
Darum eben erschien sie als Potenz. Faßt man sie, wie angegeben,
als Gegenstück zur Notwendigkeit, so fällt der Potenzcharakter
mit all seinen unlösbaren Schwierigkeiten mit einem Schlage hin.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 22 |
Die Gegensatzstellung zur Möglichkeit, auf der die Einfügung
des Notwendigkeitsmodus beruht, ist eine innere, natürliche, am kategorialen
Verhältnis der Modi selbst sichtbare. Sie wird sofort einleuchtend,
wenn man die Möglichkeit unter Negation stellt. Negierte Möglichkeit
ist »Unmöglichkeit«. Die Unmöglichkeit ihrerseits
aber fällt unter das genus der Notwendigkeit; sie ist Notwendigkeit
des Nichtseins. Andererseits wenn man die Notwendigkeit des Seins negiert,
so bekommt man Möglichkeit heraus: was nicht notwendig ist, das »kann«
wohl sein, »kann« aber auch nicht sein. Dieses doppelte Können
ist die Möglichkeit.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 22-23 |
In diesem Intermodalverhältnis treten nun Notwendigkeit
und Möglichkeit in unmittelbaren Gegensatzzusammenhang. Die Wirklichkeit
dagegen bleibt beiden gegenüber neutral stehen, als ein »Sein
schlechthin«, in dem weder das Möglichsein noch das Notwendigsein
direkt sichtbar ist. In dieser Neutralität pflegt das Wirkliche der
Erfahrung gegeben zu sein; darauf beruht der Anschein des Zufälligen
an ihm.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 23 |
Erwägt man dieses innere Verhältnis genau, so findet
man, daß auch der Gesetzesgedanke ihm nicht gerecht wird. Naturgesetzlichkeit
bedeutet Gleichartigkeit der Fälle, der Abläufe; sie ist eine
Typik der Prozesse. Das aber ist nicht der eigentliche Sinn der Realnotwendigkeit.
Diese ist an sich ganz indifferent gegen Gleichartigkeit und Ungleich-,
artigkeit der Fälle. Für sie ist es nicht wesentlich, daß
der Einzelfall »unter« ein Schema falle, daß er etwa
in Abhängigkeit von einem allgemeinen Prinzip stehe. Wohl setzt sie
eine Abhängigkeit voraus, aber eine ganz andere: die Abhängigkeit
von vorbestehenden Realumständen, von Faktoren oder Bedingungen,
die ebenso real, zeitgebunden und vergänglich sind wie das Abhängige.
Kurz, die Realnotwendigkeit verbindet nicht ein überzeitliches Prinzip
mit dem zeitlichen Geschehen; sie verbindet vielmehr innerhalb des Geschehens
ein Stadium mit dem anderen, Reales mit Realem, Zeitliches mit Zeitlichem.
Daß diese Verbundenheit in den Abläufen der Naturprozesse Gleichartigkeit
(Gesetzlichkeit) zeigt, ist gewiß eine Eigenart des Realen, aber
es ist nicht das eigentliche Wesen des Notwendigseins. Denkbar wäre
ja auch eine Welt ohne Gleichartigkeit und Gesetzlichkeit; deswegen könnte
in ihr doch durchgehend eines aus dem anderen notwendig folgen. Die Folge
würde nur kein Schema zulassen. (Die Kategorienlehre wird in anderem
Zusammenhange zu zeigen haben, daß dasselbe wie von der Notwendigkeit
sogar von der Kausalität gilt. Die sog. Naturgesetze sind sowohl
an sie als Voraussetzung gebunden, nicht aber der Kauäalnexus als
solcher an die Naturgesetze.)
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 23 |
Es ist ein Verdienst des philosophischen Denkens in dieser Zeit,
daß Leibniz und ihm nach in breiter Durchführung Wolf
(Wolff; HB) das Notwendigkeitsproblem
im Gegensatz zur Gesetzeswissenschaft wieder auf eine breitere Basis zu
stellen wußten. Das geschah durch die Aufstellung des »Satzes
vom Grunde«, der sich seither anfallen Gebieten, auf denen es ein
Widerspiel der Modi geht in der Logik und Erkenntnistheorie so
gut wie in der Metaphysik , durchgesetzt hat.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 24 |
Daß etwas »möglich ist«, besagt eben nur,
daß es sein kann, aber ebensogut auch nicht sein kann.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 24 |
Und versteht man alles Sein (Wirklichsein) im Gegensatz zu einer
irgendwie bestehenden Alternative des »Sein-und-nichtsein-Könnens«,
so wird es auch verständlich, warum Leibniz und Wolf (Wolff;
HB) dem Satz vom Grunde allgemeine Gültigkeit für alles
Seiende zusprechen. Das Wirklichsein ist eben ein »So-und-nicht-anders-Sein«;
es hat das Nichtseinkönnen dessen, was es ist, von sich ausgeschlossen.
Determinativ ausgedrückt heißt das: es hat seinen Grund, warum
es »ist« und nicht »nicht ist«; modal ausgedrückt:
es kann nicht »nicht sein«, es ist notwendig.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 25 |
Es hat sich gezeigt, daß wir weder von der Seinsmöglichkeit
noch von der Seinsnotwendigkeit einen genügend klaren Begriff vorfinden,
der sich der Untersuchung zugrunde legen ließe. Daß man unter
solchen Umständen noch viel weniger von der Seinswirklichkeit einen
solchen im überlieferten Material der Geschichte aufzeigen kann,
wird hiernach niemand wunder nehmen. Ist doch das Wirklichsein noch um
vieles ungreifbarer, obschon es das scheinbar Selbstverständlichste
und Wohlbekannteste ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 25 |
Die Modalkategorien haben eben den ungeheuren Nachteil, schwer
faßbar zu sein. Ihre Stellung diesseits aller inhaltlichen Differenzierung
bringt das mit sich. Alles Erfassen hält sich an unterscheidbare
Bestimmtheiten, also an das, was konstitutiv ist und das Sosein des Seienden
betrifft. Alle Kategorien oberhalb der Modalität sind konstitutive
Kategorien; alle Beispiele, an denen sich etwas greifbar machen läßt,
sind inhaltlich differenziert; und die Bestimmtheiten, die wir ihnen abgewinnen,
sind solche des Soseins, nicht das Daseins und seiner Modi. Inhaltlich
faßbar sind eben nur Bestimmtheiten.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 25 |
Die Modalitätsunterschiede sind darum nirgends direkt faßbar.
Sie sind, obgleich allem zugrundeliegend und überall vorausgesetzt,
doch stets nur »mit« einem bestimmten Inhalt und »an«
ihm faßbar. Diese Mittelbarkeit macht die Betrachtung unselbständig,
verweist sie auf das Methodengesetz der abwärts gerichteten Schichtenperspektive.
Das Gesetz besagt, daß wohl von den höheren Seinsschichten
aus die Kategorien der niederen sichtbar gemacht werden können (weil
sie im allgemeinen in ihnen mit enthalten sind), aber nicht umgekehrt.
Und dabei setzt die eigentliche Aporie erst dort ein, wo die rückschauende
Arbeit, vom Besonderen aus das Allgemeine sichtbar zu machen, vollzogen
ist. Denn dann erst beginnt die Aufgabe, den Seinsmodus als solchen zu
fassen.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 25 |
Das Erschauen selbst, und vollends die begriffliehe Fassung der
Modi, kann stets nur im Zusammenhang der inhaltlichen Betrachtung gelingen.
Sobald man das Konstitutive aus den Augen verliert, ist nichts mehr sichtbar.
Das Erschauen der Modalität ist ein solches Schauen, dem seine eigene
Bedingung im Wege steht. Es muß, um durchzudringen, diese seine
Bedingung selbst wieder aus dem Wege räumen. Es ist auf diese Weise
ein nicht nur indirektes, sondern auch in sich gebrochenes, d.h. ein sich
selbst teilweise wieder aufhebendes Schauen. Es kann seinen Gegenstand
nur fassen, indem es sich selbst ausschaltet. Und da seine Inhaltsgebundenheit
an allem Erfaßten mit erscheint, so muß es stets im Vollzuge
sich selbst wieder vom Erfaßten abziehen.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 25-26 |
Das ist die methodologische Schwierigkeit in der Modalanalyse,
im letzten Grunde eine unauf hebbare Schwierigkeit. Das macht die Modalbegriffe
so irritierend schillernd und zugleich so scheinbar nichtssagend und abstrakt.
Man sieht es ihnen nicht an, wie sie mit Sprengstoff geladen sind, wie
die ganze Krisis von Sein und Nichtsein in ihnen enthalten ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 26 |
Das Schillern freilich läßt sich in gewissen Grenzen
überwinden, indem man konzentrisch von verschiedenen Seiten zugleich
schaut. Die gewonnenen Aspekte des Modus interferieren dann in der Weise
gegeneinander, daß das Unreelle sich gegenseitig auslöscht.
Aber die Abstraktheit, die Inhaltsleere, läßt sich nicht wegbringen.
Sie ist notwendig, weil sie das Absehen von allem konstitutiv Inhaltlichen
bedeutet. Darum bleiben die Modalbegriffe unselbständig.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 26 |
Genauer gesprochen: Seinsmodi als solche lassen sich überhaupt
nicht definieren. Es ist mit ihnen nicht anders als mit den Seinsweisen:
man kann sie wohl vergleichen, abgrenzen, Unterschiede feststellen, aber
damit trifft man nie direkt das Zentrale. Allerdings ist bei den Modi
die Lage günstiger, weil ihre Mannigfaltigkeit größer
ist, zumal wenn man die negativen Modi mit hineinnimmt, und weil die Unterscheidung
doch am Inhaltlichen der Beispiele mehr Angriffsfläche findet. Aber
eigentlich definieren es sei denn nominell kann man sie
doch auch nicht.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 26 |
Für ein indirektes Vorgehen aber bleibt immer noch der Weg,
die Modi gegenseitig, immer einen von den anderen aus, zu bestimmen. Man
kommt dabei auf ihre innere Kohärenz, ihr wechselseitiges Verhältnis
der Implikation, der Indifferenz, des Widerstreits. Bei konstitutiven
Kategorien ist das eine Definitionsweise, die dem Inhalt wohl gerecht
wird. Bei den modalen, die keinen eigenen Inhalt haben, bleibt sie notwendig
leer, es sei denn, daß man ihr durch den Anschluß an das unbegrenzte
Feld möglichen Inhalts einen Boden gibt. Dann aber muß man,
wie gezeigt wurde, das Inhaltliche im Erfassen selbst wieder vom Erfaßten
substrahieren. Und es fragt sich, wieviel dann noch übrigbleibt.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 26 |
Andererseits aber ist auf diesem Gebiet schon das geringste Erfassen
von so fundamentalem Gewicht, daß sich sofort die weiteste Perspektive
eröffnet. In unabsehbar mannigfaltige inhaltlich-kategoriale Verhältnisse
leuchtet das Verständnis der Modi hinein und klärt das an ihnen
sonst Unauflösbare und Undurchschaubare. Ontologisch wirkt sich das
in erster Linie an dem Sphärengegensatz des Seienden, d. h. am Greifbarmachen
der Seinsweise, aus. Das dunkelste Problem der Ontologie gewinnt von hier
aus Licht: das Wesen des Realseins und Idealseins, das in sich selbst
in keiner Weise greifbar ist, wird aus dem Verhältnis der Modi zu
einander annähernd bestimmbar.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 26-27 |
Der Kern dieser Sachlage ist in dem kategorialen Grundgegensatz
des Konstitutiven und Modalen selbst zu suchen; er deckt sich im wesentlichen
mit dem von Seinsbestimmtheit und Seinsweise. Sein allgemeinster Ausdruck
ist das Verhältnis von Sosein und Dasein (das in der »Grundlegung«
[gemeint ist das 1935 erschienene Buch: »Zur
Grundlegung der Ontologie«; HB]untersucht worden ist); denn
die Seinsweise ist die Weise des Daseins. Dieser Gegensatz hat seinen
ontischen Ort unter den übrigen Seinsgegensätzen; und insofern
rangiert auch die ganze Modalgesetzlichkeit bereits unter die Kategorienschicht
der Seinsgegensätze. Sie steht aber, obgleich ebenso fundamental
wie diese, doch auch zugleich im Gegensatz zu ihr. Denn die übrigen
Seinsgegensätze sind rein konstitutiv und setzen ihrerseits die Intermodal
Verhältnisse voraus. Die Kategoriengruppen der Modalität und
der Seinsgegensätze sind somit nicht durch einen eigentlichen Höhenunterschied
im Sinne der Schichtung voneinander abgehoben, sondern stehen nebeneinander
und dürfen als einer Schicht zugehörig angesehen werden. Genauer:
sie stehen in einem nicht näher angebbaren Rangverhältnis zueinander.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 27 |
Diese eigentümliche Stellung der Modalkategorien ist für
sie tief charakteristisch. Sie bilden eine Art Grenzgebiet von engerer
und eigentlicher Ontologie und engerer Kategorienlehre. Sie sind wohl
Kategorien, aber Kategorien der reinen Seinsweise. Das Kernstück
der Ontologie bilden sie insofern, als fast alles, was wir vom »Seienden
als Seienden« in dieser Allgemeinheit wissen, ein Wissen auf dem
Umweg über die Modalanalyse ist. Aber sie sind zugleich auch Grundlage
aller kategorialen Bestimmtheit. In ihnen also gerade, als dem Unfaßbarsten
beider Lehrgebiete, wird deren Einheit unmittelbar faßbar.
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 27 |
Wie alle Erkenntnis weitgehend bedingt und getragen ist von dem
Verhältnis zwischen Erkenntniskategorien und Seinskategorien, so
gilt dasselbe in erhöhtem Maße von dem Verhältnis zwischen
den Erkenntnismodi und Seinsmodi
Paul
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938,
S. 28 |
Das erste Anliegen der Ontologie geht dahin,
die Frage nach dem »Sein als Seiendem« in ihrer vollen Allgemeinheit
zu klären sowie sich der Gegebenheit des Seienden grundsätzlich
zu versichern.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 1 |
Kategorienlehre ist ausschließlich Fundamentalontologie
(Fundamentalontologie als die Grundlehre vom Sein;
sie bezeichnet auch die in Heideggers 1927 veröffentlichten Werk
»Sein und Zeit« niedergelegten Ergebnisse seiner Untersuchungen
des Daseins [Menschens] zu dem Zweck, das Sein [als ein auch im Dasein,
einer sich selbst verstehenden Seienden Anwesendes], den Sinn von Sein
zu erschließen; sie zeigt, wie das Sein sich im Dasein kundgibt;
sie will die Grundlage aller Erfahrungswissenschaft sein; HB),
d.h. Forschung nach den allgemeinen Seinsfundamenten, die sich zwar auch
nach den Seinsschichten differenzieren, aber doch unterhalb der Besonderheit
jener Spezialgebiete bleiben. Die Kategorienlehre teilt mit der Mehrzahl
der Wissenschaften die ontologische Grundeinstellung der intentio recta.
Aber innerhalb des Seienden überhaupt, auf das sie gemeinsam mit
ihnen gerichtet ist, hat sie es doch nur mit dem Allgemeinen zu tun, auf
das alles speziellere Seiende basiert und von dem es abhängig ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 42 |
Darin liegen zwei Bestimmungen des Kategorienseins: die Allgemeinheit
und der Determinationscharqkter. Der letztere besagt eben dieses, daß
Kategorien das konkrete Seiende irgendwie »bestimmen« oder,
was dasselbe ist, daß sie dasjenige sind, wovon es »abhängig«
ist. Dieser zweite Grundzug der Kategorien ist es, was sie zu »Prinzipien«
macht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 42 |
Ein Prinzip ist nicht etwass für sich; es ist das, was es
ist, nur in Beziehung auf ein Korrelat, das »Concretum«. Unter
dem Concretum aber ist der Spezialfall zu verstehen, nicht so sehr als
das Einzelne und Einmalige (das wäre bloß der Gegensatz zum
Allgemeinen), sondern als das allseitig bestimmte, in sich komplexe Gebilde,
das unzählige Momente umfaßt und nur in deren Miteinandersein
besteht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 42 |
An der Korrelation von Prinzip und Concretum eröffnet sich
eine Möglichkeit, das Wesen der Kategorien näher zu bestimmen.
Sie lieget in der Analyse des Verhältnisses selbst. Denn dieses Verhältnis
ist ein eigenartiges, keinem anderen vergleichbares.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 42 |
Faßt man die ganze Geometrie als eine ienzige große
Exposition des Raumwesens auf, so ist das Erste der Exposition nicht das
Erste und Fundamentalste des Raumes, sondern ein Sekundäres und Abhängiges.
Die Axiome aber, zu denen sie fortschreitet, stehen dem Ersten bereits
ganz nah. Der Euklidische »Beweis« ist in Wahrheit gar nicht
Beweis - des Beweises würde es für ohnehin Evidentes nicht bedürfen
-, sondern die Rekonstruktion der ontisch idealen Abhängigkeit selbst,
wie sie durchgehend vom Fundamentalen zum Sekundären waltet. Der
Beweis folgt der ratio essendi (die sich mit den
Gründen des Seins beschäftigt; HB), während der
Erkenntnisweg ihr entgegen läuft. - Das bestätigt sich auch
geschichtlich, sofern die Axiome später gefunden worden sind als
jene Gruppe mittlerer Theoreme. Und eine noch schlagendere Probe auf das
Exempel ist der überhaupt erst spät ausgebrochene Streit um
die Axiomatik, während das Speziellere im großen Ganzen unbestritten
dasteht. Das kategoriale Grundwesen des Raumes aber, das noch außerhalb
der Axiome steht, wird in der Geometrie nur ganz sekundär und mittelbar
berührt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 55-56 |
Das komplizierte Verhältnis, das ... zwischen den drei Arten
von Kategorien - denen des Realen, denen des Idealen und denen der Erkenntnis
- waltet, bildet eines jener Grundprobleme der Erkenntnis, die erst von
der ontologischen Kategorialanalyse her eine grundsätzliche Klärung
erwarten können.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 59 |
Beim näheren Zusehen ... macht sich die Divergenz von Real-
und Idealkategorien auch schon in den Grenzen des Erkennbaren geltend,
wennschon sie unauffällig bleibt und der besonderen Aufweisung bedarf.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 60 |
An der Zeit haben wir das Beispiel einer reinen Realkategorie,
der unter den Idealkategorien nichts entspricht, was ihr irgend vergleichbar
wäre. .... - Die Zeitlichkeit bildet somit eine klare kategoriale
Grenzscheide des Realen und des Idealen, und ebendamit auch eine solche
ihrer beiderseitigen Kategoriensysteme. Die Idealkategorien enthalten
das Prinzip der Zeit überhaupt nicht. Unter den Realkategorien aber
ist dieses Prinzip eines der durch alle Stufen und Schichten hindurchgehenden
Grundmomente, über dem sich erst die spezielleren Formen des Realen
erheben: das Werden, die Beharrung, die Folge, der Prozeß - und
so fort bis zu den höchsten Erscheinungen des Menschenlebens und
seiner Geschichte.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 63 |
Ausgehend von den einfachsten Beobachtungen der Akustik (Verhältnis
von Saitenlänge und Tonhöhe) und der Berechenbarkeit gewisser
Bewegungen am Himmel, kamen die alten Pythagoreer zu dem berühmten
Satz, die Zahl sei das Prinzip der Dinge. Eine Entdeckung ersten Ranges
liegt dieser Tiefe zugrunde, ein erstes, ahnungsvolles Wissen um die gewaltige
Rolle der mathematischen Verhältnisse im Aufbau der physischen Welt.
Aber der kaum geborene Gedanke blieb dabei nicht stehen, er griff sofort
über auf »alles Seiende«, d.h. auf die ganze reale Welt:
alles sollte in Zahlenverhältnissen bestehen, auch das menschlich-seelische
Sein, einschließlich der Tugend und der Gesetze des Staates. Aus
der Entdeckung der mathematischen Kategorien im Kosmos wurde ohne weiteres
ein universaler Mathematizismus.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 87 |
Diese ungeheuerliche Grenzüberschreitung blieb an den Naturtheorien
haften, die in der Neuzeit das mathematisch fundierte Weltbild zur Durchführung
brachten. Uwar sind die Grenzüberschreitungen hier im allgemeinen
weit vorsichtiger, aber sie verschwinden nicht ganz; und wenn ein heutiger
Positivismus im Ernst definiert »wirklich ist, was meßbar
ist«, so liegt dem Anspruch nach darin noch immer dieselbe Maßlosigkeit
der Verallgemeinerung. Es ist sehr verständlich, daß die großen
Erfolge der mathematischen Naturwissenschaft eine Expansionstendenz heraufführen,
die schon durch die bloße Trägheitskraft der Denkgewohnheit
auf Gebiete wie die Physiologie, die Psychologie oder die Soziologie übergreift.
Aber die Folge ist ein ungeheures Mißverhältnis zwischen Prinzip
und Concretum, ein verhängnisvolles Vorbeisehen am Wesentlichen und
Eigentümlichen der höheren Seinsphänomene, ein immer ungünstiger
werdendes Verhältnis von Erkennen und Verkennen in den zugehörigen
Wissenschaftszweigen und schließlich der Zusammenbruch ganzer Theorien.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 87 |
Schon das Naturgeschehen und die materielle Dinglichkeit selbst
sind weit entfernt, in Größenverhältnissen allein aufzugehen.
In den Qualitäten, Abhängigkeiten und Gesetzlichkeiten, selbst
soweit sie wirklich mathematisch aufgebaut sind, stecken doch stets noch
andere Faktoren. Sie lassen sich nicht rein in Zahlen und Formeln auflösen.
Dere Gegensatz solcher Grundmomente wie Masse, Strecke, Zeitdauer, Geschwindigkeit,
Kraft, Widerstand, Trägheit, läßt sich nicht ins Quantitative
übersetzen; er gibt vielmehr allen irgendwie bestimmten quantitativen
Verhältnissen erst ihren Sinn. Und das heißt, erst als Verhältnisse
dieser Grundmomente können sie als Realverhältnisse gelten.
Denn gerade als bloß quantitative Verhältnisse, ohne Substrate
der Quantität, können sie das nicht. Das »rein mathematische«
Verhältnis als solches ist ein leerlaufendes Verhältnis und
steht windschief zur realen Welt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 87 |
Vollends anderer Natur ist aber schon die Welt des Lebendigen.
Hier sinkt das Qunatitative zu einem gfanz untergeordneten, nur noch die
Aufbauelemente mitbestimmenden Moment herab. Es verschwindet nicht ganz,
aber das Eigentümliche des organischen Lebens, sein Novum dem Leblosen
gegenüber, bleibt von ihm unberührt. Es hat andere, eigene Kategorien.
Und je weiter hinauf man steigt in die Regionen des seelischen und geistigen
Seins, die sich über dem Organischen erheben, um so mehr verschwindet
der Einschlag des Quantitativen, und um so auffallender wird das Mißverhältnis,
das die Verallgemeinerung der mathematischen Prinzipien heraufbeschwört.
Der Anspruch, ein Concretum von der Seinshöhe geistigen Lebens mit
so inhaltsleeren Kategorien zu bewältigen, sinkt zur Lächerlichkeit
ab.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 88 |
Der geschilderten Grenzüberschreitung des Mathematischen
verwandt ist eine ganze Reihe ähnlicher Versuche. Der bei weitem
bekannteste ist der sog. Materialismus. Hier liegt der Nachdruck nicht
auf der Berechenbarkeit, sondern auf den Substraten der Dingsphäre
und ihrer Mechanik, aus solchen Kategorien wie Materie, Bewegung, Kraft,
Energie. Auch hinter dem Materialismus steht eine ganz schlichte, in sich
vollkommen berechtigte Theorie des materiellen Seins; in dieser sind solche
Katgeorien wie die oben genannten in der Tat die maßgebenden. Ein
»Materialismus« wird aus ihr erst durch die Grenzüberschreitung,
d.h. dann, wenn man organisches und seelisches Leben oder gar Phänomene
des Denkens und Wollens mit Kategorien dieser Art bewältigen will.
So oft dieser Versuch unternommen wurde, ist er gleich in den Anfängen
stecken geblieben; er kann es über ein leeres Postulat - resp. über
einige sehr allgemein und unbestimmt gehaltene Andeutungen - nicht hinaus
bringen. Denn bei jedem näheren Eingehen auf die Phänomene zeigt
sich sofort, daß sie so nicht faßbar sind; sie werden entweder
verleugnet oder verkannt. Und die immer wiederkehrende Konsequenz ist
denn auch tatsächlich die entsprechende Problembeschränkung,
die Einengung der Welt auf materielles und dem Materiellen ähnliches
Sein.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 88 |
Ähnlich, wiewohl weniger grotesk, ist die Verirrung in jeder
Art von Biologismus - einerlei ob er mehr organologisch oder evolutionistisch
aufgezogen wird -, ja sogar im Psychologismus. Hier sind die Ausgänge
freilich höher hinauf verlegt; die Kategoriengruppe, die zugrundegelegt
wird, steht der Seinsordnung nach dem Geiste näher. Aber sie ist
und bleibt ihm doch heterogen und äußerlich. Kategorien des
Organischen können die Bewußtseinsvorgänge ebensowenig
meistern, wie Kategorien des Seelischen das Ethos, das Denken, die Erkenntnisfunktion
oder gar soziale und geschichtliche Verhältnisse meistern können.
Daß psychologische Erklärungen vor den Phänomenen der
letztgenannten Art versagen, ist eine sehr junge Einsicht; erst um die
letzte Jahrhundertwende hat intensive kritische Arbeit den Fehler des
Psychologismus wirklich aufzudecken vermocht. Und wenn auch die damaligen
Argumente (etwa die Rickerts und der Brentanoschüler [zu
denen übrigens damals auch der junge Heidegger gehörte; HB])
nicht eben in jeder stichhaltig waren, so reichten sie doch aus, die charakteristische
Grenzüberschreitung greifbar zu machen, deren sich die Psychologie
mit ihren Methoden schuldig gemacht hatte, legt ein beredtes Zeugnis von
der Trägheitskraft des bekämpften Vorurteils ab.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 88-89 |
In den angeführten Beispielen besteht die Insuffizienz der
vorgeschobenen Kategorien überall darin, daß diese von ontisch
niederer und strukturell inferiorer Art sind. Sie können ein Seiendes
der höheren Ordnung nicht tragen, weil sie inhaltlich nicht an seinen
Bestand heranreichen. Es gibt aber auch die umgekehrte Heterogeneität,
die im Herantragen von Kategorien höherer Seinsstufe an das Concretum
der niederen besteht. Das ist eine andere Variante der Grenzüberschreitung,
ein anderer Typus desselben Grundfehlers; und in der Geschichte der Metaphysik
ist er sogar der bei weitem mehr verbreitete.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 89 |
Es ist auch leicht einzusehen, warum er der vorherrschende ist:
Kategorien höherer Ordnung könne sich am Seienden niederer Ordnung
nicht so leicht als insuffizient erweisen. Sie sind eben reicher und tragfähiger;
und wenn es nur auf inhaltliches Zureichen allein ankäme, so wäre
eine solche Übertragung überhaupt kaum anzufechten. Deswegen
hat die Grenzüberschreitung »nach unten zu« von vornherien
die größere Chance, ein einheitliches Weltbild zu ergeben.
Sie gerät auch nicht so leicht in Konflikt mit den Phänomenen.
Nur eine gewisse Willkürlichkeit haftet ihr auf den ersten Blick
an. Eigentliche Kritik aber erfährt sie erst dann, wenn die eigenen,
autochthonen Kategorien der niederen Seinsstufe entdeckt werden und die
von oben her auf diese übertragenen höheren Kategorien sich
hier als überflüssig erweisen. Die Grenzüberschreitung
selbst aber ist die gleiche wie der umgekehrten Richtung; der Widersinn
der kategorialen Heterogeneität ist derselbe.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 89 |
Von dieser Art ist z.B. aller Idealismus, insofern er aus Kategorien
des Subjekts - aber auch der Vernunft, des Geistes, des Bewußtseins
- die Strukur und Seinsweise aller Gegenstände, also der ganzen übrigen
Welt verstehen will. Die Vergewaltigung der Dingwelt ist hier besonders
spürbar, weil ihre selbständige Realität aufgehoben und
sie selbst als eine Vorstellungs- oder Erscheinungswelt in das Bewußtsein
hineingenommen wird. Ob der Idealismus sich dann weiter als einen subjektiven
oder objektiven, einen transzendentalen oder logisch absoluten bezeichnet,
das macht an der Grenzüberschreitung selbst keinen Unterschied mehr.
Die Kategorien eines transzendentalen Subjekts sind um nichts weniger
Subjektkategorien als die eines empirischen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 89-90 |
Ähnliches gilt von mancherlei verwandten Systemtypen. So
gibt es einen Personalismus, der alle Sachgebiete nach Analogie personaler
Wesen zu verstehen sucht. Sehr bekann ist die Sachlage im Pantheismus,
der die Gebilde der Natur bis zu den niedersten herab als Modifikationen
eines göttlichen Urwesens gelten läßt und damit die Kategorien
dieses Urwesens (meist als allumfasende Vernunft verstanden) auf sie übertraägt.
Auch die Monadenlehre zeigt ein ähnliches Schema; sind doch in ihr
die Substanzen alle, auch die Elemente der Materie, nach Art des seelischen
Seins gemeint.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 90 |
Aber nicht nur die großen Systemtypen der Metaphysik gehören
hierher. Es gibt auch gewisse mehr unterirdische Vorurteile, die fast
unbemerkt hinter den bewußt verfochtenen oder umstrittenen Hauptthesen
der Weltbilder stehen, aber eben deswegen von um so größerer
Zähigkeit sind. Unter diesen darf der Teleologismus - die Ansicht,
daß die Welt in allen ihren Schichten von Zwecken beherrscht wird
- als eine typische Grenzüberschreitung »nach unten zu«
gelten. Diese Ansicht beherrscht in der Geschichte der Metaphysik die
Mehrzahl der großen Systeme, wiewohl sie oft in Formen auftritt,
die sie bis zur Unkenntlichkeit verdecken.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 90 |
Die Zweckkategorie gehört von Rechts wegen der Sphäre
des Menschen und speziell der des menschlichen Wollens und Handelns an.
Wenigstens wirklich aufweisen läßt sie sich nur hier. Übertragen
aber wird sie von alters her mit der größten Skrupellosigkeit
auf alles, was der Mensch anderweitig nicht zu erklären weiß
(d.h. dessen wirkliche Kategorien er nicht kennt). Versteht man nun etwa
Naturprozesse auf Grund der Zweckkategorie, so schiebt man ihnen eine
Zwecktätigkeit nach Art der menschlichen unter; man deutet nach Analogie
des eigenen Menschenwesens, Das läßt die Naturprozesse zwar
außerordentlich vereinfacht erscheinen, ihrer wahren Natur aber
wird es genau so wenig gerecht wie die alte mythische Vorstellungsweise,die
in den Bergen und Flüssen beseelte Wesen erblickte. Inhaltlich steht
die metaphysische Naturteleologie der mythischen Allbeseelung ja auch
noch ganz nah: es ist in beiden derselbe Anthropomorphismus, der das Weltbild
bestimmt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 90 |
So aber ist die Sachlage: alle ernsthafte Erforschung der Naturverhältnisse
muß ebensosehr mit der teleologischen Vergewaltigung aufräumen,
wie alle Geisteswissenschaft mit den Übergriffen naturalistischer
Anschauungen auf ihrem Gebiete aufräumen muß.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 90 |
Erkenntnisprinzipien sind sind Bedingungen der Erkenntnis. Aber
Bedingungen der Erkenntnis brauchen durchaus nicht selbst erkannt zu sein.
Die Gegenstandserkenntnis kann auf ihnen beruhen, ohne im sie zu wissen.
prinzipien apriorischer Erkenntnis brauchen also auch jedenfalls nicht
a priori erkannt zu sein. Dieses Verhältnis ist ein wohlbekanntes,
auch außerhalb der Erkenntnis. Das logische Schließen z.B.
beruht auf den »Denkgesetzen«, aber diese selbst brauchen
dem Schließenden nicht bekannt zu sein, auch nicht sofern er folgerichtig
nach ihnen verfährt. Erst die Logik entdeckt sie; aber das schließende
Denken wartet nicht auf die Logik. So wartet auch das Sprechen nicht auf
die Grammatik; es folgt den Gesetzen der Sprache, aber was weiß
sie nicht. So erkennt der Mensch durch seine Kategorien Dinge, aber ein
Wissen um die Kategorien braucht er deswegen nicht zu haben. Erst die
Erkenntnistheorie ist das Wissen um sie. Aber die Dingerkenntnis wartet
nicht auf die Erkenntnistheorie.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 117-118 |
An diesen Überlegungen wird der fehlschluß im Cartesischen
Argument sichtbar. Die simplices brauchen nicht a priori bekannt zu sein,
weil sie vielmehr gemeinhin in der komplexen Gegenstandserkenntnis überhaupt
unerkannt bleiben.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 118 |
Wahres Verhältnis des Apriorismus zu den Katgeorien. - Daß
dieser katgeoriale Apriorismus das Apriorische in der Gegenstandserkenntnis,
dessen Grundlage die Katgeorien bilden sollten, in unheilvoller Weise
zweideutig gemacht, ja geradezu der deductio ad absurdum preisgegeben
hat, ist merkwürdigerweise bis in die neueste Zeit kaum recht durchschaut
worden. Geschichtlich war indessen die Sachlage bereits im Kampf des Empirismus
gegen Desacrtes idea innata zur Spruchreife gelangt. Dind die obersten
Ideen »eingeboren«, so mußoffenbar auch das naive Bewußtsein
sie kennen, z.B. das des Kindes. Da aber hat man es leicht zu zeigen,
daß von solcher Kenntnis keine Spur sich aufweisen läßt.
Ein solches Argument mag populär sein, aber es trifft doch den Kern.
Der Irrtum Lockes und seiner Nachfahren war nur, daß sie damit die
Erkenntnis a priori überhaupt zu treffen meinten; in Wahrheit traf
es ausschließlich den »kategorialen Apriorismus«. Daß
ein naives Bewußtsein nichts von jenen »Ideen« weiß,
hindert es nicht, vermöge ihrer apriorische ERkenntnis von Gegenständen
zu haben. Bur daß es um die Ideen selbst, vermöge derer es
solche Erkenntnis hat, auch noch ein Wissen a priori habe, ist auf Grund
der von Locke aufgewiesenen Tatsache unmöglich.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 118-119 |
Was erfordert nun die Kategorienlehre in dieser Problemrichtung?
Das läßt sich jetzt unschwer in zwei Punkten angeben. Erstens
gilt es radikal zu scheiden zwischen der apriorischen Erkenntnis von Gegenständen
(als einer auf Kategorien beruhenden Erkenntnis) und der vermeintlichen
Apriorität der Kategorienerkenntnis selbst. Es ist neimals ein Schluß
von jener auf diese möglich. Beide haben überhaupt wenig miteinander
zu tun.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 119 |
Die apriorische Erkenntnis, die auf Katgeorien beruht, ist nicht
Erkenntnis der Kategorien, sondern stets nur Erkenntnis konkreter Gegenstände.
Und faßt man die letzteren Kantisch als Gegenstände der Erfahrung,
so läßt sich bündig sagen: aller Apriorismus ist beschränkt
auf Gegenstände der Erfahrung.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 119 |
Erkenntnis setzt ein unaufhebbares Gegenüber von Subjekt
und Objekt voraus; sie ist ihrem Wesen nach die bestimmt geartete Relation
zwischen ihnen, und die Relation setzt Spielraum voraus. Sie ist nur möglich
in der Zweiheit der Sphären; fallen beide in eins zusammen, so fällt
auch die Relation insich zusammen. Relation gibt es nur zwischen Nichtidentischem.
Identität ist Aufhebung der Relation.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 130 |
Die Strukturen des idealen Seins spielen wirklich die vermittelnde
Rolle zwischen Gedanken und Realität, am deutlichsten sichtbar im
logischen Einschlag der Erkenntnis. Sie müssen deshalb in der Tat
wenigstens teilweise mit denen des Denkens und gleichzeitig mit denen
des Realen zusammenfallen. Sonst könnte das Denken in seinen Schlußfolgerungen
das Reale nicht fassen. Ideale Gesetzlichkeit muß also wirklich
nach zwei Seiten die eigene Sphäre transzendieren - ins Denken hinein
und in die Realwelt hinein. Aber dieses Transzendieren braucht nicht durchgehende
Identität zu bedeuten. Und es darf auch gar nicht eine solche bedeuten.
Sonst wäre ein Alogisches im Reich des Realen nicht möglich.
Das Reale aber ist voll des Alogischen, noch weit mehr als des Unerkennbaren.
Die reale Welt ist so wenig durchweg logisch, wie sie durchweg mathematisch
ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 140 |
Der Raum z.B. ist nicht nur als Anschauungsform, sondern auch
als idealer (etwa als geometrischer) Raum nicht in jeder Hinsicht dasselbe
wie als Realraum.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 147 |
Erkenntnis ... stuft sich mehrfach ab; und von alters her hat
man gesehen, daß die Stufen genug Gegensätzlichkeit zeigen
können, um in Konflikt miteinander zu geraten. Aber nur alngsam und
im steten Kampf mit vorschnellen Deutungen ringt sich die Einsicht durch,
daß auch der Gegensatz dieser Stufen auf Verschiedenheit der kategorialen
Struktur beruht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 173 |
Bei Aristoteles ist eine solche hohe Stufenfolge im Erkenntnisgang
schon klar herausgearbeitet: Wahrnehmung, Erinnerung, Erfahrung und Wissen.
Diese Stufenfolge soll zeigen, wie sich von realtiv einfachen Elementen
der Gegebenheit aus durch das Einsetzen höherer (im wesentlichen
verbindender) Funktionen das eigentliche Wissen um die Sache herausbildet,
welches schon einen Einschlag von Selbstkontrolle hat und Anspruch auf
Wahrheit erheben kann. Sie ist früh zur philosophischen Tradition
geworden und in der mehrzahl späterer Theorien maßgebend geblieben.
Geschichtlich hinter ihr steht die ältere zweistufige Gliederung
von Wahrnehmung und Einsicht (aisqesiV und
nohsiV), die in der Vorsokratik herausgebildet
worden war. Sie entspricht der ältesten erkenntnistheoretischen Bestimmung,
welche besagt, daß Wahrnehmung allein über das Wesen der Dinge
nicht belehrt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 173 |
Zwischen diese offenbar extrem heterogenen Stufen hatte Platon
den Spielraum der Vorstellung oder meinung (doca)
gesetzt. Die Meinung bildet sich der Mensch, indem er über das Wahrgenommene
hinausgeht; darum unterliegt er mit ihr in erhöhtem Maße dem
Irrtum. Die Wahrnehmung mag subjektiv sein, aber sie ist unmittelbare
Gegebenheit und als solche nicht aufhebbar; in der Vorstellung dagegen
setzt eine relativ freie Tätigkeit der Meinungs-Bildens ein. Diese
Freiheit bringt die Vielheit der Meinungen mit sich, von denen bestenfalls
eine zutreffen kann. Darüber hinaus kann nur die Instanz der Sicherung
führen, und eine solche muß der Tendenz nach auf Gewißheit
gehen. Diese Instanz hat man von jeher im Aufdecken der Gründe gesucht.
Aber das ist Dache größerer Überschau. Das Auf-den-Grund-Gehen
und die Überschau machen zusammen - und zwar beide im Gegensatz zur
Meinung - den neuentdeckten Begriff der Wissenschaft aus (episthmh).
Das kritische Moment der Rechenschaft unterscheidet die Wissenschaft von
der Unverbindlichkeit der Vorstellung und Meinung.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 173-174 |
Selbstverständlich lassen sich diese Stufen weiter unterteilen.
Bestehen sie doch überhaupt nicht streng geschieden, sondern nur
durch unmerkliche Übergänge verbunden. Aber nicht darauf kommt
es hier an. Es ist auch nicht so wesentlich, ob man die Aristotelische
oder die Platonische Stufenfolge zugrunde legt, obgleich diese beiden
sachlich sehr verschieden sind (Empirie ist etwas ganz anderes als Meinung);
man kann statt dessen auch einer der neuzeitlichen Einteilungen folgen,
etwa der Kantischen, die zwischen Sinnlichkeit und Verstand die Einbildungskraft
einschaltet, und zwar mit einem deutlichen Einschlag von Anschauungscharakter.
Doch ist es mit dieser Anordnung schon mehr auf das Ineinandergreifen
der Funktionen abgesehen als auf eine Stufenordnung.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 174 |
Worauf es hier allein ankommt, ist vielmehr, daß es überhaupt
Stufenunterschiede innerhalb der Erkenntnis gibt. Denn steht nun jede
dieser Stufen unter ihren Kategorien, und hat jede von ihnen ein besonderes
Verhältnis zum Gegenstande, so wird das Verhältnis der Kategorien
verschiedener Erkenntnisstufen zueinander und zu den Seinskategorien von
großer Bedeutung. Und da es sich natürlich nicht um ganz verschiedene
Kategorien, sondern nur um partial verschieden handeln kann - denn sonst
wären die Stufen nicht vergleichbar und auch nicht ineinander überführbar
-, so läßt sich unschwer voraussehen, daß in gewissen
Fällen auch dieselben Kategorien verschiedenen Erkenntnisstufen angehören
dürften, nur in entsprechender Modifikation.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 174 |
Die logische Sphäre nähert sich mit ihren Gesetzen und
Strukturen der idealen Seinssphäre. Die psychische Aktsphäre
(gibt es eine »psychische Aktsphäre«
überhaupt? HB) dagegen ist ein Teilgebiet der Realsphäre;
wie denn die seelischen Akte (vorausgesetzt, »die
seelischen Akte« existieren überhaupt? HB) alle real
in der Zeit verlaufen und ihre besondere psychische Realität (gibt
es eine »psychische Realität« überhaupt? HB)
haben. Beide Sphären kommen nun aber für die inhaltliche Stufung
der Erkenntnis nicht in Betracht, denn beide sind keine objektiven Gegebenheitssphären.
Die psychische ist nicht objektiv, die logische nicht Gegebenheitssphäre;
jene ist überhaupt kein Reich des Inhalts, diese stellt im Erkenntnisverhältnis
nur ein Reich von Formen der Bearbeitung anderweitig gegebener Inhalte
dar.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 176 |
Reine Funktion der Vermittelung des Seienden an das Bewußtsein
ist nur die Erkenntnis. Und inhaltlich verstanden ist nur sie die Ausformung
des seinsrepräsentativen Bewußtseinsinhalt. Sie ist die Form,
in der wir um Seiendes wissen. Darum muß in der Diskussion dieser
Form als solcher (der kategorialen Erkenntnisstruktur) auch die Seinsstruktur
beurteilbar werden. Auch das freilich kann nur genähert gelingen,
aber doch in zeitlicher Näherung. - Und nur aus diesem Grunde sind
die Kategorien der Erkenntnis, und also auch die ihrer Stufen, von ontologischem
Gewicht; und nur darum müssen sie, wo nur irgend sie gesondert faßbar
werden, in die ontologische Kategorialanalyse hineingezogen werden. In
jedem anderen Betracht sind sie genau so partikulär wie die der übrigen
Teilsphären des geistigen Seins und können keine Sonderstellung
beanspruchen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 176-177 |
Die ontologische Haltung der natürlichen Weltansicht und
des praktischen Lebens geht unverändert und ohne Grenzscheide in
die wissenschaftliche Erkenntnishaltung über. Und von dort geht sie
ebenso unverändert in die philosophisch-ontologische Einstellung
über. Nur inhaltlich verschiebt sich das Bild.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 177 |
Die Welt ist nicht zweischichtig, sie ist zum mindesten vierschichtig.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 189 |
Daß im Aufbau der realen Welt eine Schichtung besteht,
ist an sich leicht einzusehen, es drängt sich dem unbefangenen Blick
geradezu auf. Es ist denn auch früh gesehen worden. Und nur deswegen
konnte sich der Schichtungsgedanke nicht unbehelligt durchsetzen, weil
ihm von jeher das Einheitspostulat des spekulativen Denkens entgegenstand.
Man hielt das klar Eingesehene nicht für das Maßgebende, weil
es die Welt aufzuspalten schien, und weil man nicht sah, wie man dem Zerfall
begegnen sollte. Denn daß eine Stufenordnung mit ausgeprägter
Grenzziehung gar keinen Zerfall zu bedeuten braucht, daß es auch
anders geartete Einheit im Aufbau der eralen Welt geben kann als die der
durchgehenden Gleichartigkeit, das gerade ist eine relativ späte
Einsicht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 190-191 |
Wirkliche Ursprünge des Schichtungsgedankens kann man ...
auf der Höhe der antiken Philosophie finden. Merkwürdigerweise
tritt er hier am besten ausgeprägt zunächst innerhalb des seelischen
Seins auf. Platons Lehre von den »drei Seelenteilen« ist eine
echte Stufenordnung mit klarer Überhöhung und Grenzziehung.
Eine untere Schicht, in welcher die Mächte der »Lust und Unlust«
herrschen, steht einer oberen, vernunftgeleiteten gegenüber; und
zwischen ihnen gelagert ist eine solche des Strebens (des Eifers und des
Mutes). Hier liegen geschaute Phänomene zugrunde, wenn auch vielleicht
einseitig erfaßte; aber sie sind durch keine spekulative Einheitstendenz
verfälscht. Und sie erweisen sich sogleich als fruchtbar durch ihre
rein funktionale Unterschiedenheit. Denn es zeigt sich, daß auch
im Ethos des Menschen und im Aufbau der politischen Gemeinschaft dieselben
Stufen wiederkehren: dort in den inhaltlich verschiedenen Arten des sittlichen
Verhaltens (der areth), hier in der Differenzierung
der »Stände« und ihren Aufgaben im Staate. Und auf beiden
Gebieten bleibt der Charakter der Schichtung mit ihren Niveauunterschieden
der Funktion erkennbar.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 191 |
Zu größerem Stile setzt die Seelenlehre des Aristoteles
diesen Gedanken fort. .... Deutlich erkennt Aristoteles das Verhältnis
dieser Stufen als ein solches der Überlagerung (also Schichtung).
Denn das ist sein Hauptargument, zu zeigen, wie immer die höhere
Stufe auf der niederen aufruht, ohne sie nicht bestehen kann, während
diese ohne die höhere sehr wohl besteht (in der Pflanze z.B. die
Vitalseele ohne Sinnlichkeit, im Tier die vitale und wahrnehmende Seele
ohne Vernunft); nicht weniger aber ist es ihm darum zu tun, daß
dennoch immer die höhere Stufe ihr eigenes, durchaus selbständiges
Prinzip hat. - In dieser Anordnung - man mag sie inhaltlich beurteilen,
wie man will - ist der Schichtungsgedanke bereits vollkommen ausgebildet.
Er ist nur noch nicht auf das Ganze der Welt bezogen. Denn das Seelische
ist selbst nur eine Seinsschicht im Stufenreich der Welt. Das Interessante
nun ist, daß Aristoteles das sehr wohl gesehen hat. Wir finden bei
ihm den Gedanken einer die ganze Welt durchziehenden Stufenordnung; man
muß sie sich nur in seinen Schriften zusammensuchen. Über der
schon spezialisierten Materie erhebt sich der »physische Körper«,
über diesem der »organische Körper«, die nächsthöhere
Stufe ist das »beseelte Lebewesen«, und dieses wird seinerseits
überhöht vom »politischen Lebewesen« (dem Menschen).
Aber auch mit ihm hört die Schichtung nicht auf. Der Mensch ist der
Vollendung der areth fähig, er erhebt
sich mit ihr wieder auf einen höheren Stand. Und auch die areth
erreicht in der höchsten dianoetischen Tugend noch einmal einen besonderen
Gipfel, den des rein geistigen oder schauenden Lebens. - Diese Stufenordnung
ist mit mancherlei Abänderungen in den Systemen des Mittelalters
mehrfach wiedergekehrt. Wenn man von ihrem letzten Gliede, das spekulativ
bedingt ist, absieht, so zeigt sie dieselbe natürliche Anlehnung
an unverrückbare Phänomengruppen wie die funktionalen Schichten
der Seele. Die vier Hauptstufen des physischen, organischen, seelischen
und geistigen Seins sind deutlich in ihr erkennbar. Am wenigsten einheitlich
tritt noch das Seelische hervor. Durchaus phänomenengerecht aber
ist die Mehrstufigkeit des Geistigen erfaßt, soweit sie sich angedeutet
findet.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 191-192 |
Eine phänomenengerecht angelegte Kategorienlehre muß
... in der Stufenfolge der Kategorien selbst die entsprechenden Einschnitte
aufweisen. Was wiederum bedeutet, daß sie es mit einer den Schichten
des Realen parallel laufenden Schichtenfolge der Kategorien zu tun hat.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 195 |
Die drei Einschnitte in der Stufenfolge der realen Welt. ....
Solcher Einschnitte nun gibt es im Aufbau der realen Welt nur drei. Ihrer
muß man sich vor allem weiteren versichern. Man kann das freilich
nur tun, idem man bereits die grundlegenden kategorialen Aufbaumomente,
die an diesen Punkten ansetzen, heraushebt.
1. |
Der bei weitem sichtbarste Einschnitt
ist derjenige, welcher der alten Scheidung von Natur und Geist zugrunde
lag. Er ist nur durch diese Scheidung ungenau bezeichnet; denn das
Physisch-Materielle und das eigentlich Geistige sind Seinsgebiete,
die ohnehin weit auseinanderliegen, dicht aneinander aber rgenzen
die Bereiche der organischen Natur und des Seelischen. Zwuschen
diesen beiden aber, obgleich sie im Menschenwesen aufs engste verbunden
sind (wenn sie es sind! HB),
klafft der Hiatus der Seinsstruktur. Denn das Organische, einschließlich
des subtilen Systems der Prozesse, in dem es besteht, ist noch ein
räumliches und materielles Gefüge; die seelischen Vorgänge
und Inhalte sind etwas ausgesprochen Unräumliches und Immaterielles.
Und diesem Gegensatz entspricht die Andersheit der Gegebenheit:
die dinglich-äußere Gegebenheit des räumlich Lokalisierten
und die innere Selbstgegebenheit der seelischen Akte (gibt
es »seelische Akte« wirklich? HB) als der dem
Subjekt selbst eigenen und zugehörigen. .... |
2. |
Einen ähnlichen Einschnitt haben
wir weit unterhalb der psycho-physischen Grenzscheide (sofern
sie wirklich »psycho-physisch« ist! HB)
zwischen der leblosen Natur und der organisch-lebendigen. Auch hier
hat sich die Wissenschaft viel um den Übergang bemüht;
immer wieder ist der Gedanke der Urzeugung des Lebendigen niederster
Stufe aus rein dynamisch-chemischen Verhältnissen aufgetaucht.
Seit man das Stufenreich des Lebendigen als Abstammungszusammenhang
verstehen gelernt hat, ist dieser Gedanke auch grundsätzlich
nicht abweisbar. Aber ein eigentliches Hervorgehen aus der Lebendigkeit
- mit ihren eigentümlichen Funktionen des sich selbst regulierenden
Stoffumsatzes und der Selbstwiederbildung - aufzuweisen, ist nicht
gelungen. Der Einschnitt also bleibt bestehen. Ja, man möchte
hinzufügen: auch wenn sich das Kontinuum der Formen einmal
als über ihn hinweggehend erweisen sollte, so würde er
doch in dem Sinne bestehen bleiben, daß mit dem Beginn der
Lebensfunktion eine eigene Gesetzlichkeit dieser Funktionen einsetzen
müßte. Damit aber kommt man gerade darauf hinaus, daß
von dieser Grenze ab aufwärts eine andere - und zwar höhere
- Kategoriengruppe zur Herrschaft gelangt. |
3. |
Und schließlich gibt es weit
oberhalb noch einmal einen Einschnitt von nicht geringer Tiefe.
Er scheidet das geistige Sein von dem der seelischen Akte (falls
es »seelische Akte« überhaupt gibt! HB).
Daß geistiges Leben etwas anderes ist als der Inbegriff psychischer
Vorgänge, hat man wohl von jeher gewußt; man war nur
immer zu schnell geneigt, sein Wesen im rein Ideenhaften zu erblicken,
und so konnte man in ihm keine Seinsstufe des Realen erkennen. Auch
wirkte hindernd das alte Vorurteil nach, Realität käme
nur dem Dinglichen zu. Es ist eine späte Einsicht, daß
alles Zeitliche Realität hat, auch wenn es weder räumlich
noch materiell ist. In der Tat sind die verschiedenen Gebiete des
Geisteslebens weit entfernt, ein bloß ideales Sein zu haben:
die Sprache (sie gehört aber nicht
nur der geistigen Schicht, sondern allen Schichten an!
HB), das Wissen, das Recht, die Sitte - sie alle haben ihr
geschichtlich-zeitliches Entstehen und Vergehen;sie gehen nicht
auf in den ideellen Normen oder Werten, denen sie folgen, sie teilen
deren Zeitlosigkeit nicht, sondern bestehen nur in ihrer Zeit und
nur geschichtlich realen Volksleben einer bestimmten Epoche. - Aber
dieses ihr zeitliches Sein ... ist ein der Art und Stufe nach anderes
als das der Aktvollzüge eines Bewußtseins, obgleich es
in den jeweilig lebenden Individuen die Aktvollzüge zur Voraussetzung
hat. Dieses Vorausgesetztsein hebt die Grenzscheide nicht auf, genau
so wenig wie das Vorausgesetztsein des Organischen im Seelischen
und das des Materiellen im Organischen jene anderen beiden Grenzscheiden
aufhebt. das Entscheidende vielmehr ist, daß oberhalb des
Seelischen beim Einsetzen des geistigen Lebens noch einmal eigene
Gesetzlichkeit einsetzt. Und das bedeutet, daß wiederum eine
höhere Schicht neuartiger kategorien sich den niederen überordnet. |
Es muß freilich gesagt werden, daß die genauere Begründung
der drei Einschnitte eine Aufgabe ist, die erst die Durchführung
der Kategorialanalyse erfüllen kann. Insonderheit gilt das von dem
zuletzt aufgeführten Einschnitt. Denn er ist in der Tat mit so allgemeinen
Andeutungen nur ungenau gekennzeichnet. In Wahrheit sind es nicht die
Phänomene des objektiven Geistes allein, sondern auch die des personalen
Geistes, welche oberhalb dieser Grenzscheide zu liegen kommen. Und hier
ist es nicht so einfach, die Unterscheidung durchzuführen; denn teilweise
sind es dieselben Bewußtseinsakte, die dem seelischen und geistigen
Sein zugleich angehören (ich
sage: nur [ausschließlich] dem geistigen Sein angehören!
HB). Aber die hier entstehenden Aporien zu lösen,
kann ohne die genauere Untersuchung der Aktphänomene nicht gelingen.
Diese Untersuchung aber läuft auf die Kategorialanalyse beider angrenzenden
Schichten hinaus.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 195-198 |
Von Schicht zu Schicht, über jenen Einschnitt hinweg, finden
wir dasselbe Verhältnis des Aufruhens, der Bedingtheit »von
unten« her, und doch zugleich der Selbständigkeit des Aufruhenden
in seiner Eigengeformtheit und Eigengesetzlichkeit. - Dieses Verhältnis
ist die eigentliche Einheit der realen Welt. Die Welt entbehrt bei aller
Mannigfaltigkeit und Heterogeneität keineswegs der Einheitlichkeit.
Sie hat die Einheit eines Systems, aber das System ist ein Schichtensystem.
Der Aufbau der realen Welt ist ein Schichtenbau. Nicht auf die Unüberbrückbarkeit
kommt es hierbei an - denn es könnte sein, daß diese nur »für
uns« besteht -, sondern auf das Einsetzen neuer Gesetzlichkeit und
kategorialer Formung, zwar in Abhängigkeit von der niederen, aber
doch in aufweisbarer Eigenart und Selbständigkeit gegen sie.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 198-199 |
Überhaupt muß gesagt werden, daß Schichten im
strengen Sinne nur die vier Hauptschichten des Realen sind. Das ist nicht
unwichtig für den Aufbau der realen Welt. Denn selbstverständlich
ist ihr Stufenbau im einzelnen ein viel ein mannigfaltigerer. Jede der
vier Hauptschichten ist in sich weiter abgestuft; aber diese Stufung ist
gespalten in parallele Stufenfolgen, ist also keine eindeutige Überhöhung;
sie zeigt auch keine kategorial scharfen Grenzstriche, sondern meist gleitende
Übergänge. Am bekanntesten ist diese Sachlage im Reiche des
Organischen, wo das Verhältnis der Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen,
Klassen eine ganz andere Mannigfaltigkeit als die von Schichten zeigt.
Und ähnlich ist es in den anderen Seinsschichten. Am größten
dürfte die Parallelschaltung verschiedener Stufungen in der Schicht
des geistigen Lebens sein. - Nicht verkennen darf man freilich, daß
in der weiteren Unterteilung der Hauptschichten neben anderen Verhältnissen
auch noch einmal eine gewisse Schichtung vorkommt. So bildet im Reich
des Organischen der Unterschied der Einzelligen und Vielzelligen ein unverkennbares
Schichtenverhältnis; und ähnlich ist es im Reich des geistigen
Seins mit dem Unterschiede des personalen und objektiven Geistes sowie
mit dem Gegensatz beider zum objektivierten Geiste. Aber auch alle solche
Verhältnisse bilden keine durchgehende Schichtung, sondern gleichsam
nur den Ansatz einer solchen. Im übrigen werden sie von einfacher
Stufung mit gleitenden Übergängen abgelöst.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 199-200 |
Zwischen einem Concretum und seiner kategorien besteht ein Verhältnis
steter Zugehörigkeit, in welchem die Kategorien die Rolle einer durchgehende,
das Gemeinsame in der Mannigfaltigkeit beherrschenden Determination spielen.
Wenn nun das Concretum der gesamten realen Welt einen Schichtenbau bildet,
so müssen die Schichten des Realen notwendig in entsprechenden Kategorienschichten
wiederkehren. Der Unterschied der Realschichten ist eben ein prinzipieller,
er muß also in ihren Kategorien enthalten sein. Deswegen aber braucht
die Schichtung der Kategorien ihrerseits mit der Schichtung des Realen
doch nicht einfach identisch zu sein.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 200 |
Und sie kann auch nicht einfach identisch mit dieser sein. Denn
erstens gibt es nicht nur kategorien des Realen, sondern auch solche der
übrigen Sphären. Und zweitens gibt es Kategorien von solcher
Allgemeinheit, daß sie sich nicht als einer bestimmten Realschicht
zugeörig auffassen lassen. Solche Kategorien sind geminsame Prinzipien
aller Schichten des Realen; sie bilden die einheitliche Grundlage der
gesamten realen Welt. Und ihre ontologische Bedeutung liegt darin, daß
sie die fundamentalsten Kategorien sind - das gemeinsame Fundament aller
kategorialen Besonderung, damit also auch aller Schichtung - und überdies
diejenigen sind, an denen die Einheit im Aufbau der realen Welt strukturell
greifbar wird. Sie sollen im folgenden Fundamentalkategorien heißen.
Sie machen den Gegenstand der »allgemeinen Kategorienlehre«
im Unterschiede von der »spezielleren« aus.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 200 |
Von diesen zwei Gründen der Nichtidentität ist der erstere
für das problem der Realkategorien ein nur äußeres Moment.
Denn er betrifft nur die Parallelstellung der Idealsphäre sowie die
der sekundären Sphären, sofern deren Kategorieen Abweichungen
von den Realkategorieen zeigen. Es handelt sich also dabei um eine kategoriale
Gesamtmannigfaltigkeit, welche in dieser Ausdehnung nicht mehr dem Nau
der Realwelt betrifft. Diese Geamtmannigfaltigkeit ist offenbar eine mehrdimensionale.
In ihr überschneidet sich die Mehrheit der Sphären mit der Folge
der Schichten. Denn die letztere kehrt auch in den verschiedenen Sphören
wieder.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 200-201 |
Von der idealen Sphäre, als einer solchen der Wesenheiten,leuchtet
das unmittelbar ein, obgleich ihre Selbständigkeit eine bedingte
ist. Es wurde aber bereits gezeigt, warum ihre Kategorien mit denen des
Realen nicht durchgehend zusammenfallen können (Kap. 3 und 4). Weil
aber Wesensstrukturen und Wesensgesetze die reale Welt durchziehen, so
bildet das Verhältnis ihrer Kategorien zu den Realkategorien auf
jeder Schichtenhöhe doch ein Problem, welches auch die reale Welt
betrifft, und zwar am meisten dort, wo die kategoriale Identität
bedier Seinssphären Grenzen zeigt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 201 |
Von noch größerem Interesse ist das kategoriale Verhältnis
der Erkenntnissphäre - einschließlich ihrer inneren Abstufung
(Kap. 18) - zur Realsphäre, obgleich die Erkenntnis dem Seienden
als Seienden äußerlich ist und zu seinem Aufbau nur insofern
gehört, als sie selbst ein Seinsphänomen der höchsten Realschicht,
des geistigen Seins, ist. Denn Ontologie ist nun einmal Wissen umd das
Seiende, und das Wissen ist Sache der Erkenntnis. Die Abweichung der Erkenntniskategorien
- einerlei ob sie solche der Wahrnehmung, der Anschauung, der Erfahrung
oder des Begreifens sind - bildet also ein Medium, durch welches hindurch
allererst die Realkategorien greifbar werden können. Die Ontologie
kann also die letzteren, auf die doch alles ankommt, nicht anders als
in ständiger kritischer Auseinandersetzung mit den von ihr selbst
(als einer Forschungsweise) mitgebrachten Erkenntniskategorien herauszuarbeiten.
Und dazu muß sie die Unterschiede, auf die sie stößt,
ins Bewußtsein heben. Denn der Erkenntnis in ihrer natürliche
Einstellung sind ihre eigenen Kategorien noch weit weniger bewußt
als die ihrer Gegenstände.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 201 |
Am geringsten in diesem Zusammenhange ist das Gewicht der logischen
Sphäre, deren kategoriale Momente sich auf wenige Gesetzlichkeiten
reduzieren lassen. Ihre Besonderheit spielt noch am ehesten bei den Fundamentalkategorien
eine gewisse Rolle, wei denn ihre Gesetzlichkeit auch der Allgemeinheit
und Inhaltsleere nach diesen am nächsten steht. Weiter hinauf verschwindet
sie so gut wie ganz aus dem Konzert der kategorialen Mannigfaltigkeit.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 201 |
Von weit größerem ontologischen Gewicht aber sit das
zweite Moment der Abweichung kategorialer Schichtung von der Schichtung
der realen Welt. Es liegt im Auftreten der Fundamentalkategorien. Da diese
ihrer Einfachheit und Allgemeinheit nach sich als die elementarsten erweisen
und als solche in den spezielleren Kategorien aller Realschichten enthalten
- oder vorausgesetzt - sind, so muß man sagen, daß in ihnen
sich die Folge der Kategorienschichten »nach unten zu« fortsetzt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 201-202 |
Denn in der Tat stehen sie der Rangordnung nach »unterhalb«
der Kategorien des Anorganischen. Es gibt also keine besondere Schicht
der reaeln Welt mehr, die ihnen zugeordent wäre. Oder, anders ausgedrückt:
die Schichten des Realen brechen nach unten zu mit dem Reich des Physisch-Materiellen
ab, die Schichten seiner Kategorien aber brechen an dieser Grenze nicht
ab, sondern erstrecken sich weiter abwärts. Freilich darf man sich
diese Fortsetzung nicht in der Weiese vorstellen, als hätten die
elementaren Kategorien nun überhaupt kein Concretum, auf das sie
bezogen wären; das würde einen Widersinn ergeben, denn es macht
das Wesen der Kategorien aus, daß sie nicht etwas »für
sich« sind, sondern nur etwas an und in einem Concretum, nämlich
»seine« Prinzipien. In der Tat fehlt ihnen das Concretum nicht;
es liegt nur nich wei bei den höheren Kategorien in einer einzelnen
Realschicht, sondern in allen Realschichten zugleich. Man kann das auch
so ausdrücken, daß die Schichten des Realen ihre Kategorien
nicht nur in den ihnen entsprechenden und speziell zugeordneten Kategorienschichten
haben, sondern stets zugleich auch in den gemeinsamen Fundamentalkategorien.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 202 |
Diese Verhältnis kompliziert die Sachlage freilich, macht
sie aber keineswegs undurchsichtig. Es liegt keinerlei Schwierigkeit darin,
daß ein und dasselbe Realgebilde zugleich sehr allgemeine und sehr
spezielle Prinzipien habe. Und vollends einleuchtend wird die »Unterhalbstellung«
der Fundamentalkategorien, wenn man sieht, in welcher Art diese den speziellen
Gebietskategorien zugrundeliegen, wie sie in ihnen die Rolle von einfachen
kategorialen Aufbauelementen spielen, die in die komplexen Strukturen
eingehen. Ihr Verhältnis zu den letzteren ähnelt dem Verhältnis
zu einem Concretum derartig, daß man in den höheren Kategorien
selbst bereits eine Art Concretum erblciken kann, auf welches sie bezogen
sind. Sie sind in diesem Sinne die Prinzipien von prinzipien. Und das
ist ein durchaus eindeutiges Verhältnis, in dem der Sinn des »Prinzipseins«
vollkommen gewahrt bleibt. Wie sehr dieses Verhältnis dem ganzen
Aufbau der Kategorienschichtung entspricht, kann hier freilich noch nicht
vorweggenommen werden. Das zu zeigen, gehröt zum Thema der »kategorialen
Gesetze«.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 202 |
Etwas anderes aber wird an der Eindeutigkeit dieses Verhältnisses
auch ohne nähere Analyse klar: dieses,daß wir es in den Fundamentalkategorien
mit echten, slebständigen Schichten von prinzipien zu tun haben,
welche vollständig die Schichtenfolge der Realkategorien anch unten
zu fortsetzen. Das Schichtungsverhältnis selbst nämlich sowie
die zugehörige Schichtungsgesetzlichkeit setzt sich in ihnen fort.
Sie zeigen zu den Kategorien der anorganischen Welt dasselbe Verhältnis
wie diese zu denen des Lebendigen und wie die letzteren zu denen des Seelischen
u.s.f.: wie immer sit die niedere Schicht die bedingende und tragende,
die höhere oder die aufruhende, in der gleichwohl die niederen Kategorien
zu bloßen Elementen einer hoch überlegenen Struktur herabgesetzt
sind. Dieses Verhältnis geht ohne Abänderung übert die
untere Grenze des Realen hinweg. Es verbindet also eindeutig die kategorien
des Materiellen, des Organischen u.s.f. mit den Fundamentalkategorien,
die kein Concretum besonderer Schichtenhöhe mehr haben. Es beweist
die Einheit und Homogeneität in der Schichtenfolge der Realkategorien,
auch gerade sofern diese sich gegenüber der Schichtenfolge der realen
Welt selbst als eine erweiterte zeigt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 202-203 |
Die drei erkennbaren Gruppen der Fundamentalkategorien.
....
1. ... Gruppe der Modalkatgeorien. Sie darf hier als bekannt vorausgesetzt
werden, weil ihre Untersuchung in extenso bereits vorliegt (dargelegt
in dem Werk »Möglichkeit und Wirklichkeit«, Berlin 1938,
welches den vorausgehenden Band zu dem gegenwärtigen bildet). Diese
Gruppe ist insofern prototypisch, als sie noch diesseits aller inhaltlichen
Besonderheit steht, nur die Seinsweise betrifft und deswegen wohl das
Sphärenproblem bestimmt, aber den Aufbau der Realwelt und alles Strukturelle
überhaupt noch unberührt läßt. Die Untersuchung hat
gezeigt, wie die sechs Modi (Möglichkeit,
Wirklichkeit, Notwendigkeit sowie Unmöglichkeit, Unwirklichkeit,
Zufälligkeit; HB) und ihre Intermodalverhältnisse
sich in den Sphären abwandeln, hat zur Bestimmung gebracht, was Realität
eigentlich heißt und wie sie sich vom idealen Sein als einem unvollständigen
unterscheidet, gleichwohl dieses aber in sich enthält. Sie hat darüber
hinaus noch die Kategorien der Determination herausgearbeitet und ihre
Begrenzung auf allen Gebieten des Irrealen aufgezeigt. Und an dem Beispiel
dieser Kategorie hat sie zugleich das innere Verhältnis von Modus
und Struktur (Seinsweise und Seinsbestimmung) ins Licht gerückt.
Die Konsequenzen erstrecken sich dementsprechend bis in die höchsten
Stufen des geistigen Seins hinauf; sie betreffen noch das Sollen und das
Ethos, das Erkenntnisverhältnis und die rätselvolle Seinsform
künstlerischer Werke. - Diese Untersuchung darf als die eigentlich
fundamental-ontologische gelten. Sie macht durch ihre methodische Schwierigkeit
und Eigenart eine besondere philosophische Disziplin aus. Sie mußte
deswegen von der »allgemeinen Kategorienlehre«, zu der sie
dem Thema nach gehört, abgetrennt und ihr vorweg durchgeführt
werden.
2. ... Gruppe von Elementarkategorien, die strukturellen Charakter haben
und durchgehend paarweise, in der Form zusammengehöriger Gegensatzglieder
auftreten. Von diesen Kategorien sind viele von alters her bekannt. Solche
Gegensätze wie Einheit und Mannigfaltigkeit, Form und Materie, Qualität
und Quantität, Continuum und Discretum gehören hierher (vgl.
S. 230; HB). Aber auch der Gegensatz von Struktur überhaupt
und Modus muß noch als Grenzverhältnis dazu gerechnet werden,
desgleichen Gegensätzlichkeit und Übergang (denn zwischen allen
Gegensätzen spannt sich eine Dimension möglicher Übergangsglieder),
System und Glied, Determination und Dependenz (vgl.
S. 230; HB). Ja selbst die Grundstruktur des kategorialen Seins
überhaupt, das Verhältnis von Prinzip und Concretum, ist ein
Elementargegensatz (vgl. S. 230; HB). ....
Diese Untersuchung ... hat den Vorzug, daß sich von jedem Gliede
der Gegensatztafel aus ein Durchblick durch den ganzen Schichtenaufbau
der realen Welt ergibt. Sie vermittelt also von den ersten Schritten ab
ain konkretes Bild dieses Aufbaus - und zugleich ein Bild des Kategorienreiches.
3. ... System »kategorialer Gesetze«, welche das Wesen des
Prinzipseins, die Kohärenz der Kategorien innerhalb einer Schicht,
die Überlagerung der Kategorienschichten und die in ihr waltende
Dependenz bestimmen. - Diese kategorialen Gesetze ... bilden eine weitere
Gruppe von Fundamentalkategorien. Sie bezeichnen zugleich in ihrer strukturellen
Artung als »Gesetze« einen dritten Typus von Kategorien überhaupt
- neben dem der »Modi« und dem der »Gegensätze«.
Zugleich aber geht ihre ontologische Bedeutung weit darüber hinaus.
Denn da Kategorien das Prinzipielle in einem Conctretum sind, das Concretum
in diesem Falle aber nichts Geringeres ist als der gesamte Aufbau der
realen Welt, so sind die kategorialen Gesetze nichts anderes als die Gesetze
eben dieses Aufbaues der realen Welt. Das bedeutet, daß an ihnen
erst sich die Überlagerung der Realschichten, einschließlich
des eigenartigen Wechselspiels von Abhängigkeit und Selbständigkeit,
klären kann. - In diesem Sinne darf man sagen, daß in den kategorialen
Gesetzen der eigentliche Schwerpunkt der allgemeinen Kategorienlehre liegt.
Und dem entspricht es, daß sie in gewisser Hinsicht auch fundamentaler
als die beiden anderen Kategoriengruppen sind; denn diese unterliegen
bereits den kategorialen Gesetzen, Aber eben weil es sich hier um die
entscheidenden Ordnungs- und Aufbauprinzipien handelt, muß die einschlägige
Untersuchung ans Ende gerückt werden. Sie ist ohne die konkrete Fülle
der Durchblicke, die sich an den Elementargegensätzen ergibt, nicht
durchzuführen. Sie bleibt daher dem »dritten Teil« der
allgemeine Kategorienlehre vorbehalten.
Fundamentalkategorien ... müssen - wenigstens grundsätzlich
- auch allen Sphären gemeinsam sein. Und da es für die Seinsverhältnisse
nur auf die Seinsphären, nicht auf die Sekundärsphären,ankommt,
so läßt sich vereinfacht sagen: Fundamentalkategorien müsen
dem realen und idealen Sein gemeinsam sein. .... Das ideale Sein ist gerade
dadurch am augenfälligsten vom realen unterschieden, daß es
kein zeitliches Sein ist, keinen Wandel, kein Entstehen und Vergehen,
keine Veränderung kennt. Es gibt in ihm Einheit und Mannigfaltigkeit,
Dimensionen und Gegensätze, Kontinuität und Diskontinuität,
Beziehung und Bezogenens, aber es gibt in ihm keinen Wandel. Ideales Sein
ist zeitloses Sein.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 203-206 |
Die Zeitlichkeit und die ihr verwandten kategorien sind also insofern
etwas weit Spezielleres und weniger Fundamentales - im Vergleich mit den
allgemeinen Elementargegensätzen -, als sie spezifische Realkategorien
sind. Sie setzen deshalb erst mit der untersten Schicht des Realen ein,
und ihr Hindurchgehen durch die höheren Realschichten hat einen ontologisch
anderen Charakter als das der Fundamentalkategorien.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 207 |
Eine eigenartige Rolle spielen in diesem Grenzverhältnis
noch die sog. Quantitätskategorien. Hierher sind nicht etwa alle
Grundmomente des Mathematischen zu rechnen, z.B. nicht die schon viel
spezielleren der geometrsichen Verhältnisse, welche sich auf dem
prinzip des Raumes aufbauen, wohl aber die allgemeinsten, welche das Reich
der Zahlen und der Mengen umfassen und damit die Grundlage der Größenverhältnisse
überhaupt bilden.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 207 |
Das Reich der Zahlen und aller mannigfaltigen Zahlverhältnisse
ist zwar ein echtes Concretum, das auf diesen Kategorien beruht und ihnen
unmittelbar zugehört, aber es ist kein »reales« Concretum.
Seine Seinsweise ist die der idealen Sphäre.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 207 |
Diesen Kategorien kann man den Charakter von Realkategorien nicht
absprecvhen, weil sie die niederste Schicht des realen Seins, die der
anorganischen Natur, ganz offenkundig beherrschen, ihre Gesetzlichkeit
durchdringen und sehr wesentlich mitbestimmen. Für die Wissenschaften
von der anorganischen Natur ist das von ausschlaggebender Bedeutung. Denn
gerade der quantitative Charakter in dieser gesetzlichkeit ist die am
besten erkennbare Seite an ihr. Ihm verdanken diese Wissenschaften ihren
vielgerühmten Charakter der Exaktheit, der ihnen in der Tat eine
hohe Überlegenheit über Wissenschaften anderer Art gibt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 207 |
Aber die Quantitätskategorien sind deswegen noch keineswegs
ohne weiteres Kategorien der Natur (wie sollten
sie denn auch? HB), genausowenig wie die reine Mathematik, die
sich auf sie gründet, eine Naturwissenschaft ist (wie
sollte sie denn auch? HB). Das Reich der Zahlen und aller mannigfaltigen
Zahlverhältnisse ist zwar ein echtes Concretum, das auf diesen Kategorien
beruht und ihnen unmittelbar zugehört, aber es ist kein »reales«
Concretum. Seine Seinsweise ist die der idealen Sphäre. Und dem entspricht
es, daß die die reinen Zahlverhältnisse - und zwar auch die
speziellen unter ihnen - von ganz anderer Allgemeinheit sind als die in
den Naturgesetzen enthaltenen. Vielmehr besteht hier ein klares Bedingungsverhältnis:
der mathematische Gehalt der Naturgesetze beruht auf der rein-mathematischen
Gesetzlichkeit, wennschon er keineswegs durch sie allein bestimmt ist,
d.h. er setzt sie voraus.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 207 |
Das ist nun offenbar ein Verhältnis des
»Aufruhens« (es sei denn, man nimmt,
statt »tragender« und »getragener« Schichten,
in zwei verschiedene Richtungen »Impulse« abgebende und empfangende
»Bereiche« innerhalb eines Kreises an, so daß jeder
Bereich sowohl Sender als auch Empfänger von Impulsen ist; HB).
Und daraus folgt - wenn man hier den genauen Begriff der Schichtung einsetzt
-, daß der Gegenstand der reinen Mathematik eine niedere Seinsschicht,
unterhalb der anorganischen Natur, also auch unterhalb des ganzen Schichtenbestandes
der realen Welt bildet (es sei denn, man nimmt in
zwei verschiedene Richtungen »Impulse« abgebende und empfangende
»Bereiche« an, gemäß der die Mathematik am Ende
und zugleich am Anfang des Kreises zu verorten ist, was u.a. bedeutet,
daß sie sowohl Sender als auch Empfänger von Impulsen ist;
HB). Wir haben es also im Gegenstandsgebiet der reinen Mathematik
mit einer Schicht des idealen Seins zu tun, welche unterhalb der Realschichten
steht (oder eben in der Draufsicht rechts und in
der anderen Sicht links des anorganischen »Feldes« steht,
d.h. Impulse einerseits empfängt und andererseits sendet; HB),
aber doch eine konkrete Mannigfaltigkeit eigener Art bildet. Die Kategorien
dieser Schicht haben somit die eigentümliche Stellung, daß
sie zwar den Realschichten gegenüber zu den Fundamentalkategorien
zählen müßten, dem besonderen Concretum nach aber, das
ihnen als das ihrige zugeordnet ist, auch wiederum nicht zu ihnen gehören
können. Denn Fundamentalkategorien eben sind solche, die auf das
Ganze des Schichtenbaues bezogen sind und kein besonderes Concretum haben.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 207-208 |
Auf das Ganze bezogen nun sind die Quantitätskategorien nicht
einmal unmittelbar. Von den Realschichten ist es eben doch nur die unterste,
die wirklich maßgebend von ihnen beherrscht wird. Schon im Organischen
wird ihre Rolle eine ganz untergeordnete, und weiter hinauf verschwindet
die mathematische Struktur vollständig. Das ist es, was sie von den
Fundamentalkategorien unterscheidet.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 208 |
Es läßt sich nicht vermeiden, daß das einfache
Bild der Kategorienschichtung, welches in den Fundamentalkategorien eine
direkt anschließende Verlängerung der Stufenfolge nach unten
erblickt, durch die Zwischenstellung der Quantitätskategorien einen
Riß bekommt (es sei denn, man nimmt in zwei
verschiedene Richtungen »Impulse« abgebende und empfangende
»Bereiche« innerhalb eines Kreises an, so daß z.B. die
Mathematik wie jedes andere »Feld« sowohl Sender als auch
Empfänger von Impulsen ist; HB). Aber man muß dem Phänomen
dieser Stellung Rechnung tragen, wird also schließen müssen:
es gibt eine Spielraum zwischen der unteren Grenze der den Einzelschichten
zugehörigen Realkategorien und den Fundamentalkategorien. Und dieser
Spielraum ist gleichfalls von gewissen Kategorien erfüllt. Ob die
quantitativen die einziegn sind, sie in ihn hineingehören, läßt
sich vor der Hand nicht entscheiden. Jedenfalls aber wird in ihnen eine
Gruppe greifbar, welche die charakteristische Zwischenstellung zeigt.
- Man muß diese Gruppe (der Quantitätskategorien;
HB) also noch in das Thema der allgemeinen Kategorienlehre hineinnehmen,obgleich
ihre Glieder keine Fundamentalkategorien sind.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 208 |
Ideales Sein ist unvollständiges Sein.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 209 |
Von den sekundären Sphären ist ... die der Erkenntnis
die bei weitem wichtigste. Die logische Sphäre spielt daneben nur
eine untergeordnete Rolle; sie kommt im Sphärenverhältnis nur
insoweit zu einer gewissen Geltung, als sie die oberen Stufen der Erkenntnis
mit ihrer Formgesetzlichkeit durchsetzt. Innerhalb der Erkenntnissphäre
dagegen kommen alle ihre verschiedenen Stufen in Betracht, insonderheit
der Gegensatz zwischen der untersten und der obersten, der Wahrnehmung
(anschaulichen Vorstellung u.s.w.) und dem eigentlichen Wissen (Begreifen).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 209 |
Erkenntnis nun ist ihrem Wesen nach ontologisch sekundär.
Sie setzt das Seiende, das ihr Gegenstand ist, schon als ihr Primäres
voraus; und dieses besteht unabhängig davon, ob sie es zu ihrem Gegenstande
macht oder nicht, wird auch von ihr nicht verändert. Zugleich aber
ist sie selbst ein Seiendes, nämlich ein Seinsverhältnis sui
generis, und kann nur in schon bestehenden Realzusammenhängen von
bestimmter Schichtenhöhe vorkommen. Sie kann nur entstehen in einem
Bewußtsein, das bereits über die rein seelischen Aktzusammenhänge
hinausgewachsen und auf die Höhe des objektiv Geistigen gelangt ist.
Erkenntnis ist eine spezifische Funktion des geistigen Seins. Sie gehört
also in den Schichtenbau des Realen hinein, gehört seiner höchsten
Schicht an, und muß, wenn man sie ontologisch verstehen will, aus
ihrer Einordnung in diese Seinsschicht heraus verstanden werden. Sie ist
also vom ganzen Schichtenaufbau des Realen getragen, in welchem stets
die höhere Schicht auf der niederen aufruht, bis hinab zum physischen
Materiellen. Sie ist also in ihrer Seinsart auch kategorial von unten
her bedingt, und zwar ebensosehr von den Fundamentalkategorien wie von
den niederen Realkategorien.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 209-210 |
Erkenntnis ist ihrem Wesen nach Zuordnung.
Sie ist es durch die Transzendenz der Relation, in der sie besteht. .... Wenn aber dies von »aller« Erkenntnis gilt, so ist damit noch
nicht gesagt, daß auch in aller Erkenntnis die Zuordnung die gleiche
sei. Sie ist vielmehr sehr verschieden je nach der Stufe der Erkenntnis;
und vor allem ist ihre Verscheidenheit durch den Gegensatz von Wahrnehmung
und Wissen (Begreifen) beherrscht. Das bedeutet, daß die Erkenntnis
auf zwei Grundtypen oder Arten der Zuordnung aufgebaut ist, in deren Widerspiel
sie sich bewegt. Und, um das Bild dieses Aufbaus vollständig zu machen:
der zweierlei Zurodnung entspricht auch zweierlei Zugehörigkeit.
Denn die Stufen der Erkenntnis, denen sie eigen sind, liegen innerhalb
des geistigen Seins so weit auseinander, daß sie auch im Schichtenbau
sehr verschiedene Höhenlagen haben. Das geistige Sein eben ist in
sich vielstufig. Die Wahrnehmung gehört in seine Niederungen, sie
steht dem bloß Seelischen noch nah; das Begreifen aber mit seiner
Beweglichkeit des Eindringens und seiner kritischen Selbstkontrolle zählt
zu den höchsten und reichsten Inhaltsgebieten des Geistes, und entsprechend
sind seine Funktionen von Grund aus anderer Art. Das Wesentliche aber
in dieser Andersheit ist die Art der Zuordnung.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 213-214 |
In der Wahrnehmung sind die einzelnen Sinnesqualitäten bestimmten
Eigentümlichkeiten des physisch Seienden zugeordnet. Dieser Typus
der Zuordnung ist wohlbekannt, wiewohl seine Funktion manches Rätselhafte
umschließt. Jeder Farbenton in der Empfindung entspricht einer Wellenlänge
des Lichtes, jede hörbare Tonhöhe einer solchen des Schalles.
Hier ist die vollste Unähnlichkeit der Bestimmtheit zwischen Seiendem
und Repräsentation. Aber die Zuordnung selbst ist eine feste, und
sie macht die Skala der Farben und Töne zu einem Beziehungssystem,
welches das an sich Gleiche unter gleichen Bedingungen auch stets als
gleich erscheinen läßt. In gewissem Sinne ist dieses die vollkommenste
Form der Zuordnung; ihr Nachteil besteht lediglich darin, daß es
nur sehr enge Ausschnitte aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit
der Seinsbestimmtheiten sind, die auf diesem Wege dem Bewußtsein
vermittelt werden.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 214 |
In sehr erweitertem Maße tritt die Zuordnung auf den höheren
Erkenntnisstufen auf. Aber sie hat hier einen ganz anderen Typus, besteht
in einer Beziehung von anderer Ordnung und Gesetzlichkeit. Sie setzt auch
nicht an den Einzelfällen des Realen ein, sondern an dem Allgemeinen
in ihm, an seiner Gleichartigkeit und Regelmäßigkeit. Sie hält
sich also an die Gesetze des Realen und letzten Endes an seine Kategorien.
Wir kennen ihr Grundphänomen als den apriorischen Einschlag der Erkenntnis.
Die Erkenntnis des Allgemeinen und der Gesetzlichkeit kann in weitestem
Maße durch Erfahrung - also letztlich durch Einzelfälle der
Wahrnehmung - bedingt sein; die Erhebung des Erfahrenen in die Allgemeinheit,
unter welcher dann wieder weitere Einzelfälle verstanden und gedeutet
werden, ist dewegen doch Sache des Apriorischen. Hier also hängt
alles daran, unter was für kategorien die Erkenntnis ihre empirischen
Gegebenheiten zusammenfaßt, versteht, interpretiert. Entsprechen
ihre Kategorien den Seinskategorien, so hat das entstehende Gesamtbild
des gegnstandes objektive Gültigkeit (Wahrheit); sind sie in wesentlichen
Stücken abweichend, so ist die Folge Verfehlung des Seienden, Irrtum.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 214 |
Dieses Verhältnis entspricht nun sehr genau dem Satz der
Erkenntnistheorie, daß die Dinge nur so weit a priori erkennbar
sind, als die Erkenntniskategorien mit Seinskategorien identisch sind.
Dafür, daß diese Identität auch wirklich ihre Grenze hat,
und daß die Grenze genau der Grenze der Erkennbarkeit der Gegenstände
entspricht, sind oben die Gründe angegeben worden (vgl. Kap. 12 b
- e). Ontologisch aber wird an diesem Verhältnis eine sehr merkwürdige
Eigenart des erkennenden Geistes sichtbar: das Wiederauftauchen der Seinskategorien
niederer Schichten im inhaltlich Strukturellen der geistigen Welt selbst.
So tauchen z.B. die Kategorien des Quantitativen im rechnenden Denken
wieder auf, desgleichen die Substanz, die Kausalität u.a.m. in der
Dingerfassung. Und nur weil sie im Geiste wiederkehren, gibt es apriorische
Erkenntnis desjenigen Seienden, dessen Realkategorien sie sind.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 214-215 |
Sie sind deswegen nicht etwa Realkategorien
des Geistes; die Erkenntnis als solche ist nicht etwas Quantitatives oder
Substantielles oder auch nur etwas in sich kausal Geordnetes. Der Geist,
und mit ihm die Erkenntnis, hat vielmehr seine eigenen, auf keinerlei
niederen Seinsstufen vorkommenden Kategorien. Dahin gehört vor allem
die höchst eigenartige Kategorie der Zuordnung selbst, deren Problem
uns hier beschäftigt. Aber auch einige andere lassen sich als wohlbekannt
aufzählen; so z.B. die sog. Objektivität des Inhalts, seine
Übertragbarkeit (Mittelbarkeit) von Subjekt zu Subjekt, seine Ablösbarkeit
vom tragenden Akt, seine Indifferenz gegen Subjekt und Akt, seine eigentümlich
schwebende Seinsform im objektiven Geiste u.a.m.. Das alles sind Realkategorien
des Geistes; sie alle zusammen - und es sind ihrer nicht wenige - machen
die Eigenart seines Seinscharakters aus.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 215 |
Dagegen kehren in seinem Inhalt die Kategorien der niederen Seinsschichten
wieder, nicht zwar als die seinigen, wohl aber als die der Erkenntnisgebilde
(Repräsentationen); denn diese sind die Gegenbilder der Gegenstände,
denen er als erkennender zugewandt (zugeordnet) ist. Erkenntnis ist, inhaltlich
verstanden, eine Sphäre objektiver Gebilde, welche das Ansichseiende
aller Schichten im Bewußtsein »darstellen«. Diese Gebilde
müssen, wenn die Repräsentation Erkenntniswert haben soll, die
gleichen Grundstrukturen aufweisen wie das repräsentierte Seiende.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 215 |
Darum muß das Wiederauftauchen auch der
niederen Seinskategorien am Inhalt der Erkenntnis als das Eigentümliche
des geistigen Seins angesehen werden, soweit wenigstens zum Wesen des
Geistes gehört, daß er Repräsentation der Welt, ein Bild
der Welt in der Welt selber, ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 215 |
Natürlich wird es bei dieser Sachlage notwendig, die am Inhalt
wiederkehrenden Kategorien von den Realkategorien des Geistes zu unterscheiden.
Das ist nun keineswegs schwer, die Kategorien selbst verraten ihr Wesen
an der eigenen Struktur, sobald man sie daraufhin ansieht. Der Raum z.B.
ist Inhaltskategorie der anschaulichen Dingerkenntnis; er muß am
Inhalt wiederkehren, weil er Realkategorie der Dinge ist, und weil Dinge
sonst in ihrer Räumlichkeit nicht erkennbar wären. Aber er ist
nicht Realkategorie der Erkenntnis; Erkenntnis als solche ist nicht räumlich,
sie ist nur als Dingerkenntnis dem Räumlichen zugeordnet, d.h. Erkenntnis
des Räumlichen. Darum kehrt der Raum in ihr als »Anschauungsform«
wieder - zwar nicht in voller Identität aller seiner Momente, wohl
aber doch soweit dem Realraum der Dinge angeglichen, daß diese vermöge
der Anschauungsform erfaßbar werden.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 215-216 |
Das ist ein im Grunde ganz unkompliziertes Verhältnis. Es
ist dasselbe in der Kausalität, am quantitativen Verhältnis,
am Gesetzescharakter des physischen Prozesses, an den Substratcharakteren
des Dinglichen. Sie alle gehören - wiewohl abgewandelt - zur kategorialen
Struktur des Inhaltlichen im erkennenden Geiste, sie kehren an dieser
Struktur wieder. Aber sie gehören nicht zur Eigenstruktur des erkennenden
und wissenden Geistes; dieser unterliegt nicht der Naturgesetzlichkeit,
enthält keine dingartien Substrate, funktioniert nicht nach dem Schema
von Ursache und Wirkung. Es bedarf durchaus keiner besonderen Kategorialanalyse,
um dieses einzusehen. Der Unterschied Realkategorien des Geistes und seinen
Inhaltskategorien ist ein so auffallender, unverkennbarer, beruht auf
so tiefer Heterogeneität, daß nur ein wissendes Verschließen
der Augen ihn übersehen könnte.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 216 |
Kompliziert und der besonderen Analyse bedürftig wird dieses
Verhältnis erst, wo eine und dieselbe Kategorie zugleich als Realkategorie
der Erkenntnis und als ihre Inhaltskategorie auftritt. Das gilt z.B. von
allen Fundamentalkategorien und wird an ihnen zu zeigen sein. Aber es
gilt auch von mehreren speziellen Kategorien, und an diesen wird das Auseinanderhalten
beider Arten des Prinzipseins schwierig. Gerade in solchen Fällen
aber liegt auf der klaren Unterscheidung ein besonderes Problemgewicht,
denn heir hat sich von jeher Verwirrung eingeschlichen. Es gehört
zu den wichtigsten Aufgaben der Kategorienlehre, diese Verwirrung zu entwirren.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 216 |
Als ein repräsentatives Beispiel für das doppelte Auftreten
einer Kategorie am Wesen der Erkenntnis und des geistigen Seins überhaupt
steht die Zeit da. Erkenntnis ist ein transzendenter Akt des Bewußtseins.
Die Transzendenz als solche ist hierbei etwas Zeitloses, aber der Aktcharakter
ist wie an allen Bewußtseinsakten etwas Zeitliches. Das letztere
gilt auch vom Fortschreiten der Erkenntnis, und zwar sowohl im Individuum
als das reifende Eindringen und Zulernen wie auch im geschichtlichen Erkenntnisprozeß,
in den alles persönliche Erkennen eingegliedert ist. Eines wie das
andere braucht zeit, läuft in der Zeit ab, ist ein zeitlicher Prozeß.
In diesem Sinne ist die Zeit Raelkategorie der Erkenntnis als solcher,
ebenso wie sie Realkategorie des in seinen Akten verlaufenden Bewußtseins
und des Geistigen Lebens überhaupt ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 216-217 |
Zugleich aber tritt die Zeit am Erkenntnisinhalt als Anschauungskategorie
auf, ja ebensosehr auch als Wahrnehmungs- und Erlebniskategorie. Denn
alles Reale, das wir erfassen, erscheint uns auch inhaltlich als ein zeitliches,
und zwar ohne Unterschied der Schicht, der es angehört. So nämlich
muß es sein, wenn wir die Realverhältnisse als das erfassen
sollen, was sie sind, als die in der Zeit entstehenden und vergehenden,
an bestimmte Dauer gebundenen, einmaligen und nicht wiederkehrenden. Die
Zeit als Anschauungs- und Erlebniskategorie ist also weit entfernt dasselbe
zu sein wie die Zeit als Realkategorie des Anschauens und Erlebens selbst
(der Akte). Das Bewußtsein mitsamt seinen Akten läuft in der
Zeit ab, aber es ist auch seinerseits ein Bewußtsein zeitlicher
Abläufe; und diese letzteren sind mit seinem eigenen Ablaufen nicht
identisch. Sie können z.B. vergangene Abläufe (Ereingnisse)
sein; das Bewußtsein aber, dem sie präsent sind, kann ein jetziges
sein. Auf eine kurze Formel gebracht: die Zeit, in der das Bewußtsein
abläuft, ist nicht die Zeit im Bewußtsein der Abläufe.
Und die Kategorienanalyse der Zeit vermag darüber hinaus auch noch
zu zeigen, daß die Zeit als Anschauungsform sogar strukturell etwas
anderes ist als die Realzeit, in der das Anschauen - zusammen mit allen
Bewußtseinsakten - vor sich geht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 217 |
Man sieht nun aber auch leicht, wie in dieser Verdoppelung der
Kategorien gerade das Wesen der Erkenntnis wurzelt; desgleichen wie an
ihr das Bilderspiel von Zugehörigkeit und Zuordnung sich spiegelt.
Durch die Wiederkehr der Realkategorien im Bewußtsein als Auffassungskategorien
wird die Zuordnung des Bewußtseinsinhalts zu Realgegenständen
verschiedener Schichten erst möglich. Durch ihr Bestehen an der Struktur
der Auffassungsakte selbst dagegen werden diese ihrerseits dem Schichtenbau
der realen Welt eingegliedert; und darin besteht ihre Zugehörigkeit
zu einer bestimmten Realschicht, an die sie gebunden bleiben, einerlei
welcher Schicht die Gegenstände angehören, auf die sie gerichtet
sind.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 217 |
Die Wiederkehr der Realkategorien am Inhalt der Erkenntnis betrifft
recht eigentlich das Verhältnis der Zuordnung. Und da an der letzteren
die Erkenntnisfunktion hängt, so ist es numher auch ontologisch verständlich,
warum die Erkenntnis die eminente Gegebenheitssphäre auch für
die Kategorialanalyse ist, obgleich der Erkenntnis ihre eigenen Kategorien
gemeinhin keineswegs »gegeben« sind (Kap. 11 a - d). Seinskategorien
werden, soweit sie überhaupt erfaßt werden, am »erkannten«
Gegnstande - genauer am Gegenstande, soweit er erkannt ist, - zugänglich.
Und das heißt, sie werden durch die Vermittelung ihrer abgewandelten
Wiederkehr in der Erkenntnis zugänglich.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 217-218 |
Alles Wissen des Philosophen um sie hängt an seinem Wissen
um die am Erkenntnisgebilde faßbar werdenden Strukturen des Gegenstandes.
Ncht daß sie hier als Erkenntnisk unmittelbar gegeben wären.
Daß es Erkenntnisk sind, lehrt vielmehr erst die Erkenntnistheorie.
Wohl aber ist das Gegestandsein, das dem Seienden als solchem äußerlich
ist, das Gebiet des Zuganges und der Erfaßbarkeit. Das Ansichseiende
ist gleichgültig gegen seine Objektion (sein Objektwerden für
ein Subjekt); es geht auch immer nur teilweise in die Objektion ein. Aber
in seinen Objiziertsein - soweit dieses eben reicht - ist es gegeben.
Und nirgends als in seinem Objiziertsein sind seine kategorialen Strukturen
zunächst faßbar. Erst von hier aus kann die Kategorialanalyse
die Differenzierung in Seinskategorien und Erkenntniskategorien vornehmen;
und auch das kann sie nur, sofern sie in derStufenfolge der Erkenntnis
selbst eine Konvergenz auf den ansichseienden Gegenstand bereits vorfindet.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 218 |
Auf diese Weise kommt das scheinbar Paradoxe zustande, daß
der methodische Wert der Erkenntnissphäre als einer kategorialen
Gegebenheitssphäre gerade auf der ontisch sekundären Relation
der Zuordnung beruht. Das spiegelt sich deutlich in der Stellung der Ontologie
als Wissenschaft. Sie gehört als Erkenntnisgebiet der Realschicht
des geistigen Seins an. Sie findet sich mitsamt der ganzen Erkenntnissphäre
als dieser Realschicht zugehörig vor; aber indem sie sich an die
Gegenstände der Erkenntnis hält - also der intentio recta, als
der natürlichen Einstellung der Erkenntnis, folgt -, hält sie
sich an das Verhältnis der Zuordnung und nicht an das der Zugehörigkeit.
Das heißt es, daß sie ihre Ansätze im Inhalt der Erkenntnis
findet. Denn dieser allein ist es, der dem Seienden aller Schichten zugeordnet
ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 218 |
Die Welt ist in allen Schichten voller Gegensätze, aber die
meisten von ihnen sind intisch sekundär und haben überhaupt
keinen Anspruch auf den Charakter von Prinzipien.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 223 |
Neben den bekannten Elementargegensätzen der Alten findt
sich ... in dieser (Kants; HB) Tafel der
Reflexionsbegriffe ein neuer, der von »Innerem und Äußerem«.
Er geht auf gewisse Unterschedungen Leibnizens am Wesen der Monade zurück,
und Leibniz selber fußte auf scholastischer Vorgängerschaft.
Diese Vorgeschichte bildet ein interessantes Thema für sich, muß
aber hier aus dem Spiel bleiben. Immerhin dürfte Kant zuerst den
kategorialen Charakter dieses Gegensatzes greifbar gemacht haben, obgleich
er ihm die Stelle nicht anwies, die er verdiente. Nach ihm hat dann hegel
eine ausführliche Exposition dieses sehr eigenartigen Gegensatzverhätnisses
gebracht; und erst dadurch dürfte die ganze Bedeutsamkeit, die ihm
anhaftet, ina Licht gerückt worden sein.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 229 |
Anschließend muß hier ein Wort über die Hegelsche
Dialektik selbst gesagt werden. Sie hat das fundamentalphilosophische
Verdients, eine Fülle von ontologischen Gegensatzstrukturen aufgewiesen
zu haben. Aber ihre spekulative Tendenz, jeden Gegensatz sogleich zum
Widerspruch zuzuspitzen, um ihn swodann in eine »höhere«
Synthese hinein »aufzuheben«, hat sie zugleich auch um den
Ertrag ihrer gewaltigen Leistung gebracht. Denn Gegensatz ist nicht Widerspruch
und kann auch auf keine Weise in Widerspruch umgestempelt werden. Einer
Synthese aber bedürfen die Seinsgegensätze nicht, weil sie durch
die Kontinuität der Übergangsdimension, die sich zwischen den
Extremen spannt, stets schon in ihrem eigenen Wesen zur Einheit gebunden
sind.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 229 |
Die Tafel der Seinsgegensätze. - Anordnung
der zwölf Gegensatzpaare. - .... Weder die Folge der Gruppen selbst
noch die Anordnung innerhalb ihrer hat den Sinn einer Rangordnung.
I. Gruppe:
1. Prinzip Concretum
2. Struktur Modus
3. Form Materie
4. Inneres Äußeres
5. Determination Dependenz
6. Qualität Quantität.
II. Gruppe:
7. Einheit Mannigfaltigkeit
8. Einstimmigkeit Widerstreit
9. Gegensatz Dimension
10. Diskretion Kontinuität
11. Substrat Relation
12. Element Gefüge.
Auf den ersten Blick scheinen die beiden ersten Gegensätze der ersten
Gruppe so fundamental zu sein, daß sie eine Gruppe für sich
zu bilden verdienten. Denn sie betreffen das Wesen der Kategorien überhaupt.
Bei näheren Zusehen aber zeigt sich, daß noch von einigen anderen
dasselbe gilt, z.B. von Form, Determination, Einheit, Gegensatz. Es liegt
also kein Grund vor, sie zu isolieren. Vielmehr dürfte an ihrer Zugehörigkeit
zu den Seinsgegensätzen zu ersehen sein, daß auch das Wesen
der Kategorien selbst sich erst aus den inneren Verhältnissen der
Seinsgegensätze heraus näher bestimmen läßt. - Solcher
Unstimmigkeiten fallen sehr viele auf. Die meisten stammen von den durchaus
falschen Vorstellungen her, die man von Kategorien überhaupt mitbringt.
So scheinen in derselben Gruppe der 5. und 6. Gegensatz zu speziell, weil
man bei Qualität an Dingeigenschaften, bei Quantität an Größen-
und Maßverhältnisse, bei Determination aber an den Kausalnexus
denkt. Es wird noch zu zeigen sein, daß diese Kategorien in der
Tat einen viel allgemeineren Sinn haben: daß z.B. solche gleichfalls
kategoriale Gegensätze wie der des Allgemeinen und des Einzelnen,
der Identität und der Verscheidenheit u.a.m. von der Elementarkategorie
der Qualität vollkommen umfaßt werden. Im übrigen wird
von Qualität und Quantität in einem besonderen Abschnitt zu
handeln sein (Vgl. IV. Abschnitt: Die Kategorien der Qualität, S.
352 ff., und V. Abschnitt: Die Kategorien der Quantität, S. 390 ff.),
und zwar gerade deswegen, weil sie die kategorialen Gebietstitel für
je eine ganze Untergruppe von Kategorien sind, die ihrerseits in Grenzstellung
zu den speziellen Schichtenkategorien stehen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 230 |
Der wichtigste dieser Einschnitte ist der zwischen dem organischen
und dem seelischen Sein.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 287 |
Man kann deswegen an einem solchen Einschnitt im Gegensatz zur
Überformung von einem Überbauungsverhältnis sprechen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 287 |
Auch an der Grenzscheide des seelischen und geistigen Seins sowie
innerhalb des geistigen Seins noch mehrfach, scheint die Reihe der Überformungen
unterbrochen zu sein. Die seelischen Akte (sofern
es sie gibt; HB) z.B. gehen in den objektiven Gehalt von Sprache,
Wissen, Recht, Kunst noch mit ein; das Geistesgut, obgleich getragen von
ihnen (sofern es sie gibt; HB), steht in
einer gewissen Schwebe, abgelöst von ihnen das; und so allein kann
es ein geistig Gemeinsames sein.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 287 |
Leibniz, der als erster die Kontinuität zu einem Grundprinzip
alles Seienden machte, hat unbeschadet seiner Azusgänge vom mathematischen
Infinitesimalverhältnis ihre universale Bedeutung auch zuerst erkannt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 304 |
Kontinuität ... liegt als Bedingung der Diskretion zugrunde,
während diese sich über ihr erhebt. Aber es wäre ganz irrig
zu meinen, daß deswegen die realen Reihen auch kontinuierlich wären.
Die Mehrzahl von ihnen ist durchaus diskontinierlich. Die Arten der Atome
- so wie das periodische System der Elemente sie zeigt - gehen nicht stetig
ineinander über, sondern sind in Sprüngen des Atomgewichts voneinander
abgehoben (dennoch läßt sich bei ihnen
auch Kontinuität feststellen; HB). Die Reihe der organischen
Formen, auch wenn man sie phylogenetisch verbunden versteht, ist kein
stetiger, sondern ein sprunghafter Formenzusammenhang; er verläuft
auch zeitlich nicht in minimalen Variationen und deren allmählicher
Steigerung, sondern ist wesentlich durch plötzlich auftretende größere
Mutationen bestimmt. Ja nicht einmal die physikalisch-energetischen Prozesse
verlaufen stetig, weil die Energieabgabe an Quanten gebunden ist, die
sich nicht mehr teilen. Diese Einsichten ... schließen
es natürlich keineswegs aus, daß es auch wirklich stetige Realprozesse
geben kann. Aber es scheint doch, daß rein kontinuierlicher Übergang
in den Realverhältnissen auf ein Minimum beschränkt bleibt (etwa
in der Elementarform der ein räumlichen Bewegung). Im Großen
gesehen stellt sich das Verhältnis jedenfalls so dar: wir haben es
mit einer durchgehenden kategorialen Priorität der Kontinuen zu tun,
aber zugleich mit einer deutlichen Vorherrschaft der Diskretion in der
Mannigfaltigkeit realer Abstufungsreihen und Formenketten, ja wie es scheint,
sogar der Prozesse. Das eigentliche Feld der Diskretion
liegt auf allen Gebieten in der Begrenztheit geschlossener »Gebilde«,
und zwar im Unterschied vom Fortlaufen der Prozesse, die bei aller Ungleichförmigkeit
und Sprunghaftigkeit immer noch ein Wesensmoment der Stetigkeit an sich
behalten. Nun gibt es aber auf den niederen Seinsstufen eine Vorherrschaft
der Prozese, auf den höheren dagegen, vom Organischen ab aufwärts
immer zunehmend, eine solche der Gebilde; zum mindesten nimmt der Formenreichtum
der letzteren in der Weise zu, daß die Prozeßformen von ihnen
überhöht und in ihrer Besonderung selbst von ihnen bestimmt
werden. Im Hinblick auf die Abwandlungen von Kontinuität und Diskretion
bedeutet das ein im Schichtenbau der realen Welt nach oben zu fortschreitendes
Übergewicht der Diskretion sowie ein entsprechendes Zurücktreten
der Kontinuität. Dem entspricht nicht nur die
zunehmende Komplexheit der Gebilde, sondern auch das Gewicht ihrer Individuation
und die gesteigerte relative Selbständigkeit. Schon der Organismus
hebt sich mit seinem Einzelsein und Einzelschicksal heraus aus dem Lebensprozeß
der Art. Das menschliche Individuum aber ist durch sein seelisches Innenleben
... nach außen ... absolut abgeschlossen. Sein Seelenleben mag nach
außen bezogen sein und von außen bestimmt sein, es selbst
geht doch nie in das ihm Äußere, auch nicht in fremdes Seelenleben
über. .... Weiter hinauf haben in der Sphäre des gemeinsamen
Geisteslebens haben wir zwar die Geschlossenheit der Geistesgebiete sowie
die der völkisch und zeitlich getrennten Menschengruppen. Aber die
Abgeschlossenheit ist nicht die gleiche; hier gibt es sehr wohl die Übergänge,
das Übergreifen und Ineinandergreifen. Überhaupt scheint es,
daß im Geistesleben wieder mehr Kontinuität ist als im seelischen
Leben. Das wird besonders einleuchtend, wenn man auf die Geschichtlichkeit
des objektiven Geistes hinblickt, der mit der Generation, die ihn trägt,
nicht stirbt, sondern sich weiter tradiert. Es stellt sich hier über
dem Wechsel der menschlichen Individuen die Kontinuität eines geschichtlich
geistigen Prizesses her, die nun ihrerseits das individuelle Geistesleben
überhöht und bestimmt. Denn so sind die kommenden und gehenden
Individuen in diesen Prozeß einbezogen, daß sie ihrerseits
erst das tradierte geistige Gut - Sprache (ist aber
mehr als nur »geistiges Gut«; HB), Sitte,
Recht, Wissen u.a.m. - hineinwachsen und erst dadurch auf die Höhe
des jeweiligen gemeinsamen Geistes gelangen. Diese
Sachlage ist anthropologisch ausschlaggebend, sofern sie allem Individualismus
der Persönlichkeit sehr enge Grenzen setzt - und zwar nicht aus ethischen,
sondern aus rein ontologischen Gründen. Wären Kontinuität
und Diskretion über alle Schichten des Realen gleich verteilt, so
stünde das menschliche Individuum mit seiner seelischen Einzigkeit
freilich ganz anders da. Nun aber ist der Mensch nicht seelisches Wesen
allein, sondern auch organisches und geistiges Wesen; oder, kategorial
ausgedrückt, er ist selbst ein geschichtetes Wesen. Seine Seinsfundamente
liegen im organischen Leben des Stammes, in dem er bloß ein Glied
der Kette ist, die in der Folge der Generationen über ihn hinauslebt.
Seine höhere Lebensgehalte liegen im geistigen Sein, und mit ihnen
steht er wiederum in einer Kette fortlaufenden geschichtlichen Lebens,
an die er gebunden ist un in der er nur ein zeitweilger, wenn auch vielleicht
aktiv sie bewegender Träger ist. Nur ... als seelisches Individuum
... steht er anders da: sein Seelenleben ist und bleibt eine Sphäre
für sich, ein Mikrokosmos, der sich bei aller Bedingtheit und Getragenheit
vom makrokosmischen Prozeß doch niemals mit ihm vermengt (spricht
nicht aufgrund dieser - und nicht nur dieser - Begründung der seelischen
»Sonderstellung« bzw »Sonderschicht« eine sehr
große Wahrscheinlichkeit dafür, daß es das Seelische
gar nicht gibt? HB). So ist in der Kette der
organischen Individuen Kontinuität. Hier schließt Leben an
Leben durch Zeugung und ständige Wiederbildung; der Zusammenhang
ist lückenlos, obgleich er durch die Periodizität der Generationenfolge
einer gewissen Gliederung, d.h. der Diskretion unterliegt. In der Seinsschicht
des Seelischen aber ist keine solche Kontinuität: das Bewußtsein
(sofern es überhaupt zum Seelischen und eben
nicht zum Geistigen gehört! HB) behauptet seine Einheit nur
innerhalb eines Menschenlebens, es entsteht in jedem Individuum von neuem
und geht in jedem wieder zugrunde. Ein allgemeines Bewußtsein über
dem der Individuen gibt es nicht; wie sehr auch die Metaphysik nach einem
solchen gefahndet hat, etwa ein »transzendentales Bewußtsein«
oder ein »absolutes Ich« postuliert hat, als real bestehend
hat sich etwas derartiges nie nachweisen lassen. Eine Stufe höher
aber, im geistigen Sein, ist wieder Kontinuität, und hier wird auf
allen Gebieten im geistigen Austausch und in der Gemeinschaft des geistigen
Gutes die Isolierung überbrückt. Der Geist
verbindet, wo das Bewußtsein trennt. Er verbindet auch dort, wo
das organische Leben nicht verbinden kann. Denn der geistige Inhalt vererbt
sich nicht - nur die Anlage vererbt sich -, aber er tradiert sich. In
der Kontinuität des vom geistigen Zusammenhang über die Generationen
hinweg zur Einheit gebundenen Gemeinschaftslebens speilt sich der große
Gesamtprozeß ab, den wir Geschichte nennen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 304-307 |
Das Bedingungsverhältnis ... ist nicht identisch mit dem
Determinationsgesetz; es ist in diesem stets nur ein Teilverhältnis.
Was noch hinzukommen muß, ist die Totalität der Bedingungen.
Sind die Bedingungen beisammen, so setzt ein Gesamtverhältnis ein,
das von anderer Art ist. Dieses Verhältnis ist das von zureichendem
Grunde und notwendiger Folge.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 310-311 |
Der »Grund« also, obgleich er nichts anderem als der
Vollzähligkeit der Bedingungen besteht, unterscheidet sich von diesen
eben dadurch, daß er wirklich determiniert. Sein Zureichendsein
ist identisch mit der Vollzähligkeit der Bedingungen. Der Satz vom
zureichenden Grunde besagt, daß für alles, was ist, die Reihe
der Bedingungen vollständig vorhanden ist, und daß auf Grund
dieser Vollständigkeit nichts Seiendes anders sein oder ausfallen
kann, als es ist. Dieses Gesetz, in voller Allgemeinheit verstanden, ist
ein universales Determinationsgesetz. Es würde besagen daß
in allen Sphären und Schichten totale und durchgehende Determiniertheit
waltet, und daß es nirgends in der Welt einen Spielraum des Zufälligen
gibt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 311 |
Die Modalanalyse hat gezeigt, daß dem nicht so ist. Es gibt
kein allgemeines Determinationsgesetz. Es gibt nur eine Gesetz der Realdetermination;
dieses besagt daß in der Realsphäre alles, was wirklich ist,
auch auf Grund einer vollständigen Bedigungskette notwendig ist.
Es besagt aber nicht, daß auch im idealen Sein oder gar in den sekundären
Sphären ein ähnliches Verhältnis durchgehender Determination
bestehe. Es besagt auch nichts über die besondere Art der Realdetermination;
aus ganz anderen Zusammenhängen heraus ergab sich erst, daß
jede Schicht des Realen ihre besonderen Determinationsformen hat.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 311 |
Nicht als gäbe es keine Determination
und keine Abhängigkeit in den anderen Sphären. Es gibt ihrer
schon mancherlei, aber es ist keine durchgehende Determination, sie ist
entweder sprachlich oder unvollständig, ergibt also kein einheitliches
Gesetz.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 311 |
Dasselbe läßt sich auch in der Begriffssprache
von »Grund und Folge« ausdrücken. Es gibt kein für
alle Sphären geltendes Gesetz des zureichenden Grundes. Es gibt nur
eines für die Realsphäre. Der »Gründe« freilich
gibt es auch im Wesensreiche, im Logischen und in der Erkenntnis genug.
Aber in diesen Sphären hat entweder nur einiges (also nicht alles)
einen zureichenden Grund, oder aber die Gründe sind nicht zureichend
(bestehen nicht in Totalität der Bedingungen). Das erstere entspricht
der sprachlich auftretenden, das letztere der unvollständigen Determination.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 311-312 |
Dieses Resultat der Modalanalyse ist offenbar
von allergrößtem Gewicht für das Verständnis der
Sachlage im Determinationsproblem. Und selbstverständlich muß
es allen weiteren Erörterungen über das Kategorienpaar Determination
und Dependenz zugrunde gelegt werden. Aber es läßt sich nicht
leugnen: es ist ein sehr merkwürdiges Resultat. Man meinte doch immer,
im idealen Sein und im Logischen sei alles notwendig, nichts zufällig,
in der realen Welt aber gebe es überall den Zufall. Man glaubte also
im Wesensreich sowie in dem ihm formal verwandten Reich der Urteile und
Schlüsse durchgehende Determinationsketten zu erblicken, die allen
besonderen Inhalt ins kleinste beherrschen; man hielt daran deswegen so
fest, weil man die Wesensnotwendigkeit allein meinte, die freilich hier
überall vom Allgemeinen zum Besonderen hin - also im logschen Schema
»abwärts« - waltet. Individuelle Einzelfälle aber
gibt es im idealen Sein nicht. Dem Realen aber sprach man diese durchgehende
Determination eben darum ab, weil hier das Reich der individuellen Einzelfälle
ist, und weil diese vom Allgemeinen her nur unvollständig bestimmt,
in ihrer Besonderheit also ihm gegenüber in der Tat zufällig
(nämlich wesenszufällig) sind.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 312 |
Dieser Gegensatz ist es, den die Modalanalyse
umkehrt. Das ideale Sein ist unvollständiges Sein, und dementsprechend
ist auch die Determination, die in ihm waltet, eine unvollständige.
Wohl ist die Bestimmung des Besonderen vom Allgemeinen her in der Stufenleiter
von genus und species eine durchgehende, aber sie betrifft in der species
stets nur das Generelle, während das eigentlich Spezielle undeterminiert
bleibt und dem genus gegenüber recht eigentlich zufällig bleibt.
Damit fällt der Nimbus des idealen Seins - als eines Reiches der
vollkommenen Notwendigkeit - von ihm ab, und ein Jahrtausende altes Vorurteil
der Metaphysik hat ausgespielt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 312 |
Und auf der anderen Seite zeigte sich, daß
jene Wesenszufälligkeit der Realfälle nur relativ auf die Wesenheiten
besteht, ja daß sie nichts anderes bedeutet als die Unzulänglichkeit
der Wesenszüge und Wesensgesetze, das Reale zu determinieren. Deswegen
aber brauchen die Realfälle nicht real zufällig zu sein. Es
gibt eben in der Realsphäre noch andere Determination als die »von
oben her« (vom Allgemeinen her); es gibt neben dieser »vertikalen«
auch eine »horizontale« Determination, welche gerade die realen
Einzelfälle und speziell die Stadien des Realprozesses miteinander
verbindet. Und in dieser determinativen Horizontalverbindung ist alles
Einzelne und Einmalige in seiner Besonderheit durch eine stets vollständige
Kette von Bedingungen notwendig und kann nicht anders ausfallen, als es
ausfällt. Es hat also seinen zureichenden Grund. Aber es hat ihn
nicht in Wesenheiten und Allgemeinheiten allein, auch nicht in Kategorien
oder besonderen Gesetzlichkeiten allein, sondern in der Totalität
der Realzusammenhänge, die als Gesamtkollokation von Fall zu Fall
andere sind.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 312-313 |
Das also war der alte Irrtum, daß man
die »vertikale« Determination vom Allgemeinen her allein im
Auge hatte. Es gibt diese freilich auch in der Realsphäre, aber sie
ist hier nur ein Bruchteil der Gesamtdetermination, während sie in
der idealen Sphäre allein bleibt. Realnotwendigkeit ist anders dimensioniert
als Wesensnotwendigkeit; darum überkreuzt sie sich in den Realzusammenhängen
reibungslos mit dieser, füllt aber zugleich deren determinative Unvollständigkeit
auf. So kommt es, daß das Wesenszufällige zugleich real notwendig
sein kann, daß im Realzusammenhang durchgehende Determination herrscht,
während im idealen Sein das Besondere auf jeder Höhenlage zufällig
bleibt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 313 |
Es gibt zwar Bereiche des idealen Seins, auf
denen die vertikale Determination außerordentlich weit in die Besonderung
hineinreicht. Es sind die Gegenstandsgebiete des mathematischen Seins.
Doch walten hier besondere Verhältnisse, die am kategorialen Charakter
des Quantitativen haften und sich nicht verallgemeinern lassen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 313 |
Ein besonderes Kapitel des Sphärenunterschiedes
ist noch das Verhältnis der Erkenntnis zur Realdetermination. Die
niederen Erkenntnisstufen fassen wenig von ihr; Wahrnehmung und anschauliches
Erleben nehemn das »Tatsächliche« gemeinhin als Wirkliches
ohne Notwendigkeit. Die Realdetermination bleibt verborgen. Darauf beruht
die Zufälligkeit, in der die unbegriffenen Ereignisse zu schweben
scheinen. Das Begreifen aber, das sich auf die Zusammenhänge besinnt,
hat einen weiten Weg bis zum Erfassen der Notwendigkeit. Denn es muß
dazu eine Totalität von Realbedingungen zur Übersicht bringen;
eine Aufgabe, die ihm nur in einfachen Fällen annähernd gelingen
kann. Tatsächlich kann sich das Begreifen in diesem Dilemma nur durch
den Umweg über die um vieles leichter faßbare Wesensnotwendigkeit
helfen. Aber diese reicht für die Realdetermination nicht zu.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 313 |
Die Abwandlung der Determination und Dependenz in den Schichten
des Realen ist von besonderem metaphysischen Gewicht, weil sie angetan
ist, allen traditionellen Vorstellungen von Determinismus und Indeterminismus
entgegenzutreten. Denn ist Realdetermination nicht von einer Art, sondern
ebenso geschichtet wie die reale Welt selbst, so passen alle alten Schemata
des Weltbildes nicht auf sie zu und müssen revidiert werden, sowohl
die deterministischen als auch die interdeterministischen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 313-314 |
Aber diese Abwandlung zu verfolgen ist nur
möglich, soweit wir die besonderen Typen der Determination kennen.
Und hier stoßen wir auf Grenzen, die wir nicht überschreiten
können. Denn die höheren Typen - vom Reich des Organischen an
aufwärts - sind, soweit wir sie nicht aus unserem eigenen menschlichen
Tun kennen, in ein Dunkel gehüllt, das nicht an ihrer Kompliziertheit
allein liegt, und das bisher nur in sehr bescheidenen Grenzen hat aufgehellt
werden können. Von allen Typen der Realdetermination sind uns mittelbar
nur zwei zugänglich: der Kausalnexus im physischen und der Finalnexus
im geistigen Sein. Ohne Zweifel gibt es auch auf der Höhe des Organischen
sowie auf der des Seelischen eigene Formen des Nexus und darüber
hinaus noch weitere auf den höheren Stufen des geistigen Lebens.
Aber für diese läßt sich nur gleichsam der ontologische
Ort angeben sowie einige wenige positive Hinweise, die sich aus den besonderen
Prozeßformen ergeben. Die spezielle Katagorialanalyse kann hier
freilich auf Grund der Schichtenunterschiede noch manches klären.
Aber auch das läßt sich einstweilen nicht vorwegnehmen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 314 |
Immerhin ist es sychon instruktiv, sich in
den Grenzen unseres Wissens ein Bild von der Mannigfaltigkeit der Determinationstypen
zu machen. Auf Vollzähligkeit kann das Bild selbstverständlich
keinen Anspruch erheben.
1. |
Die einfachste Form des Realnexus
ist die Kausalität. Sie hat die Form der mit dem Zeitfluß
fortlaufenden Abhängigkeit des Späteren vom Früheren,
wobei jedes Stadium des Prozesses zugleich Wirkung früherer
Ursachen und Ursache späterer Wirkungen ist. Sie verhindert
allererst die Stadien zur Einheit eines zusammenhängenden Prozesses,
gleichgültig ob die Stadien kontinuierlich aneinanderschließen
oder sprunghaft sich aneinanderreihen. Grundsätzlich kommt
die Kausalreihe aus der Unendlichkeit, denn vor jerder Ursache müssen
weitere Ursachen liegen, und geht ins Unendliche, denn über
jede Wirkung hinaus müssen weitere Wirkungen folgen. Sie führt
daher zum mindesten nach rückwärts, auf die Antinomie
des »ersten Gliedes« hinaus. |
2. |
Noch auf derselben Schichthöhe
tritt neben die Kausalreihe als zweite Determinationsform die Wechselwirkung
des Gleichzeitigen aufeinander. Sie besagt, daß die Kausalketten
nicht isoliert nebeneinander her, sondern nur in durchgehender Querverbundenheit
mieinander ablaufen und sich gegenseitig beeinflussen. Das läuft
auf die Einheit des Naturprozessesx (und vielleicht des Weltprozesses
überhaupt) hinaus, sofern in jedem Gesamtstadium jede Teilwirkung
mit durch die ganze Kollokation aller Realumstände bestimmt
ist. |
3. |
In der Welt des Organischen reichen diese
Formen der Determination nicht mehr aus. Zwar löst sich manches
Rätsel am Lebensprozeß durch das Ineinandergreifen
der Kausalfäden; aber die subtile Zweckmäßigkeit
der Teilfunktionen füreinander, die Selbstregulation des
Ganzen sowie die Wiederbildung des Organismus von der Keimzelle
aus zeigen den Typus eines noch anders gearteteten Zusammenspieles,
das vom Ganzen aus bestimmt ist. Vom Resultat aus sieht diese
Form der Determination dem Finalnexus zum Verwechseln ähnlich,
und man hat sie denn auch von altersher so verstanden. Es fehlt
aber das zwecksetzende Bewußtsein; und die Wahrheit ist,
daß wir die wirkliche Form der Determination in diesen innerorganischen
Prozessen nicht kennen.
|
4. |
Um nichts weniger dunkel, obgleich
weniger umstritten, ist die Determinationsform der psychischen Akte,
die ihr Aufkommen, ihren Ablauf und ihren gegenseitigen Zusammenhang
betrifft. Wenn man hier von psychischer Kausalität spricht,
so ist das gewiß nicht ganz abzuzweifeln; aber es reicht nicht
zu. Schon in den einfachen seelischen Reaktionen sind andere Momente
mitbestimmend. Außerdem aber ist in allen Akten ein Faktor,
der aus den inneren Eigentendenzen des Seelenlebens (was
sollen diese sein? HB) kommt, nicht aus dem Bewußtsein
(sofern dieses überhaupt zum Seelischen
und eben nicht zum Geistigen gehört! HB), sondern aus
seinen unterbewußten Hintergründen (was
sollen diese sein? HB). Wo er ins Bewußtsein aufrückt,
nimmt er die Form der Zwecktätigkeit an (und
diese spricht wie das Bewußtsein für die Zugehölrigkeit
zum Geistigen; HB). Wie er vor seinem Aufrücken determiniert,
entzieht sich einstweilem noch aller Beurteilung. |
5. |
Eine Stufe höher, mit dem Einsetzen
der Objektivität und des personalen Geistes, haben wir dann
wirklich den Finalnexus. Er ist nicht, wie man oft gemeint hat,
die einfache Umkehrung des Kausalnexus, sondern von viel komplizierterem
Bau. Es beginnt mit dem Vor-Setzen des Zweckes im Bewußtsein
(im Geistigen - hier ist es in meinem Sinne
gesagt! HB), verläuft sodann in der Wahl der Mittel
- rückwärts vom vorgesetzten Zweck aus bis auf das erste
Mittel - und endet im Realprozeß der Verwirklichung des Zweckes,
der rechtläufig in der Zeit abläuft und in dem dieselben
Mittel als Ursachenreihe den Zweck bewirken. Da die ersten beiden
Glieder dieses Zusammenhanges typische Bewußtseinsvollzüge
sind, so kann es den Finalnexus nur geben, wo ein zwecksetzendes
und Mittel wählendes Bewußtsein vorhanden ist. |
6. |
Unter den vielerlei Determinationsformen,
die dem geistigen Sein eigen sind, ist die Wertdetermination eine
der merkwürdigsten. Werte sind keine realen Mächte, von
ihnen geht nur ein Sollen aus, die Anforderung. Aber der Mensch
ist durch sein Wertgefühl empfänglich für die Anforderung;
und da er zugleich des Wollens und der Verwirklichung mächtig
ist, so kann er sich für sie einsetzen. Werte determinieren
also nur indirekt etwas in der realen Welt, sofern ein realer Wille
sich für sie entscheidet. |
7. |
Das setzt aber eine weitere Determinationsform
voraus: eben diejenige, die in der Entscheidung des Willens für
oder wider die Anforderung enthalten ist. Sie besteht in einer Selbstbestimmung
oder Autonomie des Willens sowohl den bestimmenden Faktoren der
Realsituation als auch den Werten und ihrer Anforderung gegenüber.
Ihr Problem ist das vielumstrittene der »Willensfreiheit«.
Allerdings ist »Freiheit« ein mißverständlicher
Ausdruck: er täuscht Unbestimmtheit vor, während es sich
in Wahrheit um einen eminent positiven Faktor der Eigenbestimmung
handelt. |
8. |
Eine beosndere Rolle spielen weiterhin
die hochkomplexen determinationsformen im Gemeinschaftsleben und
im Geschichtsprozeß. In ihnen überlagern und durchdringen
sich die niederen Formen des Nexus und liegen teilweise mit den
höheren im Streit. Auch der Streit aber ist nicht regellos,
er hat sein sehr bestimmtes Folgeverhältnis. Es folgt nur nicht
immer das, was menschliche Zwecksetzung und Initiative in ihm vorsieht.
Gleichwohl ist die Tendenz des Menschen, den Geschichtsprozeß
zu gestalten, in diesem selbst ein wesentlicher Faktor. |
In den Determinationstypen des Realen überwiegt die Form des Nexus,
d.h. der fortlaufenden Reihe. Das entspricht der allgemeinen Seinsform
des Werdens (oder der Werdensform des Seins? HB),
die in den Schichten die gleiche ist und auf der Einheit der Zeitlichkeit
in ihnen beruht. Zwar treten neben dem Nexus auch andere Formen auf -
wie in der Wechselwirkung, in der Ganzheitsdetermination des Organischen
und im Anforderungscharakter der Werte -, aber sie fügen sich doch
überall der linearen (oder der zyklischen;
HB) des Werdens ein.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 314-316 |
Es gibt aber noch andere Formen der Determination
und Dependenz, die nicht auf Realverhältnisse beschränkt sind;
und es gibt auch solche, die sich zwar auf das Reale erstrecken - d.h.
es mitdeterminieren -, aber nicht in seine Seinsform eingespannt sind.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 316 |
Von der ersteren Art ist z.B. die Bestimmung
des Besonderen durch das Allgemeine (der species durch das genus). Von
ihr wurde bereits gezeigt, daß sie unvollständig ist, desgleichen
wie es charakteristisch für das verhältnis der beiden Seinssphären
ist, daß sie im idealen Sein die einzige durchgehende Determinationsform
ist, im realen aber nur ein untergeordnetes Teilmoment der Gesamtdetermination
ausmacht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 316-317 |
Eng verwandt ist ihr die von den Kategorien
ausgehende und das Concretum generell bestimmende Determination. Sie hat
keinen Reihencharakter, ist bloß zweigliedrig und steht dimensional
»senkrecht« auf den im Concretum selbst verlaufenden Reihen
des Realnexus. Nach dem Platonischen Bilde: Sie spielt in der »Vertikale«,
während der Realnexus »horizontal« verläuft. Da
aber die Kategorien nach der Schichtenhöhe verschieden sind und das
Concretum überall von ihnen »abhängt«, so stehen
auch die besonderen Typen der Realdetermination von ihnen in Abhängigkeit.
Dadurch erweist sich die dimensionale Überjreuzung der Determinationen
als wesentlich: der determinative Gesamtbau des Realzusammenhanges besteht
im Zueinandergreifen der zeitlos-kategorialen und der zeitlich-realen
Determination. Jene bestimmt die Form und den Bau des Nexus je nach der
Schichtenhöhe, diese aber bestimmt das besondere Geschehen im Einzelfall,
je nach der Gesamtkollokation des jeweiligen Realzusammenhanges.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 317 |
Die geradlinige Fortsetzung der katgeorialen
Determination ist diejenige, die von den besonderen Gesetzen einer Seinsschicht
(oder auch eines engeren Seinsgebietes) ausgeht. Das bekannteste Beispiel
dieser Art ist die Naturgesetzlichkeit. es ist dieselbe »vertikale«,
in der sie verläuft, dieselbe Zweigliedrigkeit und dasselbe Überkreuzungsverhältnis
zum Realnexus, das hier waltet. Nur setzt die Determination hier gleichsam
auf halber Höhe ein, so wie es ihrer geringeren Allgemeinheit entspricht.
Wichtig ist an diesem Verhältnis, daß die sog. Naturgesetzlichkeit
nicht mit einer der Formen des Realnexus, also auch nicht mit der Kausalität,
zusammenfällt. Der Realnexus könnte an sich auch ohne Gleichartigkeit
(Gesetzlichkeit) der Abläufe bestehen; und die Gleichartigkeit könnte
auch ohne Realnexus bestehen. Es sind determinativ durchaus verschiedene
Instanzen der Bestimmtheit, die hier in Synthese treten und das Gesamtbild
ausmachen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 317 |
Eine weitere Form der Determination - der Wechselwirkung
des Realen vergleichbar und doch ganz anders als sie - ist die Kohärenz
der Kategorien, ihre gegenseitige Abhängigkeit und Implikation. Auch
sie wirkt sich im Realen als Einheit der in sich mannigfaltigen kategorialen
Determination aus. Und auch sie setzt sich im Zusammenhang der besonderen
Gesetze fort, sofern diese nicht isoliert auftreten, sondern ihr Concretum
gemeinsam bestimmen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 317 |
Wiederum anders ist die mathematische Folge,
die das Reich der reinen Größenverhältnisse, also das
der Zahl und des geometrischen Raumes beherrscht, durch sie hindurch aber
auch die Naturgesetzlichkeit durchsetzt. Sie ist mit dieser nicht identisch,
besteht auch ohne sie als eine besondere Determinationsform des idealen
Seins, umfaßt aber innerhalb des letzteren nur die quantitativen
Verhältnisse. Für die Erkenntnis hat sie den ungeheuren Vorzug,
daß sie unmittelbar im Verstande faßbar ist. Dadurch ist sie
die faßbare Seite in der Naturgesetzlichkeit, soweit nämlich
diese eine in quantitativen Verhältnissen geordnete ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 317-318 |
Nur vorgreifend kann an dieser Stelle auf eine
weitere, das ganze Reich des Realen durchziehende Determinationform hingewiesen
werden, welche das Abhängigkeitsverhältnis der Seinsschichten
(sowie ihrer Kategorienschichten) betrifft. Sie verläuft in der Schichtenfolge
von unten nach oben und bedeutet das Basiertsein der höheren Schicht
auf der niederen. Aber sie ist durchaus keine vollständige Determination,
sondern läßt viel Spielraum für Selbständigkeit der
höheren Schichten. Von ihr wird noch ausführlich bei den kategorialen
Gesetzen zu handeln sein; denn für den Aufbau der realen Welt ist
gerade sie die ausschlaggebende.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 318 |
Schließlich ist nicht zu vergessen, daß
auch noch die Erkenntnis ein besonderes Verhältnis von Grund und
Folge kennt, das sich weder mit dem in den Seinssphären waltenden
noch auch mit der logisch-deduktiven Folge deckt. Die ratio cognoscendi
ist in der Richtung beweglich, sie kann der ratio essendi folgen, kann
ihr aber auch entgegen gerichtet sein. Denn die Gründe der Einsicht
liegen beim Gegebenen; das Gegebene aber kann auch das ontisch Sekundäre
sein. Sie schließt von der Wirkung auf die Ursache, vom Fall auf
das Gesetz, vom Concretum auf das Prinzip, genau so gut wie umgekehrt.
Und sie kann es darin zu hohen Gewißheitsgraden bringen, auch wenn
sie es zum vollen Erfassen der Realnotwendigkeit nicht bringt. - Sie ist
dabei freilich auf allgemeine Voraussetzungen angewiesen, wie z.B. in
der Induktion auf das Wissen um die Gesetzlichkeit überhaupt. Aber
in den Grenzen, in denen ihre Kategorien mit denen des Seienden zusammenfallen,
ist sie dieser Voraussetzungen gewiß. Denn hier ist der Punkt, in
dem Erkenntnisgrund auf den Seinsgrund rückbezogen ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 318 |
Nicht um die Ehre Gottes allein ging es im Theodizeeproblem. Es
ging darum, was von der Welt zu halten ist, in der wir leben,um Weltbejahung
und Weltverneinung, um Lebensoptimismus und Pessimismus.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 319 |
Kepler suchte die allgemeine »Weltharmonik«, für
den räumlichen Kosmos, Leibniz für den ganzen Aufbau der realen
Welt nachzuweisen. Mit ihren Namen ist das metaphysische Prinzip der Harmonie
für die Dauer verbunden geblieben.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 319 |
In einer Hinsicht haben die Alten sich die Erfassung des Problems
erschwert: Sie erblickten die Wurzel des Widerstreits in den Seinsgegensätzen.
Der Sache nach machten si dadurch aus dem Realwiderstreit einen solchen
der Prinzipien. Das entspricht nicht der Sachlage im Verhältnis der
Gegensatzkategorien (vgl. dazu S. 230 et passim;
HB); Gegensatz ist nicht Widerstreit, er ist ebensosehr auch engste
Zusammenghörigkeit (vgl. Kap. 25). Die ganze metaphysische Linie
der Theorien, die eine Überwindung des Widersteits in der Einheit
de Seinsgegensätze suchten - es ist die Linie, die beim Cusaner (Nikolaus
von Kues; HB) in die coincidentia oppositorum auslief - läuft
daher am ontologischen Problem des Widerstreits und der Einstimmigkeit
vorbei.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 324-325 |
Die aufsteigende Reihe der Formen des Widerstreits in der Schichtung
des Seienden hat gelehrt, daß der Widerstreit nach oben hin erheblich
zunimmt - sowohl an Mannigfaltigkeit als auch an Tiefe der Spannung und
des Konflikts -, aber auch, daß der wachsenden Größe
des Widerstreits höhere Formen der Einstimmigkeit entsprechen. Nur
sind diese letzteren weder identisch mit dem Widerstreit (nach Herakliteischer
Art), noch sind sie ihm vollkommen gewachsen. Man kann auf ihnen keine
Theodizee gründen, nicht aller Konflikt löst sich in Harmonie..
Und, wie es scheint, gerade in den höheren Seibsschichten, im reich
des Menschen, des Ethos, des Gedankens und der Geschichte, nimmt der Überschuß
des unbewältigten Widerstreits zu, Denn zu dem einfachen Widerstreit
homogener Kräfte kommt hier der tiefere Widerstreit heterogener Determinationsformen,
deren Ausgleich nicht gegeben, sondern dem Menschen anheimgestellt ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 325 |
Von den Antinomien nun ist berteits oben bei der Zurückweisung
des kategorialen »Harmoniepostulats« die Rede gewesen (vgl.
Kap.17, insonderheit b und c). Es fehlte dort noch an der nötigen
Unterscheidung zwischen Widerspruch und Widerstreit sowie am erforderlichen
Abstand vom Gegensatzphänomen. Dennoch konnte schon jene Überlegung
eindeutig zeigen, daß echte Antinomien nur solche sind, die sich
nicht lösen lassen und an denen schon das Unternehmen der Lösung
die Verfehlung des Problems bedeutet.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 326 |
Hat sich nämlich eine Antionomie als unlösbar erwiesen,
so bestehen immer noch zwei Möglichkeiten: der Widerstreit kann in
der Gesetzlichkeit des Erkennens liegen, es ist dann nach dem Worte Kants
ein »Widerstreit der Vernunft mit sich selbst«; er kann aber
auch im Sein liegen, und dann ist der Konflikt in der Strujtur der realen
Welt selbst angelegt. Im ersteren Falle ist der Bau der Welt harmonisch,
und nur die Kategorien der Erkenntnis reichen nicht zu, ihre Einstimmigkeit
zu fassen. Im letzteren Falle aber ist die Welt disharmonisch, die Erkenntnis
aber steht unter dem Satz des Widerspruchs, sie lehnt das Begreifen des
Widerstreitenden ab, weil es für sie die Form des »Widerspruchs«
annimmt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 327 |
Element und Gefüge (12. Gegensatzpaar;
vgl. S. 230; HB). - .... Man könnte dafür auch sagen:
Gleid und Gefüge. Denn hiersind die Teile in der Tat mehr als die
Teile. Sie sind durch die Stellung, die sie im Gesamtgetriebe einnehmen,
wesentlich bestimmt; löst man sie heraus, so hören sie auf zu
sein, was sie waren. Denn ihre Besonderheit ist die der Funktion im Gefüge.
Das Gefüge seinerseits kann unter Umständen die Funktion eines
seiner Elemente sehr wohl durch die eines anderen ersetzen; ja es gibt
Gefüge, die von vornherein auf solchen Ersatz angelegt sind (man
denke an die Regenationsphänomene der Organismen). .... Aber in gewissen
Grenzen darf der Unterschied wohl so gefaßt werden: reißt
man den Teil aus dem Ganzen, so ist die Ganzheit verletzt, der Teil aber
nicht; reißt man ein Glied aus dem Gefüge, so hört das
Glied auf zu sein, was es war, das Gefüge aber kann fortbestehen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 329-330 |
In der Realsphäre, in der das zeitliche Werden die allgemeine
Seinsform ist, sind .... alle natürlichen Gefüge zugleich Systeme
von Prozessen und - da Prozesse nicht ohne dahinterstehende Kräfte
laufen - auch Systeme dynamischer Antriebe. Elemente aber sind in solchen
»dynamischen Gefügen« die Kraft- und Prozeßkomponenten
so gut wie die materiellen Bausteine.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 330 |
Die höheren Formen des Gefüges zeigen deutliche Überordnung
des Zusammenhanges über die Elemente; in ihnen stehen und fallen
die Elemente mit dem Gefüge, sie gehen mit seiner Auflösung
zugrunde, oder sie sinken herab von der Seinshöhe dessen, was sie
waren. Nicht nur der Organismus ist von dieser Art; auch die Volks- und
Staatsgemeinschaft verhält sich ähnlich zu den Individuen, und
gleich ihr die geschichtlich überindividuellen Formen des Geisteslebens,
sofern auch sie determinierende und einheitlich fortbestehende Formen
der Verbundenheit sind.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 331 |
Wie die Abwandlung des Verhältnisses von Element und Gefüge
(12. Gegensatzpaar; vgl. S. 230; HB) verlaufen
muß, ist nach dieser Klarstellung bereits einigermaßen zu
sehen. Sie ähnelt derjenigen von Einheit und Mannigfaltigkeit (7.
Gegensatzpaar; vgl. S. 230; HB), teilweise auch der von Form und
Materie (3. Gegensatzpaar; vgl. S. 230; HB).
Denn tatsächlich ist jedes Gefüge Einheit mannigfaltiger Elemente
und zugleich ihre Formgebung. Das Neue ist nur, daß weder die Einheitlichkeit
noch die Geformtheit das Wesentliche ist, sondern die innere relationale
Gebundenheit und relative Selbständigkeit. Die letzte wiederum ist
keineswegs als Isoliertheit oder Fürsichsein zu verstehen - es liegt
ja im Wesen der Gefüge, daß sie selbst wiederum Elemente sein
können -, sondern nur im Sinne eines Übergewichts der inneren
Bindung.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 332 |
Nur die naive Anschauungsform der Dinglichkeit ... täuscht
... die Vorherrschaft der scharf gezogenen äußeren Grenzen
vor; und die antike Kategorie der »Grenze« (peraV)
hat diesen Fehler in der Ontologie heimisch werden lassen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 332 |
Wir werden ... zu unterscheiden haben: einerseits das starre und
das bewegliche Gefüge, andererseits das in sich straff gebundene
und das lose gefügte, beides natürlich in mannigfaltiger Abstufung,
aber keineswegs in Abhängigkeit voneinander. Bewegliche Gefüge
sind solche, in denen die Elemente wechseln, während sie selbst sich
erhalten; straff gebunden aber sind sie dann, wenn das Gefüge selbst
den Verlust der Elemente durch entsprechenden Ersatz kompensiert. Dasselbe
gilt für das Verhalten gegenüber jeder anderern Art von Störung.
Wichtig aber ist hierbei noch ein Weiteres. Es handelt sich nicht um äußere
Störung allein. Es handelt sich auch um innere Zerfallserscheinungen
und Stabilitätsgrenzen. Und hier ist der Punkt, an dem das Verhältnis
von Einstimmigkeit und Widerstreit (8. Gegensatzpaar;
vgl. S. 230; HB) für den Bestand der Gefüge ausschlaggebend
wird.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 332-333 |
Die allgemeine Seinsform der realen Welt ist das Werden, absolut
statische Gefüge gibt es in ihr nicht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 333 |
Mit der Bewegtheit aber ist das Spiel der bewegenden Kräfte
unlöslich verknüpft. Es handelt sich also stets auch um Gefüge
der Prozesse oder Prozeßkomponenten sowie der antreibenden Mächte.
Von dieser Art ist das dynamische Gefüge aller Stufen und Formen,
aber auch nicht weniger das organische Gefüge, dessen spezielle Seinsform
der Lebensprozeß ist. Und weiter hinauf alles, was im Seelenleben,
im Bewußtsein, im Ethos des Menschen, in der Gemeinschaft und ihrer
Geschichte den Charakter des einheitlichen Gebildes hat, beruht schon
auf dem Widerspiel mannigfaltiger und teilweise stets einander entgegengerichteter
Tendenzen. Der Ausgleich aber ist weit entfernt, immer ein vollkommener
zu sein (vgl. Kap. 32 b).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 333 |
Aller Widerstreit, sofern er an den Elementen eines Gefüges
besteht, hat die Tendenz, das Gefüge zu sprengen. Erhält sich
ein solches Gefüge dennoch, so beruht das auf Bewältigung des
Widerstreits, auf einer übergreifenden Funktion der Einstimmigkeit,
in der sich der Ausgleich oder das Gleichgewicht herstellt. Solcher Gleichgewichte
nun kennen wir eine große Menge, wir finden sie eben tatsächlich
an allen Formen und Stufen realer Gefüge. Aber nirgends ist ihre
Stabilität eine absolute. Sie alle können sich nur in gewissen
Grenzen halten. Überschreitet eine der im Widerstreit liegenden Komponenten
eine bestimmte Grenze, so wird das Gleichgewicht labil, und das Gefüge
löst sich auf.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 333 |
Die Art und Weise aber, wie sich ein bewegliches Gefüge in
den Grenzen seiner Stabilität im Gleichgewicht hält, ist je
nach den Seinsschichten und deren Stufen sehr verschieden. Diese Verschiedenheit
macht die bei weitem wichtigsten Unterschiede in der Stufenfolge der Gefüge
aus. Denn sie betrifft recht eigentlich deren inneres Wesen, die bindende
Kraft, die im Fluß der Veränderungen den Typus des Gebildes
erhält. Nach ihr also wird in der kategorialen Abwandlung des Gefüges
in erster Linie zu fragen sein.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 333 |
Das kategoriale Qualitätsproblem und die besonderen Kategorien
der Qualität. - Erst nach dem Kantischen Umschwung der Dinge wurde
es einsichtig ..., daß es noch einen anderen, zwar um vieles blasseren,
aber fundamentaleren Sinn des Qualitätsproblems gibt. Man fand ihn
im Begriffsapparat der formalen Logik vorgezeichnet, wo die »Qualität
der Urteile« die feste Bedeutung des Gegensatzes von »affirmativ
und negativ« hatte. An dieser Bedeutung sind die Kantischen »Katheorien
der Qualität« orientiert. - Kant nannte diese Kategorien »Realität,
Negation und Limitation« .... Zwei Grundkategorien der Qualität
... sollen im folgenden als »das Positive« und »das
Negative« bezeichnet werden. Diese Bezeichnungen haben den Vorzug
vor den antiken Termini »Sein« und »Nichtsein«,
deren rein ontologische Prägung eine Vorentscheidung über die
Rolle in den Seinssphären enthält. .... - Identität und
Verschiedenheit bilden ein zweites Kategorienpaar innerhalb der Gruppe
der Qualität. .... - Dazu kommt aber noch ein dritter Seinsgegensatz,
der gleichfalls unter die Qualität gehört, obgleich die formale
Logik, die sich an die »Umfänge« der Begriffe hält,
ihn der Quantität einzuordnen pflegt. Es ist der Gegensatz des Allgemeinen
und des Individuellen. .... Individualität und Allgemeinheit bilden
einen Elementargegensatz, der an kategorialer Urwüchsigkeit den Seinskategorien
ebenbürtig zur Seite steht. Um ihretwillen in erster Linie steht
die Qualität mit Recht in der Gegensatzttafel (vgl.
S. 230; HB). Das Problem der »Allgemeinheiten« (Universalien)
hat einst lange Zeit die Metaphysik beherrscht; diese Metaphysik scheiterte
schließlich am Problem des Individuellen. Auch heute noch gibt es
Probleme an diesem Kategorienpaar, die gelöst werden müssen;
und sie gehören zu den wichtigsten, welche die Seinsgegensätze
uns aufgeben. - Wir werden also folgende drei Gegensatzpaare der Qualität
zu behandeln haben:
1. Positives Negatives,
2. Identität Verschiedenheit,
3. Allgemeines Individuelles.
Es kommt bei ihnen weniger auf die Abwandlung an als auf die genaue grundsätzliche
Klarstellung ihres Wesens.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 354-357 |
Es ist erstaunlich, wie in der Geschichte der Metaphysik die besten
Einsichten aufs schlechteste begründet worden sind. Der Satz des
Parmenides »das Nichtseiende ist nicht« war der unentbehrliche
Grundsatz, durch den die Unselbständigkeit der Negation erst greifbar
wurde, aber das Argument des Parmenides war falsch. Es lautete: »denn
dne ohne das Seiende, in dem es ausgeprägt ist, wirst du das Denken
finden«. Also weil man Nichtseiendes nicht »denken«
kann, weil alles Denken ein Denken vom Seienden ist, soll Nichtseiendes
nicht »sein« können. - Wenn damit nichts gemeint ist
als der Satz der Intentionalität - alles Denken ist Denken von etwas
und nicht von nichts -, so ist der Satz zwar wahr, aber ontologisch nichtssagend.
Denn das gedachte Etwas braucht kein Seiendes zu sein, weder im Sinne
des realen noch des idealen Seins, eskann auch im bloßen Gedachtsein
bestehen. Ist aber mehr damit gemeint, soll es heißen, daß
ein Gedachtes, darum weil es gedacht wird, auch im Realzusammenhange so
bestehe, wie es gedacht wird, so ist der Satz offenbar unwahr. Nichts
ist dem Denken leichter, als sich vorzuspiegeln, was es in aller Welt
nicht gibt. Wäre dem nicht so, der Mensch wäre im Denken cor
allem Irrtum sicher.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 359 |
Identität und Verschiedenheit sind qualitative Einheit und
Mannigfaltigkeit im Seienden selbst.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 361-362 |
Zwei Dinge, die in allen Stücken dieselbe Bestimmtheit hätten,
wären in Wirklichkeit ein und dasselbe Ding. In einer Welt, wie
der unsrigen, die aus lauter Einzeldingen besteht, muß also auch
das Ähnliche noch qualitativ verschieden sein. So hat es Leibniz
nachmals in seiner lex identitatis indiscernibilium ausgesprochen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 370 |
Hier liegt der Grund, warum die Thomisten und Scotisten einander
im Individuationsproblem nicht verstehen konnten. Sie meinten mit Individualität
etwas verschiedenes. Beide zwar meinten ontologisch folgerichtig die Einzigkeit
als solche (Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit). Aber jene meinten die
numerische Einzigkeit, im Grunde also die bloß quantitativ verstandene;
diese dagegen meinten eine wirklich qualitative Einzigkeit, die Einzigartigkeit.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 370 |
Individualität gibt es nur in der realen Sphäre, denn
nur das real Seiende ist ein vollständig Bestimmtes: ideales Sein
ist unvollständiges Sein, Wesenheiten stufen sich zwar nach genus
und species ab, bleiben aber stets allgemein. Das Sosein einer Sache aber,
wenn man es in der Betrachtung von ihrem Dasein abtrennt, ist »neutral«
gegen Idealität und Realität; denn der Unterschied der Seinsweisen
hängt nicht an ihm, sondern am Dasein. (Vgl. »Zur Grundlegung
der Ontologie«, Kap. 17 a-c.)
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 371 |
Am Sosein als solchem also kann das »Nur-einmal-Dasein«
nicht liegen, denn es ist Sache des Daseins, und zwar ausschließlich
des realen Daseins. Es gibt natürlich sehr wohl die Wesenheit eines
Individuellen - die quidditas des einmaligen Realen in seiner Einmaligkeit
-, aber sie ist keine individuelle Wesenheit. Sie bleibt allgemein in
dem Sinne, daß die Einzigkeit des Realfalles (sein Nicht-Wiederkehren)
nicht an ihr liegt, sondern an der Artung der realen Welt. Die Einzigkeit
hängt am Gefüge des Realzusammenhanges, sofern dieser eben strukturell
(relational und determinativ) so geartet ist, daß er das in allen
Stücken Identische nicht zum zweiten Mal hervorbringen kann: dieselbe
Sache würde zum zweiten Mal in anderen Seinsverhältnissen und
anderen Determinationsverkettungen stehen und, da diese ihr nicht äußerlich
sind, sondern ihre Beschaffenheit mit bestimmen, schon dadurch allein
eine andere sein. Der Realzusammenhang der Welt ist aber selbst einzig.
Darum allein ist alles das, was in ihm steht, auch einzig.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 371 |
Der Satz »das Sosein eines Individuellen ist kein individuelles
Sosein« spricht in ontologisch präzsier From die Antinomie
der qualitativen Individualität aus. Der Grund der Antinomie aber
liegt in der Isolierung des Soseins vom Dasein; er liegt also nicht in
einer ontologischen Notwendigkeit, sondern in der Einseitigkeit der Betrachtunsgweise.
Die Einseitigkeit aber besteht in nichts anderem als in der rein qualitativen
Fassung der Individualität selbst; bei solcher Fassung eben müßte
die Einzigkeit am Sosein allein hängen oder, wie die Scotisten sagen,
an der »Form« allein. Und das hat sich als unmöglich
erwiesen. - Nimmt man aber das Seinsmoment des Daseins wieder hinein in
die Betrachtung, so führt man auch den anderen Individualitätsbegriff
wieder ein, den der numerischen Einzigkeit. Das Nur-einmal-Dasein in der
realen Welt ist der genaue Ausdruck dieser numerischen Einzigkeit. Die
Frage ist also: wie läßt sich die numerische mit der qualitativen
Einzigkeit so zur Synthese bringen, daß sie zusammen eine einheitliche,
anch beiden Seiten - nach der Seite des Soseins und der des Daseins -
zureichend gefaßte Individualität ergeben?
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 371-372 |
Dazu ist zunächst weiter zu Frage: welches principium individuationis
sorgt denn für die numerische Einzigkeit? Auf das alte Prinzip der
Materie kann man nicht zurückgreifen; es paßt nur auf dinglich-materielles
Sein, und da gerade ist die Individualität qualitativ am schwächsten
ausgeprägt. Im ausgehenden Mittelalter setzt sich der Gedanke durch.
Raum und Zeit seien das principium individuationis. Ontologisch hat das
sehr viel für sich: was seine eindeutige Stelle im Raume und zugleich
in der Zeit innehat, das ist dadurch von allen anderen auch eindeutig
unterschieden, hat also darin die Gewähr seiner Einzigkeit. In der
Zeit allein kann vieles zugleich sein, im Raume allein kann vieles nacheinander
denselben Ort einnehmen; es kann aber nichts zugleich mit einem anderen
am selben Ort sein. Es konnte also scheinen, daß im hic et nunc
das principium individuationis gefunden sei. So hat es noch Schopenhauer
im 19. Jahrhundert vetreten.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 372 |
Aber auch das genügt nicht, denn nicht alles Reale ist im
Raume. Das seelische und geistige Sein ist unräumlich, es ist aber
genau so sehr numerisch individuell wie das Räumliche; seine Zeitlichkeit
allein aber genügt nicht zur Individuation. Es ist also im Grunde
dieselbe Ungereimtheit, die dem hic et nunc als Prinzip der Einzigkeit
anhaftet, wie diejenige, die der Materie anhaftete. Denn die Räumlichkeit
reicht in der Schichtung des Realen nicht höher hinauf als die Materialität.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 372 |
Was also unterscheidet denn im seelischen und geistigen Sein eines
vom anderen? Hier ist doch außer der Zeitlichkeit und der Besonderheit
des Soseins nocht etwas Drittes, was mitspielt. Was scheidet einen Akt
vom andern, einen Gedanken vom anderen, eine geschichtliche Bewegung von
der anderen? Oder fragen wir genauer: was würde sie auch dann noch
scheiden, wenn sie inhaltlich (dem Sosein nach) vollkommen gleich wären?
Nicht die Zeit allein, wohl aber der alles umfassende Realzusammenhang
in der Einheit der Zeit. Der gleiche Akt einer anderen Person ist ein
anderer, weil er in ihr ein zweiter, einem anderen Lebens- und Aktzusammenhang
angehöriger ist. Der gleiche Gedanke ist ein anderer, weil er in
anderem Gedankenzusammenhang, die gleiche geschichtliche Bewegung (gesetzt,
eine solche wäre möglich), ist eine andere, weil sie in anderem
Geschichtszusammenhang auftritt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 373 |
Die Räumlichkeit ist nur die besondere Dimensionierung der
niederen Realschichten. Die höheren haben andere Dimensionen der
Mannigfaltigkeit. Daß also das hic et nunc für die ersteren
genügt, bildet nur ein Spezialfall des Realzusammenhanges überhaupt.
Was aber den Realzusammenhang selbst anlangt, so ist sein Charakter der
Einzigkeit vollkommen einsichtig, denn er ist das Gefüge von Relationen
und Abhängigkeiten, das die ganze reale Welt einheitlich durchzieht.
Diese aber ist nur in der Einzahl da. Und darum sind auch alle besonderen
»Stellen« im Realzusammenhang nur einmal da. Dieses »Nur-einmal-Dasein«
aber ist die numerische Individualität, die Einzigkeit dem Dasein
nach.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 373 |
Der Realzusammenhang also, in seiner ganzen Fülle und Konkretheit
verstanden, ist das eigentliche principium individuationis. Er leistet
für alles Reale abendas, was die Materie und selbst das hic et nunc
nur für einen Teil des Realen leisten: die numerische Einzigkeit.
Aber er leistet noch mehr. Denn in ihm wird auch die gesuchte Synthese
der beiden Arten von Individualität greifbar, der numerischen und
der qualitativen. Wie alles Dasein, so hat auch alles Sosein seine Bestimmtheit
auf Grund von Determinationsketten, und diese eben sind es, die den Realzusammenhang
ausmachen. Isolierte Beschaffenheit eines Einzeldinges ist eine Abstaktion.
Was real wirklich ist, das ist auch bis in seine letzten Sonderzüge
hinein real möglich und real notwendig: beides aber ist es auf Grund
von Bedingungskomplexen, welche die ganze Breite der jeweiligen Realkollokation
umfassen. (Vgl. »Möglichkeit und Wirklichkeit«, Kap.
24, 25 und 31.)
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 373 |
An diesem Verhältnis ist etwas zu lernen, was auf der Basis
der alten,von den Universalien ausgehenden Ontologie nicht greifbar werden
konnte: es gibt nicht zweierlei verschiedene Individuation - numerische
und qualitative -, es gibt durchaus nur eine einzige auf Grund eines und
desselben Individuationsprinzips. Und diese ist zugleich Einzigkeit dem
Dasein und Sosein nach. Der Gegensatz also, über den sich einst die
Thomisten und Scotisten nicht verständigen konnten, ist in Wahrheit
ontologisch nichtig. Er ist kein Gegensatz, er scheint nur einer zu sein,
solange man Sosein und Dasein voneinander trennt. Diese Trennung aber
gibt es nur im Denken, in der Realität besteht sie nicht. Hier ist
vielmehr alles Sosein von etwas zugleich auch Dasein von etwas (wennschon
nicht desselben) und alles Dasein von etwas zugleich auch Sosein von etwas.
Es kann also gar nicht anders sein, als daß die Einnzigkeit dem
Dasein nach im Ganzen des Realzusammenhanges mit der Einzigkeit dem Sosein
nach zusammenfällt. (Vgl. »Zur Grundlegung der Ontologie«,
Kap. 19 a-d.)
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 373-374 |
Nur eines noch bleibt hierbei zu bedenken: kann man eigentlich
sagen, der Realzusammenhang sei das principium individuationis? Es ist
doch vielmehr so, daß er das Konkreteste des Konkreten ist, also
gerade kein principium. Und gerade dadurch, daß er dieses eine,
gegliederte, vielfach verschlungene, sich in der Zeit als Gesamtablauf
fortwälzende Ganze ist, das immer wieder ander Kollokationen ergibt,
sind in ihm auch alle Gebilde, Situationen, Abläufe und Beschaffenheiten
einzig und unwiederholbar. Individuation ist etwas, was nicht von einem
Prinzip ausgeht, sondern nur dem in voller Ganzheit verstandenen Concretum
eignet. Darum auch gibt es im idealen Sein kein Individuelles. Wesenheiten,
wie speziell sie auch sein mögen, behalten immer etwas vom prinzipiellen;
es fehlt ihnen die Verflochtenheitder Reakrealtionen und Realdeterminationen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 374 |
Will man also die Konsequenz ontologisch folgerichtig
ziehen, so muß man sagen: auch der Realzusammenhang ist kein principium
individuationis, er »ist« vielmehr die Individuation selbst.
Denn eben durch die immer neuen Realsituationen fällt auch das Geschehen
immer anders aus. Man darf also sagen, es gibt kein principium individuationis,
und es bedarf auch eines solchen nicht. Ja, es gibt auch im strengen Sinne
keine »Individuation«, sondern nur Individualität. Der
Terminus »Individuation« ist und bleibt nun einmal mit der
Schiefheit jenes Aspektes behaftet, der dem Allgemeinen die Priorität
gibt und alles Einmalige als sekundär versteht. Das ist ein Rudiment
des Universalienrealismus, das sich durch die beherrschende Stellung des
Allgemeinen in der Logik bis in die Metaphysik der Idealisten und Phänomenologen
hinein hat erhalten können.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 374 |
Diese ganze Vorstellungsweise ist es, die sich nunmehr als unzutreffend
erwiesen hat. Darum muß auch die ganze Frageweise nach der »Individuation«
als solcher preisgegeben werden. Individualität ist nicht Individuation.
Sie bedarf keines Prinzips neben dem sonst alles beherrschenden Prinzipien.
Dort, wo sie wirklich zuhause ist, in der Realsphäre, entsteht sie
nicht nachträglich - hinter dem Allgemeinen her, das da unfähig
ist, sie zu bestreiten -, sondern ist von vornherein und mit dem Allgemeinen
zugleich da.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 374-375 |
Mit den letzten Überlegungen ist der Gegensatz von Allgemein
und Individuell in die Nähe des ersten Gegensatzes - Prinzip und
Concretum - gerückt. Darüber darf man den Unterschied nicht
vergessen. Alle Prinzipien sind zwar allgemein, aber nicht alles Allgemeine
ist Prinzip. Gemeinsaem Züge vieler Fälle können auch sekundär
und äußerlich sein, das Prinzipielle aber ist das ontisch Primäre.
Und andererseits, auch das Concretum braucht nicht individuell zu sein;
im ganzen Reich des idealen Seins bleibt es allgemein.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 375 |
Die reale Welt ..., die wir kennen, enthält
... kein zweierlei Seiendes. Es handelt sich hier gar nicht um ein Übereinander,
es kann sich nur um ein Ineinander des Allgemeinen und Individuellen handeln.
Das also, was unmöglich schien - daß ein Individuelles in mancherlei
Hinsicht auch ein Allgemeines ist, das Allgemeine aber seine Realität
nirgends anders als im Individuelle habe -, das gerade ist gefordert.
Denn so allein entspricht es der Eigenart des Realseins im Gegensatz zu
anderer Seinsweise: alles Reale (einerlei ob Prozeß, Gebilde oder
flüchtige Kollokation) ist individuell - und zwar im strengsten Sinne
sowohl der numerischen Einzigkeit als auch der Einzigartigkeit -, und
dennoch hat das Allgemeine in ihm gleichfalls Realität.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 376 |
In nichts anderem als diesem Enthaltensein
des Allgemeinen im Individuellen besteht die »Realität des
Allgemeinen«. Es gibt also tatsächlich kein Bestehen des Allgemeinen
in der Realwelt als nur in den Einzelfällen selbst. Gesetzlichkeiten,
Beschaffenheiten, Form- und Prozeßtypen haben kein anderes Sein
als das des Identischen in der Verschiedenheit des Einmaligen. Identität
und Verschiedenheit eben liegen nicht im Widerstreit, sondern ergänzen
sich mannigfach abgestuft, indem sie sich gegenseitig in allem Seienden
durchdringen. Das Allgemeine aber ist nichts anderes als die Identität
einzelner Bestimmtheiten in der Verschiedenheit der anderen Bestimmtheiten.
Ein Fürsich-Bestehen hat das Allgemeine nur im idealen Sein und im
abstrahierenden Verstande. Real aber ist es nur in den Realfällen.
Und da diese durchweg individuell sind, so darf man auch sagen: real ist
das Allgemeine nur »im« Individuellen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 376-377 |
So stimmen die beiden Sätze ohne Widerspruch
zusammen: alles Reale ist individuell, und das Allgemeine ist gleichwohl
auch real. Es ist nur keine selbständige Allgemeinheit, die »neben«
dem individuellen Fällen real wäre; ebenso wie es keine individuellen
Fälle »neben« dem Allgemeinen gibt, sondern nur solche,
die von ihm erfaßt sind. »Allgemeine Fälle« gibt
es nur in den Hilfsbegriffen der Wissenschaft, nicht in der realen Welt.
Das Allgemeine hat gar nicht die Form des »Falles«; es hat
die Form des in der Verschiedenheit der Fälle identisch Wiederkehrenden.
Die Gemeinsamkeit dieses Wiederkehrenden in den Fällen ist aber gleichwohl
ebenso real wie die Verschiedenheit der nicht-wiederkehrenden Züge.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 377 |
Wollte man das bestreiten, man müßte
Dasein und Sosein der Realfälle auseinanderreißen und dem Dasein
allein Realität vorbehalten; denn das Sosein ist stets in vielen
Stücken allgemein und und nur in seiner Ganzheit einzig. Dann aber
könnte die Bestimmtheit der Realfälle keine reale Bestimmtheit,
die Fülle der Verhältnisse und Determinationen, auf denen sie
beruht, keine Fülle von Realverhältnisse und Realdeterminationen
sein. Kurz, man höbe damit nichts geringeres als die Realität
des Realzusammenhanges auf.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 377 |
An keinem der Elementargegensätze tritt der Unterschied der
Seinssphären so greifbar zutage wie an dem von Allgemeinheit und
Individualität. Das Allgemeine ist beiden Sphären gemeinsam,
das Individuelle scheidet sie radikal. Im idealen Sein gibt es nur Allgemeines.
Es stuft sich dort zwar mannigfach ab, es reicht herab bis zur »Wesenheit
eines Individuellen«; aber auch von dieser hat sich gezeigt, daß
sie keineswegs »individuelle Wesenheit« ist. Die ideale Seinssphäre
kennt kein Individuelles. Alle wirkliche Einzigkeit gehört dem Realen
an.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 377-378 |
Der Alleinherrschaft des Allgemeinen im idealen Sein entspricht
demnach keineswegs eine Alleinherrschaft des Individuellen im realen.
Hier haben wir vielmehr die volle Gleichstellung: alles Reale ist zwar
individuell, aber das Allgemeine ist im Individuellen selbst mit real.
Der Unterschied in der Stellung beider ist zwar greifbar, aber er ist
nicht ein solcher des Vorranges. Die oft proklamierte Priorität des
Allgemeinen, bei der das Einzelne als kombinatorisches Resultat dasteht,
hat sich als irrig erwiesen: alles Vorherrschen des Allgemeinen vor den
Fällen ist bloß ein solches in der idealen Sphäre, ideales
Sein aber ist selbst nur unvollständiges Sein. Eine Priorität
des Individuellen aber ist erst recht nicht haltbar, weil stets schon
gemeinsame Züge das Einzelne verbinden. Leibniz, der in der Monadenmetaphysik
hiermit Ernst machen wollte, konnte es auch nicht vermeiden, die Mannigfaltigkeit
der Einzelsubstanzen durch eine Fülle gemeinsamer Wesenszüge
zu bestimmen. Er setzte also gleichfalls das Allgemeine schon voraus.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 378 |
Der einzig klar faßbare Unterschied in der Stellung des
Allgemeinen und s Individuellen an ein und demselben Realen ist vielmehr
dieser, daß das Allgemeine das Verbindende, das Individuelle das
Trennende ist. Und damit hängt es zusammen, daß das Allgemeine
auch in der realen Welt sich abstuft, während die Individualität
als solche sich nicht abstuft. Es gibt wohl ein Mehr und Weniger des Allgemeinseins,
je nach dem »Umfang« der Gleichartigkeit, aber es gibt kein
Mehr und Weniger an Einzigkeit.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 378 |
Dem scheint die Erfahrung zu widersprechen: ist nicht ein Mensch
um vieles individueller als ein Stein? Aber meinen wir wirklich die Einzigkeit,
wenn wir so fragen? Für das Einmaligsein ist es gleichgültig,
wie hoch geformt oder wie lebenswichtig die Eigenart eines Gebildes ist,
um derentwillen es im Realzusammenhang nicht zum zweiten Mal vorkommt.
Die Einzigkeit als solche steigert sich nicht, wenn sie hoch über
alles hinausragt, was der Einzelfall auch nur mit wenigen anderen gemeinsam
hat. Sie gewinnt nur sehr wesentlich an Seinsgewicht und erst recht an
Bedeutsamkeit, und darum ist sie uns im Leben an Menschen und menschlichen
Verhältnissen wichtig, an Dingen und Naturvorgängen aber gemeinhin
überaus gleichgültig. Aber das Wichtignehmen und die Gleichgültigkeit
ändern nichts am Charakter der Einzigekit selbst. Dieser ist ein
absoluter und kann sich nicht steigern.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 378 |
Von hohem Interesse ist auch die Stellung beider Kategorien in
der Erkenntnissphäre. Es ist wohlbekannt, daß die Wahrnehmung,
das Erleben, die Anschaulichkeit und alles, was dieser noch irgend nahesteht,
an den Einzelfällen hängt, ja sogar dazu neigt, sie in einer
gewissen Verselbständigung zu nehmen, die sich bis zur Isolierung
steigern kann; desgleichen, daß alles denkende und begreifende Erkennen
in erster Linie am Allgemeinen hängt, wie denn die Begriffsbildung
und der ganze logische Ordnungsapparat sich in Allgemeinheiten bewegt,
die nun ihrerseits leicht verselbständigt werden. Dahinter steht
die Zweiheit der Erkenntnisquellen, der aposteriorischen und der apriorischen,
deren Gegensatz ja eben dieser ist, daß jene vom Einzelnen her,
diese vom Allgemeinen her erkennt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 378-379 |
Dieses Verhältnis ist ein vollkommen eindeutiges, was das
Begreifen anlangt, obschon die Abstraktion in der Verstandestätigkeit
gemeinhin nicht entfernt so weit geht, wie man zu meinen geneigt ist,
wenn man sich an den Methoden der Gesetzeswissenschafteb (der exakten)
allein orientiert. Was aber die Wahrnehmung und das Erleben angeht, ist
das Verhältnis keineswegs so einfach. Es ist ein Irrtum zu meinen,
daß die Wahrnehmung wirklich das Individuelle erfasse. Sie hängt
zwar am Einzelfall und ist durchaus nur Gegebenheit des Einzelfalles,
aber sie gibgt ihn keineswegs in seiner Einzigartigkeit; sie sieht gerade
über die feineren Unterschiede hinweg, erfaßt den Fall nur
in gewissen Zügen oder Umrissen, auf die es ihr ankommt, und diese
sind zumeist gemeinsame Züge vieler Fälle.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 379 |
Die Wahrnehmung, das Erleben und das Erfahren sind dadurch charakterisiert,
daß sie selektiv erfassen. Sie unterliegen dem praktischen Interesse
und den lebensaktuellen Belangen, und sie bringen die Gesichtspunkte der
Auswahl schon ihrerseits in die anschauliche Auffassung der Einzelfälle
hinein. Diese Auffassung ist deswegen weder eine solche des Allgemeinen
noch eine solche des Individuellen; sie hält sich vielmehr bei allem,
was ihr begegnet, an eine gewisse mittlere Linie, an das »Typische«.
Sie hebt damit gerade das relativ Allgemeine heraus, sieht am wirklich
Einzigartigen (der qualitativen Einzigkeit) vorbei, glaubt aber das Individuelle
zu erfassen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 379 |
Sie täuscht sich darin grundsätzlich; sie verwechselt
das dunkle apriorische Wissen darum, daß jeder Fall einzig ist,
mit dem Erfassen der Einzigartigkeit selbst. Jenes Wissen bringt sie mit,
aber es betrifft nur die numerische Einzigkeit. Sie inhaltlich zu erfüllen,
hat das anschaulich-erlebende Erfassen meist gar nicht die Neigung. Es
gleitet über die Tiefe der qualitativen Differenzierung achtlos hinweg.
Es begnügt sich mit dem in vager Analogie erfaßten Typenhaften
an Dingen, Geschehnissen, menschlichen Situationen, ja sogar an den Personen
selbst. Dieses Typenhafte, obgleich es ein nur oberflächlich gesehenes
Allgemeines ist - ein Surrogat also des wirklich Allgemeinen sowohl als
auch des Individuellen -, ist stets im Leben das Vordringliche.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 379 |
Das ist eine lebensnotwendige Bereinfachung. Individualität
erfassen ist Sache tieferen Eindringens, es bedarf des beonderen Einsatzes,
der ruhigen Hingabe und Versenkung. Dazu hat das anschaulich erlebende
Bewußtsein im Hingleiten über die Fülle der Eindrücke
nicht die Kraft; das Lebenstempo selbst verbietet es ihm. Dieses Bewußtsein
muß mit allem relativ schnell fertig werden, muß es einordnen,
unterbringen. Das kann es nur durch das vereinfachte Sehen des Typischen.
Nur sparsam kann es sich in das eine oder das andere versenken, und auch
das nur, wo tieferes seelisches Bedürfnis dazu hindrängt. Am
ehesten sind noch die Personen Gegenstände solcher Versenkung. Aber
auch da neigt der Mensch auf Schritt und Tritt zu vorschnellen Analogien
und Verallgemeinerungen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 380 |
Die Verallgemeinerung in der Abstraktion ist nicht das, wofür
man sie gerne hält, ist nicht ein nachträgliches Tun der Wissenschaft.
Gerade im Leben abstrahieren wir ohne Rechenschaft, unbewußt und
unkontrolliert im weitesten Maße. Das Erleben ist überhaupt
ein Schweben in halber Abstraktion, und zwar je naiver es ist, um so mehr.
Am skrupelosesten abstrahiert das kindliche Bewußtsein, bei dem
selbst die Unterscheidung der Personen sich nur auf den engsten Kreis
erstreckt. Und gerade mit dem Erwachen des Begreifens setzt die Individuation
in der Anschauung ein. Wirklich individuell zu erfassen - wenn auch nur
genähert -, ist wohl überhaupt nur das gereifte Bewußtsein
imstande. Seine Fähigkeit zur Versenkung aber hängt bereits
an einer weit auslangenden Überschau der Realzusammenhänge,
wie nur das Begreifen sie gibt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 380 |
Nur das Allgemeine stuft sich ab. Individualität als solche
kann sich nicht abstufen, weil Einzigkeit und Einmaligkeit micht an der
Höhe struktureller Differenzierung hängen,sondern in erster
Linie an der Einmaligkeit der Kollokation im Realzusammenhange.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 380 |
Aber es gibt sehr wohl eine Abstufung im Seinsgewicht der Individualität,
und diese hängt freilich an der Höhe der Differenzierung. Da
aber die letztere im großen Ganzen der Welt mit der Schichtenfolge
des Realen steigt,so nimmt auch das Seinsgewicht des Individuellen mit
der Schichtenhöhe erheblich zu. Diese Zunahme ist so auffallend,
daß man sie meist für eine Stufenfolge der Individualität
selbst gehalten, ja oft überhaupt nur den Gebilden der höheren
Seinsschichten Individualität zugesprochen hat.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 380 |
Es ist keineswegs nur das Dafürhalten des menschlichen Erlebens,
das in den Prozessen der anorganischen Natur die Einmaligkeit des einzelnen
Vorganges ignorieren zu können meint. Das Ignorieren hat auch einen
sehr triftigen ontologischen Grund: die Individualität dieser Prozesse
ist zwar vorhanden, aber sie ist in der Tat ontisch gewichtslos. Denn
die inhaltlichen Unterschiede in den Prozessen sind relativ gering, das
Identische in ihnen ist im entschiedenen Übergewicht. Das ist der
Grund, warum die Wissenschaften, die von diesen Prozessen - und selbst
von den typischen dynamischen Gefügen - handeln, sich an das Gleichartige
in ihnen halten. Es sind Gesetzeswissenschaften.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 380-381 |
Daß es auch vereinzelte Gegnstände dieser Seinsstufe
gibt, an denen die Forschung auf das Einmalige geht - wie z.B. der Erdkörper
als Gegenstand der Geologie und Geographie - ändert hieran nichts.
Denn hier ist der Bezug auf den Menschen als Bewohner der Erde das Maßgebende.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 381 |
Im Reich des Organischen verschiebt sich das Seinsgewicht schon
ein wenig auf das Individuelle zu. Zwar ist in im Ganzen auch an den lebenden
Individuen einer Art die qualitative Individualität nocvh minimal;
aber sie ist ontisch nicht gewichtslos, weil minimale Abweichungen vom
Arttypus phylogenetisch zu Faktoren der Artumbildung werden können.
Das findet seine Bestätigung, wenn man die Entfaltung des lebens
auf der Erde in ihrer zeitlichen und räumlichen Einmaligkeit ansieht,
in der denn auch das Leben jeder Art als Stammesleben seine zeitlichen
Grenzen und seine Einmaligkeit hat. Dieser Gesichtspunkt liegt uns im
Leben fern, und selbst die Wissenschaft beobachtet und analysiert die
Lebensfunktionen des einzelnen Organismus nur als die eines Repräsentatnten.
Aber im realen Zusammenhang der Formen des Lebendigen ist doch die Einzigkeit
des Stammeslebens ein Wesensmoment von hohem ontischen Gewicht. Zum Bewußtsein
kommt uns das freilich nur, wenn wir vom Aussterben heute lebender Arten
hören. Wirkliche Aktualität aber gewinnt es, wo es zum Stammesleben
des Menschen selbst in seiner hohen rassischen und völkischen Differenzierung
geht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 381 |
Dieses Seinsgewicht des Individuellen nimmt in den höheren
Schichten ganz unverhältnismäßig zu. Auf der Stufe des
Seelischen ist es getragen von der Innerlichkeit und Geschiedenheit der
Bewußtseinswelten. Zwar täuscht sich der Mensch meist gar sehr
über die Originalität seines eigenen Seelenlebens - es ist,
wie die Chrakterologie und Psychologie wohl wissen, weit typenhafter,
als wir naiverweise ahnen -, aber es bleibt doch genug an wesentlicher
Ungleichartigkeit übrig. Und diese Ungleichratigkeit ist gerade für
das Gesamtbild der menschlichen Gemeinschaften ein wichtiger konstitutiver
Faktor. Denn die Gemeinschaften sind nicht Einheiten der Gleichartigkeit,
sondern gerade der Ungleichartigkeit; und die Mannigfaltigkeit der Funktionen
in ihnen hängt an der ,mannigfaltigkeit menschlich-seelischer Eigenart.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 381-382 |
Noch weit mehr ausschlaggebend wird die Einzigkeit des Einzelmenschen
an der Person als sittliches Wesen. Hier ist nicht die qualitative Andersheit
allein wichtig, sondern vor allem die Unübertragbarkeit von Schuld
und Verdienst, Vernatwortung und Entscheidungsfreiheit. Oder, um es prinzipieller
auszusprechen: die Determinantion dessen, was der Einzelne in seiner Lebenssphäre
dem Wirken und der Tendenz nach ist, ist hier selbst eine in ihrer Weise
einzige und einmalige; und was von ihr an Aktivität ausgeht, ist
unbeschadet der vielerlei gemeinsamen Einflüsse, denen sie unterliegt,
doch das ihrige und kann in keiner Weise auf den Generalnenner irgend
eines Allgemeinen zurückgebracht werden. Persönlichkeiten als
solche sind darum nicht ersetzbar, wie sehr der Einzelmensch auch als
Funktionsträger in der Gemeinschaft ersetzbar sein mag. Es bringt
ein jeder als Person sein eigenes Prinzip in die Welt, und mit ihm verschwindet
aus ihr auch das Prinzip.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 382 |
Dieses ist kein Gleichnis, wennschon es ein unbeholfenes Bild
für eine an sich nicht adäquat ausdrückbare Sache ist.
Es ist damit dasselbe wie in der Geschichte mit den Völkern: ein
jedes Volk bringt (nach dem bekannten Worte Hegels) sein eigenes Prinzip
in die Welt. Es kann das Prinzip nicht übertragen, es kann es nur
selbst an sich verwirklichen. Ein Irrtum Hegels war es, daß er dieses
»Prinzip« nach Art der Substanz verstand. Aber eindrucksvoll
kommen darin doch die Einmaligkeit und Einzigkeit der Völker in der
Menschengeschichte zur Geltung, und zwar gerade sofern an ihr ein Wesenszug
alles geschichtlichen Lebens hängt: die Unwiederbringbarkeit alles
geschichtlichen Seins. Es ist hier nicht wie im Naturgeschehen, wo die
neuen Vorgänge den alten im Wesentlichen gleichen und nur in Kleinigkeiten
abweichen. Gerade nur die allgemeinsten Formen des geschichtlichen Geschehens
kehren wieder, aber sie sind nichts als ein bloßes Schema; der überragende
Reichtum des Besonderen und immer wieder Anderen ist hier das eigentlich
Wesentliche. Das Wesentliche der Geschichte liegt im Einmaligen und nicht
Wiederkehrenden.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 382 |
Noch mancherlei Abwandlungen wären hinzuzufügen, die
hier zu weit führen würden. Eine der erstaunlichsten ist die
im künstlerischen Werk, dessen Einzigkeit leicht in die Augen springt,
und dessen geistiger Gehalt doch wieder weit darüber hinaus ins Allgemeine
weist. Etwas ähnliches ist es mit Geistesprodukten aller Art, sofern
sie sich geschichtlich über ihre Zeit hinaus - etwa im Schrifttum
- erhalten und immer neue Interpretationen erfahren. Hier überall
erscheint das Allgemeine in Form des Individuellen und gleichsam getragen
von ihm. Aber die Art des Getragensseins führt auf eine lange Reihe
neuer Probleme. Denn sie hat nichts gemein mit dem Enthaltensein des Allgemeinen
in den Einzelzügen der »Fälle«, wie wir es sonst
auf allen Gebieten des Realen kennen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 382-383 |
Es wurde zu Anfang der Untersuchung über die Qualität
(Kap. 35 a und b) ein engeres kategoriales Qualitätsproblem von dem
weiten Gebiet der empirischen Beschaffenheiten unterschieden. Die drei
Kategorienpaare: das Positive und das Negative, Identität und Verschiedenes,
Allgemeinhiet und Individualität, gehören diesem engeren Problem
an. In ihnen allein liegt der fundamentalontologische Gehalt des Qualitätsproblems.
Das weite Feld der empirischen Beschaffenheit dagegen gehört, wie
sich zeigte, der sinnlichen Gegebenheit und der ihr nahstehenden Auffassungsweise
des unmittelbaren Erlebens an. Es ist also etwas ontologisch Sekundäres,
und die realen Bestimmtheiten der Dinge, die der Mannigfaltigkeit sinnlicher
Qualitäten entsprechen, sind etwas ganz anderes als Qualitäten.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 383 |
Das bedeutet nicht, daß die Kategorialanalyse die qualitative
Mannigfaltigkeit, wie sie der Wahrnehmung gegeben ist, einfach ignorieren
könnte. Es ist doch vielmehr so, daß der Aufbau der Wahrnehmungswelt,
sofern er eine bestimmte Stufe des geistigen Seins ausmacht, mit in die
Schichtenfolge der realen Welt hineingehört; wie denn die ganze Erkenntnissphäre
mitsamt ihrer inhaltlichen Differenzierung sich der Seinsschicht des Geistes
einordnet (vgl. Kap. 22 c und d). Zugleich aber besteht das Erkenntnisverhältnis,
ontologisch angesehen, darin, daß die Inhalte des erkennenden Bewußtseins
bestimmten Seinsformen zugeordnet sind. Diese Zuordnung ist nicht identisch
mit jener Einordnung; in ihr vielmehr besthet die Erkenntnisrelation zum
seienden Gegenstande.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 383 |
Die qualitative Mannigfaltigkeit gehört als solche der sekundären
Inhaltssphäre der Erkenntnis an und bleibt auch dort auf bestimmte
Stufen beschränkt; quantitative Mannigfaltigkeit dagegen ist durchaus
Sache des Realen selbst.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 391 |
Ideales Sein deckt sich ... nur teilweise mit dem realen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 391 |
Die Reichweite deds Quantitativen im Aufbau der realen Welt deckt
sich ... nicht mit einem Ausschnitt der mathematischen Verhältnisse.
Die Quantität des Realen ist nur in der niedersten Realschicht eine
mathematische, und nur hier ist sei zahlenmäßig exakt faßbar.
Weiter hinauf entzieht sie sich aller exakten Fassung, hört aber
nicht auf, echte Quantität zu sein. Schon im Organismus ist das Meßbare
mehr äußerlich, aber die Größenverhältnisse
bleiben trotzdem wesentlich. In der Sphäre des Menschenlebens unterliegen
nur nich die ökonomischen Verhältnisse mathematischer Gesetzlichkeit,
und auch die nur in einem Teil ihrer bestimmenden Faktoren.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 391 |
Selbstverständlich aber liegt das eigentliche Seinsgewicht
der Quantität im Bereich der unbelebten Natur. Und es ist kein Zufall,
daß dieses in weitem Ausmaße mathematisch faßbar ist.
Die relative Einfachheit und Durchsichtigkeit der Naturvorgänge ist
eben identisch mit dem quantitativen Schema, dem sie unterliegen. Denn
dieses ist ein in hohem Maße allgemeines und in der Allgemeinheit
der mathematischen Größenverhältnisse faßbar. In
den höheren Seinsschichten steigert sich sehr schnell die Höhe
der Besonderung und die Komplexheit der Gefüge. Darum können
dort die mathematischen Verhältnisse, selbst wo sie wirklich noch
hineinreichen, nicht mehr das Wesen der Sache betreffen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 391-392 |
Die Gegenstände der reinen Mathematik mitsamt ihren Gesetzen
gehören dem idealen Sein an; diese selben Gesetze aber beherrschen
weitgehend die Struktur- und Bewegungsverhältnisse der anorganischen
Natur, zugleich aber auch die Denkzusammenhänge, soweit sie sich
auf die Erkenntnis dieser Verhältnisse beziehen. Darum gibt es eine
»exakte« Wissenschaft von diesen Naturverhältnissen,
aber keine vom Seienden höherer Ordnung.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 392 |
Die Eaxktheit ist die Kehrseite der Primitivität des Mathematischen
und deas rein Quantitativen überhaupt. Man kann auch sagen: sie ist
die Kehrseite des aufs äußerste vereinfachten Verhältnisses
von Seins- und Erkenntniskatgeorien, wie es eben nur auf Gegenstände
der niedersten Schicht zutrifft.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 392 |
Die Zahl ist inhaltsleer, sie allein ist reine Quantität,
mit der räumlichen Dimensionalität setzt bereits ein Verhältnis
von Maß und Größe ein, das eine, wenn auch blasse und
gleichsam minimale, so doch durchaus inhaltliche Bestimmtheit vorausasetzt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 393 |
Aber auch sonst gehört in die Philosophie der Mathematik
vielerlei, was für die ontologische Kategorialanalyse viel zu speziell
ist. z.B. eine Theorie der negativen Größen, der imaginären
und komplexen Zahl sowie manches andere, was nur in der Rechnung und im
Kalkül, nicht im Aufbau der realen Welt eine Rolle spielt. Von alledem
soll hier nicht die Rede sein.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 393 |
Drei Gegensatzpaare:
1.) Eines und Vieles, 2.) Teil und Ganzes, 3.) Endliches und Unendliches.
Aber auch das genügt keineswegs. Man kann das Wesen der Zahl wohl
annähernd in diesen Kategorien gegründet ansehen; aber die »Zahlenreihe«
als solche - verstanden als kontinuierliche Reihe aller reellen Zahlen
- geht darin nicht auf. Und dasselbe muß vom System der Zahlen mit
seiner eigenartigen Gesetzlichkeit gelten, sofern es wiederum im Reihencharakter
nicht aufgeht. Für die Seite des Erkenntnisproblems - also für
die Quantität in der sekundären Sphäre des Begreifens (also
innerhalb, und zwar in einem der obersten Bereiche der Seinschicht des
Geistigen; HB) - ist außerdem noch der Gegensatz der rationalen
und irrationalen Zahl von besonderem Gewicht. Denn hier ist die Grenze
der kategorialen Identität im Bereich der Quantität selbst faßbar
und damit zugleich die des mathematischen Apriorismus und der Berechenbarkeit
des Realen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 394 |
Das »Zählen« nach dinglichen Einheiten ist zwar
ein Verfahren des Verstandes; aber die Anzahl der Dinge bestht auch ohne
Zählung und vor ihr, und sie ist deswegen zählbar, weilsie schon
an sich eine bestimmt große Menge von relativ gleichartigen Gebilden
ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 394 |
Sie Anzahl der Atome im Erdkörper mag nur in erster Näherung
abschätzbar sein, aber sie ist auch ohne Abschätzung eine bestimmte
in jedem Augenblick und als solche ihrerseits bestimmend für das
innere Gleichgewicht, die Gestalt, Schichtenlagerung und Bewegungsverhältnisse
der Erde.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 394 |
Noch größere Bedeutung hat das ganzzahlige Verhältnis
in der Wendung der Physik gewonnen, die sie durch die Quantentheorie erfahren
hat. Die Voraussetzung der klassischen Physik, daß alle Prozesse
kontinuierlich ablaufen, hat sich als irrig erwiesen; es gibt Quanten
der Energieabgabe, die sich nicht mehr teilen, deren Multipla also stets
ganzzahlige Verhältnisse ergeben. Die Kategorie der Diskretion bekommt
auf diese Weise breiten Spielraum im Bereich der Naturvorgänge. Sie
ist also gar nicht einaml auf »Gebilde« beschränkt. Soweit
aber in der realen Welt die Diskretion und die Summierung gleicher Einheiten
reicht, so weit reicht auch die einfache ganze Zahl.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 394-395 |
Ist denn apriorische Anschauung auf Raum und Zeit beschränkt?
Hat nicht die Phänomenologie unserer Tage ein viel weiteres Feld
der Intution freigelegt? Und hat sich nicht bereits an einer ganzen Reihe
von Fundamentalkategorien (vgl. S. 203 ff.; HB)
erwiesen, daß sie im Aufbau der Anschauungswelt eine breite Rolle
spielen?
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 396 |
Die Zahl selbst ist ... ebensowenig Sache der Anschauung wie des
Begriffs. Sie hat ein kategoriales Sein, das bestimmte Seiten am Seienden
Concretum ausmacht - am idealen so gut wie am realen -, und alles Anschauen
und Begreifen ist diesem Sein gegenüber ebenso sekundär wie
überhaupt das Erkennen dem Sein gegenüber. Von diesem kategorialen
Seinscharakter der Zahl aus ist Recht und Unrecht des mathematischen Intuitivismus
leicht einzuschätzen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 396 |
Die Zahl. im Sinnen solchen Seins verstanden, ist die rein quantitative
und als solche inhaltslose Mannigfaltigkeit. Die Dimension, in der sie
sich bewegt, ist gleichfalls durch nichts als ihre Allgemeinheit und Inhaltslosigkeit
charakterisierbar. Sie ist deswegen auf alles übertragbar und ontisch
in allem enthalten, was quantitative Bestimmtheit hat. Sie stellt den
einfachsten kategorialen Typus der Reihe dar. Sie ist in ihrer Weise durchaus
einzig, und dei Zahlenmannigfaltigkeit in ihr ist eine eindimensionale.
Die koplexe Zahleneben fügt ihr zwar eine weitere Dimension hinzu,
aber in Wirklichkeit ist es nur die Wiederholung derselben Dimension.
Ein eigener Seinsbereich neben dem der reinen Quantität entspricht
ihr nicht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 397 |
Die Vielheit selbst beruht auf Wiederholung der Eins.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 397 |
Die Reihe der endlichen Zahlen geht ins Unendliche; sie reißt
nicht ab, weder vorwärts ins Positive noch rückwärts ins
Negative. Diese Unendlichkeit des Fortganges ist nicht die der Zahlen
selbst, sondern die der Reihe, in deren Wesen es liegt, nicht abzureißen.
Aber nach beiden Seiten nähern sich die Zahlenwerte dem Unendlichkeitsgroßen.
Vom Ganzen der Zahlenreihe aus gesehen ist der Bereich der Endlichkeit
in ihr nur ein Ausschnitt zu beiden Seiten des Nullpunktes, der ohne Grenze
ins Unendliche übergeht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 398 |
Nicht nur jede Zahl ist ein Ganzes, sondern auch die Eins, die
das Aufbauelement in ihr bildet. Un wie jedes Ganze, ist auch sie teilbar.
Das Wesen des Bruches ist nicht das, was der Bruchstrich für die
Rechenoperation bedeutet, die Division des Zählers durch den Nenner,
sondern die Teilung der Eins. Mit dem unbegrenzten Anwachsen des Nenners
aber geht diese Teilung ins Unendliche.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 398 |
Es ist ein Irttum, hierin eine Auflösung der Eins zu sehen.
Die Eins gerade bleibt erhalten, denn alle Teilung bleibt auf sie ebenso
rückbezogen wie die Reihe der ganazen Zahlen. Hebt man sie auf, so
fällt auch der eindeutige Sinn der gebrochenen Zahl hin. Zwei Dinge
aber sind es, die hierbei das Wesen der Zahl modifizieren:
1. Wie der unendliche Fortgang der Zahlenreihe nach beiden Seiten einen
endlichen Ausschnitt um den Nullpunkt herum erkennen ließ, so läßt
der unendliche Fortgang der Teilung zusammen mit jenem einen endlichen
Ausschnitt von Zahlenwerten um die Eins herum entstehen. Während
jener sich zwischen
und +
bewegt, hat dieser jenen Spielraum zwischen
und 1 / .
2. Da die gleiche Teibarkeit von jeder Einheit gilt, die Zahlenreihe sich
aber aus Einheiten aufbaut, so nähert, so nähert sich mit dem
Fortgang der Teilung ins Unendliche die Zahlenreihe - die zunächst
eine diskrete war - dem Zahlenkontinuum. Dieses Continuum ist die Reihe
aller ganzen und gebrochenen Zahlen, also aller reellen Zahlen überhaupt.
Aber es ist nicht schöpfbar durch die Reihe der in ganzzahligen Verhältnissen
ausdrückbaren Zahlenwerte. Da aber alle Zahlenwerte sich in ihm bewegen-
Diskretion in diesem Continuum sind -, so ist das Continuum der rellen
Zahlen nichtsdestoweniger die kategoriale Grundlage und das eigentliche
Gerüst der Zahlenreihe. - Von der endlichen Zahl aus ist es nicht
ohne Grenzübergang zu erreichen. Das liegt keineswegs bloß
an der Endlichkeit des rechnenden Verstandes. Es liegt vielmehr am Wesen
des Continuums selbst, sofern es ein Unendliches höheren Grades (höherer
»Mächtigkeit«) ist, als die Anzahl der ganzen und der
in ganzzahliger Teilung bestehenden gebrochenen Zahlen ist. In diesem
Continuum ist jeder beliebige Schnitt eine relle Zahl. Aber nicht jedem
Schnitt entspricht ein in gazzahligen Verhältnissen ausdrückbarer
Zahlenwert. Das Grenzphänomen, das hierfür beweisend ist, bildet
das Auftreten der sog. »transzendentalen Zahl«.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 398-399 |
Das ontologisch Wesentliche an der transzendentalen Zahl ist nicht,
daß sie nicht genau berechenbar ist und daß wir sie nur in
Näherungswerten angeben können - das vielmehr ist schon eine
Folge -, sondern daß zwischen ihr und der Eins kein gemeinsames
Maß ist. Darum kann sie auch weder mit einer ganzen Zahl noch mit
einem durch Teilung der Eins entstandenen Bruch ein gemeinsames Maß
haben. Das Verhältnis zwischen ihr und der endlichen Zahl ist ein
inkommensurables. - Dieses Verhältnis ist nicht eine Spitzfindigkeit
der Theorie. Es hat seinen Grund überhaupt nicht im Denken, sondern
im Sein. Darum ist das mathematische Denken auch vom Sein her auf sein
Bestehen aufmerksam geworden, und zwar ebensosehr vom idealen wie vom
realen Sein her. Das Verhältnis der Diagonale zur Seite im Quadrat,
das der Peripherie zum Durchmesser des Kreises, sind altbekannte Beispiele
dafür. Vollends in der realen Welt sind inkommensurable Größen,
streng genommen, gar nicht vorhanden: nimmt man den Maßstab von
der einen her, so paßt er nicht auf die andere, nur die Ungenauigkeit
unserer Meßmethoden täuscht uns ein Aufgehen vor.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 399 |
Blickt man auf das Ganze der Zahlenreihe - verstanden als Reihe
alle rellen Zahlen -, so erweist sich das System der endlichen Zahlen
(einschließlich der endlich gebrochenen) als unfähig, die Reihe
auszufüllen. Wie weit man die Teilung auch gehen läßt,
es bleiben doch Lücken in der Reihe, und erst die transzendentale
Zahl füllt die Lücken aus. Da ber das Continuum hier wie überall
das Fundament der Diskretion ist, so muß man die Konsequenz ziehen,
daß ontologisch die transzendentale Zahl mit ihrer weite höheren
Mannigfaltigkeit den eigentlichen Grundstock der Zahlenreihe bildet, während
die Mannigfaltigkeit der endlichen Zahlen innerhalb derselben Reihe nur
ein System eingestreuter Sonderfälle ausmacht. Dieses System gleicht
einem Netz, dessen Maschen sich zwar immer enger machen lassen, aber doch
stets Maschen bleiben, die zwischen den Fäden Spielraum lassen. -
Daß dem wirklich so ist, beweist die Tatsache, daß die Näherungswerte
einer transzendentalen Zahl ihr zwar immer näher kommen, aber sie
doch niemals erreichen. Mit welchen Methoden sie errechnet werden, ist
dafür ganz gleichgültig. Verschieden ist nur die Grenze, bis
zu der sich die Näherungswerte vortreiben lassen. Das Verhältnis
zum Grenzwert aber bleibt in aller Näherung grundsätzlich das
gleiche.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 399-400 |
Der infinitesimale Bau der Zahlenreihe, der im Phänomen der
transzendentalen Zahl anschaulich wird, wäre nun von geringer ontologischer
Relevanz, wenn es dabei nur um das System der Zahlen selbst, seine Gesetze
und die Grenzen der Rechnung ginge. Denn so rein in sich betrachtet, hat
dieses System keinen weiteren Inhalt, es ist die reine, leere Quantität,
die noch nicht Quantität von etwas ist. Alle Verhältnisse, die
es umfaßt, spielen nur nur in der idealen Sphäre; und gerade
an der Gleichgültigkeit dieser Verhältnisse gegen allen realen
Inhalt ist der Charakter des idealen Seins als solchen faßbar.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 400 |
Aber es geht hier keineswegs bloß um das Zahlensystem selbst.
Wie die Entdeckung des Zahlenkontinuums an gewissen Problemen der Geometrie
und der Mechanik haftete, so ist umgekehrt zu sagen, daß allgemein
der Aufbau der Größenverhältnisse in Raum und Zeit, also
auch der von Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung, bereits auf dem
Prinzip der kontinuierlichen Größenänderung beruht. Es
geht also im eminenten Sinne um Realverhältnisse, und zwar gerade
um diejenigen, in denen überhaupt die Quantität des Seienden
ihre größte konstitutive Kraft entfalten.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 400 |
Geht man der Geschichte der Infinitesimalrechnung nach, so findet
man das ontologische Grundverhältnis durch eine uferlose Reihe schwerfälliger
mathematischer Begriffe verdeckt, die alle den Zweck verfolgen, die kleinsten
Größenunterschiede allererst mathematisch faßbar zu machen.
Die Berechenbarkeit bewegt sich hier notgedrungen in Näherungsmethoden,
bei denen es dann daruf ankommt, die Fehlergrenzen selbst faßbar
zu machen. In den allgemeinen Überlegungen aber (im Kalkül)
spielt gerade der Faktor des nichtfaßbaren Unendlichkleinen selbst
die entscheidende Rolle. Es ist immer wieder mit Recht betont worden,
daß die Methematik nicht mit dem Unendlichkleinen »rechnet«.
Aber sie kalkuliert es ein und seztz es in seiner Unberechenbarkeit schon
im Ansatz ihrer Gleichungen voraus.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 400 |
Dieses im Ansatz Vorausgesetzte ist es aber, was in der Richtungsänderung
der Kurve, im Gecshwindigkeitszuwachs der räumlichen Bewegung, kurz
in der realen Größenänderung selbst das eigentlich Grundlegende
ist. Denn die Größenänderung ist hier überall eine
kontinuierliche, nicht in sprunghaft getrennte Stadien auflösbare.
Da aber die Überlegung notgedrungen von dem endlichen Größenunterschied
getrennter Stadien ausgehen muß, so geht sie eben vom ontisch Sekundären
aus und kann zum Primären nur durch den gedanklichen Sprung gelangen,
mit dem sie das Zusammenrücken der Stadien vorwegnimmt. In dieser
Vorwegngahme weiß sie, daß auch die Größenunterschiede
selbst hierbei »verschwinden«, d.h. sich der Null nähern.
Aber sie setzt voraus, daß selbst in diesem ihren »Verschwinden«
das Verhältnis der Größenunterschiede sich erhält.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 401 |
Diese letztere Voraussetzung ist es, auf die alles ankommt. Sie
ist bekannt aus der Formulierung Leibnizens, daß die Gesetze des
Finiten sich im Infiniten erhalten. Von der mathematischen Überlegung
aus aber ist dieser Satz nur ein Postulat. Beweisen läßt er
sich nicht. Er erthält seine Bestätigung nur dadurch, daß
die Rechnung, deren Ansatz unter seiner Voraussetzung gemacht wurde, zu
Resultaten führt, die innerhalb gewisse Fehlergrenzen sich an dem
Realphänomenen bestätigen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 401 |
Die Bestätigung aber berechtigt nun ihrerseits dazu, das
Vorausgesetzte als das eigentliche Grundmoment der in Frage stehenden
Realverhältnisse anzusehen. Die Paradoxie daran ist nicht aus der
Welt zu schaffen. Die Bewegung in einem Zeitpunkt steht still; dennoch
soll sich die Geschwindigkeit aus Inkrementen der Beschleunigung aufbauen,
die im Zeitpunkt einsetzen und selbst keine eigentlichen Größen
mehr sind. Die Strecke der Kurve im Raumpunkt wird gleich Null, aber ihre
Richtung soll sie auch im Punkte behalten, und das Inkrement der Richtungsänderung
soll gerade im Punkte einsetzen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 401 |
Aber die Paradoxie besteht nur für die Anschauung. Das begreifende
Denken sieht relativ leicht ein, daß so etwas nicht nur grundsätzlich
möglich ist, sondern auch im Realen wirklich sein muß, wenn
anders die Bewegung der Massen im Raum, die Beschleunigung, die Bahnen
der Umläufe und der stetige Wechsel der Bahngeschwindigkeiten Realität
haben sollen. Von alledem würde sonst eben nichts zustande kommen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 401 |
Der Gedanke der »infinitesimalen Realtät«, der
vor 40 Jahren im Neukantianismus aufkam, antbehrt im Hinblick auf die
Kontinuität gewisser Realprozesse nicht der Berechtigung. Das Erstaunliche
ist nur, daß er damals als Argument für den reinen Denkidealismus
verwandt wurde: weil das Unendlichkleine nur im Denken besteht, während
die realen Vorgänge der Bewegungsveränderung u.a.m. sein Bestehen
voraussetzen, so sollte folgen, daß die Realität dieser Vorgänge
nur im Denken besteht. Die Ontologie schließt mit größerem
Recht umgekehrt: weil die Vorgänge der Bewegungsveränderung
und alle ihr verwandten echte Realprozesse sind, diese Realprozesse aber
das Unendlichkleine voraussetzen, so folgt, daß das Unendlichkleine
in ihnen real sein muß. Ja, es folgt, daß das Unendlichkleine
das eigentlich konstituierende Grundmoment ihrer Kontinuität ist.
Der berechtigte Sinn des Begriffs eine »infinitesimalen Realtät«
hat sich also im Vergleich mit dem, was seine Urheber mit ihm meinten,
als der umgekehrte erwiesen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 401-402 |
Nicht darauf beruht der durchgreifende und in aller Wissenschaft
beispiellose Erfolg der Unendlichkeitsrechnung in den exakten Wissenschaften,
daß sich das rechnende Denken vom Sein entfernte, um es durch einen
Kunstgriff gleichsam zu überspringen und erst im Resultat wiederzufinden.
Vergeblich hat die Fiktionentheorie die Sachlage so zu deuten gesucht;
es ist ihr nicht gelungen, einleuchtend zu machen, wie der Kunstgriff
über ein Netz komplizierter Umwege wieder treffsicher auf Gegebenes
hinausgelangen sollte, wenn diese Umwege lediglich solche der Abstraktion
sind.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 402 |
Jener beispiellose Erfolg beruht vielmehr auf einer Annäherung
an die wirklichen Seinsverhältnisse, wie sie die Anschauung und der
mit endlichen Größen rechnende Verstand nicht aufbringt. Das
Continuum der Größenänderung ist eben unanschaulich. Es
zu erfassen kann nur in der Entfernung von der Anschauung gelignen. Aber
Entfernung von dert Anschauung ist nicht Entfernung vom Realen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 402 |
In gewissem Sinne ist es wahr, daß diese Kunstgriffe der
Rechnung selbst wiederum die Anschauung erweitern: das zunächst Unübersichtliche
wird auf diese Weise in der Tat zusammenschaubar; aber der Grad der Anschaulichkeit
verliert sich doch mit ihrer Erweiterung immer mehr. Und von einer gewissen
Grenze ab - die z.B. im Rechnen mit dem Logarithmus längst überschritten
ist - versagt sie ganz. Die Rechenmethoden aber bewegen sich mit ungeschmälerter
Sicherheit weit darüber hinaus.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 405 |
Kategoriale Gesetze haben natürlich selbst auch den Charakter
von Kategorien, und da sie allgemein sind, von Fundamentalkategorien (vgl.
S. 203 ff.; HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 413 |
Das Kategorienreich ist eine mehrdimensioanle Mannigfaltigkeit.
Es geht in keinem einfachen Reihenschema auf. Als die auffallendste Dimension
dieser Mannigfaltigkeit hat sich die der »Höhe« ergeben,
in der die Seinsschichten einnander überlagern. Eine zweite liegt
in der inhaltlichen »Breite« der Schichten, d.h. in der Nebenordnung
zusammengehöriger Kategorien gleicher Höhe. Diese beiden Dimensionen
bestimmen den Spielraum der kategorialen Gesetzlichkeit. Neben ihnen spielt
nur noch das Verhältnis von Prinzip und Concretum eine bestimmende
Rolle in ihr. Es ghet seiner Stellung nach der kategorialen Mannigfaltigkeit
voraus und beansprucht das in der reihe der Gesetze den Vortritt. Der
Dimension nach steht es quer zu allen Unterschieden der Kategorien unter
sich, sowohl der »Höhe« als auch der »Breite«
nach.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 416-417 |
Untergeordnet dagegen ist in diesem Zusammenhang das Verhältnis
der Sphären. Die beiden sekundären Sphären gehören
ohnehin dem geistigen Sein an, orden sich also der Schichtenfolge des
Realen ein; die ideale Seinssphäre aber tritt nur auf einigen wenigen
Gebieten selbständig neben die Realsphäre - z.B. im Gebiet des
rein Quantitativen -, und im übrigen ist alle Seinsbestimmtheit in
ihr eine unvollständige. Zu der Unvollständigkeit aber sind
auch die kategorialen Verhältnisse nicht voll entwickelt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 417 |
Die Erkenntnissphäre ist freilich in diesem Zusammenhang
von hohem Interesse. Hier hängt am Kategorienverhältnis der
ganze Einschlag des Apriorischen und unmittelbar also die Grundlage alles
Begreifens, Verstehens, tieferen Eindringens. Aber eine allgemeine Gesetzlichkeit,
welche die Übereinstimmung von Erkenntniskategorien und Seinskategorien
(d.h. die Reichweite und Begrenzung ihrer Identität) beträfe,
gibt es nicht. Jene partiale Wiederkehr der Realprinzipien im Verstande,
an der alle Einsicht höherer Ordnung häüngt, ist ontologisch
gesehen ein Anpassungsprodukt des Menschenwesens an die Realverhältnisse,
auf denen es beruht und in denen es lebt. Alles ist hier praktisch durch
Lebensbedürfnisse und Lebensaktualitäten bestimmt - also durch
sekundäre Verhältnisse komplexester Art. Es ist nicht durch
Gesetze bestimmt, die an den Kategorien als solchen bestehen, sondern
durch Verhältnisse, die am Concretum bestehen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 417 |
Die Kategoriale Gesetzlichkeit selbst ergibt sich nun bereits
unschwer aus der Betrachtung der Seinsgegensätze - ihrer Zusammenhämge
und ihrer Schichtenabwandlung -, und sie wird dabei in vielen Stücken
unmittelbar einsichtig, kann aber auf dieser basis nicht als erwiesen
gelten. So lassen sich an der Überlagerung der Schichten ohne weiteres
Schichtungsgesetze der Kategorien ablesen, die ihrerseits wieder in einem
Grundsatz wurzeln; ferner ergibt sich, sobald der Typus der Schichtung
erfaßt ist, auch die in der gleichen Höhendimension spielende
Abhängigkeit, die sich ebenfalls in Gesetze fassen und auf einen
Grundsatz zurückführen läßt. In beiden Fällen
ist das Verhältnis zwischen dem Grundsatz und der voll entwickelten
Reihe der Gesetze dadurch bestimmt, daß die letzteren untrennbar
zusammengehören und gleichsam alle miteinander nur eine einzige,
einheitliche Gesetzlichkeit ausmachen; diese ist nur zu vielseitig, um
sich übersichtlich in einer einzigen Gesetzesformel aussprechen zu
lassen. daraus folgt die formale Notwendigkeit, sie in mehrere Gesetze
zu zerlegen und diese gesondert zum Asudruck zu bringen. Daß die
Zerlegung beide Male je vier Gesetze ergibt, ist der Sache äußerlich.
Die Zerlegung und Fassung könnte ohne inhaltlichen Unterschied auch
eine andere sein. Der Inhalt der Gesetze selbst dagegen ist nicht willkürlich
veränderbar. Man kann ihn in aller möglichen Einteilung und
Formulierung nur entweder treffen oder verfehlen, aber nicht modifizieren.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 417-418 |
Diesen beiden Typen der Gesetzlichkeit in »vertikaler«
Diemnsion stehen zwei andere gegenüber, die der Sache nach in ihnen
bereits vorausgesetzt sind. Die eine von ihnen betrifft die »horizontale«
Mannigfaltigkeit der Kategorien gleicher Schichtenhöhe. Sie ist eine
Gesetzlichkeit des inneren Zusammenhanges, welche jede der Kategorienschichten
in sich selbst zur Einehit zusammenschließt. Sie steht mit den Beziehungsgesetzen
der »Höhe« in engster Verbindung und ist ohne sie nur
zur Hälfte verständlich. Die andere dagegen hält sich an
das Verhältnis von Prinzip und Concretum, oder richtiger, sie spricht
dieses Verhältnis allererst in Gesetzesform aus. Diese letztere Gesetzlichkeit
steht unabhängig von den drei anderen Gesetzestypen da, ist auch
ohne sie zu verstehen und geht deswegen ihnen allen voraus. Sie ist fundamentaler
als die übrigen alle, aber auch formaler, elementarer und für
den Aufbau der realen Welt von geringeremn Interesse. Aber sie ist keineswegs
selbstverständlich. Sie wird vielmehr erst faßbar, nachdem
die ganze Reihe der alten Vorurteile, das Wesen der Prinzipien betreffend,
endgültig gefallen ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 418 |
Auch diese beiden Typen der Gesetzlichekit sind zu komplex, um
in einer einzigen Gesetzesformel zum Ausdruck zu kommen. Auch sie werden
erst in der Zerlegung durchsichtig. Der Zerlegung kommt hier eine natürliche
Gliederung der Wesensmomente entgegen, aber die Vierzahl der Gesetze ist
irrelevant und könnte sehr wohl einer anderen Aufteilung weichen.
In beiden aber läßt sich je ein Grundsatz aufweisen. Diese
beiden Grundsätze sind außerordentlich einfach. Sie leuchten
unmittelbar ein, wenn man den ganzen Gang der Untersuchung bis zu diesem
Punkte verfogt hat.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 418 |
Hiernach lassen sich vor der Behandlung der
Gesetze selbst die vier Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit
zusammenstellen. Sie können in dieser Allgemeinheit freilich nur
der Übersicht dienen.
1. |
Der Grundsatz der Geltung: Kategorien
sind das, was sie sind, nur als Prinzipien von etwas; sie sind nichts
ohne ihr Concretum, wie dieses nichts ohne sie ist. |
2. |
Der Grundsatz der Kohärenz: Kategorien
bestehen nicht als einzelne für sich, sondern nur im Verbande
der Kategorienschicht; sie sind durch ihn gebunden und mitbestimmt.
|
3. |
Der Grundsatz der Schichtung: Kategorien
der niederen Schichten sind weitgehend in denen der höheren
Schichten enthalten, aber nicht umgekehrt diese in jenen. |
4. |
Der Grundsatz der Dependenz: Abhängigkeit
besteht nur einseitig als die der höheren Kategorien von den
niederen; aber sie ist eine bloß partiale Abhängigkeit,
sie läßt der Eigenständigkeit der höheren Kategorien
weiten Spielraum. |
In solcher Fassung können die Grundsätze noch kaum etwas vom
eigentlichen Gehalt der kategorialen Gesetzlichkeit verraten. Auch ist
ihre Einsichtigkeit in dieser Allgemeinheit nur eine verschwommene. Das
ganze Gewicht der Aufgabe fällt also auf die genauere inhaltliche
Explikation dessen, was sie eigentlich besagen. Das kann nur in der Zerlegung
der Grundsätze in die Teilgesetze geschehen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 418-419 |
1. Das Gesetz des Prinzips:
Das Sein einer Kategorie besteht in
ihrem Prinzipsein. Daß etwas Prinzip einer Sache ist, heißt
nichts anderes, als daß es bestimmte Seiten der Sache determiniert,
resp. für sie »gilt«. Die Kategorie hat kein anderes
Sein als dieses ihr Prinzipsein »für« das Concretum. |
2. Das Gesetz der Schichtengeltung:
Die Determination, die von einer Kategorie
ausgeht, ist in den Grenzen ihrer Geltung - also innerhalb der Seinsschicht,
der sie zugehört - eine für alles Concretum unverbrühlich
bindende. Es gibt von ihr keine Ausnahme, und keine Macht außer
oder neben ihr vermag sie aufzuheben. |
3. Das Gesetz der Schichtenzugehörigkeit:
Die unverbrüchliche Geltung einer
Kategorie besteht aber nur am Concretum der ihr zugehörigen
Seinsschicht. Außerhalb der Schicht kann sie - soweit sie
da überhaupt besteht - nur eine beschränkte und modifizierte
sein. |
4. Das Gesetz der Schichtendetermination:
Am Concretum ist durch die Kategorien
seiner Schicht alles Prinzipielle nicht nur unverbrüchlich,
sondern auch vollständig determiniert. Das Concretum der Schicht
also ist durch sie auch kategorial saturiert und bedarf keiner anderweitigen
Bestimmung. |
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 420 |
Der Grundsatz der kategorialen Kohärenz (vgl.
S. 418; HB) besagte, daß jede Kategorie durch den Verband
der ganzen Kategorienschichtgebunden und inhaltlich mitbestimmt ist, also
kein Bestehen außer ihm hat. Darin sind deutlich vier Momente enthalten,
die sich gesondert formulieren lassen:
1. |
Die Gemeinsamkeit der Geltung. |
2. |
Die inhaltliche Zusammengehörigkeit. |
3. |
Der Totalitätscharakter dees
Schichtenverbandes. |
4. |
Das inhaltliche Mitbestimmtsein der
Einzelkategorie durch ihn. |
Diesen vier Momenten entsprechen die vier Gesetze der
kategorialen Kohärenz:
1. |
Das Gesetz der Verbundenheit. Die
Kategorien einer Seinsschicht determinieren das Concretum nicht
isoliert (jede für sich), sondern nur gemeinsam, in Verbundenheit.
Sie bilden zusammen eine Determinationseinheit, innerhalb deren
die einzelnen Kategorien wohl sehr verschieden vorwiegen oder zurücktreten,
aber nicht für sich determinieren können. |
2. |
Das Gesetz der Schichteneinheit. Die
Kategorien einer Schicht bilden auch in sich selbst eine unlösliche
Einheit. Die einzelne besteht nur zurecht, sofern die anderen zurecht
bestehen. Ihre Verbundenheit in der Determination wurzelt in ihrer
eigenen inhaltlichen Verflochtenheit. Es gibt keine isolierten Kategorien. |
3. |
Das Gesetz der Schichtenganzheit.
Die Einheit einer Kategorienschicht ist nicht die Summe ihrer Elemente,
sondern eine unteilbareGanzheit, die das Prius vor den Elementen
hat. Die Schichtenganzheit besteht in der Wechselbedingtheit ihrer
Glieder. |
4. |
Das Gesetz der Implikation. Die Ganzheit
der Schicht kehrt an jedem Gliede wieder. Jede einzelne Kategorie
impliziert die übrigen Kategorien gleicher Schicht. Jede einzelne
hat ihr Eigenwesen ebensowohl außer sich in den anderen Kategorien
wie in sich; die Kohärenz der Schicht aber ist ebensowohl an
jedem Gliede als auch am Ganzen vollständig vorhanden. |
Es ist diesen Kohärenzgesetzen leicht anzusehen, daß sie alle
ein und dasselbe Grundverhältnis ursprünglicher Verbundenheit
ausdrücken. Sie zeigen es nur von verschiedenen Seiten.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 433-434 |
Hegels Dialektik ... ist eine Metaphysik der kategorialen Implikation,
die unter den großen Theorien der Vergangenheit einzig dasteht.
.... - In dieser Theorie hat die kategoriale Differenz ein sehr bestimmtes
Thema angenommen. Man kann es in drei Momente zerlegen:
1. |
Die Antithetik, das an jeder Kategorie
auftretende Widerspiel von These und Antithese, welches über
sie hinausweist. |
2. |
Die Synthese, das Hervorgehen der
neuen Kategorie aus dem Widerstreit. |
3. |
Der ideologische Aufstieg in dieser
Bewegung, in dem sich die niedere Kategorie jedesmal als ein bloßes
Moment der höheren erweist. |
Das bekannteste dieser drei Momente ist das erste, die Antithetik. Man
kann es nicht damit abtun, daß es viel zu sehr verallgemeinert auftritt.
Faktisch gibt es freilich auch ganz andere, einfache Implikation der Kategorien;
aber es gibt doch auch mehr Widerstreit, als das harmonische Denken meint,
und Hegel hatte nicht nur recht, ihn aufzudecken, sondern sein Verfahren
ist auch das Mittel, ihn aufzuspüren. Auf diese Weise gelang ihm
eine ganze Reihe wichtiger Entdeckungen. - .... Der echte Widerstreit
der Sache ist, namentlich in den niederen Seinschichten, nicht entfernt
so dicht gesät, wie die Einseitigkeit der Begriffe uns vortäuscht
(vgl. Kap. 32 a und c). - So haben wir in der Hegelschen Dialektik manche
echte Sachantinomie, die der kategorialen Struktur anhaftet, daneben aber
viele unechte. Die saubere Scheidung der einen von den anderen ist eine
Arbeit der speziellen Analyse, die bis heute noch nicht geleistet, ja
kaum in Angriff genommen ist. - .... Es liegt auf der Hand, daß
eine Dialektik, die spekulativ am Begriff hängt, sich auch konstruktiv
weit von der realen Welt und ihren Kategorien entfernen kann. Das wird
bei Hegel sehr sichtbar in der Art, wie seine Synthesen sich über
die Antithetik aufbauen. Dieses Synthesen sind nicht Auflösungen
des Widerspruchs, sondern nur seine »Aufhebung« in ein anderes,
in dem er erhalten bleibt. - .... In der Konstruktion von Synthesen liegt
die eigentliche innere Gefahr einer spekulativen Dialektik; in ihr ist
auch das Hauptmoment des Unreellen in der Hegelschen Dialektik zu suchen.
Freilich gibt es unter den Synthesen Hegels solche, die wirklich ein Sachverhältnis
treffen und damit ein Kategorienverhältnis aufdecken; das gilt in
erster Linie von denjenigen, die auf dem Gebiete des geistigen Seins liegen.
Aber gerade das ist verführerisch im Hinblick auf die lange Reihe
der übrigen Synthesen; es erweckt den Schein, als wären auch
sie an der Sache selbst gewonnen. .... - Vollends irreführend aber
ist das dritte Moment (neben der Antithetik und der Synthesis), der Aufstieg.
Wenn jedes komplexe Kategorienverhältnis eine höhere Kategorie
impliziert, so wird damit nicht nur die Implikation überhaupt aus
ihrer natürlichen Dimension, der »Horizontalen«, in ein
Höhenverhältnis verschoben, sondern das Höhenverhältnis
wird auch ganz eindeutig als die einseitige, nicht umkehrbare Abhängigkeit
des Niederen vom Höheren verstanden. Damit aber wird eine gewaltige
Vorentscheidung über den Aufbau der realen Welt getroffen. Der Gesamtaspekt
ist dann eine einzige ununterbrochene Kette kategorialer Dependenz - ähnlich
wie die im Neuplatonismus entworfene -, wobei letzten Endes alles am höchsten
Gliede hängt: alles Mechanische ist schon oragnisch bedingt, alles
Organische ist seelisch bedingt, und so immer weiter hinauf bis zum »absoluten
Geiste«. Das Ganze der Welt hat sein Universalprinzip im Geiste.
Damit ist dann alle eigentliche Untersuchung über die Schichtungs-
und Abhängigkeitsverhältnisse der realen Welt überflüssig
gemacht; ihr Resultat ist vorweggenommen. - .... Der Aufstieg ist das
bedenklichste Moment in der Hegelschen Dialektik, dasjenige wodurch sie
unreell wird und den Zusammenhang mit dem Gegebenen verliert. - .... Teleologisierung
und Vermenschlichung der Natur. - .... Innere Gründe des Streites
um die Dialektik. - Methodisch muß zu diesen Überlegungen bemerkt
werden, daß man keineswegs jedermann ohne weiteres damit überzeugen
kann. Es sind zwei Bedingungen dafür zu erfüllen:
1. |
Eine gewisse formale, denktechnische
und inhaltliche Beherrschung der Hegelschen Dialektik. |
2. |
Eine geweisse Distanz gegen sie. |
Diese Bedingungen zu erfüllen ist außerordentlich schwer. - Erfahrungsgemäß
fordert die denktechnische Beherrschung dieser Dialektik eine langjährige
Hingabe an sie. Denn man kann sie nicht von außen fassen, man kann
nur mit dem eigenen Denken in sie eintreten und ihre eigenartigen Gänge
mitvollziehen. Ist man aber nach vielem Bemühen in ihren Duktus hineingelangt,
so ist das eigene Denken auch von ihr erfaßt und geformt, man ist
ihr verfallen, in ihr gefangen, hat keine Freiheit mehr gegen sie. Wer
sie »beherrscht«, der wird vielmehr von ihr beherrscht und
verliert das Urteil über sie. Das Organ der Kritik versagt. Diese
Erfahrung bestätigt sich immer wieder. - Die innere Gefahr der Dialektik
ist die unwiderstehliche Verführungskraft, die sie ausübt, sobald
man ihre Kunst erlernt hat. .... - Weit schwieriger aber noch, als dieser
Dialektik zugleich verstehend zu folgen und kritisch gegenüberzustehen,
ist die Aufgabe, ihr auswertend gerecht zu werden. Sie ist nicht nur eine
Methode des philosophischen Vorgehens, sondern auch eine Metaphysik der
kategorialen Kohärenz, so gut wie die Kombinatorik eine solche war,
nur mit überlegenen Mitteln und gesteigertem Anspruch. Und gerade
in dieser Eigenschaft als Metaphysik ist sie für das Problem der
Kategorien lehrreich .... - Kein objektiver Beurteiler wird ihr die Fülle
ihrer inhaltlichen Errungenschaften bestreiten: die lange Reihe erstmalig
herausgearbeiteter Probleme, Antinomien und kategorialer Strukturen. ....
Die bedeutendsten Errungenschaften Hegels liegen auf der Höhe des
geistigen Seins. Bis in diese Schichtenhöhe hinauf aber reichen die
Wege heutiger Kategorialanalyse noch kaum. .... - Kategoriale Kohärenz
und Verflüssigung der Begriffe. - .... Die Hegelsche Dialektik ...
ist das Beispiel einer Begriffsbildung, die mit dieser Forderung (die
Begrenztheit der Begriffe überhaupt aufzuheben uns sie selbst ineinander
überfließen zu lassen; HB) in der Tat ernst macht. Die
kategorialen Begriffe gehen hier selbst und als solche ineinander über.
Als vereinzelte verschwinden sie damit im Duktus der Dialektik. Hegel
nennt dieses die »Flüssigkeit« der Begriffe; und der
Sinn dieser Verflüssigung geht dahin, daß erst durch sie die
Begriffe tragfähig für ihren Gegenstand werden. Im Fortgange
der Dialektik nämlich sagt immer erst der nächste, was der vorhergehende
war; dieser war also ohne ihn gar nicht er selbst. Es ist zwar die Diskretion
der Begriffe, an die sich hierbei der Wortausdruck hält; aber das
Verhältnis selbst, das ausgedrückt wird, ist ein Continuum der
Begriffe. Die Dialektik bleibt so zwar mit dem Widerspruch behaftet, weil
das Begreifen mit der Scheidung der Begriffe behaftet bleibt. Aber sie
ist doch der Ausdruck der Ungeschiedenheit und des Gegenteils ihrer selbst.
- Hier trifft die Hegelsche Dialektik einen Punkt, der für die Fassung
der kategorialen Kohärenz wesentlich ist. Von jeher hat die Definitionstechnik
der klassischen Logik an den Kategorien versagt. Das liegt nicht am Einschlag
der Irrationalität allein, es liegt auch an der Grenzziehung (definitio)
als solcher; der unbegrenzte Begriff aber ist kein Begriff mehr. Man muß
alos die Begriffe in ständiger Auflösung und Umbildung erhalten;
und das eben ist es, was Hegel mit der Bewegung der Begriffe meint, ja
was ihm auch in manchen Partien seiner Dialektik gelungen sein dürfte.
Denn es läßt sich nicht verkennen, daß ihm auf diese
Weise die lichtvolle und wahrhaft geniale Fassung von schwierigen Sachverhältnisse
geglückt ist, die sonst nirgends durchsichtig gemacht werden konnten.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 465-470 |
Das Grundverhältnis - wie es der Grundsatz
der Schichtung (vgl. S. 419; HB) ausspricht
- läßt sich nun in vier Schichtungsgesetze auseinanderlegen,
die ähnlich wie die Kohärenzgesetze (vgl. S. 433-434) erst zusammen
eine einheitliche, wiewohl komplexe Gesetzlichkeit ausmachen. Voneinander
getrennt bleiben sie einseitig und geben zu Mißverständnissen
Anlaß, die ihren Inhalt verdunkeln
1. |
Das Gesetz der Wiederkehr. Niedere
Kategorien kehren in den höheren Schichten als Teilmomente
höherer Kategorien fortlaufend wieder. Es gibt Kategorien,
die, einmal in einer Schicht aufgetaucht, nach oben zu nicht mehr
verschwinden, sondern immer wieder auftauchen. Die Gesamtlinie solcher
Wiederkehr hat die Form eines ununterbrochenen Hindurchgehens durch
die höheren Schichten. Aber dieses Verhältnis kehrt sich
nie um: die höheren Kategorien tauchen in den niederen Schichten
nicht wieder auf. Die kategoriale Wiederkehr ist irreversibel. |
2. |
Das Gesetz der Abwandlung. Die kategorialen
Elemente wandeln sich bei ihrer Wiederkehr in den höheren Schichten
mannigfaltig ab. Die besondere Stellung, die ihnen in der Kohärenz
der höheren Schichten zufällt, gibt ihnen von Schicht
zu Schicht neue Überformung. Was sich erhält, ist nur
das Element selbst. An ihm als solchem ist die Abwandlung akzidentell.
Im Aufbau der realen Welt aber ist sie ebenso wesentlich wie die
Erhaltung. |
3. |
Das Gesetz des Novums. Auf Grund der
Wiederkehr ist jede höhere Kategorie aus einer Mannigfaltigkeit
niederer Elemente zusammengesetzt. Aber sie geht niemals in deren
Summe auf. Sie ist stets noch etwas darüber hinaus: sie enthält
ein spezifisches Novum, d.h. ein kategoriales Moment, das mit ihr
neu auftritt, das also weder in den niederen noch auch in deren
Synthese enthalten ist und sich auch in sie nicht auflösen
läßt. Schon die Eigenstruktur des Element-Verbandes in
ihr ist ein Novum. Es können aber auch neue, eigenartige Elemente
hinzutreten. Das Novum der höheren Kategorien ist es, was in
der Wiederkehr der Elemente deren Hervor- und Zurücktreten
sowie ihre Abwandlung bestimmt. |
4. |
Das Gesetz der Schichtendistanz. Wiederkehr
und Abwandlung schreiten nicht kontinuierlich fort, sondern in Sprüngen.
Diese Sprünge sind allen durchgehenden Linien kategorialer
Wiederkehr und Abwandlung gemeinsam. Sie builden an der Gesamtheit
solcher Linien einheitliche Einschnitte. Auf diese Weise ergibt
sich eine einzige Vertikalgliederung für alle Abwandlung durch
die Höhendistanz der sich überlagernden Schichten. In
diesem einheitlichen Stufenreich hat jede höhere Schicht der
niederen gegenüber auch ein gemeinsames Novum: sie enthält
die abgewandelte Schichtenkohärenz der niederen und taucht
selbst mit der ihrigen abgewandelt in der nächst höheren
auf. Sie enthält sich also - entsprechend dem Kohärenzgesetzen
- in ihrer Gesamtheit nicht anders als die einzelnen Kategorien. |
Einen strengen Beweis dieser Gesetze zu erbringen, wäre nur bei vollständiger
Übersicht der Kategorien möglich. Davon kann im heutigen Stande
der Kategorienlehre nicht die Rede sein. Sie zu einer gewissen Einsichtigkeit
bringen kann man aber auch ohne strengen Beweis.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 475-476 |
Daß überhaupt niedere Kategorien in den höheren
als deren Elemente wiederkehren, ist die eigentliche Grundlage der kategorialen
Schichtung. Was das »Gesetz« der Wiederkehr besagt, kommt
erst heraus, wenn man den negativen Nachsatz hinzufügt;: diese Richtung
der Wiederkehr läßt sich nicht umkehren. Es sind also wohl
niedere Kategorien in den höheren als Elemente enthalten, aber nicht
höherre in den niederen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 480 |
Das Gesetz, das hier wirklich gilt, ... behauptet nicht, daß
alle niederen Kategorien in den höheren wiederkehren, sondern nur,
daß eoinige wiederkehren. Wieviele und welche wiederkehren, davon
sagt es nichts. Wohl aber sagt es, daß die umgekehrte Wiederkehr
nicht vorkommt, daß a,lso die Verbundenheit der Kategorienschichten
miteienander ausschließlich auf dem Enthaltensein niederer Kategorien
in den höheren beruht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 481-482 |
Die Räumlichkeit als dimensionales System System beherrscht
zusammen mit der Zeitlichkeit die ganze Mannigfaltigkeit der Gestalt-
und Prozeßformen der Natur, sowohl der unbelebten als auch der belebten.
Aber während die Zeitlichkeit auch das seelische und das geistige
Sein mit umfaßt, bricht die Räumlichkeit mit dem Organischen
ab. Die psychische Innenwelt, die Akte und Inhalte (falls
es »psychische Akte und Inhalte« gibt; HB) ... sind
unräumlich. Ihre Mannigfaltigkeit hat neben der Zeit ganz andere
Dimensionensie sie mit Dingen und Dingprozessen unvergleichbar machen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 483 |
Das Überlagerungsverhältnis der Kategorienschichten
ist offenbar nicht überall dasselbe. Wenn es Einschnitte zwischen
den Schichten gibt, über die hinweg alle Kategorien wiederkehren,
und andere Einschnitte, über die hinweg ganze Gruppen von Kategorien
nicht wiederkehre, so muß man schließen, daß die Art
der Einschnitte selbst eine verschiedene ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 485 |
Eine solche Grenzscheide der Überformungen haben wir besonders
deutlich an dem Einschnitt zwischen organischem und seelischem Sein. Die
räumlichen Formen und die raumzeitlichen Prozesse des Organischen
gehen nichts als »Materie« in das Seelenleben ein, sie werden
von den psychischen Akten und Inhalten (falls es
»psychische Akte und Inhalte« gibt; HB) nicht »überformt«.
Das Verhältnis ist hier ein anderes. Das seelische Sein erhebt sich
zwar über dem organischen (falls es das tut;
HB), aber nur wie ein »Überbau«, der das Material
der niederen Stufe hinter sich läßt. Seine Inhalte sind aus
anderem Stoff geformt (falls es überhaupt »Stoff«
ist; HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 485-486 |
Das Verhältnis der seelischen Innenwelt zum Organischen und
zum ganzen Stufenreich der Natur ist kein Überformungsverhältnis,
sondern ein Überbauungsverhältnis (falls
es überhaupt ein »Verhältnis« ist; HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 486 |
Seelisches Leben wird man durch keine Deutung als Überformung
des organischen auffassen könnnen, denn es enthält nun einmal
die räumlichen Prozesse des Organsimus nicht in sich.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 494 |
Die »totale Wiederkehr« ... würde jener Begrenzung
des Enthaltenseins widerstreiten .... Im Gegensatz zu dem früher
entworfenen Bilde müßte es jetzt folgendermaßen aussehen.
Eine Katgeorie, die einmal in einer Schicht aufgetaucht ist, könnte
nach oben zu überhaupt nicht mehr verschwinden; sie müßte
sich über die Schicht hinaus in allen höheren erhalten. Es könnte
nur ein scheinbares Verschwinden, dem Phänomen nach, geben, nicht
ein wirkliches, dem Sein nach. Und indem nun alle Kategorien von der Schicht
aus, in der sie beheimatet sind, als einheitliche Linie kategorialer Bestimmtheit
durch alle höheren Schichten hindurchgehen, sie gleichsam schneiden
und dabei verbinden, würde sich das Bündel dieser Linien nach
oben zu ungeheuer verdichten. Die höchsten Schichten brauchten deswegen
nicht überdeterminiert zu sein. Die gewaltige Anhäufung der
kategorialen Determination würde vielmehr durchaus ihrem Reichtum
entsprechen
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 495 |
Dieses vereinfachende Bild nun ist durchaus nicht willkürlich.
Esentspricht ihm sehr wohl etwas in der realen Welt. Es wird nur mißverständlich,
wenn man es direkt auf die Kategorienschichtung von Materie, Leben, Seele
und Geist bezieht. Es wird aber durchaus zutreffend, wenn man die beden
oberen Schichten nicht als Seele und Geist, sondern als Mensch und Gemeinschaft
(oder anders; HB) oder auch als Mensch und
Geschichte (oder anders; HB) versteht. -
.... Denn der Mensch ist selbst ein geschichtetes Wesen, er ist auch Organismus,
und folglich auch ein materiell-körperhaftes Gebilde. Insofern hat
er die niederern Kategorien alls eals konstituierende Momente in sich.
Er unterliegt der Schwere, dem Druck, dem Energieumsatz so gut wie dem
Hunger, der Sterblichkeit und der Zeugung. Es kehr also in der Tat alles
an ihm wieder, was dem Seienden der niederen Stufen eigen ist. .... -
Man sieht, auf diese Weise ergibt sich in der Tat eine totale Wiederkehr
aller niederen Kategorien in den höheren Schichten. Man muß
sich also fragen, was denn das veränderte Bild der Schichtung ausmacht.
Denn die Sache ist ja eigentlich so, daß die Schichtenfolge selbst
verändert wäre, man rechnet ja gerade im Wesen des Menschen,
der Gemeinschaft, des Volkes, der Geschichte mit denselben Schichten ...;
man betrachtet sie nur in anders betonter Weise »an« den ontischen
Gesamtgebilden (Mensch, Volk ...), an denen sie das spezifisch Unterscheidende
gegenüber analogen Gebilden niederer Seinsstufe (Tier, Artleben)
sind (und man gibt ihnen eine andere Bedeutung bzw.
Wertigkeit; HB). Die Schichtenfolge also ist nicht gestört,
sie ist nur in eine Stufenfolge der Gesantgebilde eingegliedert. Und die
totale Wiederkehr gilt nun nicht eigentlich von ihr, sondern von den Kategorien
dieser Stufenfolge enthaltenden Gesamtgebilde. - .... Diese Zusammenschau
ist nicht nur berechtigt, sondern durchaus notwendig. Und so weit sie
reicht, ist auch der Gedanke der totalen Wiederkehr ein berechtigter.
Nur folgt daraus keineswegs, daß dieser Gedanke sich auch auf das
spezifisch Unterscheidende des Menschen, des Volkes oder der Geschichte
übertragen ließe. .... Der Einschnitt verschwindet nicht; und
die analogen Einschnitte verschwinden auch weiter oberhalb im geistigen
Sein nicht. Die tiefe Berechtigung der Schichtungseinheiten in den höheren
Seinsgebilden hebt also die Grenzen des Überformungsverhältnisse
innerhalb dieser Schichtungseinheiten in keiner Weise auf (mit
anderen Schichtungseinheiten kann man aber das Ausmaß der »Überformung«
bzw. »Überbauung« verkleinern; HB). - Vielmehr
ist es doch gerade das große metaphysische Problem, wie derartig
heterogene Seinsschichten in einem und demselben Mmenschenwesen - oder
auch im Wesen von Gemeinschaft, Volk und Geschichte - so eng miteinanderverbunden
sein können. Dieses Problem löst auch die Kategorienlehre keineswegs
bis zu Ende. Sie kann nur in mancher Hinsicht tiefer hineinnleuchten (oder
glauben, tiefer hineinzuleuchten, und dabei das wirklich tiefe Hineinleuchten
vermissen lassen; HB), aber ein unlösbarer Rest bleibt bestehen.
Es ist die Aufgabe der Philosophe nicht, das Unerkennbare beiseite zu
schieben oder sein Bestehen zu bestreiten. Sie muß es anerkennen
und einzugrenzen suchen. Das aber geschieht im vorliegenden Falle durch
die klare Herausarbeitung der an bestimmte Einschnitte im Schichtenbau
der Welt gebundenen Grenzen der kategorialen Wiederkehr. .... In ihrem
ontischen Unterbau ... sind alle Kategorien von unten auf enthalten (der
»Unterbau« als die Natur, bestehend aus der anorganischen
und organischen Schicht, sind ja auch gar nicht das Problem; HB).
- Die Kategorienlehre hat guten Grund, sich im Schichtungsverhältnis
selbst an die Seinsschichten als solche zu halten (es
geht doch aber »nur« um die Frage, welche Seinsschichten die
»Seinsschichten als solche« sind bzw. sein sollen, und diese
Frage impliziert eben auch die Frage, ob diejenigen, die dafür ausgewählt
worden sind, auch wirklich die »Seinsschichten als solche«
sind; HB) und nicht an die Stufenfolge der Gesamtgebilde (Sache,
Lebewesen, Mensch, Gemeinschaft). (Wer bestimmt
über die Bestimmung und Zuordnung von »Schichtenfolge«
und »Stufenfolge«? ; HB). Denn eben weil diese Gesamtgebilde
ein geschichtetes Wesen haben und darin dem Ganzen der realen Welt gleichen,
kann die ontologische Analyse nicht von ihnen ausgehen. (Wer
bestimmt über die Bestimmung und Zuordnung von »Schichtenfolge«
und »Stufenfolge«? ; HB). Ihre Stufenordnung setzt
eben vielmehr die Schichtung der Welt - als die an ihnen wiederkehrende
und gleichsam mikrokosmisch sich abbildende - schon voraus. (Wer
bestimmt über die Bestimmung und Zuordnung von »Schichtenfolge«
und »Stufenfolge«? ; HB). Und eben diese Schichtung
der Welt ist es, um deren Gesetzlichkeit es sich in den kategorialen Schichtungsgesetzen
allererst handelt. (Diese »Schichtung«
muß aber nicht die Folge »Anorganisches-Organisches-Seelisches-Geistiges«,
sondern kann auch z.B. die Folge »Anorganisches-Organisches-Organisatorisches(Öko-/Haus-/Wohnmäßiges)«-Sprachliches(Zeichenhaftes/Medien)«
haben; HB). - Der methodische Vorzug, den die Kategorialanalyse
einstweilen dem reinen Schichtenverhältnis gibt, ist also kein willkürlicher,
sondern ein seinerseits ontisch wohlbegründeter und durch die Problemlage
gebotener. (Dies müßte - an dieser Stelle
- eben begründet und die Problemlage erörtert werden. Wer oder
was bestimmt das »reine Schichtenverhältnis«, die Schichtenfolge,
die Bestimmung und Zuordnung der Schichten? Was gehört in welche
Schicht oberhalb des Organischen? HB). ... - Darüber hinaus
aber ist zu sagen, daß auch der andere Aspekt an seiner Stelle noch
zu seinem Recht kommt, und zwar gleichfalls noch innerhalb des Themenkreises
der kategorialen Gesetzlichkeit. Aber die Gesetze, die ihm gerecht werden,
sind nicht mehr die der Schichtung (könnten
sie aber sein; HB), sondern Gesetze der kategorialen Dependenz
(müßten sie dann nicht mehr sein; HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 496-498 |
Es genügt nicht, im Auge zu haben, daß nicht alle Kategorien
in allen Schichten wiederkehren. Sie schlagen auch dort, wo sie wirklich
als Elemente enthalten sind, nicht gleich stark durch; die Regel vielmehr
ist, daß sie in der höheren Struktur gegen diese zurücktreten.
Sie sinken, je höher hinauf sie durchdringen, immer mehr zu untergeordneten
Elementen herab und können als solche in den Phänomenen auch
ganz verschwinden.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 499 |
Aber es ist auch nicht so, daß die Kombinatorik der niederen
Elemente genügte, um höhere kategoriale Struktur zu ergeben.
Vielmehr ist diese schon stets durch das Einsetzen neuer Kategorien bedingt.
Ja, man kann nicht einmal sagen, daß die Elemente in ihrer Wiederkehr
ganz gleich blieben; sie erscheinen zwar wieder, aber in neuem Gewande.
Sie bleiben nicht unberührt von der Struktur der höheren Kategorien,
in deren Bestand und Kohärenz sie eingehen. Damit aber ändert
sich die Sachlage wesentlich.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 499 |
Die Kehrseite der Wiederkehr spricht das »Gesetz der Abwandlung«
aus: die kategorialen Elemente wandeln sich bei ihrer Wiederkehr in den
höheren Schichten mannigfaltig ab. Die besondere Stellung, die ihnen
in der Kohärenz der höheren Schichten zufällt, gibt ihnen
von Schicht zu Schicht neue Überformung. Was sich erhält, ist
nur das Element selbst. An ihm als solchem ist die Abwandlung akzidentell.
Im Aufbau der realen Welt aber ist sie ebenso wesentlich wie die Erhaltung.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 499 |
Das Gesetz der Abwandlung folgt eigentlich schon, wenn man das
Implikationsgesetz in das Bild der Wiederkehr substituiert. Die wiederkehrende
Kategorie rückt in den Verband der höheren Schichtenganzheit
ein. Damit aber fällt sie unter die Kohärenz der höheren
Schicht; und da diese in gegenseitiger Implikation besteht, so muß
die niedere Kategorie mit den Elementen der höheren Schicht irgendwie
behaftet sein. Denn eben das besagte das Gesetz der Implikation, daß
der ganze kategoriale Zusammenhang einer Schicht an jedem ihrer Glieder
vertreten ist. So muß denn notwendig eine Kategorie, die in die
höheren Schichten durchdringt, in jeder von ihnen eine inhaltliche
Beswonderung erfahren.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 499 |
Die Wiederkehr einer niederen Kategorie betrifft direkt immer
nur eine oder einige wenige Kategorien der höheren Schicht, die anderen
aber nur mittelbar. Niedere Einheitstypen tauchen nur an höheren
Einheitstypen, niedere Kontinuitäten nur an höherer Kontinuität,
niedere Gefügetypen mitsamt ihrer Gliederung nur am höheren
Gefügetypus auf. Aber eben die höheren Typen sind andere Strukturen,
und die Andersheit färbt ab auf das wiederkehrende Element. Durch
die Kohärenz der höheren Schicht erstreckt sich die Wiederkehr
freilich mittelbar auch auf die übrigen Kategorien der Schicht. Aber
auch die höhere Kohärenz selbst ist eine andere als diejenige,
aus der das Element kommt, und färbt nicht weniger ab. Bei den Fundamentalkategorien
(vgl. S. 203 ff.; HB) fällt beides zusammen,
weil sie die notwendigen Grundmomente kategorialer Struktur überhaupt
sind. Darum läßt sich das Schichtungsverhältnis an ihnen
so schön im Prinzip aufzeigen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 499-500 |
Werfen wir einen Blick auf den Wandel von Einheit und Mannigfaltigkeit
(7. Gegensatzpaar; vgl. S. 230; HB). Ein
anderes als die mathematische Eins und ihre Vielheit ist schon die Einheit
des Dinges in der Mannigfaltigkeit seiner Beschaffenheiten; und wieder
ein anderes ist die Einheit des Prozesses und die der dynamischen Gefüge,
jene in der Vielheit, diese in der Verschiedenheit ihrer Elemente. Ganz
anders ist wieder die um vieles höhere Schicht des Organismus in
der Mannigfaltigkeit seiner Formen und Prozesse. Ganz unvergleichlich
alledem ist die Einheit des Bewußtseins in seiner Akt- und Erlebnismannigfaltigkeit.
So gehen die beiden Kategorien in fortschreitender Abwandlung auch durch
die Stufen des geistigen Seins hindurch. Es gibt die Einheit der Person,
die Einheit des Volkes, Einheit des Staates, Einheit der Wissenschaft,
Einheit der Sprache, des geltenden Rechts, des Ethos, des Kunstwerkes.
Das kategoriale Grundelement bleibt das gleiche, aber dies tritt immer
wieder in ganz anderer Gestalt auf. Diese Andersheit ist durch den Schichtencharakter
bestimmt, denn natürlich spielt eine Fülle anderer Kategorien
in der Struktur der Einheitstypen mit. Das eben besagt der Satz, daß
die Kohärenz der Schichten die Abwandlung bestimmt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 501 |
Die geeignetsten Beispiele dürften diejenigen sein, die relativ
einfach, aber dabei doch nicht gerade selbstverständlich sind. Von
dieser Art ist das Gegensatzpaar Kontinuität und Diskretion (10.
Gegensatzpaar; vgl. S. 230; HB). Es ist leicht, die Kontinuen und
Diskreta in der Zahlenreihe, in Raum und Zeit, in der Bewegung, im dynamischen
Prozeß, in den Transformationen der Energie zu unterscheiden. Auch
in der Kausalreihe sieht man beide noch ohne weiteres: den fortlaufenden
Abhängigkeitszusammenhang, der eindeutig vom Früheren zum Späteren
läuft, dabei aber seine sehr eigenartigen Einschnitte hat, die ihn
mannigfach gliedern. Einen vollkommen anderen Typus des prozessualen Kontinuums
haben wir dagegen im Reich des Organischen: Entfaltung, Entwicklung, formbestimmtes,
immer zugleich formaufbauendes und formabbauendes Geschehen. Dieses Kontinuum
ist begrenzt, der Lebensprozeß selbst setzt sich seine Grenzen.
Im Großen, am phylogenetischen Gesamtprozeß, besteht diese
Art Bewegung nicht; dafür gibt es hier in der relativen Konstanz
der Arten, Gattungen, Ordnungen aufs neue ein ganzes System von Diskretionen,
wie sie das niedere Seiende nicht kennt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 501-502 |
Ein sehr eigenartiges Übergewicht der Diskretion finden wir
dann im Seelenleben. Der Organismus gibt sein Leben weiter, er vererbt
es; sein Bewußtsein kann niemand weitergeben, es entsteht in jedem
Individuum neu. Innerhalb des individuellen Lebens aber ist es nicht weniger
ein Kontinuum als das der Virtalprozesse. Weitere Typen des Kontinuums
finden wir im verantwortlich-tätigen Leben der Person, im Denken,
im Erkenntnisprozeß, zumal in dem überindividuellen der Wissenschaft,
im Leben der Gemeinschaft und des von ihr getragenen objektiven Geistes.
Und überall entspricht dem eigenartigen Kontinuum eigenartige Diskretion.
Das merkwürdigste und vielleicht komplexeste Kontinuum liegt im geschichtlichen
Geschehen vor, einem selbst wiederum mehrschichtigen Prozeß, dessen
eigentliche Struktur - denn die Zeitlichkeit der Folge ist an ihm nur
ein wiederkehrendes Element - durch das Ineinandertreffen sehr verschiedener
Determinationsformen bestimmt ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 502 |
Bedenkt man, daß jedes dieser Kontinuen eine besondere Kategorie
bildet, so ist leicht zu ermessen, daß sich die ganze Fülle
der Abwandlung erst an deren näherer Analyse ergebn würde. Aber
schon das flüchtige Ableuchten legt eine weit größere
Mannigfaltigkeit der Überformungen bloß, als man vom einfachen
Elemetargegensatz aus erwarten sollte. Ganz anders noch steigert sich
der Reichtum, wenn man mehrere Abwandlungslinien parallel zueinander verfolgt
und dabei inne wird, daß keine der anderen gleicht, daß jede
Grundkategorie ihre eigentümliche, auf keine andere übertragbare
»Linie« beschreibt, daß also die Linien des »Bündels«
nicht nur divergent, sondern auch strukturell, verschieden sind. Jede
Kategorie zeigt in der Art ihrer Wiederkehr die Sondergesetzlichkeit einer
eigenen Wandlungskurve.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 502 |
Der Grund dafür kann weder in der Wiederkehr selbst liegen
noch auch in dem bloßen Vor- und Zurücktreten der wiederkehrenden
Elemente oder gar in ihrer bloßen Kombination. Hier zeigt sich vielmehr,
daß hinter dere Abwandlung noch etwas anderes steckt, wodurch sie
bereits wesentlich bestimmt ist. Dieses andere ist das Gesetz des Novums.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 503 |
Das Gesetz besagt dieses: auf Grund der Wiederkehr ist zwar jede
höhere Kategorie inhaltlich aus einer Mannigfaltigkeit niederer Elemente
zusammengesetzt, aber sie geht in deren Summe nicht auf. Sie ist stets
noch etwas darüber hinaus: sie enthält ein spezifisches Etwa,
das erst mit ihr neu auftritt, das also weder in jenen Elementen noch
in derern Synthese enthalten ist und sich auch nicht in sie auflösen
läßt. Schon die Eigenstruktur des Elementen-Verbandes in ihr
ist ein solches »Novum«. Es können aber auch neue, eigenartige
Elemente hinzutreten. Das ist an jeder Schichtengrenze der Fall, in sehr
gesteigertem Ausmaße aber dort, wo die Wiederkehr ganzer Kategoriengruppen
abbricht und die Überfromung der Überbauung weicht. Der »Überbau«
ist dann im wesentlichen das Werk vomn Kategorien, die erstmalig neu auf
dieser Seinshöhe einsetzen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 503 |
Das Nichtaufgehen der höheren Kategorien in den wiederkehrenden
Elementen ist vielleicht das wichtigste Moment der Schichtungsgesetzlichkeit,
obgleich es die bescheidene Form einer weiteren Begrenzung am Verhältnis
des Ineinander-Enthaltenseins hat. Genügte nämlich die Wiederkehr
der Elemente, um die höheren Seinsformen zu ergeben, so wären
alles Seinsschichten und Stufen im letzten Grunde nur durch Fundamentalkategorien
(vgl. S. 203 ff.; HB) bestimmt, und diese
müßten genügen, den ganzen Reichtum des seelischen und
geistigen Seins zu tragen. Theorien solcher Art sind oft versucht worden
und immer gescheitert, auch dann, wenn man stillschweigend gewisse Seinskategorien
unter die Elementarkategorien einschmuggelte. Sie mkußten scheitern,
denn nicht einmal für das physisch-materielle Sein genügen bloße
Elementarkategorien, und wenn man sie noch so sehr kombiniert dachte.
Sie geben eben den reichtum des Neuen nicht her, der mit der Welt der
ineindergreifenden Realprozesse und dynamischen Gesetze einsetzt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 503 |
Ohne das Einsetzen eines kategorialen Novums in jeder neuen Schicht
ist der Formenreichtum der Abwandlung schlechterdings nicht zu verstehen.
Aber auch die Eigenart der höheren Kategorien selbst, sowie die der
konkreten Gebilde, ist ohne Novum nicht zu verstehen. Wenn im Aufstieg
von Schicht zu Schicht andere Kategorien ensetzen - und zwar urwüchsig
andere, den niederen wirklich heterogene -, so müßte das höhere
Concretum aus den Kategorien des niederen allein zu verstehen sein: der
Organismus müßte aus Prinzipien des Materiellen, das Bewußtsein
aus denen des Organischen u.s.f. vesrtändlich sein. Denn die höheren
Kategorien selbst könnten dann nichts anderes sein als Kombinationen
der niederen. - Das nun trifft offenbar nicht zu. Organisches aus Physischem,
Seelisches aus Organischem (und Geistiges aus Seelischem;
HB) bleibt ewig unverständlich - nicht nur weil wir die Kombination
der strukturellen Momente nicht durchschauen, sondern weil auch tatsächlich
das Höhere nicht in bloßer Kombination des Niederen besteht
(vgl.: »das Niedere ist nicht das Höhere,
weil es tatsächlich das Niedere ist«; HB). Der Kombinatorikgedanke,
der in Wahrheit allen Erklärungsversuchen solcher Art zugrundeliegt,
ist, auf die kategoriale Schichtung der realen Welt bezogen, ein Irrweg.
Er ist eine künstliche Vereinfachung, eine gewaltsame Vereinheitlichung
zu Ungunsten der gegebenen Mannigfaltigkeit; er ist Verkennung der kategorialen
Grundverhältnisse - in der Sprache Leibnizens könnte man sagen:
Verkennung des Verstandes Gottes - und darum zuletzt Weltverkennung.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 503-504 |
Gewiß gibt es die immer neuen Kombinationen wiederkehrender
Elemente in der Schichtung der Kategorien. Aber sie sind weder eine Funktion
der Elemente selbst noch ihrer Selektion - etwa unter einem Prinzip der
Kompossibilität oder gar der Konvenienz -, sondern ganz offensichtlich
eine Funktion der höheren kategorialen Struktur, die als solche ein
Selbständiges und den Elementen gleich Ursprüngliches ist, nicht
ein Produkt aus ihnen, sondern neu hinzutretende Einheit aus einem Guß.
Darin liegt der Grund, warum es nie gelingen kann, höhere Seinsgebilde
aus den Gesetzen niederer heraus zu »erklären«.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 504 |
Das ist es, was das Gesetz des Novums ausspricht: auf Grund der
Wiederkehr enthalten zwar die höheren Kategorien eine Mannigfaltigkeiz
niederer Elemente in sich, gehen aber nicht nur in deren Summe nicht auf,
sondern sind schon in ihrer Zusammensetzung stets durch das Auftreten
eine kategorialen Novums bedingt. Denn eben ein Novum ist jedesmal schon
die Anordnung der Elemente in der neuen kategorialen Gesamtstruktur. Und
nur dadurch sind die weiderkehrenden Elemente in der letzterebn zu bloßen
Momenten herabgesetzt, sind ihr ein- und untergeordnet.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 504 |
Das Gesetz des Novums ist nicht eine Begrenzung der Wiederkehr
- wie etwa das Auftreten der Überbauungsverhältnisse eine solche
ist -, sondern das positive Gegenstück zu ihr. Es hindert das Durchgehen
der neideren Elemente durch die Schichten nicht, aber es setzt ihm eine
andere Grundeigentümlichkeit im Aufbau der realen Welt entgegen:
das Moment der kategorialen Selbständigkeit der höheren Schicht
gegen die niedere. Dieses andere Moment ist es, was das Enthaltensein
niederer Kategorien in den höheren nicht mit ausdrücken kann,
was aber dennoch in ihm vorausgesetzt ist; denn ohne das periodische Einsetzen
des Novums wären die Höhenunterschiede der Seinsschichten gar
nicht möglich. Da aber an diesen Höhenunterschieden die Abwandkung
hängt, so muß man weiter sagen, daß auch die Überformung
der wiederkehrenden Elemente in der Schichtenfolge schon durch das von
Schicht zu Schicht sich wiederholende Einsetzen des kategorialen Novums
bedingt ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 504-505 |
Daß dem so ist,läßt sich an jeder einzelnen Elemntarkategorie
beweisen, deren Abwandlung oben aufgezeigt wurde. Die verschiedenen Arten
der Einheit und Mannigfaltigkeit (7. Gegensatzpaar;
vgl. S. 230; HB) von den mathematisch-quantitativen Verhältnissen
aufwärts bis zu den Gesamterscheinungen des geschichtlich-geistigen
Lebens sind offenbar keine automatischen Selbstverwandlungen eines elementaren
Kategorienpaares, sondern eine Funktion der Schichtenfolge. Diese aber
treibt die immer neuen Einhaitstypen dadurch hervor, daß jede Schicht
mit spezifischer Eigenstruktur einsetzt. Niemand wird die moralische Einheit
der Person aus der numerischen Eins oder auch nur aus der funktionalen
Prozeßeinheit des Organismus herleiten wollen. Es setzt vielmehr
mit der Person etwas ganz Neuartiges ein, und darum fällt auch ihr
Einheitstypus ganz neuartig, mit allem niederen unvergleichlich aus.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 505 |
Das Novum ist jedesmal der Schicht eigentümlich, wenn nicht
gar einer besonderen Stufe innerhalb ihrer. Dem Phänomen nach gehört
es zunächst der einzelnen Kategorie an. Da diese aber im Implikationsverhältnis
zu den übrigen Kategorien der Schicht steht, so zeigt notwendig auch
das Ganze der jedesmaligen Schichtenerhöhung ein Gesamtnovum - man
kann auch sagen ein Schichtennovum - gegenüber dem Ganzen der niederen
Schicht. Und nach dem Gesetz der Schichtenganzheit (Kap. 46 b [vgl.
bes. S. 434.; HB]) hat dieses Gesamtnovum die kategoriale Priorität
vor dem besonderen Novum der Glieder.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 506 |
Hier greifen also deutlich die beiden Gesetzesgruppen, die der
Kohärenz (vgl. S. 432 ff., bes. S. 433-434;
HB) und die der Schichtung (vgl. S. 474 ff.,
bes. S. 475-476; HB), ineinander. Sie bilden ein Gefüge, in
dem die Wiederkehr und die Schichteneinheit einander begegnen und gleichsam
in Schach halten. Das Novum der höheren Kategorien gegenüber
den niederen ist der Ansatzpunkt der autonomen Kohärenzgesetze mitten
im Schichtungsverhältnis; denn es gehört der Sache nach primär
der ganzen Kategorienschicht an. - Zwischen den beiden Gesetzesgruppen
ist hierbei kein Widerstreit. Es wäre auch dann keine Widerstreit,
wenn die Wiederkehr der niederen Kategorien in den höheren eine totale
wäre. Ganz im Gegenteil: die Schichtenkohärenz mitsamt ihrem
Novum wird vielmehr selbst von der Wiederkehr erfaßt und in die
höheren weitergetragen; sie ist ja nur den niederen gegenüber
ein Novum. Da jedes sich anwandelnde Element die Kohärenz seiner
Ursprungsschicht an aich hat, so überträgt es diese auf die
Kategorien der höheren Schicht, so weit nur irgend eine Wiederkehr
reicht. Freilich überträgt es sie nur in gleichfalls abgewandelter
Form; aber das ändert grundsätzlich nichts an der Übvertragung,
wie das Beispiel der Elementarkategorien ja deutlich beweist (denn diese
kennen tatsächlich keine Grenze der Wiederkehr).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 506 |
Soweit also die Wiederkehr der Elemente reicht, macht sie auch
deren Kohärenz zum Element der höheren und komplexeren Schichtenkohärenz.
Und da diese das Gesamtnovum der höheren Schicht ist, so ordnet sie
sich der Kohärenz der weiderkehrenden Elemente über und bezieht
sie in sich ein, ohne sie als solche aufzulösen. Begrenzt ist dieses
Verhältnis nur durch die Grenzen der Wiederkehr. Wo die Wiederkehr
versagt, wo auch nur eine der niederen Kategorien im Bestande der höheren
Schicht ausfällt, da ändert sich die Sachlage; da kann mit dem
Durchdringen der übrigen in die höhere Schicht sich ihre Kohärenz
nicht mit aug diese übertragen. Da löst sich die implikative
Verbundenheit der Elemente und macht einem anderen Zusammenhang Platz.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 506-507 |
Aber solche Begrenzung der Wiederkehr und soclhe Auflösung
ist nicht durch das Novum der höheren Schicht bedingt, sondern durch
die Grenzen der Überformung. Sie tritt dort auf, wo die letztere
durch das Überbauungsverhältnis abgelöst wird.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 507 |
Das Gesetz der Schichtendistanz (das 4.
Schichtungsgesetz, siehe S. 476; HB): Wiederkehr und Abwandlung
schreiten nicht kontinuierlich fort, sondern in Sprüngen; diese Sprünge
sind allen durchgehenden Linien kategorialer Wiederkehr und Abwandlung
gemeinsam, sie bilden an der Gesamtheit solcher Linien einheitliche Einschnitte.
Auf diese Weise ergibt sich eine einzige Vertikalgliederung für alle
Abwandlung. Sie ist identisch mit der Höhendistanz der sich überlagernden
Schichten. Sie hängt aufs engste zusammen mit dem Auftreten des die
ganze Schicht betreffenden Gesamtnovums und seiner kategorialen Priorität
vor dem Novum einzelner Kategorien. - Hieraus wird erst das Phänomen
der geschlossenen und in ihrer Ganzehit eindeutig voneinander abgehobenen
Seinsschichten verständlich.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 508 |
Räumlichkeit und träge Substanz kehren oberhalb des
Organischen nicht wieder, die Aktcharaktere des Seelischen nicht im objektiven
Geiste
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 512 |
Der Phänomenologe klammert die Realität ein, indem er
Wesenszüge heraushebt; er kann Anwesenheiten aufzeigen, die dem schwebenden
Phänomenenbereich entsprechen und daurch alle niedere kategoriale
Struktur von sich ausgeschieden haben. Die Einklammerung eben ist deren
Ausscheidung, denn sie ist die Ausscheidung des Realzusammenhanges. Ontologisch
kann man so nicht vorgehen. Das Sein des Aktes koinzidiert nicht mit dem
introspektiv aufgelesenen Aktphänomen. Dieses ist nur seine Gegebenheitsweise.
Erst mit der grundsätzlichen Unterscheidung von Gegebenheitsweise
und Seinsweise tritt man auf ontologischen Boden über. (Muß
man dafür aber nicht mehr vom Sein selbst, besonders auch den Unterschied
zwischen dem Seienden und dem Sein wissen? HB). Und erst auf diesem
Boden kann das Kategorienverhältnis sichtbar werden.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 514 |
Man kann ... die Dependenzgesetze annähernd aus dem Schichtungsverhältnis
ablesen, obhleich sie etwas aussprechen, was in den Gesetzen der Schichtung
noch nicht enthalten ist. Die kategoriale Abhängigkeit »folgt«
wohl der Schichtung, aber sie deckt sich dem Umfange nach nicht mit der
Wiederkehr. Das Gesetz des Novums reicht wohl aus, die Grenzen der Abhängigkeit
zu bestimmen; aber das Gesetz der Wiederkehr reicht nicht aus, die Abhängigkeit
selbst zu bestimmen. - Der Übersicht halbe sei der Inhalt der Dependenzgesetze
einstweilen summarisch in folgenden drei Punkten zusammengefaßt.
Erstens: |
Es gibt eine kategoriale Abhängigkeit
der Schichten voneinander, aber nur einseitig als Abhängigkeit
der höheren von der niederen Schicht (ihr Aufruhen oder Getragensein). |
Zweitens: |
Diese Abhängigkeit besteht nicht
nur da, wo die Wiederkehr durchgeht (im Überformungsverhältnis),
sondern auch da, wo sie abbricht (im Überbauungsverhältnis);
das höhere Sein »ruht« auch da auf dem niederen
»auf«. |
Drittens: |
Die Abhängigkeit der höheren
Seinsschicht ist niemals eine totale; das Novum in ihr ist und bleibt
selbständig (autonom) gegenüber den niederen Katgeorien
- einerlei ob diese in ihm wiederkehren oder ihm nur die Basis des
Aufruhens darbieten. |
Zur Erklärung des letzten Punktes muß man sich erinnern, daß
selbst wiederkehrende (und folglich inhaltlich mitbestimmende) Elemente
im Novum der höheren Schicht zu durchaus untergeordneten Momenten
herabgesetzt sind. Autonom also sind die Kategorien
der höheren Schicht in jedem Falle - ungeachtet ihrer Abhängigkeit
von den niederen -, und nicht nur wenn sie diese »überbauen«,
sondern auch wenn sie nur ihre Überformung sind.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 518-519 |
Die Gesetze selbst lassen sich nunmehr allen
besonderen Erörterungen vorweg in folgender Weise zusammenstellen.
1. |
Das Gesetz der Stärke (das kategoriale
Grundgesetz). Die höheren Kategorien setzen stets eine Reihe
niederer voraus, sind aber ihrerseits in diesen nicht vorausgesetzt.
Kategoriale Abhängigkeit also waltet durchgehend von den niederen
zu den höheren, nicht aber umgekehrt. Bezeichnet man nun das
Fundamentsein oder Bedingungsein eine Kategorie als ihre »Stärke«,
Bedingtsein und Abhängigsein als ihre »Schwäche«,
so läßt sich das Gesetz kurz so formulieren: die niederen
Kategorien sind im Verhältnis der Schichten jedesmal die stärkeren,
die höheren jedesmal die schwächeren. Dieses Verhältnis
waltet irreversibel in der ganzen Schichtenfolge. Stärke und
Höhe stehen im Kategorienreich durchgehend im umgekehrten Verhältnis. |
2. |
Das Gesetz der Indifferenz. Die niedere
Kategorienschicht ist zwar Grundlage der höheren, aber sie
geht in diesem Grundlagesein nicht auf. Sie ist auch ohne die höhere
eine selbständig determinierende Prinzipienschicht. Sie ist
auch als Ganzesww nur »von unten her« bedingt, nicht
»von oben her«. Sie ist gegen alles Höhere indifferent.
Das niedere Sein hat in sich keine Bestimmung zum höheren;
es verhält sich gleichgültig gegen alle Überformung
und Überbauung. Darin besteht seine Schichtenselbständigkeit. |
3. |
Das Gesetz der Materie. Überall,
wo in der Schichtung Wiederkehr und Überformung besteht, ist
die niedere Kategorie für die höhere nur »Materie«.
Wiewohl sie die »stärkere« ist, gehjt doch die
Abhängigkeit der höheren von ihr nur so weit, als die
Eigenart der Materie den Spielraum höherer Formung einschränkt.
Die höhere Kategorie kann aus der Materie der neideren nicht
alles Beliebige formen, sondern nur was in dieser Materie möglich
ist. Sie kann die niederen Elemente nicht umformen (denn diese sind
stärker als sie), sondern nur überformen. Über eine
solche einschrämkende Funktion hinaus reicht die bestimmende
Macht der »materie« nicht. Vollends, wo die höhere
Kategorienschicht die niedere nur »überbaut«, ist
die letztere nicht einmal Materie, sondern bloß Seinsfundament;
damit wird ihr Einfluß weiter herabgesetzt. |
4. |
Das Gesetz der Freiheit. Sind die
höheren Kategorien durch die niederen nur der Materie nach
(oder selbst nur dem Fundament nach) bedingt, so sind sie ungeachtet
ihres Schwächerseins doch notwendig in ihrem Novum den neideren
gegenüber »frei« (autonom). Das Novum eben ist
neuartige, inhaltlich überlegene Formung. Diese Überlegenheit
macht das Höhersein aus, einerlei ob dabei die niederen Elemente
überformt oder überbaut werden. Freiheit hat immer nur
das Schwächere gegen das Stärkere, weil es das Höhere
ist. Es hat darum seinen Spielraum nicht »im« Niederen,
sondern »über« ihm. Denn da das Niedere im Höheren
nur Element und als solches gleichgültig gegen seine Überformung
(resp. Überbauung) dasteht, so ist der Spielraum des Höheren
oberhalb seiner notwendig unbegrenzt. |
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 519-520 |
Diese Gesetze sprechen also nicht nur die kategoriale Abhängigkeit
selbst aus, die in der Schichtung anthalten ist, sondern auch ihre innere
Begrenzung. Zugleich sieht man leicht, daß sie weit mehr als die
Schichtungsgesetze (vgl. S. 472 ff., bes. S. 475-476;
HB), durch das Verhältnis der Kategorien hindurchgreifend,
auch unmittelbar das Verhältnis der ganzen Seinsschichten selbst,
d.h. den Aufbau der realen Welt betreffen. Sie decken die innere Dynamik
der Seinsschichtung auf. Sie berühren dadurch einen Hintergrund alles
Seienden, um den sich von alters her die letzten metaphysischen Grundfragen
bewegt haben. Dieser Hintergrund betriftt auch das Kategorienproblem selbst.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 521 |
Man darf also sagen, daß in dem Problem der Dependenzgesetze
auch das metaphysische - d.h. das nicht bis zu Ende lösbare - Problem
im Aufbau der realen Welt mit in die Diskussion hineingezogen wird. Schon
aus diesem Grunde liegt derSchwerpunkt der ganzen kategorialen Gesetzlichkeit
- und damit der Schwerpunkt der Ontologie überhaupt, soweit sie Kategorienlehre
ist - bei den Dependenzgesetzen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 521 |
Darum darf man das erste dieser Gesetze, das »Gesetz der
Stärke«. mit Recht als das »kategoriale Grundgesetz«
bezeichnen. Es ist das eigentliche und im engeren Sinne verstandene Dependenzgesetz,
welches den Grundtypus der zeischen den Seinsschichten bestehenden Abhängigkeit
ausspricht und damit das scheinbare Gleichgewicht deer Schichten aufhebt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 521 |
Daß es eine Abhängigkeit und zugleich eine Autonomie
- derselben höheren Kategorien denselben niederen gegenüber
- geben soll, muß formal widersprechend anmuten. Daß der Widerspruch
ein scheinbarer ist, macht das eigentliche Wesen im Widerspiel der beiden
Gesetze aus. In Wahrheit kommen diese beiden Gesetze - das der Stärke
(siehe 1. Dependenzgesetz, S. 519-520; HB)
und das der Freiheit (siehe 4. Dependenzgesetz,
S. 520; HB) - erst miteinander zu ihrer vollen Bedeutung. Das ist
der Punkt, den eigentlich es zu erweisen gilt. An ihm hängt das metaphysische
Gewicht des Dependenzverhältnisses. Alles übrige steht und fällt
mit ihm.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 522 |
Hält man sich ausschließlich an die vier Hauptschichten
der realen Welt, so läßt sich der Inhalt dieses Gesetzes (gemeint
ist das 1. Dependenzgesetz - das Gesetz der Stärke als das »kategoriale
Grundgesetz«, siehe S. 519-520; HB) an den drei Schichtendistanzen,
durch die sie getrennt sind, folgendermaßen feststellen. Es gibt
den Organismus nur als »Überformung« des Materiellen;
es gibt das Bewußtsein nur als »Überbau« des Organischen;
und es gibt den Geist nur als »Überbau« des Seelischen.
Stets ist die höhere Seinsstufe getragen von der niederen, niemals
schwebt sie für sich im Leeren ohne Seinsfundament. Und dieses Verhältnis
geht durch, einerlei ob die höheren Gebilde die niederen in sich
aufnehmen und überformen oder nur zum Fundament haben und überbauen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 523-524 |
Das geistige Leben »beruht« nicht nur auf dem seelischen
und mittelbar auf demorganischen und materiellen Sein, sondern es hat
auch ständig mit ihm zu tun; es greift ein, bildet, formt um, wertet
aus. Der Geist schafft eine Dingwelt nach seinen Zwecken, wie die Natur
sie nicht kennt; er züchtet Pflanzen und Tiere, bildet das eigene
Seelenleben um. Aber er bleibt dabei gebunden an die Eigengesetzlichkeit
dessen, was er überformt. Er kann die Gesetze des materiellen, der
physischen Prozesse, des Lebendigen nicht abändern; sie bleiben ungeschwächt
in Kraft. der Geist hat über sie als solche keine Macht. Wohl aber
ziehen sie ihm in seinen Tun und Planen sehr bestimmte Grenzen. Ja, sie
gelten auch in seiner Lebenssphäre, weil diese nicht eine freischwebende,
sondern »aufruhende« ist. Ein fallender Stein kann das Leben
eines Genialen auslöschen, an dessen Wirksamkeit ein Stück geistiger
Bewegung von geschichtlichem Ausmaße hing. Der Mensch ist das verletztlichste
Wesen, das am meisten bedingte und abhängige. Seine Überlegenheit
ist nicht die der ontischen Unabhängigkeit, sondern die der Erkenntnis,
der bewußten Anpassung und zwecktätigen Auswertung.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 524 |
Das Positive dieses Verhältnisses wird sehr anschaulich durch
die Technik illustriert. Die Technik kann die natürlichen Energien
und ihre Wirkunsgweise nicht beeinflussen; sie kann nur deren Gesetze
verstehen und in ihrer Eigenart selbst für die Zwecke des Menschen
berwerten. Sie rechnet in aller Bewußtheit mit dem Stärkersein
der niederen Kategorien, sie paßt sich ihrer Herrschaft schmiegsam
an; und alles, was sie schafft, ist getragen vom Erraten und Ergründen
ihrer Besonderheit. Zugleich aber rechnet sie auch ebenso bewußt
mit der Indifferenz dieser Mächte gegen alle höhere Überformung.
Dem fallenden Wasser ist es gleichgültig, ob es frei fällt oder
im Turbinenschacht. Aber das es überhaupt fällt, daran ändert
der schaffende Geist nichts.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 524-525 |
Dieses Verhältnis ist ein allgemeines. Das geistige Leben
ist ein ständiges Sich-Einschmiegen in das Geflecht der geistlosen
Mächte. Die Sorge um Wohnung, Kleidung, Wärme u.s.w. verläßt
den Menschen auf keiner Höhe kultureller Erhebung. Der Geist bleibt
rückgebunden an die Naturgesetzlichkeit der weiteren Welt, deren
Glied er ist; diese Gesetzlichkeit ihrerseits ist nirgends, auch in den
höchsten Überformungen nicht, an ihn gebunden. So besteht die
Abhängigkeit, Verletzlichkeit, Zerstörbarkeit des geistigen
Seins, ja schon des Lebendigen, in schroffem Gegensatz zu der Unabhängigkeit
und Übermacht der kosmisch-physischen Verhältnisse. Das wird
sehr eindrucksvoll anschaulich, wenn man sich die verschwindende Kleinheit
der Menschenwelt mit ihrer zeitlich begrenzten Geschichte vor Augen hält:
wie sie, angeklammert an den zwar relativ stationären, aber doch
vergänglichen Zustand einer Planetenoberfläche, ein ephemeres
Dasein hat, nicht wissend, ob in überbrückbar weiter Ferne noch
einmal etwas ihresgleichen unter ähnlichen Bedingungen besteht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 525 |
Der menschliche Organismus hat sich in mancher Hinsicht den Bedürfnissen
des Geistes angepaßt (ist in diesem Fall nicht
die geistige Schicht als die höhere stärker denn die
organische Schicht als die niedere, die doch gemäß Kategorienlehre
stets stärker sein soll als die höhere? HB), aber die
Anpassung hat unübersteigliche Grenzen. Geistige Entwicklung des
Individuums braucht eine andere Lebensdauer als die der höheren Tiere;
in deren Grenzen des organisch Möglichen ist die vitale Lebenskurve
des Menschenleibes diesem Erfordernis angepaßt. Vielleicht kann
solche Anpassung auch noch weiter gehen, als sie heute vorgeschritten
ist. Aber sie kann nicht beliebig weit gehen; sie ist durch das Gesetz
des Organischen begrenzt, daß jede Art des Lebendigen nur im Wechsel
der Individuen fortleben kann. Und wie das seelische Lebnem die Individuen
trennt, das Bewußtsein in jedem Menschen neu einsetzt (vgl. oben
Kap. 30 d und 34 d), so muß auch die geistige Entwicklung immer
wieder von unten auf beu beginnen. Der Geist kann wohl als objektiver
übergreifen, dem reifenden Individuum die gemeinsame Inhaltssphäre
darbieten, in die es hineinwächst; aber das Hineinwachsen selbst,
das Übernehmen und Bearbeiten muß immer wieder neu geleistet
werden.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 525-526 |
Das kategoriale Grundgesetz (gemeint ist
das 1. Dependenzgesetz - das Gesetz der Stärke als das »kategoriale
Grundgesetz«, siehe S. 519-520; HB) drückt nichts anderes
als die einheitliche Richtung der Abhängigkeit für die ganze
Folge der Seinsschichten aus, und zwar sowohl am Concretum als auch an
seinen Kategorien. darum ist es auch keineswegs bloß der ontologischen
Überlegung zugänglich, sondern schon mitten im Leben der der
einfachen Besinnung geläufig. Tatsächlich rechnet der Mensch
praktisch immerfort mit seinem Bestehen, und es ist nur ein kleiner Schritt
über den praktischen Belang hinaus, es sich bewußt zu machen.
- Aber das Gesetz selbst ist deswegen noch weit entfernt, selbstverständlich
zu sein. Darüber geben zahlreiche Weltbilder, in denen es grundsätzlich
verkannt und auf den Kopf gestellt ist, drastische Belehrung.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 526 |
Die niederen Kategorien haben Schichtenselbständigkeit gegen
die höheren. Sie determinieren zwar in gewissen Grenzen die höheren
mit, aber dieses Determinieren ist ihnen als solchen durchaus äußerlich.
.... Kurz, die niederen Kategorien verhalten sich »indifferent«
gegen die höheren - trotz deren Abhängigkeit von ihnen. Auch
als Kategorien haben sie keine »Bestimmung« oder Tendenz in
sich, einer höheren Struktur als tragende Basis zu dienen, oder gar
als Elemente in sie einzugehen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 529-530 |
Substituiert man das vierte Geltungsgesetz (das
Gesetz der Schichtendetermination, siehe S. 420; HB) in das kategoriale
Grundgesetz (das Gesetz der Stärke als das
1. Dependenzgesetz, siehe S. 519-520; HB), so jann man das Gesetz
der Indifferenz (das 2. Dependenzgesetz, siehe S.
520; HB) auch formal aus diese folgern. Die niedere Kategorienschicht
nämlich ist zwar Grundlage der höheren; aber ihr kategoriales
Sein besteht nicht in diesem Grundlagesein; sie ist auch ohne alle Beziehung
auf eine höhere Schicht eine selbständig determinierende Prinzipienschicht,
und zwar, wie jede andere Schicht auch, eine total determinierende (alles
Prinzipielle enthaltendes); ihr zugehöriges Concretum ist durch sie
kategorial gesättigt und bedarf keiner anderen Prinzipien - d.h.
keiner höheren, denn die niederen sind schon in ihr vorausgesetzt.
- Eine jede Kategorienschicht ist auch als Ganzes nur »von unten
her« bedingt, nicht »von oben her«. Sie ist also nicht
nur strukturell unabhöngig von den höheren Kategorien, sondern
auch unabhängig von ihrem Vorhandensein. In zugespitzter Formulierung:
sie besteht unabhängig davon, ob überhaupt eine höhere
Seins- und Kategorienschicht von ihr abhängig ist oder nicht. In
dieser Formulierung erst zeigt sich der volle Sinn des Indifferenzgesetzes.
- Wäre dem nämlich nicht so, bestünde also von vornherein
eine Bindung »nach oben«, so müßte alles niederen
kategoriale Sein notwendig eine »Bestimmung« (Destination)
zum höheren in sich haben - eine Tendenz, Element höherer kategorialer
Form zu werden. Am Concretum aber würde das bedeuten, daß alles
niedere Sein wenigstens grundsätzlich dei Tendenz in sich trüge,
in höheres Sein einzugehen oder überzugehen: alles Materielle
müßte die Tendenz zur Lebendigkeit, alles Lebendige die zum
Bewußtsein, alles Bewußtsein die zum Geiste haben. Das würde
aber gerade die Abhängigkeit der niederen Schicht von den höheren
bedeuten. Durchzöge eine solche Tendenz die ganze Schichtenfolge,
so wäre sie die Inversion des kategorialen Grundgesetzes und widerspräche
den Phänomenen, deren einheitlicher Ausdruck dieses Gesetz ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 530 |
Die Verletzung des Indifferenzgesetzes (das
2. Dependenzgesetz, siehe S. 520; HB) im spekulativen Denken ist
folgenschwer, als sich auf den ersten Bilck übersehen läßt.
Hat nämlich die niedere Schicht an Stelle ihrer Bedingtheit »von
unten her« eine Bedingtheit »von oben her« in sich -
und sei es auch nur die Bedingtheit im Sinne einer »Bestimmung«
zum Höheren -, so müßten die Gebilde der niederen Schicht
in deren ganzem Umfange die teleologische Tendenz besitzen, in die höhere
Schicht aufzusteigen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 530-531 |
^Man würde mit einer solchen These etwas behaupten, was allen
aufzeigbaren Phänomenen zuwiderliefe. Es ist nicht wahr, daß
alles physisch-materielle Sein die Tendenz hat, zum organisch-lebendigen
zu werden; das Auftreten des Lebens im Weltall ist an Bedingungen gebunden,
von denen es leicht einzusehen ist, daß sie in den kosmischen Zusammenhängen
nur als seltene Ausnahme eintreten können. Ebenso unwahr ist es,
daß alles Lebendige die Tendenz habe, zum Bewußtsein zu gelangen;
desgleichen, daß alles Bewußtsein zum geistigen Sein hintendiere.
Offenbar wird in der Welt nur der allergeringste Bruchteil des physischen
Seins in organische Gebilde hinaufgeformt. Nur gewisse Spitzenformen des
Organischen sind es, an denen Bewußtsein auftritt (an den höheren
Tieren). In beiden Fällen ist das Einsetzen des höheren Seins
an eine kategoriale Formung gebunden, die wir dem niederen in keiner Weise
als seine »Bestimmung« zuschreiben können. Die Erfahrung
wenigstens gibt dafür nicht den geringsten Anhalt. A priori aber
kann man darüber nichts wissen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 531 |
Und ebensowenig läßt sich behaupten, daß alles
Bewußtsein zum geistigen Sein durchdringe oder auch nur die Tendenz
habe durchzudringen. Es müßte ein Durchdringen zur Personalität,
zu ethisch bewertbaren Akten, zu schöpferischer Formung der Gemeinschaft
und zur Objektivität allgemeingültiger Erkenntnis sein. Von
alledem weit entfernt ist das geistlose Bewußtsein, wie es die längste
Zeit in den Anfängen des Menschengeschlechts bestanden haben mag.
Das geistlose Bewußtsein ist in den Zwang der vitalen Mächte
eingespannt, in das Widerspiel der naturhaften Tendenzen, Bedürfnisse
und Instinkte; eine Tendenz darüber hinaus ist ihm als solchem fremd.
Und wenn es auch wahr ist, daß sich ein scharfer Grenzstrich auf
grund unserer Erfahrung hier nicht ziehen läßt, so ist es doch
um so leichter einzusehen, daß das Erwachen des geistigen Lebens
im phylogenetischen Wandel des Bewußtseins zutiefst charakterisiert
ist durch das Einsetzen eines ganzen Gefüges höherer Kategorien,
wie sie eben das geistige Sein auf allen seinen Gebieten auszeichnen,
keineswegs aber durch bloße Entfaltung dessen, was verkappt schon
im primitiven Bewußtsein enthalten war.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 531 |
Freilich kann man im Überblick der ganzen Stufenfolge mit
einem gewissen Recht von »Höherbildung« sprechen. Aber
man wird, wenn man metaphysischen Vorurteilen nicht Raum geben will, sich
wohl hüten müssen, die Höherbildung als eigentliche »Entwicklung«
zu verstehen. Man wird sie durchaus nur als stufenweises Einsetzen von
höherer und immer höherer Seinsform verstehen dürfen, d.h.
als kategoriale Überformung oder Überbauung des niederen Seins
durch höheres. (Aus rein ontologischer
Sicht mag es richtig sein, nicht »Entwicklung«, sondern »kategoriale
Überformung« und »kategoriale Überbauung«
als das zu verstehen, was gemeinhin und besonders aus nichtontologischer
Sicht eben doch eher als »Entwicklung« wie »Genese«,
»Evolution«, »Geschichte« verstanden wird; nichtsdestotrotz
gibt es »Entwicklung«, und vielleicht ist diese sogar als
»kategorialer Formverlust« und »kategorialer Abbau«
zu deuten, jedenfalls aber ist sie nicht einfach wegzudeuten; HB).
»Entwicklung« nämlich (oder »Entfaltung«)
setzt ein »Eingewickeltsein« des Höheren im Niederen
(oder bzw. und des Niederen im Höheren; HB)
voraus; so war der Ausdruck auch ursprünglich im Neuplatonismus gemeint
(exelixiV, exaplwsiV),
und erst spätere Zeiten haben seinen Sinn verschoben. Das bedeutet
aber, daß bei aller eigentlichen »Entwicklung« das Höhere
im Niederen als Anlageelement enthalten sein muß. Entwicklung als
solche ist nicht schöpferisch, sie kann zu nichts Neuem führen.
Das Schlagwort der écolution créatice ist ein Widerspruch
in sich selbst. Sieht man das Verhältnis der Seinsschichten im Schema
der Entwicklung, so hebt man in Wahrheit die Irreversibilität der
kategorialen Dependenz auf. Man verstößt damit nichrt nur gegen
die Gesetze der Stärke (vgl. das Gesetz der
Stärke als das 1. Dependenzgesetz, S. 519-520; HB) und der
Indifferenz (vgl. das Gesetz der Indifferenz als
das 2. Dependenzgesetz, S. 520; HB), sondern auch gegen das Gesetz
des Novums (das 3. Schichtungsgesetz, siehe S. 476;
HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 531-532 |
Für das wirkliche Hineinwachsen des niederen Seins in die
höhere Formung versagen alle Bilder und Gleichnisse. Die Bilder der
»Vorgeformtheit« und der »nachträglichen Entstehung«
- Präformation und Epigenesis -, die lange Zeit als Schlagworte entgegengesetzter
Theorien gedient haben (zumal im Problemgebiet des Organischen), sind
im Grunde nichts als roh zurechtgemachte Schemata einseitiger Betrachtungsweise
(sie könnten aber auch als Ergänzung zur
ontologischen Kategorienlehre herangezogen werden, damit diese selbst
sich nicht dem Vorwurf »einseitiger Betrachtungsweise« aussetzen
muß; HB). In ihnen ist die ontologische Hauptsache vollkommen
übersehen: das Grundverhältnis der Prinzipien zum Concretum,
wie die Geltunsgesetze (vgl. S. 419 ff, bes. S.
420 ff.; HB) es aussprechen. Setzt man diese Verhältnis hier
ein, so macht es keinerlei Schwierigkeit, daß am Concretum die höhere
Seinsformung erst sekundär entsteht, während sie an den Kategorien,
die als solche kein zeitliches Sein haben, vorbesteht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 532 |
Ein zureichendes »Bild« ist freilich auch das nicht.
Denn auch die Geltunsgesetze (vgl. S. 419 ff, bes.
S. 420 ff.; HB) lassen sich nicht eindeutig verbildlichen. Die
Wahrheit eben ist, daß es kein Bild gibt, welches dem wirklichen
Überlagerungsverhältnis der Seins- und Kategorienschichten gerecht
würde. Denn es gibt im Reiche der Anschauung kein anderweitig bekanntes
Verhältnis, dem dieses sich vergleichen ließe. Es hängt
aber zum Glück in der Philosophie nicht alles an den Bildern allein.
Was die ins Wesen einer Sache eindringende Überlegung zutage fördert,
behält gegen alle Veranschaulichung ein Eigenrecht. Ja, tatsächlich
ist vielmehr sie es, die der neuen und gereifteren Anschauungsweise erst
die Bahn bricht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 532 |
Läge im Dependenzverhältnis der Schichten eine aufsteigende
»Entwicklung« vor, so müßte alles niedere Sein
den teleologischen Zwang enthalten, zum höheren aufzurücken;
der Weltprozeß müßte darauf hinauslaufen, daß zuletzt
alles bei der höchsten Seinsform anlangt. Wie sehr das allen bekannten
Tatsachen widerstreitet, wurde schon oben gezeigt. Aber es widerstreitet
auch wohlbekannten und genügend geprüften Gesetzlichkeiten.
Organisches Sein kann ja gar nicht bestehen ohne die fortbestehende Grundlage
des anorganischen, in das es eingebettet ist. Und ebenso augenfällig
ist es, das geistiges Sein nicht bestehen kann ohne die Basis eines geistlos-seelischen
Seins, über dem es sich erhebt und von dem es zehrt. Ginge also alles
niedere Sein in höheres auf, so wäre das vielmehr die Selbstauflösung
des höheren. Eine Tendenz dieser Art, die alle Schichten durchzöge,
wäre in Wahrheit das Gegenteil dessen, was die Theorien mit ihr meinen:
die totale Selbstauflösung und Selbstvernichtung alles Seienden.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 532-533 |
Ignoriert man gedankenlos Tatsachen und Gesetze, ist es einem
im Grunde nur um ein schönes Weltbild zu tun, in das man sich spekulativ
verliebt hat, so hindert einen freilich nichts, einen teleologisch angelegten
Stufenbau der Welt zu konstruieren, der auf »Entwicklung«
basiert ist und stillschweigend die »Vorformung« (Präformation)
des Höheren im Niederen in Kauf nimmt. Man langt damit bei einem
Weltbilde an, welches geradezu die Inversion des kategorialen Grundgesetzes
zum Gesetz macht und damit buchstäblich das Unterste zu oberst lehrt
(da wir nicht alles wissen können, ist auch
nicht auszuschließen, daß die sogenannte »Inversion«,
von der hier die Rede ist, eine tatsächlich gleichzeitig verlaufende,
weil ebenso tatsächlich die Umkehrung derjenigen Prozesse
ist, um die es in Hartmanns Kategorienlehre geht; HB). Ein solcher
Stufenbau aber besteht dann nur im Gedanken des Menschen (in
der geistigen Seinsschicht; HB). Mit dem Aufbau der realen Welt
hat er nichts gemeinsam (dieser Aufbau kann auch
von einem Abbau begleitet sein - gemeinsam in der Welt seiend; HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 533 |
Allen solchen Inversionstheorien (aus Sicht
dieser Theorien ist übrigens Hartmanns Kategorienlehre eine Inversionstheorie;
HB) gegenüber besagt das Gesetz der Indifferenz Gesetz der
Indifferenz (das zweite Dependenzgesetz, siehe S.
520; HB), daß es in aller Welt keine »Vorformung«
von Schicht zu Schicht gibt, also auch keine Auswickelung des Vorgeformten,
sondern nur Überformung des Niederen durch Höheres und, wo diese
vesagt, nur noch Überbauung. Gegen diese beiden Typen des Überlagerungsverhältnisses
ist das Sein der jeweils niederen Schicht durchaus indifferent. Beide
sind und bleiben ihm äußerlich. Das Niedere hat niemals und
auf keiner Stufe die »Tendenz«, ein Höheres zu tragen
(es hat nicht die »Tendenz«, aber es
tut es: das Niedere trägt das Höhere, das Höhere wird vom
Niederen getragen; HB) oder das Element in ein solches einzugehen
(es hat nicht die »Tendenz«, aber es
tut es; HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 533 |
Der alte Hylozoismus des Thales und seiner Nachfolger, der das
prinzip des Lebens schon im Urstoff der Welt suchte, bildet hier nur ein
harmloses Vorspiel. Aristoteles dagegen ist schon ein reiner Vertreter
einer durchgehenden Teleologie der Formen; er hat mit diesem spekulativen
Denkschema das Gesicht der Metaphysik für viele Jahrhunderte bestimmt.
Nach ihm vollendet sich alle niedere Form erst in der höheren, und
das höchste Glied der ganzen Reihe ist der nouV,
zu dem alles emporstrebt. Von diesem heißt es daher: »er bewegt,
wie der Gegenstand der Liebe bewegt«, d.h. er bewegt teleologisch,
als höchster Zweck, indem er alles zu sich heraufzieht. Und in diesem
Sinne ist er »das erste Bewegende« aller Dinge. Noch bewußter
durchgeführt ist das in der Lehre Plotins von der epistrofh
aller Dinge zu dem »Einen«, von dem sie ausgegangen sind.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 533-534 |
Am bekanntesten ist diese Inversion wohl aus Schellings Naturphilosophie
geworden. Schelling verstand das Anorganische als erstarrtes Leben und
das Leben wiederumn als bewußtlosen Geist. Am Anfang aller Dinge
steht dann die »unbewußte Intelligenz«, deren Hindrängen
zum Bewußtsein und schließlich zum sich selbst durchdringenden
und wiedererkennenden Selbstbewußtsein den einheitlichen Duktus
im Weltgefüge ausmacht. Hier ist die niedere Form nicht indifferent,
sie drängt teleologisch zur höheren, kann sich selbst nicht
vollenden ohne sie. Das Höhere wird so durchgehend zur latenten Voraussetzung
des Niederen gemacht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 534 |
Dieser Gedankenromantik setzt Hegel die Krone auf - mit dem Anspruch,
von unten auf, Stufe für Stufe, Kategorie für Kategorie, zu
zeigen, wie jedesmal das Niedere auf das Höhere »dialektisch«
hinausführt, weil es in ihm keine Bestimmung und keine Vollendung
(seine »Wahrheit«) hat. Hier ist Dialektik nicht die einfache
Verfolgung von Implikationszusammenhängen, wie sie innerhalb einer
Kategorienschicht bestehen, sondern die von unten auf angestellte Rekonstruktion
einer von oben her durchgehend determinierenden Teleologie der Formen:
an der höchsten Form, dem Sichselbstwissen des absoluten Geistes,
»hängt« die ganze Reihe, und nur der aufsteigende Gang
der Dialektik kann einen darüber täuschen. Die Täuschung
fällt, wenn man begriffen hat, daß dieser Aufstieg vielmehr
der Richtung der von Hegel gemeinten und vorausgesetzten Abhängigkeit
entgegen läuft (es gibt nicht nur Aufstieg,
sondern auch Abstieg; HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 534 |
Hat man den gemeinsamen Grundcharakter im Denkschema dieser Theorien
einmal durchschaut, so sieht man ohne weiteres, daß in ihnen das
kategoriale Grundgesetz (gemeint ist das 1. Dependenzgesetz
- das Gesetz der Stärke als das »kategoriale Grundgesetz«,
siehe S. 519-520; HB) nicht nur aufgehoben, sondern auch auf den
Kopf gestellt ist (da diese Theorien aber alle älter
sind als die Theorie des kategorialen Grundgesetzes, so hat diese jene
»auf den Kopf gestellt«; HB). Die Selbständigkeit
der niederen Schichten ist von Grund aus verkannt, die höheren Kategorien
sind zu den stärkeren gemacht, die Richtung der Dependenz in der
Schichtenfolge des Seienden verkehrt (aus deren
Sicht ist es umgekehrt; HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 534-535 |
Der Fehler ist ein ontologischer, ein kategroialer.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 535 |
Er bsteht in der radikalen Verkehrung desjeningen Grundgesetzes
(gemeint ist das kategoriale Grundgesetz - das Gesetz
der Stärke als das 1. Dependenzgesetz, siehe S. 519-520; HB),
welches das Verhältnis zwischen der Rangordnung und der Abhängigkeitsfolge
eben jener Seinsformen beherrscht, um deren einheitliche Zusammenschau
diese Theorien bemüht sind. - Die Bemühung selbst nämlich
unterliegt in ihnen einer Suggestion, die menschlich wohl verständlich,
aber eben deswegen doch auch allzumenschlich ist und diese Anschauungsweise
anthropomorph macht. Der Mensch ist es, der in seinem Leben nach Kräften
das Niedere dem Höheren unterordnet. Er macht es also wirklich, soweit
seine Macht reicht, vom Höheren abhängig. Das eben heißt
es doch, wenn er natürliche Vorgänge, Kräfte und Tendenzen
für seine Zwecke auswertet (ausnutzt, jedenfalls
im Sinne der Finalität nutzt und auf diese Weise die Natur und alles
andere »unter ihm« seinen Willen unterordnet, ja sogar zerstört;
HB). Diese Unterordnung hat hier ihr gutes Recht; denn das ist
das Tun der Vernunft im Menschen. Im Tun des Menschen also deckt sich
wirklich die Richtung der Rangordnung mit der Richtung der Abhängigkeit;
das Höhere determiniert, es ist das Maßgebende. (Und
deshalb plädiere ich hier noch einmal für eine »zweigleisige«
Betrachtung: vom Niederen zum Höheren im Sinne der Hartmannschen
Kategorienlehre und vom Höheren zum Niederen; weil beide Wege tatsächlich
existieren; HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 535 |
Das spekulative Denken aber überträgt dieses sehr besondere
Verhältnis nach außen. Es verlängert die Perspektive der
zwecklbewußten Aktivität weit ... in die Welt als ganzes hinein
- als wäre es einer ähnlichen Aktivität der Vernunft auch
in ihr gewiß. Das spekulative Denken einer gewissen Stufe vermag
die Welt in der Tat nicht anders vorzustellen als nach Analogie menschlichen
Tuns und Waltens; es findet seine Überlegungen gleichsam gefangen
in der dependenzform des zweckvollen Tuns. Und so ordnet es denn auch
im Ganzen der Welt das Niedere dem Höheren determinativ unter, läßt
auch in ihr die Abhängigkeit der Ranghöhe folgen. Das aber ist
die Inversion des des kategorialen Grundgesetzes (gemeint
ist das 1. Dependenzgesetz - das Gesetz der Stärke als das »kategoriale
Grundgesetz«, siehe S. 519-520; HB). Denn dieses besagt,
daß in der Schichtenfolge die Abhängigkeit der Rangordnung
nicht folgt, sondern entgegen läuft.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 536 |
Soweit überhaupt in der Höehendimension der Seinsformen
Abhängigkeit herrscht, ist das Höhere vom Niederen abhängig,
das Niedere aber indifferent gegen das Höhere.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 536 |
Die Dependenz in der Welt, wie sie »ist«, hat nicht
den Charakter einer Sinn- und Wertordnung, geschweige denn einer Vernunftordnung,
sondern durchaus nur den einer Seinsordnung.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 536 |
Die Teleologie der Formen, des Vernunftidealismus sowie die aufsteigende
Dialektik sind es nicht, die erst zur Inversion des kategorialen Grundgesetzes
(gemeint ist das 1. Dependenzgesetz - das Gesetz
der Stärke als das »kategoriale Grundgesetz«, siehe S.
519-520; HB) führen; vielmehr sie selbst beruhen schon auf
ihr. Sie haben die Inversion immer schon vollzogen, freilich ohne es zu
ahnen; sie haben sie zugleich mit der Gehweise jenes verkappten Anthropomorphismus
vollzogen, der als solcher nicht ins Bewußtsein tritt, aber um so
mehr zwangsläufig wirkt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 536 |
Im Idealismus z.B. ist schon von vornherein Bewußtsein (resp.
Vernunft, Geist) dem dinglichen und organischen Sein vorgeordnet. Diese
Vorordnung ist der Sinn alles »transzendentalen« Argumentierens.
In der Formenteleologie und speziell in der Hegelschen Dialektik ist grundsätzlich
die Abhängigkeit des neideren Seins vom höheren schon vor aller
Untersuchung proklamiert; sie ist in aller Selbstverständlichkeit
zum Prinzip erhoben. Diese Selbstverständlichkeit ist zwar eine sehr
subjektive, aber sie bleibt unangefochten, solange das Denken in der naiv-anthopomorphistischen
Einstellung bleibt, die unbedenklich bei jedem Dinge danach fragt, »wozu«
es da sei, »worin« es seine Bestimmung habe - als wäre
es von vornherien ausgemacht, daß alle Dinge ein »Wozu«
(einen Zweck, einen Sinn, eine innere Destination) haben müßten
(und das müssen sie ja auch aus Sicht des menschlichen
Geistes, der realen Geistesschicht; HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 536-537 |
Diese vulgäre Frageweise geht eindeutig verfolgbar bis auf
das uralte mythische Denken zurück, das alle Dinge vermenschlicht.
Sie ist bis heute die Frageweise der Kinder und Ahnungslosen. Erstaunlicher
aber ist es, daß sie trotz aller Durchsichtigkeit ihres Ursprungs
in den großen und vielbewunderten Systemen der Metaphysik die stillschweigende,
alles tragende Voraussetzung geblieben und selbst von deren Kritikern
nicht kalr durchschaut worden ist. (Das liegt auch
eben daran, daß der Mensch kein absolutes Wissen hat und deshalb
die Inversionstheorien letztendlich nicht widerlegt werden können;
ob echte Inversion oder echte Gegeninversion: beide müssen berücksichtigt
werden, so wie bis heute auch z.B. der Subjekt-Objekt-Gegensatz weiterhin
berücksichtigt bleibt; HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 537 |
Es ist kein Zufall, daß es keinem Kritiker Hegels ganz gelungen
ist, ihn von innen heraus zu widerlegen, obgleich die »transzendente«
Kritik frühzeitig den Widerspruch seiner These gegen breite Tatsachenreihen
angezeigt hatte. (Kein Wunder, denn in Hegels Dialektik
wird der Widerspruch ja auch nicht zum Verschwinden gebracht, sondern
»nur« aufgehoben; Hegel kann man nicht widerlegen, indem man
auf einen Widerspruch hinweist; HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 537 |
Wie der Zauber Hegels noch heute im Kern ungebrochen ist, so war
es einst der nicht weniger starke, aber loser gewobener zauber des Aristoteles,
der in den Jahrhunderten der abendländischen Philsophie einzigartig
geherrscht hat (bis jetzt - warten wir ab, wie lange
Hegel noch herrschen wird; HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 537 |
Nur das radikale Mittel kann hierhelfen: die an der Wurzel einsetzende
Kategorialanalyse, die sich vom Gehalt der Probleme führen läßt
und nach keiner Richtung etwas vorwegnimmt, was erst die Untersuchung
erweisen kann.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 538 |
Fruchtbare Kritik kann nur in der positiven Aufweisung von Seinsgrundlagen
geleistet werden. Dazu bilden die Dependenzgesetze eine erste Handhabe
und unter ihnen wiederum in erster Linie das kategoriale Grundgesetz (gemeint
ist das 1. Dependenzgesetz - das Gesetz der Stärke als das »kategoriale
Grundgesetz«, siehe S. 519-520; HB) und das Gesetz Indifferenz
(vgl. gemeint ist das 2. Dependenzgesetz, S. 520;
HB). - Allen jenen unbemerkten Fehlerquellen der Denkform gegenüber
besagen diese beiden Gesetze etwas ganz Einfaches, am Verhältnis
der Seinsschichten selbst Sichtbares. Sie besagen dieses, daß geistiges
Sein Bewußtsein voraussetzt, während Bewußtsein als solches
nicht auf geistiges Sein angelegt ist und auch ohne sein Bestehen Realität
hat; daß Bewußtsein an organisches Sein gebunden ist und nur
auftreten kann, wo ein solches als sein Träger vorhanden ist, während
der Organismus seinerseits keineswegs an Bewußtsein gebunden ist
noch auch die Bestimmung zum Bewußtsein in sich hat; daß ferner
organisches Sein nur auf Grund physisch-materiellen Seins möglich
ist, diese hingegen in weitestem Ausmaße ohne organisches Leben
besteht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 538 |
Dasselbe gilt innerhalb der einzelnen Seinsschichten für
alle differenziertere Abstufung der gebilde, Vorgänge und Verhältnisse.
Durch die ganze Stufenfolge hin zieht sich eindeutig und nicht umkehrbar
die Abhängogkeit von unten her und die Indifferenz nach oben zu.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 538 |
Handeln die ersten beiden Gesetze (gemeint
sind das 1. und das 2. Dependenzgesetz, vgl. S. 519-520; HB) von
dem, worin das Höhere abhängig, das Niedere selbständig
ist, so haben die beiden letztgenannten Gesetze (gemeint
sind das 3. und das 4. Dependenzgesetz, vgl. S. 520; HB) es umgekehrt
mit dem zu tun, worin das Höhere eigenständig und autonom ist.
Denn nur in bestimmter Hinsicht ist das Höhere abhängig vom
Niederen: entweder als Überformung des Niederen, wobei es selbst
dessen kategoriale Struktur als Aufbauelement in sich aufnimmt (und
abwandelt; HB) , oder als Überbau, der des niederen Seins
nur als eines tragenden Fundaments bedarf. Selbstverständlich ist
im ersten Falle die Abhängigkeit des Höheren eine größere
und mehr ins Inhaltliche gehende als im zweiten. Will man also das Moment
der Autonomie einer höheren Seinsstufe gegenüber der neideren
herausarbeiten, so muß man mit dem Überformungsverhältnis
beginnen. Denn da hier die Abhängigkeit größer ist, muß
auch die Autonomie des Abhängigen hier auf größere Widerstände
stoßen. ist sie für das Überformungsverhältnis nachzuweisen,
so folgt sie für das Überbauungsverhältnis von selbst.
Darum erstreckt sich das Gesetz der Materie (gemeint
ist das 3. Dependenzgesetz, vgl. S. 520; HB) unmittelbar nur auf
die Überformung. Sein Geltungsbereich wird deswegen keineswegs allzusehr
eingeschränkt. Man erinnere sich hier, daß Überformung
keineswegs bloß an der Grenze von physisch-materiellem und oragnischen
Sein statt hat; da die Fundamentalkategorien (vgl.
S. 203 ff.; HB) durch alle Schichten hindurchgehen und von den
höheren Kategorien immerhin viele nach oben zu wiederkehren, so findet
in gewissen Grenzen an allen Schichtendistanzen »auch« Überformung
statt, und »reine« Überbauungsverhältnisse gibt
es wohl gar nicht. Ein Teil der niederen Kategorien geht eben stets mit
in die höhere kategoriale Struktur ein, auch wenn sie heir als untergeordnete
Elemente nicht auf den ersten Blick wiedererkennbar sind. Sie bilden überall,
wo sie aufwärts durchdringen, eine Art kategorialer »Materie«.
Von dieser materie handlet das dritte Dependenzgesetz.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 539 |
Das geistige Sein ist nicht seelischer Akt (sofern
es »seelische Akte« gibt; HB) , und seine Gesetze sind
andere; aber der Vollzugscharakter des Aktes erhält sich in ihm,
der Akt wächst nur in ein anders geartetes Gefüge von Gehalt
und Bedeutung hinauf. Dieses andere Gefüge ist selbst in keiner Weise
mehr Akt, es ragt sogar weit über die Grenzen des aktvollziehenden
Bewußtseins hinaus - in eine Sphäre gemeinsamen geistigen Lebens
hinein, die im ständigen Wechsel der Individuen einheitlich fortbesteht
und sich fortentwickelt. Aber auch dieses höhere Gefüge bleibt
stets am Bewußtsein und Akt als nur an seine Träger rückgebunden,
und es kommt ohne sie nirgends vor; ja, es ist dadurch selbst real zeitgebunden,
und diese Gebundenheit wird in der Geschichtlichkeit des Geistes sehr
konkret greifbar. Und mittelbar, durch das Aufruhen des Bewußtseins
auf dem organischen Leben, ist es sogar raumgebunden. Der Geist als solcher
ist wohl unräumlich, aber sein reales Dasein in der Welt ist durch
die Rückgebundenheit an die niederen Seinsschichten doch auch räumlich
lokalisiert (räumlich sind nur zwei Schichten:
die anorganische und die organische; HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 543-544 |
Über solche Rückgebundenheit hinaus aber geht im Überbauungsverhältnis
die Abhängigkeit »von unten her« nicht. Das besagt, sie
ist um vieles geringer als im Materie-Verhältnis. Sie spielt in das
Inhaltliche kaum mehr hinein. Denn das Gegenstands- und Erkenntnisverhältnis,
durch welche alle Seinsgebilde von unten auf wieder inhaltsbestimmend
im Geistesleben werden, ist ein ganz anderes Verhältnis, ein spezifisches
Novum des Geistes.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 544 |
Das vierte Dependenzgesetz (das Gesetz der
Freiheit, siehe S. 520; HB) ist in Wahrheit ein Gesetz der Independenz.
Es ist die Kehrseite vom Gesetz der Materie (das
dritte Dependenzgesetz, siehe S. 520; HB) und in diesem schon halb
zu erkennen; es fügt aber zur bloß negativen Begrenzung der
Abhängigkeit das eigentlich Positive erst hinzu: die Eigenständigkeit
der höheren kategorialen Struktur.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 544 |
Als Gegengesetz zum Gesetz der Stärke (das
erste Dependenzgesetz als das »kategoriale Grundgesetz«, siehe
S. 519-520; HB) kann man es auch das »Gesetz der Höhe«
(das vierte Dependenzgesetz als das Gesetz der Freiheit,
siehe S. 520; HB) nennen. Denn das ist sein Sinn, daß es
neben dem Vorrang der Stärke und des Elementarseins einen Vorrang
der Höhe gibt, und zwar in derselben Stufenordnung des Seienden und
seiner Kategorien. Dieser Vorrang der Höhe besteht nicht nur im inhaltlichen
Reichtum der Struktur, auch nicht etwa erst im Sinn- und Wertgehalt -
was ja unbestreitbar zutrifft, aber an sich kein ontologisches Moment
ist -, sondern auch in einem bestimmten Typus von Unabhängigkeit
oder, positiv ausgedrückt, in »kategrorialer Freiheit«
und Eigengesetzlichekeit (Autonomie). - Da nun nach dem Gesetz der Stärke
das Höhere abhängig ist vom Niederen, so könnte hier ein
Widerspruch zu liegen scheinen, denn die Unabhängigkeit, von der
das Gesetz der Freiheit spricht, soll ja auch gerade eine solche des Höheren
vom Niederen sein. Das erste Erfordernis also ist, den scheinbaren Widerspruch
aufzulösen. - Das ist nun nach den vorhergegangenen Erörterungen
nicht schwer. Man braucht dazu nur das Verhältnis der drei ersten
Dependenzgesetze (das der Stärke, das der Indifferenz
und das der Materie, siehe S. 519-520; HB) genau in Auge zu fassen.
Wäre nämlich die niedere Kategorienschicht nicht »indifferent«
gegen die höhere, die auf ihr fußt, und wäre diese nicht
nur der »Materie« (oder gar nur dem Fundament) nach durch
jene bedingt, sondern auch ihrer besonderen Formung nach, so könnte
es bei durchgehendem Stärkersein der neideren Kategorien keine Autonomie
der höheren geben. Dann aber könnten die höheren auch kein
Novum den niederen gegenüber enthalten, sie müßten in
der Summe wiederkehrender kategorialer Elemente aufgehen. - Daß
dem nicht so ist, sprach schon das Geswtz des Novums (vgl.
S. 500 ff.; HB) aus. Wiederkehr macht die höheren Formen nicht
aus (vgl. das Gesetz der Wiederkehr als das erste
Schichtungsgesetz, siehe S. 475; HB); die Stärke der niederen
Kategorien ist nur die von Elementen. Es ist von Schicht zu Schicht wie
in dem Aristotelischen Beispiel mit den Balken und Ziegeln: sie geben
den Bauplan nicht her, sie sind bur Grenzen seines Spielraumes. So sind
von Schicht zu Schicht die niederen Kategorien nur eine Einschränkung
des Spielraumes für die höhere kategoriale Struktur und dieses
selbst gegen sie ein Novum, also autonome Struktur. - Da also vielmehr
die niedree Kategorienschicht gleichgültig gegen die höhere
ist, somdarf das Gesetz der Freiheit ohne Widerspruch gegen das kategoriale
Grundgesetz (das Gesetz der Stärke als das
erste Dependenzgesetz, siehe S. 519-520; HB) behaupten, daß
ungeachtet des Stärkerseins der niederen kategorien die höheren
ihnen gegenüber in ihrem Eigentümlichen (ihrem Novum) autonom
sind. Sie müssen sogar notwendig diese Autonomie haben, denn sonst
wären sie gar nicht die höhere Seinsschicht. Es handelt sich
also in der kategorialen Freiheit des Höheren um eine Independenz
in der Depemdemz, um eine Selbständigkeit des Abhängigen als
solchen und ohne Verletzung der Abhängigkeit oder auch um das Zusammenbestehen
con struktureller Überlegenheit des Höheren mit dem Stärkersein
des Niederen im Schichtenbau der realen Welt. Und dieses Verhältnis
besteht durchgehend für alle Schichteninstanzen, einerlei ob die
höheren Kategorien die niederen wie eine »Materie« (vgl.
das Gesetz der Materie als das dritte Dependenzgesetz, S. 520; HB)
überformen oder nur wie eine Grundlage überbauen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 544-545 |
Hält man diese Dinge zusammen, so wird daran durchsichtig,
daß kategoriales Höhersein schon rein als solches unmittelbar
Autonomie gegenüber allem der Schichtung nach niederen Sein bedeutet,
und zwar unbeachtet der kategorialen Abhängigkeit von diesem. Die
Überlegenheit des Höheren ist eben eine andere als die des Stärkerseins;
darum kommt ein Widerstreit seiner Independenz mit seiner eigenen Dependenz
gar nicht in Frage. Denn die stärkeren Kategorien sind zugleich die
ärmeren bei aller Härte ihrer Geltungskraft die höheren
Seinsgebilde inhaltlich nicht bestreiten. - Das aber bedeutet: es bleibt
an jeder Schichtendistanz Spielraum für höhere Formung »oberhalb«
der niederen. Dieser Spielraum ist das freie Feld möglicher Autonomie
einer höheren Seinsschicht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 545-546 |
Es wurde oben beim kategorialen Grundgesetz (das
Gesetz der Stärke als das erste Dependenzgesetz, siehe S. 519-520;
HB) gezeigt, wie es eine Eigentümlichkeit im Schichtenbau
der Welt ist, daß sich überhaupt zweierlei Überlegenheit
- die der Stärke und die der Höhe - in ihm begegnet und in entgegengesetzter
Richtung abstuft (Kap. 56 d). Man kann jetzt auch sagen, es sind zwei
entgegengesetzte Arten der Selbständigkeit und des kategorialen Vorranges.
Der Unterscheid gegen die dort angestellte Erörterung ist nur, daß
auf Grund der drei weiteren Dependenzgesetze diese Eigentümlichkeit
der Welt nicht mehr als bloße Tatsache hinzunehmen ist, sondern
als innere Konsequenz einer kategorialen Mannigfalrtigkeit begreifbar
geworden ist. Denn jeder einseitige Seinsvorrang - sei es der der Höhe
oder der der Stärke - würde alle Schichten einseitig von einer
total abhängigen machen, entweder alle niederen von der höchsten
oder alle höheren von der niedersten, und dadurch die kategoriale
Mannigfaltigkeit und den inhaltlichen Reichtum der realen Welt aufheben.
Die Aufhebung aber würde aller unvoreingenommenen Analyse des Gegebenen
- verstanden in der ganzen Breite naiver und wissenschaftlicher Erfahrung
- widerstreiten.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 546-547 |
Nicht von jedem Problemzusammenhang aus sind beide Arten des Seinsvorranges
zu sehen. Darum ist in den metaphysischen Systemen tatsächlich meist
nur eine gesehen worden. Auch vom kategorialen Grundgesetz (das
Gesetz der Stärke als das erste Dependenzgesetz, siehe S. 519-520;
HB) aus ließ sich nur die eine sehen, der Seinsvorrang in
der Stärke des Niederen. Diesem trägt auch das Indifferenzgesetz
(das Gesetz der Indifferenz als das zweite Dependenzgesetz,
siehe S. 520; HB) noch Rechnung; doch wird hier bereits der Seinsvorrang
der Höhe sichtbar. Aber erst im Gesetz der Freiheit (das
»Gesetz der Höhe« als das vierte Dependenzgesetz, siehe
S. 520; HB) wird er voll ins Bewußtsein gehoben. Der entscheidende
Schritt dieser Einsicht liegt beim Gesetz der Materie (das
dritte Dependenzgesetz, siehe S. 520; HB); denn am Überformungsverhältnis
wird es durchsichtig, wie in der Einheit einer Schichtenfolge der Vorrang
des Höheren mit dem des Stärkeren ungezwungen koexistieren kann.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 547 |
Die beiden Arten des Vorranges widerstreiten einander deswegen
nicht, weil sie ganz verschiedenes bedeuten. Aus demselben Grunde widerstreitet
auch das Gesetz der Freiheit (das »Gesetz
der Höhe« als das vierte Dependenzgesetz, siehe S. 520; HB)
nicht dem Gesetz der Stärke (das »kategoriale
Grundgesetz« als das erste Dependenzgesetz, siehe S. 519-520; HB);
es spricht vielmehr in aller Bewußtheit die Andersheit im kategorialen
Vorrang der Höhe gegen den der Stärke aus: die höhere Formung
beansprucht nicht, Bedingung und tragende Grundlage zu sein, sondern lediglich,
ihre besondere Artung im Aufruhen auf jener selbständig für
sich zu haben. Dieser Anspruch verträgt sich offenbar ohne weiteres
mit dem Stärkersein des Niederen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 547 |
Das Schwächersein des Höheren bedeutet nach dem Gesetz
der Freiheit (dem »Gesetz der Höhe«
als dem vierten Dependenzgesetz, siehe S. 520; HB) nur ein Bedingtsein
vom strukturell Ärmeren her, das als solches den Strukturüberschuß
des Höheren nicht tangiert. An diesem Strukturüberschuß,
dem Novum des Höheren, hängt das kategoriale Moment der Freiheit.
Und da könnte man das G4esetz denn auch anders aussprechen: Freiheit
hat immer nur das Schwächere gegen das Stärkere. Denn das Schwächere
ist das Höhere.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 547-548 |
Natürlich bedeutet diese Formel nicht, daß nicht das
Stärkere auch seine Selbständigkeit habe. Das Stärkersein
ist vielmehr selbst eine Art Selbständigkeit. das hat das Gesetz
der Indifferenz (das zweite Dependenzgesetz, siehe
S. 520; HB) zur Geltung gebracht. Aber Freiheit ist nicht identisch
mit Selbständigkeit. Zur Freiheit gehört der Widerstand einer
Determination, gegen welche sie sich durchsetzt. Die niederen Seinsschichten
nun erfahren von den höheren keinerlei Determination; ihre Selbständigkeit
gegen diese ist also keine Freiheit. Wohl abererfahren die höheren
eine sehr bestimmte Determination von den niederen her. darum ist der
Typus ihrer Selbständigkeit gegen diese mit Recht Freiheit zu nennen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 548 |
Will man dieses genauer an die oben gebrachten Formulierungen
anknüpfen, so kann man auch sagen: Freiheit ist die Selbständigkeit
in der Abhängigkeit, Independenz in der Dependenz. Darum kann nur
das kategorial Schwächere gegen das Stärkere Freiheit haben,
nicht umgekehrt dieses gegen jenes. Die Selbständigkeit der Stärke
kann auch das Unabhängige haben; sie ist zwar nicht identisch mit
dieser, aber doch unlöslich verbunden mit ihr. Die Selbständigkeit
der Freiheit dagegen kann nur das Abhängige haben.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 548 |
In cder Schichtenfolge des Realen haben diese Bestimmungen einen
ganz konkreten Sinn: die höhere Formung hat ihren Spielraum nicht
»in« der bniederen, also nicht auf ihrer Seinshöhe, sondern
»über« ihr. Die niedere Seinsschicht ist in ihrem ganzen
Bereich schon durch ihre eigenen Kategorien zureichen determiniert; sie
ist kategorial gesättigt. Und da ihre Kategorien die stärkeren
sind, so können die höheren gegen sie nicht aufkommen. »In«
ihr also ist kein Raum für Überbestimmung. »Oberhalb«
ihrer dagegen haben die höheren Kategorien unbegrenzten Spielraum.
- Denn »oberhalb« ihrer sind jene selben »stärkeren«
Kategorien entweder nur Materie der Überformung oder gar nur Seinsfundament
des Aufruhenden. In beiden Fällen verhalten sie sich vollkommen indifferent
gegen das Einsetzen der höheren Form. Der Überfromung setzen
sie nichts als die Tragkraft des Elements, der Überbauuung nichts
als dei Seinsbasis entgegen. Beide schränken die höhere Formung
nur im Sinne einer Bedingung ein, begrenzen also ihre Autonomie nur noch
unten zu, nicht nach oben hin.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 548 |
Die höehere Kategorien vermögen »gegen«
die niederen nichts, »mit« ihnen aber - sie gleichsam »für«
sich habend - alles, was nur immer an höherer Gestaltung sie aufbringen.
Sie sind und bleiben zwar bei aller Autonimie in einer gewissen Abhängigkeit
von ihnen; aber sie sind »frei« in ihrer Abhängigkeit,
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 548 |
Vo jeher walten in der Geschichte zwei Typen der Systembildung
vor. Der eine ist im wesentlichen der oben geschilderte der Formenteleologie,
der von den höchsten Seinsformen aus abwaärts schauend die niederen
verstehen will (Kap. 57 c und d); dieser Typus ist der eigentlich herrschende,
die große Linie der spekulativen Metaphysik bestimmende. .... Der
andere Typus, viel bescheidener vertreten, aber nicht minder radikal,
will umgekehrt von den niedersten Seinsformen aufwärts die höheren
verstehen. Die antike Atomistik zeigt diesen Typus, weit schroffer als
sie aber der neuzeitliche Materialismus, Naturalismus, Energetismus, ja
in gewissen Grenzen auch der Biologismus und Psychologismus. - Beide Typen
haben unrecht, und zwar beide verfürht durch dasselbe Einheitspostulat.
Der erste verstößt gegen das kategoriale Grundgesetz (das
Gesetz der Stärke als das 1. Dependenzgesetz, siehe S. 519-520; HB)
indem er die höheren Prinzipien zu den stärkeren macht, der
zweite gegen das Gesetz der Freiheit (das »Gesetz
der Höhe« als das 4. Dependenzgesetz, siehe S. 520; HB),
indem er die niederen Prinzipien als zureichend für die höheren
Seinsschichten gelten läßt. Jener hebt die Selbständigkeit
des ontisch fundamentalen auf, dieser die Autonomie der überlegenen
Seinsfülle. - Die Kategorien des physisch Materiellen sind genau
so wenig imstande, auch nur dem Organismus oder gar dem Bewußtsein
und dem geistigen Sein zu genügen, wie die kategorien des letzteren
imstande sind, die Grundlage für jenes herzugeben. Eine rein mechanistische
Deutung der Lebenserscheinungen ist ebenos aussichtslos wie die psychovitalistische
und die teleologische. Beide führen das organische Sein auf kategorien
zurück, die nicht die seinigen sind und deswegen seine Eigenart vergewaltigen,
die eine von unten, die andere von oben her. .... - Beide Tendenzen verkennen
grundsätzlich die kategoriale Selbständigkeit des Organischen.
Wäre der »Vitalismus« wirklich da, was sein Name besagt,
die einfache Annahme eigener Kategorialprinzipien, die von keiner anderen
Seinsschicht entlehnt sind, so wäre er eine brauchbare Theorie, auch
wenn er diese Prinzipien nicht herausarbeiten könnte. Er wäre
wenigstens grundsätzlich auf dem ontologisch rechten Wege. Die vitalistischen
Theorien tun idessen tatsächlich etwas ganz anderes: sie übertragen
seelische oder geistige Prinzipien auf den Organismus, und zwar mit besonderer
Vorliebe immer wieder die Kategorie der Zwecktätigkeit, die vom menschlichen
Planen und Hadeln hergenommen ist. - Der springende Punkt ist eben doch
der, daß auf jeder Seinsstufe in doppelter Richtung Selbständigkeit
und Eigengesetzloichkeit besteht: in der Stärke und Indifferenz gegen
das höhere sein und zugleich die des Novums und der Freiheit gegen
das niedere. Der Vitalismus hat immer nur die letztere berücksichtigt,
die erstere aber preisgegeben. Darum hat er niemals echte Vitalprinzipien
eingeführt, sondern unter dem Vorgeben, solche zugrundzulegen, entlehnte
kategorien aus der Sphäre des menschlichen Tuns und Treibens an ihre
Stelle gesetzt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 549-550 |
Wie der Materialismus das Lebendige vergewaltigt, so der Biologismus
das Bewußtsein und das Seelenleben überhaupt. Versteht man
das Bewußtsein als eine Funktion des Organismus unter anderen Furnktionen,
so kann man sich sehr wohl einen phylogenetischen Weg seiner Entstehung
auf Grund von Mutations- und Selektionsprozesse speziellster Art zusammenreimen.
Man wird dieser Auffassung auch eine gewisse Berechtigung nicht bestreiten
dürfen. Nur bedeutet sie kein ontologisches Durchdringen bis auf
das Eigentümliche des Bewußtseins; sie setzt dieses vielmehr
in der angenommenen Funktion schon voraus. (Sie
muß es aber auch nicht, da man prinzipiell für jedes Phänomen
ein »Eigentümliches« fordern - und deshalb eben auch
ablehnen - kann; außerdem gehört das Bewußtsein mehr
zum Geistigen als zum Seelischen und kann, wenn das Seelische als Schicht
ganz herausfällt, nur dem Organischen oder nur dem Geistigen oder
nur beiden zugeschlagen werden, nicht aber dem Seelischen; HB).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 550 |
Nicht viel anders ist es auch bmit den Versuchen des Psychologismus,
das geistige Sein aus dem Gefüge selischer Vorgänge heraus zu
verstehen, also etwa das Urteil, das Erkennen, Wertfühlung und moralische
Verantwortung,künstlerisches Schaffen und Schauen nach der Art psychischer
Reaktionen aufzufassen. Man deklassiet damit in Wahrheit das Geistesleben,
bringt es uum seine charakteristische Objektivität, seinen Sinngehalt,
sien überindividuelles und übersubjektives Sein. Statt es zu
erklären oder auch nur in seiner Rätselhaftigkeit anzuerkennen,
vernichtet man seine Eigenart und Autonomie.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 551 |
Alle Verstöße gegen das Gesetz der Freiheit, wie auch
immer die Theorien vorgehen und auf welche Seinsschichten sie sich beziehen
mögen, zeigen ein und dasselbe Gesicht. Sie verkennen das Novum des
höheren Seins, verstoßen also zugleich auch gegen die Schichtungsgesetze
(vgl. S. 472 ff., bes. S. 475-476; HB). Sie
erklären mit unzureichenden Mitteln; unzureichend eben sind grundsätzlich
die niederen Kategorien für eine höhere Seinsschicht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 551 |
Insofern ist der umgekehrte Verstoß, der gegen das Gesetz
der Stärke (das 1. Dependenzgesetz als das
kategoriale Grundgesetz, siehe S. 519-520; HB) - wie ihn die Theorien
der Formenteleologie zeigen -, immer noch ein sinnvolles Unterfangen.
Hier wird wenigstens mit grundsätzlich zureichenden Mitteln erklärt,
ja sogar mit überzureichenden. Das Unterfangen ist nichtsdestoweniger
verkehrt, und zwar eben weil man viel zu große kategoriale MMittel
an das weit Einfachere und Ärmere heranträgt. Die suggestive
Kraft solchen Vorgehens versteht man indessen sehr wohl: die höheren
Kategorien, einmal dem niederen Concretum als die seinigen zugeschrieben,
bewältigen dieses natürlich mit Leichtigkeit. Eine Theorie des
Organischen auf Grund seelischer Formbildungsprinzipien hat leichtes Spiel.
Schreibt man gar allen Seinsschichten Vernunft, Wille und planvolle Zwecktätigkeit
zu (die Rede ist von der Geistesschicht; HB),
so wird das Spiel noch um vieles leichter. Es wird so leicht, daß
eigentlich schon sein müheloses Gelingen selbst das Falschspiel verrät.
Eine solche Theorie setzt nicht nur voraus, was sie erst erklären
sollte, was sie erst erklären sollte, sondern weit mehr als sie erklären
sollte. Indem sie es sich zu leicht macht, schießt sie zugleich
zu weit übers Ziel.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 551 |
Der sinnvollere Fehler ist eben nicht weniger ein Fehler. Er vergewaltigt
die Phänomene nicht weniger als der sinnwidrige Fehler. Dieser trägt
darüber hinaus nur noch das Odium der Sinnwidrigkeit selbst. Das
Gesetz der Stärke (das 1. Dependenzgesetz als
das kategoriale Grundgesetz, siehe S. 519-520; HB) und das Gesetz
der Freiheit (das »Gesetz der Höhe«
als das 4. Dependenzgesetz, siehe S. 520; HB) sind gkleich fundamentale
Gesetze. Ontologisch ist die Verletzung des einen genau so folgenschwer
wie die des anderen. Was den Verstoß gegen das Freiheitsgesetz schwerer
belastet, ist vielmehr eine außerordentliche Note: die Herabsetzung
des Höheren, sofern man in ihr zugleich die Vernichtung eines bestimmten
Wert- und Bedeutungsvorranges in Kauf nimmt. Und wo es sich um Herabsetzung
des geistigen Seins handelt, empfinden wir das mit Recht als folgenschwer.
Als Tun des philosophierenden Geistes ist also der verstoß gegen
das Gesetz der Freiheit zugleich die Selbstverkennung und gleichsam Selbstdeklassierung
eben dieses Geistes.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 551-552 |
Ist es nun aber wahr, daß im Gefüge der realen Welt
die höheren Seinsformen gar nicht bestimmend in das Gebiet der niederen
hineinspielen? Es spricht, so scheint es, doch nicht Weniges dagegen.
Der Mensch gestaltet doch Naturverhältnisse um, zwar nur in seinem
nächsten Umkreise, aber doch im im Sinne des Eingreifens in die natürlichen
Abläufe. Er hat die Oberfläche in mancher Hinsicht umgestaltet
(bis hin zur Zerstörung! HB). Viel weiter noch geht im Kleinen seine Dingformung und seine Auswertung von Naturkräften
(Technik). Es ist klar, daß hier überall der Geist es ist,
der in die Naturzusammenhänge eingreift; er ist die erkennende, planende,
im Ausführen lenkende Instanz. Seine Kategorien aber sind die höheren.
Ist es also nicht doch so, daß die höheren Kategorien determinierend
in die niederen Seinsschichten hinabreichen?
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 552 |
Man kann dies Frage noch auf eine breitere Basis stellen. Der
Geist greift auch in das organische Leben ein, er züchtet Pflanzen
und Tiere, veranlaßt dadurch echte organische Umgestaltung; er hat
auch durch die Methoden der Therapie das eigene leibliche Leben des Menschen
in eine gewisse Abhängigkeit von seinenm planmäßigen Tun
gebracht. Und auch in die seelische Welt greift er ein: er erzieht das
Triebleben, schafft Gewohnheiten nach seinen Wertgesichtspunkten, untgerdrückt
oder steigert bestehende seelische Vorgänge gegen deren mitgebrachte
Gegentendenz.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 553 |
Gegen diese Tatsachen ist nichts zu streiten. Es fragt sich nur,ob
sie wirklich das sind, wofür der Einwand sie ausgibt: ein Eingreifen
der höheren Formung in das Prinzipielle der neideren resp. Abhängigkeit
der niederten von den höheren.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 553 |
Es läßt sich leicht zeigen, daß dem nicht so
ist. Eingreifen in eine Seinsschicht ist etwas ganz andere als Eingreifen
in ihre Gesetzlichkeit und kategoriale Struktur. Das erstere kann der
Menschengeist auf mannigfache Weise, und zwar am weitgehendsten der niedersten
Seinsschicht gegenüber; das letztere aber kann er auf keine Weise.
Über niedere kategoriale Formung hat er keinerlei Macht. Im Gegenteil,
daß er über gewisse Naturkräfte seiner nächsten Umgebung
Macht gewinnt, beruht darauf, daß er deren Eigengesetzlichkeit verstehen
lernt und sich in seinem technischen Schaffen seinerseits ihr anpaßt
(vgl. oben Kap. 56 b). Die Anpassung aber ist ein Gehrochen, nicht ein
Vorschreiben. Was der Geist vorschreibt, ist vielmehr die höhere
Form, gegen welche die Naturkräfte indifferent sind.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 553 |
Man sieht, es handelt sich um Fälle der Überformung.
Die Kunstprodukte technischen Tuns sind eben nicht mehr Natur (beeinflussen
diese aber dennoch! HB); sie gehören auch keineswegs einfach
der Seinsschicht des Anorganisvhen an, denn ohne den Menschengeist, ohne
Erfinden, Ersinnen und planmäßiges Ausführen kommen sie
gar nicht zustande. Solche Überformung widerstreitet aber in keiner
Weise dem Gesetz der Indifferenz (das zweite Dependenzgesetz,
siehe S. 520; HB). Sie ist vielmehr nur durch die Indifferenz der
Naturgebilde möglich.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 553 |
Dasselbe gilt natürlich auch vom Tun des Züchters, des
Mediziners, des Erziehers u.s.f.. Weder dem organischen noch dem seelischen
Sein kann der Geist die Gesetze vorschreiben; denn es hat seine eigenen,
und über die hat er keine Gewalt. Er kann auch hier nur in Anpassung
an sie überformen, was gegeben ist. Bei allem, womit der schaffende
Geist es zu tun hat, gilt die Regel: er kann »gegen« die niedere
kategoriale Formung nichts ausrichten, »mit« ihr aber vermag
er genau so viel, als er mit ihr anzufangen weiß.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 553 |
Die Herrschaft des Geistes im Reiche der Natur ist vollkommen
begrenzt durch die Naturgesetzlichkeit. Nur in den Grenzen seiner Anschmiegung
an sie kann er das Vorgefundene für seine Zwecke auswerten (und
so die Natur beeinflussen; HB). Auch in seiner Naturbeherrschung
bleibt der Geist abhängig von den niederen Kategorien, und seine
höheren Kategorien sind uind bleiben die schwächeren. Sein Herrschen
selbst aber ist eine Überlegenheit ganz anderer Art. Er herrscht
durch seine Vorsehung und Zwecktätigkeit; die Natur eben ist nicht
zwecktätig, sie ist gleichgültig gegen Richtung und Resultat
ihrer Prozesse. Darum ist sie gegen die Zweckgebung des Geistes wehrlos,
wenn diese in strenger Anpassung an ihre Gesetze geschieht. Es ist - mit
Hegel zu reden - die »List der Vernunft«, die in er Kategorie
der Zwecktätigkeit steckt. Denn in der Tat ist es eine Art der Überlistung
der Naturkräfte, die der Mensch treibt, indem er sie für seine
Zwecke arbeiten läßt. Und er kann sie für sich arbeiten
lassen, sofern er entsprechend ihren an sich ziellosen Eigentendenzen
unter ihnen die Mitel für seine Zwecke auswählt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 553-554 |
Dieses Verhältnis ist ein vollkommen eindeutiges und durchsichtiges.
Es hat mit Umkehrung der kategorialen Dependenz und Aufhebung des Indifferenzgesetzes
(geneint ist das zweite Dependenzgesetz, siehe S.
520; HB) nichts zu schaffen. Es ist vielmehr durchaus nur auf Grund
dieses Gesetzes möglich: die Indifferenz der an sich stärkeren
Naturmächte ist gerade die Bedingung der Herrschaft des an sich schwächeren
Geistes über sie.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 554 |
Das Indifferenzgesetz (das 2. Dependenzgesetz,
siehe S. 520; HB) besagt eben keineswegs, daß die niedere
Seinschicht von einer höheren keinen Einfluß - etwa keine Überformung
- erfahren könnte. Es besagt etwas ganz anderes, nämlich nur
dieses, daß die »Kategorien« des niederen Seins vom
höheren her keine Umformung erleiden können.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 554 |
Das Kategorienverhältnis, wie es von Schicht zu Schicht sein
Widerspiel von Dependenz und Autonomie zeigt, ragt »nach oben zu«
über das Seinsproblem hinaus und in das Problemgebiet von Wert und
Sinn hinein. Das darf allerdings die Untersuchung nicht verführen,
den ontologischen Boden zu verlassen. Wohl aber rechtfertigt es ein besonderes
Eingehen auf die Sachlage in dem entsprechenden Seinsverhältnis selbst.
Denn hier mischt sich ein Interesse anserer Art in die Problemaufrollung,
das ihre nüchterne Sachlichkeit gefährdet. Es ist dieselbe Gefahr,
der die Mehrzahl der spekulativen Systeme erlegen ist. Ihr ist nur mit
kritischer Wachsamkeit zu begegnen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 554-555 |
Die Aktualität des Freiheitsproblems liegt beim Ethos des
Menschen. Ausgefochten werden mußte es aber stets auf ontologischem
Boden. Denn bei allem Ausfechten handelt es sich um das Verhältnis
zu den determinativen Zusammenhängen, die im Aufbau der realen Welt
enthalten sind. Doch war es infolge jener Aktualität immer nur die
Willensfreiheit, die man im Auge hatte, und gerade das erschwerte die
Sachlage, in der man sich fand. Geschichtlich ist es vollkommen gerechtfertigt,
daß eine so ausgedehnte Problematik wie die der Freiheit nicht mit
dem Fundamentalen, sondern mit dem Aktuellen beginnt. Daß das letztere
ontisch höchst sekundär sein kann, ist eine späte Einsicht.
Au ethischem Gebiet kann man am Freiheitsproblem nicht wohl vorbeikommen,
ohne es ausdrücklich zu stellen. Der Sache nach aber ist Willensfreiheit
nur ein Spezialfall - zwar ein sehr wichtiger und der einzigartigen Bemühung
würdiger, aber doch einer, dem erst das ontologisch generelle Autonomieproblem
den Hintergrund und die Wesensstruktur verleiht. In Wirklichkeit wird
hier, wie überall, der Spezialfall erst vom Grundproblem aus einer
strengeren Behandlung zugänglich.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 555 |
Dazu kommt ein zweites. Ontologisch ist die Freiheit des Organischen
gegenüber der leblosen Natur um nichts weniger wichtig als die des
bewußten Willens gegenüber einem Geflecht der seelischen Motivation.
Denn das Organische ist ebenso abhängig vom Physischen wie der Wille
von den Motiven; in beiden Fällen also setzt sich die Autonomie gegen
eine Dependenz durch. Und dasselbe gilt von der Freiheit des Bewußtseins
gegen den Organismus, von dem es getragen ist.Hat man den Sinn dieser
aufsteigenden Reihe von Freiheistverhältnissen erfaßt, so ist
es ohne weiteres klar, daß Freiheit der Person in ihren Entschlüssen,
Handlungen und Gesinnungen nur möglich ist, wenn es überhaupt
die Autonomie eines höheren Gebildes gegen die Determination des
niederen gibt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 555 |
Die vielumstrittene Willensfreiheit hängt ohne Zweifel an sehr
mannigfaltigen Bedingungen; in erster Linie aber hängt sie am kategorialen
Verhältnis von Dependenz und Autonomie, wie es von Schicht zu Schicht
wiederkehrt. Am Verständnis dieses durchgehenden Verhältnisses
hat es den Verfechtern der Willensfreiheit von jeher gefehlt. Darum haben
sie sich immer wieder verführen lassen, das Weltbild für die
Rettung der Freiheit spekulativ zurechtzustutzen, nicht bemerkend, daß
sie dabei eben das voraussetzten, was sie erweisen wollten. Besonnenere
Köpfe durchschauten das falsche Spiel und ließen die Freiheit
fallen. Mit ihr aber fiel auch das eigentliche Sein des menschlichen Ethos.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 555-556 |
Wo immer man im Ernst die Willensfreiheit zu verfechten suchte,
stieß man unfehlbar auf den Widerstand des Determinismus. Dieser
besagt, daß alles, was geschieht, schon durchgehend bestimmt ist
und nicht anders ausfallen kann, als es ausfällt. Gemeint ist damit
nicht die Determination, die von den Kategorien ausgeht, sondern diejenige,
die innerhalb jeder Seinsschicht das Einzelne mit Einzelnem, Reales mit
Realem verbindet. Jene betrifft nur das Allgemeine und Prinzipielle, diese
aber durchdringt die Einzelfälle bis in ihre Individualität
hinein.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 556 |
Es ist oben (Kap. 31 b und c) gezeigt worden, wie in der tat jede
Seinsschicht ihren eigenen Determinationstypus hat rfesp. ihre besondere
Form des Realnexus, und wie alle diese Typen Abwandlungen der elementaren
Determinationskategorie darstellen. Gibt es nämlich in jeder Seinsschicht
am Concretumn soclh ein Nexua, so gibt es offenbar auch in jeder Kategorienschicht
eine spezifische Determinationskategorie, welche die reine Form des betreffenden
Nexus resp. sein Gesetz ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 556 |
Der Determinationstypen sind mindestens so viele, als es Schichtenb
des Realen gibt. Tatsächlich sind ihrer mehr, weil die Stufen des
geistigen Seins noch eine weitere Manigfaltigkeit mit sich bringen. Ihr
Vorhandensein läßt sich fast überall aufzeigen, der Kategorialanalyse
zugänglich sind aber einstweilen nur ganz wenige: der Kausalnexus
des physischen Geschehens und er Finalnexus des menschlichen Wollens und
Handels (also: des Geistes; HB). Die dazwischenliegenden
Stufen des Nexus liegen durchaus noch im Dunkel, derjenige des Organischen
Werdeprozesses (der Entwicklung der Anlagen) und der des seelischen Vorganges.
Diese Sachlage im Determinationsproblem hat es mit sich gebracht, daß
in den metaphysischen Theorien nur die beiden bekannten Formen des Nexus
zugrundegelegt und dann natürlich auch in entsprechender Einseitigkeit
auf die übrigen Schichten übertragen worden sind. Erst durch
Vereinseitigung, die offenbar den Typus der »Grenzüberschreitung«
trägt (Kap. 7 b und c), sind die beiden bekannten Formen des »Determinismus«
entstanden.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 556 |
Das Weltbild dieser Theorien drängte mit einer gewissen Zwangsläufigkeit
immer weider darauf hinaus, daß alles Seiende unter einem einzigen
Gesetz durchgehender Folge stehe, welches von unten auf bis in die höchsten
Stufen des geistigen Lebens hinein ohne wesentliche Differenzierung alles
beherrrschen müßte. Ob man dieses Folge-Gesetz nun mehr nach
Art der Kausalität oder nach Art der Finalität verstand - und
meist hielt man selbst diese beiden nicht einmal streng auseinander -,
immer ergab der Gesamtaspekt einen vollkommen einheitlichen Welt-Determinismus,
in dem aller Unterschied und die Überformung niederer Determination
durch höhere verloren ging.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 557 |
Die Freiheit der person ist nur ein Spezialfall der kategorialen
Freiheit.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 557 |
Es ist oft versucht worden, der Sachlage im Freiheitsproblem mit
Hilfe des Indeterminismus Herr zu werden. Als gelungen kann man keinen
dieser Versuche bezeichnen. Man verschlimmert damit die Schwierigkeit
nur. Eine total indeterminierte Welt hat wohl im Ernst keine Theorie gemeint.
Ein partialer Indeterminismus aber ist inkonsequent. Übrigens bricht
auch ihm die Welt in zusammenhangslose Stücke auseinander, was den
Phänomenen widerstreitet. - Oder er hebt die niedere Determination
im Überformungsbereich der höheren auf, was gegen das kategoriale
Grundgesetz (gemeint ist das 1. Dependenzgesetz
- das Gesetz der Stärke als das »kategoriale Grundgesetz«,
siehe S. 519-520; HB) geht. Er hebt z.B. den Kausalnexus im Bereich
der Motivation menschlicher Aktivität teilweise auf. Der Kausalnexus
aber gehört nicht zu denjenigen Kategorien, die an der psychophysischen
Grenzscheide abbrechen; er kehrt mannigfach abgewandelt und überformt
wieder.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 557-558 |
Der niedere Nexus kann dort, wo er überhaupt hineinspielt,
nicht durch höhere Kategorien aufgehoben werden. Er ist der stärkere
und kann nur überfromt werden. Seine Überformung aber kann nur
ein höherer Determinationstypusb sein. Indeterministisches Denken
verfehlt die Grundstruktur seines Gegenstandes, der Welt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 558 |
Die Konsequenz ist: sowohl der Determinismus als auch der Indeterminismus
haben sich als unfähig erwiesen, der Sachlage im Freiheitsproblem
gerecht zu werden. Der eine macht die Freiheit sinnwidrig, der andere
die Welt phänomenenwidrig.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 558 |
Die Schichtung der Welt ist ein mittlerer Weg zwischen den Extremen
der spekulativen Theorien. .... Die ontologische Überlegenheit dieses
mittleren Weges ist entsprechend den Dependenzgesetzen (vgl.
S. 512 ff., bes. S. 518-520; HB) diese: in jeder Seinsschicht gibt
es durchgehende Determination, aber in jeder eine andere, ihr eigentümliche.
Die niedere Determination ist zwar immer die stärkere, sie dringt
auch nachweisbar in die höhere Seinsschicht durch, aber nur als ein
untergeordnetes Moment, das vom höheren Nexus wie ein Materie überformt
wird. Der höhere Nexus ist ihr gegenüber ein kategoriales Novum.
Als Novum aber ist er ihr gegenüber »frei« - und zwar
unbeschadet ihrer lückenlosen Durchgehens in ihrer Schicht und ihres
Durchdringens in die höhere. Denn in der höheren Schicht liegt
die Lückenlosigkeit nicht bei ihr, sondern bei der sie überformenden
höheren Determination.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 558-559 |
Der Erweis dieses Verhältnisses ist dadurch erschwert, daß
wir von den Typen des Realnexus nur zwei eigentlich kennen, den Kausalnexus
und den Finalnexus; und diese beiden liegen zu weit auseinander, um die
aufsteigende Überlagerung der Determinationen direkt an ihnen zu
zeigen. Was dazwischen liegt, läßt sich strukturell nur erraten.
Nichtsdestoweniger muß man beim Kausalnexus einsetzen, schon weil
er das uterste Glied der Reihe ist und die bei weitem meiste Überforrmung
erfährt. Denn siese seine Überformbarkeit selbst ist keineswegs
selbstverständlich.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 559 |
Die Ursprungsschicht des Kausalnexus ist die des Anorganischen.
Seine greifbarste Erscheinungsform ist der Mechanismus. Doch bleibt er
auf diesen nicht beschränkt; er durchzieht alle Stufen des dynamischen
Verhältnisses und erstreckt sich, offenbar nirgends unterbrochen,
in den organischen Prozeß hinein. Aber da er nur in der zeitlich
progressiven Abhängigkeit der späteren Prozeßstadien von
den früheren besteht, so kann er in dieser einfachen Linearität
dem organisch-morphogenetischen Prozeß nicht genügen. Hier
tritt sichtlich eine anderweitige determination mitbestimmend hinzu, die
ihn überformt: er wird zum Strukturelement eines Nexus, in welcjem
ein vorbestehendes Formganzes die Direktive gibt. »Wie« dieses
Formganze als höhere determination und kategoriales Novum in ihm
einsetzt, davon wissen wir nur das eine, dim Entwicklungsgange des Einzelorganismus
ein durchaus reales, zeitlich entstandenes, räumlich lokalisiertes,
an bestimmte Zellen und Zellteile gebundenes Anlagesystem wirksam ist.
»Wie« aber ein Anlagesystem sich kausal im Werdeprozeß
des Ganzen auswirkt,läßt ishc nur teilweise erraten.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 559 |
Für die allgemeine Problemfassung ist die Klärung dieses
»Wie« einstweilen auch nicht erforderlich. Nur so weit ist
wesentlich, daß die unerkannte Eigenstruktur der höheren Determinationsform
darin - also die des gesuchten nexus organicus - streng als solche festgehalten
werde.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 559-560 |
Für den Kausalnexus aber folgt hieraus bereits etwas ganz
Fundamentales: er muß von Hause aus so beschaffen sein, daß
er sich überformen läßt. Das bedeutet: wo es Deternimanten
von überkausaler Natur gibt, die sich über ihn legen und ihn
mit bestimmen können, da ist es keine Art, sie nicht vo9n sich auszuschließen,
sondern widerstandslos in sich aufzunehmen und ihre ebenso getreulich
im Prozeß mitzuführen wie die seiner eigenen vorausgehenden
Stadien.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 560 |
Der Kausalnexus ist also imstande, fremde, nicht aus ihm stammende
Determination in sich aufzunehmen, ohne dadurch seine Eigenstruktur zu
verlieren; was sich mit derAufnahem ändert, ist nur die inhaltliche
Richtung des Prozesses resp. sein Resultat. Er verhält sich demnach
zur kategorialen Struktur des höheren Nexus wie die Materie zur Form;
er ist indifferent gegen die höhere Struktur, und diese als solche
ist über ihm autonom.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 560 |
Das Stärkersein der niederen Form des Nexus ist deswegen
an ihm nicht aufgehoben. Was einmal Ursache ist in einem bestimmten Prozeßstadium,
das wirkt sich unaufhebbar in den nachfolgenden aus, und zwar ohne Unterschied
vor wie nach der Überformung. Die höhere Form des Nexus kann
ihn nicht aufhalten, kann ihm auch nichts abhandeln. Wohl aber kann sie
ihm ein Plus an Determination hinzufügen. Und das genügt schon,
ihn auf ein anderes Resultat hinauszulenken. Darin eben besteht die Indifferenz
des Kausalnexus gegen höhere Determination, daß er nicht auf
vorbestimmte Subresultate festgelegt ist, sondern sich widerstandslos
auf andere Resultate umlenken läßt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 560-561 |
Die Lenkbarkeit des Kausalprozesse beruht also darauf, daß
seine kategoriale Struktur dem Einsetzen solcher außerkausaler Determination
keinen Widerstand entgegensetzt. Diese Lenkbarkeit - kategorial sollte
man sie Überformbarkeit nennen - ist und bleibt stets begrenzt durch
die große Masse der vom Kausalprozeß selbst mitgebrachten
Komponenten sowie durch die Fülle der besonderen Naturgesetzlichkeit,
die ihn beherrscht. Aich der Kausalprozeß nimmt nicht beliebige
höhere Determination auf, sonden nur solche, die sich ihm anpaßt,
d.h. die wirklich an seiner Eigendetermination angreift. Nur eine solche
greift wirklich in ihn ein. Aber diese Begrenzung ist nur das Stärkersein
der niederen Kategorie, nicht ein Widerstand gegen Überformung überhaupt.
Das Gesetz der Materie bewährt sich auch an ihm. - Darüber hinaus
gibt es in ihm keinen Widerstand gegen das Eintreten neuer Determination.
Er bewahrt getreulich alle Determinationsfäden, die einmal in ihm
enthalten sind, aber er ist gleichgültig gegen ihre Herkunft. Er
ist gleichsam der Plebejer unter den Determinationstypen. Er führt
in seinem breiten Strom den Fremdkörper unbesehen ebenso mit, wie
er auch seine eigenen Produkte als Ursachenmomente weiterer Wirkung mitführt.
Diese kategoriale Eigentümlichkeit ist es, die ihn in den Grenzen
geeigneter Anpassung in der Tat lenkbar macht - und zwar nicht erst für
die bewußte Zwecktätigkeit des Menschengeistes, sondern schon
für die vitale Selbstbestimmung im Aufbau des Organismus und die
geheimnisvolle Steuerung des morphogenetischen Prozesses von einem Anlagesystem
aus.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 562 |
Das eigentlich Erstaunliche und allen alten, indeterministischen
Vorstellungen gegenüber vollkommen Neue an dieser Indifferenz des
Kausalnexus ist dieses, daß er bei aller Offenheit für außerkausale
Determination und aller Lenkbarkeit doch sich selbst vollkommen getreu
bleibt. Er ändert sein Wesen nicht, indem er unter die Direktive
höhere Formkomponenten tritt. Diese reißen ihn, den von sich
aus ziellosen und keine »Bestimmung« verfolgenden, gleichsam
an sich, reißen ihn aus seiner Richtung, geben ihm die ihrige, lassen
ihn für deren Verwirklichung arbeiten; aber sie heben ihn also solchen
nicht auf, können ihm nichts abhandeln, können keine seiner
mitgebrachten Kausalkomponenten ausschalten. Sie bleiben vielmehr ihrerseits
mit ihrer ihm aufgelegten Eigentendenz auf sein unbeirrbar gleichgültiges
Fortlaufen als auf ihre Grundlage angewiesen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 562-563 |
Das drückt sich an seiner kategorialen Struktur darin aus,
daß er »blind« ist. Er ist nie ohne Richtung, aber doch
stets von sich aus ohne Zielrichtung, ohne vorausbestimmte oder auch nur
intendierte Endstadien, auf die er hinauslaufen müßte, ohne
Bindung an Zukünftiges, allein gebunden an das zeitlich Vorhergegangene,
wie es denn überhaupt Anfang und Ende in irgendeinem angehbaren Sinne
in ihm nicht gibt. Er ist also gerade gegen den Ausfall eben desjenigen
gleichgültig, dessen Determiantoionskette er ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 563 |
Das soeben gebrachte Bruchstück aus der Kategorialanalyse
des Kausalnexus genügt bereits, um das alte, antinomisch zugespitzte
Problem von Kausalität und Willensfreiheit grundsätzlich zu
lösen. - Die Lösung liegt charakteristischerweise gar nicht
im Inhaltsgebiet der Freiheitsfrage selbst, sondern weit diesseits ihrer
in einem viel allgemeineren Grundverhältnis. Sie liegt in dem Verhältnis
von Dependenz und Autonomie überhaupt, welches die Schichtenfolge
von unten auf begleitet. Die Überformbarkeit des Kausalnexus ist
dafür der eigentlich ausschlaggebende Punkt. Denn haben schon die
morphogenetischen Prozesse des Organischen auf die angegebene Weise ihre
Autonomie über den Kausalnexus, trotzdem dieser sich ungehemmt durch
sie hindurch erstreckt, wieviel mehr wird das erst vom seelischen Sein,
und nun gar vom ethisch-personalen Sein gelten müssen. Am letzteren
können wir überdies das Verhältnis auch inhaltlich übersehen,
denn hier kennen wir die Form des höheren Nexus und können an
ihm die Überformung direkt zur Anschauung bringen (vgl. unten). Außerdem
läßt sich hier auch das Inhaltliche der hinzutretenden Determinanten
aufzeigen; es liegt im Reich der Werte und des Sollens. Bei ihm aber steht
der überkausale Ursprung außer Zweifel.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 563 |
Entsprechend der allgemeinen Schichtung des Seienden und seiner
Kategorien ist auch in der Schichtung der Determinationstypen stets der
niedere Tyypus im höheren mit determinierend; ob er es in derWeise
einer überformten Materie oder bloß als tragende Grundlage
ist, macht dabei keinen grundsätzlichen Unterschied aus. Zu beachten
ist hierbei allerdings, dqaß in der Überlagerung der Determinationen
die Überformung überall maßgebend zu sein scheint, und
zwar auch gerade an denjenigen Schichtendistanzen, die im übrigen
ein Überbauungsverhältnis zeigen. Daß hierin keine Ungereimtheit
liegt, geht schon aus der oben berührten Tatsache hervor, daß
stets ein Teil der niederen kategorien in der höheren Schicht wieerkehrt,
auch wo andere ebenso wesentliche abbrechen, Es gibt keine »reinen«
Überbauungsverhältnisse, es ist stets auch ein gewisser Einschlag
von Überformung dabei. Und die Überhöhung der Determinationen
scheint durchgehend von der Art der letzteren zu sein. Mit voller Sicherheit
läßt sich das nicht ausmachen, weil wir einstweilen über
den organischen Nexus und z.T. auch über den psychischen zu wenig
wissen. Aber ohne weiteres sichtbar ist, daß »Motive«
spezifisch seelischen und wohl auch leiblichen (also organischen) Ursprungs
in die Determination des Handelns inhaltlich hineinspielen. Was sich wohl
kaum anders deuten läßt, als daß auch diese in der bewußt-verantwortlichen
Willensentscheidung irgendwie mit überformt werden.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 563-564 |
Bleibt nun die niedere Determination in der höheren mit determinierend,
und ist das Novum der letzteren jedesmal autonom über ihr, so ergibt
sich in der Schichtenfolge der Determinationen zugleich eine Schichtung
der Autonomien. Die höhere Form des Nexus ist hierbei nirgens Aufhebung
oder auch nur Durchbrechung der neideren, sondern durchaus nur Überformung;
dabei zieht nach dem Gesetz der Materie (dem dritten
Dependenzgesetz, siehe S. 520; HB) die niedere nur »nach
unten hin« eine Grenze, läßt aber auch »nach oben
zu« unbegrenzten Spielraum. Es gibt Autonomie nur »in«
der Dependenz, eine Schichtung verschiedener Autonomien also auch nur
»in« der geschichten Dependenz verschiedener Determinationstypen.
Freiheit also kann es nicht in derEinheit einer einzigen, durchgehenden
Determination geben, sondern nur in der Überlagerung mehrerer.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 564 |
Autonomie ist die kategoriale Begeliterscheinung jeder determinativen
Überformung. Wenn sich nun aber in der Mehrzahl der Überformungen
auch die Autonomien selbst wiederholen und überhöhen, so muß
man auch mit der Konsequenz Ernst machen, daß Willensfreiheit ein
Spezialfall solcher Autonomie, d.h. ein Spßezialfall der kategorialen
Freiheit ist. Sie ist die Autonomie in der Determination bestimmter personaler
Akte »über« der Determination der seelischen Abläufe
- genau so wie diese selbst die Autonomie der psychischen Determination
»über« dem Nexus der organischen Prozesse enthält
und der letztere wiederum die Autonomie des Organischen »über«
dem einfachen Kausalnexus des physisch-materiellen Seins.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 564 |
Damit geschieht der Eigenart jeder einzelnen dieser übereinandergeschichteten
Autonomien kein Abbruch. Dieses gestzuhalten ist wesentlich, denn selbstverständlich
ist die Willensfreiheit ein sehr besonderer Spezialfall, an dem die von
Schicht zu Schicht wiederkehrende kategoriale Freiheit nur das allgemein
ontologische Schema bildet, wie denn überhaupt ihr Problem hiermit
nicht etwa gelöst, sondern nur der Lösbarkeit näher gebracht
wird.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 565 |
Die Eigenart einer jeden dieser Autonomien liegt in der besonderen
Weise der Überformung, also in der besonderen Art, wie der niedere
Determinationstypus in den höheren eingebaut ist und in ihm als Materie
höherer Determination erhalten bleibt. Diese Überformungsweisen
können einander so unähnlich sein wie nur irgend möglich,
das ändert nichts am kategorialen Verhältnis von Dependenz und
Autonomie überhaupt, welches an jeder Schichtendistanz als untrennbare
Einheit wiederkehrt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 565 |
Die Konsequenzen dieses Verhältnisses sind von größter
Tragweite. Sie heben das alte Widerspiel von Determinismus und Indeterminismus
aus den Angeln. Wir sahen oben, wie die Alternative dieser beiden Ismen
sich als falsch erwies, nämlich als unvollständige Disjunktion
(aus der sich also affirmativ nichts schließen läßt).
Jetzt aber zeigt sich auch, wie beide das kategoriale Dependenzverhältnis
verfehlen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 565 |
Der von unten aufgebaute Determinismus verstößt gegen
das Gesetz der Freiheit: er macht die niedere Determinismus zur Totaldeterminismus
der ganzen Welt, also auch des seelischen und des geistigen-personalen
Seins. Er läßt über dem Kausalnexus keine Überformung
zu. Er beraubt dadurch den organischen und psychischen Vorgang und vollends
den Willensakt seiner Eigengesetzlichkeit. Unter seiner Voraussetzung
ist Freiheit jeder Art ein Ding der Unmöglichkeit. Freiheit eben
kann nur in der Schichtung verschiedener Determinationstypen auftreten.
Sie ist dann fortlaufend Begleiterscheinung der Überformung. Der
metaphysische Determinismus hat die Schichtung der Determinationen aufgehoben,
hat an ihre Stelle die Einheit eines Determinationsschemas gesetzt. Damit
hat er alle Überformung ausgeschlossen und mit ihr zugleich das Widerspiel
von Indifferenz des Niederen und Autonomie des Höheren.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 565 |
Der Indeterminismus aber verstößt gegen das kategoriale
Grundgesetz (gemeint ist das 1. Dependenzgesetz
- das Gesetz der Stärke als das »kategoriale Grundgesetz«,
siehe S. 519-520; HB). Er durchbricht d9ie niederen Determinationsketten
zugunsten der höhern. Er weiß nicht, daß jene die »stärkeren«,
diese aber die »schwächeren« sind. Er glaubt, nur auf
diese Weise Spielraum für Freiheit gewinnen zu können. Das ist
nicht nur Inversion der Schichtenabhängigkeit, sondern auch die vollkommene
Verkennung der Sachlage. Denn eben die Inversion der Abhängigkeit
ist für die Wahrung höherer Autonomie vollkommen überflüssig.
Es bedarf der ausgesparten Lücken in der niederen Determination für
das Einsetzen der höheren nicht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 565-566 |
Höhere Determination ist schon ihrem kategorialen Wesen nach
- »über« der niederen und »auf« ihr als einer
lückenlosen beruhend - ohnehin unbeschränkt autonom. Sie fällt
mit ihrer Überformung von vornherein in eine andere Seinsebene. Auch
hier ist die kategoriale Schichtung der springende Punkt, freilich nicht
eine beliebige, sondern die im Sinne der Dependenzgesetze (vgl.
S. 512 ff., bes. S. 518-520; HB) verstandene. Aber erst mit ihrer
Verkennung setzt eine verzweifelte Lage des Freiheitsproblems ein, die
zur Konstruktion des Indeterminismus führt - eine von Grund aus selbstgemachte
Schwierigkeit, die von den Dependenzgesetzen auf einen Schlag behoben
wird.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 566 |
Wir können nun die Überformung der Determinationsstypen
nocht von Schicht zu Schicht verfolgen, weil wir die mittleren Typen zu
wenig kennen. Wir können statt dessen nur mit Überspringung
der letzteren den Kausalnexus direkt auf die Willensbestimmung beziehen
und in dieser Beziehung das Verhältnis von Bedingtheit und Autonomie
aufzeigen. Denn ein solches muß es auch bei so weit auseinanderliegenden
Stufen geben. Man nähert sich damit der seit Kant traditionell gewordenen
Fassung des Freiheitsproblems, wie es in der Kausalantinomie seinen klassischen
Ausdruck gefunden hat.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 566 |
Weder bei Kant selbst noch bei seinen zahlreichen Interpreten
un d Fortsetzern ist dieses Verhältnis kategorial ausgewertet oder
auch nuir eigentlich durchanalysiert worden. Es fehlte dazu vor allem
die geanuere Analyse des Kausalzusammenhanges, in der sich allererst die
Überformbarkeit des Kausalnexus aufzeigen läßt (Kap. 60
e). Die Analyse wird eben so gut wie undurchführbar, wenn das Problem
von Anbeginn mit so metaphysisch schwierigen Dingen wie dem »ersten
Anheben einer Kausalreihe in der Zeit« belastet wird. Es gibt hier
viel einfachere und besser zugängliche Fragepunkte. Und diese treten
greifbar hervor, wenn man zunächst einmal die Determinationsfrom
des Willens und der ihm verwandten sittlichen Akte ins Auge faßt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 566 |
Diese Form ist greifbar im Sich-Einsetzen »für«
etwas, im Streben »nach« etwas, in der Tendenz oder Neigung
»zu« etwas, ja selbst im Fesinntsein »gegen« jemand.
Sie zeigt durchgehend ein und denselben Typus, den des Gerichtetseins
»auf etwas hin« und des Bestimmtseins von dem »Etwas«
her, das den Richtungspunkt bildet. Diese Determinationsform ist die finale.
Zum metaphysischen Prinzip erhoeben, macht sie das Wesen der Teleologie
aus.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 566-567 |
Im einfachen Falle handelt es sich nur darum, daß der Wille
sich »für« etwas entscheidet oder »zu« etwas
entschließt. Diese Für und Zu zeigt schon die Form der Zweckbestimmung.
Alle reale, vom Willen ausgehende Determination hat die Form des Finalnexus.
Die Handlung ist finite Aktion.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 567 |
Wohlverstanden, nicht um Wert und Unwert des Zweckes handelt es
sich hier. Das spielt eine Rolle erst für den Unterschied von Gut
und Böse, nicht für den von frei und unfrei. Freiheit ist erst
die Vorbedingung möglichen Gut- und Böseseins; unfreier Wille
ist überhaupt weder gut noch böse, er steht diesseits des ethischen
Wertgegensatzes. Dem entspricht die Tatsache, daß die Grundfähigkeit
des Menschen zur Zwecktätigkeit - also zum Setzen und Realisieren
von Zwecken überhaupt - an sich noch ganz indifferent gegen Gut und
Böse besteht. Sie wird erst durch die wertabstufung des Zweckes moralisch
relevant.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 567 |
Dieses vorausgesetzt, läßt sich die kategoriale Struktur
des Finalnexus, so wie er in Wille und Handlung vorliegt, in drei Stufen
oder Akten beschreiben:
1. |
Das zunächst irreale, noch zukünftige
Endstadium der Aktion wird im Geiste vorweggenommen, wird als Zweck
»vorgesetzt«, und zwar mit Überspringung des realen
Zeitflusses, im Vorgriff. |
2. |
Vom vorgesetzten Zweck aus werden
darauf rückläufig (dem Zeitfluß entgegen) die Mittel
bestimmt (seligiert), die für ihn erforderlich sind, immer
eines das andere fordernd, bis zurück zum ersten, das im gegenwärtig
Gegebenen liegt und in der Macht des Handelnden steht. |
3. |
Dann erst setzt von diesem ersten
Mittel aus der der dritte Akt des Finalnexus ein, die eigentliche
Realisation des Zweckes, und zwar durch dieselbe Reihe der Mittel
hin, nur in umgekehrter Folg, rechtläufig in der Zeit. |
Diese dritte Akt des Finalnexus ist die eigentliche Handlung. Mit ihm erst
greift die Person ein in den Zusammenhang der Realprozesse. Denn dieser
Akt ist als Realisation eines Irrealen selbst ein Realprozeß. Seiener
Determinationsform nach aber ist er ein rein kausaler Ablauf: in ihm funktioniert
die Reihe jener vom vorgesetzten Zweck aus seligierten Mittel nur noch
als Reihe der Ursachen: jedes Mittel bringt das nachfolgende als seine
Kausalwirkung hervor, und als letztes Verwirktes steht der real gewordene
Zweck da. Was diesen Ablauf von anderen Kausalprozessen unterscheidet,
ist nur seine Gebundenheit an die rückläufig seligierte Reihe
der Mittel, d.h. sein Eingebautsein in die höhere Form des Finalnexus.
Seine Kausalität ist keine frei laufende und ziellose, sondern zielgerichtete,
vorbestimmte, in der Ursachenreihe vorseligierte und darum final gesteuerte
Kausalität.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 567-568 |
Hier haben wir nun in aller Form die Wiederkehr der Kausalstruktur
in der Finalstruktur. Der dritte Akt des höheren Nexus bleibt deutlich
an die allgemeine Kausalstruktur der Realprozesse gebunden. Darin bewährt
sich das kategoriale Grundgesetz (das 1. Dependenzgesetz
- das Gesetz der Stärke als das »kategoriale Grundgesetz«,
siehe S. 519-520; HB): die höhere und um vieles komplexere
Determination hebt die niedere nicht auf, durchbricht sie auch nicht -,
sondern nimmt si in ihren eigenen Formenbestand auf. der Finalnexus überformt
den Kausalnexus.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 568 |
Das ist überaus lehrreich sowohl für die Freiheitsfrage
als auch für das Verständnis der kategorialen Dependenz: die
niedere Form des Nexus ist nicht nur kein Hemnis der höheren, ist
keine Schranke ihrer Autonomie, die diese etwa erst durchbrechen müßte,
sondern sie ist geradezu die Basis, auf welcher der höhere Nexus
erst möglich wird.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 568 |
Das leuchtet nicht nur am dritten Akt des Finalnexus ein, sondern
auch bereits am zweiten, der in der Rückdetermination der Mittel
vom vorgesetzten Zweck aus besteht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 568 |
Gibt es nämlich keinen durchgehendem Kausalzusammenhang des
niederen Seins, so ist es für ein aktiv zwecktätiges Wesen gar
nicht möglich, von einemvorgesetzten Zweck aus Mittel für ihn
zu seligieren; denn ausgewählt werden die Mittel doch eben darauf
hin, ob sie den Zweck »bewirken« oder nicht. Ihre Kausalität
ist also gerade die Hauptsache dabei. Wenn keine feste Zurodnung zwischen
bestimmter Ursache und bestimmter Wirkung besteht, so ist nicht einzusehen,
warum ein Mittel geeigneter als ein anderes sein sollte, die gewünschte
Wirkung hervorzurufen. Was als Mittel für einen Zweck in Frage kommt,
darüber entscheidet einzig die Voraussicht seiner Wirkung. Voraussicht
aber ist nur möglich, wenn bestimmte Ursachen auch bestimmte Wirkungen
nach sich ziehen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 568 |
Menschliche Voraussicht nun bleibt freilich sehr beschränkt.
Aber diese Schranken liegen auf der Seite des Subjektes; sie liegen nicht
in einer Grenze des Kausalzusammenhanges, sondern in der Grenze unseres
erkennenden Eindringens in ihn. Soweit dieses Eindringen reicht, ist im
Entschluß zu etwas jederzeit auch schon die Seligierbarkeit möglicher
Mittel in die Erwägung gezogen; denn niemand »entschließt«
sich zu etwas, wofür sich ihm nicht überhaupt irgendwie geeignete
Mittel darbieten, die er ergreifen könnte. Das aber bedeutet: der
Selektionswert der Mittel ist nichts anderes als ihre Kausalwirkung, sofern
diese auf den erstrebten Zwck führt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 568-569 |
Daraus erbgibt sich weiter: in einer nicht kausal determinierten
Welt ist gerade das, was dem geistigen Wesen seine hohe Überlegenheit
über die Dinge seiner Umwelt gibt - seine Fährigkeit, sich Zwecke
vorzusetzen und zu realisieren -, ein Ding der Unmöglichkeit. Und
da an dieser Fähigkeit der Wille sowie alle ihm anverwandten (alle
teleologoischen) Akte hängen, so wird damit die ganze Sphäre
der Aktivität und des Ethos im Menschen zur Unmöglichkeit.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 569 |
Die höhere Determination ist eben durchaus bedingt durch
die niedere. Die Bedingtheit ist zwar nur die der »Materie«
nach, aber in dieser Einschränkung ist sie unaufhebbar. Die Autonomie
der höheren Determination besteht gerade auf Grund ihrer Bedingtheit
durch die niedere - nicht im Gegensatz zu ihr und vollends nicht im Widerstreit
mit ihr. Sie ist Autonomie nicht neben ihr oder außer ihr, sondern
»in« ihr als ihrem Element, der kategorialen Form nach aber
»über« ihr. Sie ist denn auch in der Form des Finalnexus
genau ebenso greifbar wie die Bedingtheit. Sie liegt in der dem Kaudsalnexus
gänzlich fremden und äußerlichen, strukturell aber hoch
überlegenen Rückdetermination der Mittel, die das Wunder zuwege
bringt, den von sich aus gleichgültigen Ablauf kausalen Geschehens
an ein vorbestimmtes Ziel zu binden.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 569 |
Mit der eigentlichen Wilolensfreiheit hat das freilich direkt
nichts zu tun. Zwecktätigkeit könnte es an sich wohl auch ohne
Willensfreiheit geben; nicht aber umgekehrt Willensfreiheit ohne Zwecktätigkeit.
Denn an letzterer hängt alle Aktivittät. Für die ethische
Freiheitsfrage also liegt in der eigenartigen Überformung des Kausalnexus
durch den Finalnexus nur eine Vorbedingung. Diese Vorbedingung aber ist
unerläßlich.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 569 |
Es ist notwendig, sich hierbei klarzumachen, daß Willensfreiheit
ein überaus komplexes Verhältnis ist. Man kann in ihr drei übereinandergeschaltete
Autonomien erkennen. Die eine ist die gegenüber den niederen Determinationen,
vor allem also gegenüber dem Kausalnexus, sofern er den Willen mit
bestimmt; die zweite aber ist die gegenüber dem moralischen Prinzip
(dem Sittengesetz, den Werten), sofern der Wille auch gegen das Prinzip
verstoßen kann. Die erste hat die Form der positiven, die zweite
die der negativen Freiheit. Und offenbar können erst beide zusammen
die eigentliche Willensfreiheit ausmachen. Wie sie sich miteinander reimen
und in der Einheit »einer« Freiheit zusammengehen, kann hier
freilich nicht ausgeführt werden. Leicht zu sehen ist nur, daß
eine ohne die andere sinnlos ist. (Die Behandlung dieser Frage setzt eine
genaue Entfaltung der »Sollensantinomie« voraus [d.h. der
zweiten Freiheitsantinomie, die hinter der Kantischen Kausalantinomie
auftaucht]. Ich habe sie in meiner »Ethik«, ... Kap. 74 b,
in sechs Aporien entwickelt; zur Lösung dieser Aporien finden sich
daselbst in Kap. 84 die nötigen Hinweise.) - Die dritte aber ist
die Vorbedingung beider, die Autonomie der kategorialen Finalstruktur
im Willen und in der Handlung, so wie sie sich in der Überformung
des Kausalnexus darstellt. Sie ist nicht identisch mit der ersten Autonomie,
obgleich sie gegenüber derselben niederen Determination besteht.
Denn sie betrifft nicht wie diese die Bestimmung des Willens - etwa in
der Setzung seiner Zwecke -, sondern die Selektion der Mittel zu einem
schon gesetzten Zweck sowie dessen Realisation. Sie überformt auch
nicht die die innere ... Kausalität der Beweggründe, sondern
die äußere der Dinge, Geschehnisse und Situationen. Deswegen
ist mit ihr allein über die Willensfreiheit nichts ausgemacht, sondern
nur eine kategoriale Voraussetzung für sie geschaffen. - Diese Vorausetzung
aber ist überaus lehrreich, weil an ihr in einzigartiger Weise aufzeigbar
ist, was es überhaupt mit der Überformung einer niederen Determination
durch die höhere auf sich hat, wie überhaupt Bedingtheit und
Autonomie zusammenbestehen können. Das Überfromungsphänomen
im Finalnexus ist das einzige wirklich durchanalysierbare Beispiel kategorialer
Freiheit in der Schichtung der Determinationen. Und das Freiheit in jeder
Gestalt Überformung eines Geformten ist, so fällt von hier aus
in der Tat auch Licht darauf, wie wir uns die beiden höheren Autonomien
zu denken haben, die in der Willensfreiheit sind.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 569-570 |
Freiheit ist, wie sich gezeigt hat, die kategoriale Form der Selbständigkeit
höherer Diese Vorausetzung aber ist überaus lehrreich, weil
an ihr in einzigartiger Weise aufzeigbar ist, was es überhaupt mit
der Überformung einer niederen Determination durch die höhere
auf sich hat, wie überhaupt Bedingtheit und Autonomie zusammenbestehen
können. Das Überfromungsphänomen im Finalnexus ist das
einzige wirklich durchanalysierbare Beispiel kategorialer Freiheit in
der Schichtung der Determinationen. Und das Freiheit in jeder Gestalt
Überformung eines Geformten ist, so fällt von hier aus in der
Tat auch Licht darauf, wie wir uns die beiden höheren Autonomien
zu denekn haben, die in der Willensfreiheit sin über einer niederen,
sofern erstere von letzterer zugleich »der Materie nach« abhängig
ist. Sie besthet also im Verhältnis von Indifferenz des niederen
Nexus gegen seine Überformung und inhaltlicher Dormautonomie des
höheren. Gibt es keine niedere Determination, so gibt es auich keine
»höhere«, also auch keine Überformung. Ist die Welt
schon von unten auf teleologisch determiniert, so steht menschliche Teleologie
der Handlung und des Willens auf einer Ebende mit dem Naturprozeß
und kann sich über ihn nicht erheben, hat also keine kategoriale
Überlegenheit gegen ihn.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 571-572 |
Das alles widerstreitet nun jener langen Reihe von Grundphänomenen
des menschlich-geistigen Seins, die mit dem schlichten Tun der Technik
beginnt und sich bis zur sittlichen Verantwortung und Zurechnung hinauf
erstreckt. Damit ist das Schicksal des Finaldeterminismus besiegelt, er
hat endgültig ausgespielt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 572 |
Hält man diese Konsequenzen mit dem zusammen, was oben über
die teleologie der Formen gesagt wurde (Kap. 57 c-e), so soieht man, daß
die teleologische Metaphysik in jeder Gestalt dem Durchdringen der kategorialen
Gesetzlichkeit ins Bewußtsein weichen muß. Sie hat in dem
Augenblick verspielt, wo es klar wird, daß sie das Freiheitsproblem
nicht zu fassen, sondern nur zu verfehlen oder zu verunstalten vermag.
Das Doppelgesetz von Stärke (siehe 1. Dependenzgesetz,
S. 519-520; HB) und Freiheit (siehe 4. Dependenzgesetz,
S. 520; HB) löst ihr determinatives Schema ab. Das ist das
Ende der teleologischen Metaphysik.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 572-573 |
Eine Welt, in der es Freiheit gibt, muß mindestens zweischichtig
sein. In einer vielschichtigen tritt kategoriale Freiheit von Schicht
zu Schicht als Begleiterscheinung des Novums am höheren Determinationstypus
auf; da gibt es dann so vielerlei Freiheit, als es Schichtendistanzen
gibt. In einer einschichtigen Welt mit einem einzigen Determinationstypus
ist sie ein Ding der Unmöglichkeit.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 573 |
In diesem Punkt ist Kant, ohne die Sachlage ganz zu durchschauen,
den rechten Weg gegangen, indem er im Gegensatz zur üblichen Auffassung
die »Freiheit im poitiven Verstande« als eine Determination
höherer Ordnung vesrtnd (»Freiheit unter dem Gesetz«).
Daß er dabei den Unterschied der Schichten, der ihm vorschwebte,
dem von intelligibler und sensibler Welt resp. von Ding an sich und Erscheinung
gleichsetzte, ist kein metaphysisches Vorurteil. Daß er aber überhaupt
eine superiore und eine inferiore Welt unterschied, setzte ihn gleichwohl
in die Lage, das alte, an Vorurteilen und hergebrachten Denkfehlern krankende
Freiheitsproblem erstmalig klar zu fassen und es sogar in seiner ersten
Phase auch zu bewältigen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 573 |
Mit einer solchen Unterscheidung hielt er den Schlüsel des
Rätsels in der Hand. So konnte er als erster lehren, Freiheit bestehe
ohne Durchbrechung des Kausalnexus zurecht. In gewissem Sinne darf man
sagen, daß er damit das wichtigste Stück der kategorialen Dependenzgesetzlichkeit
(vgl S. 512 ff.; HB) entdeckt hat. Ererfaßte
es nur nicht als solches und überdies nicht in seiner Allgemeinheit.
Er teilte darin das Schicksal vieler großer Entdecker: er wußte
nicht, was eigentlich er entdeckt hatte.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 573 |
Die These ist in der Kantischen Einkleidung auch paradox genug.
Und die Interpreten, selbst in den traditionellen Vorurteilen festhägned,
haben sie nicht auszuweretn vermocht; sie blickten immer wie festgebannt
auf die transzendental-idealistische Metaphysik, in die Kant seine Einsichten
gekelidet hatte. Daß der Kern der These in der von Kant aufgerissenen
Schichtendistanz als solcher liegt, kann er einleuchtend werden, wenn
man das Verhältnis von Dependenz und Autonomie in seiner unlösbaren
Gebundenheit an die Seinsschichtung generell begriffen hat.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 573-574 |
Die Kantische Position, im Kern verstanden un vomIdealismus abgelöst,
ist im Freiheitsproblem die einzig mögliche. Ihr gegenüber stehen
die die beiden traditionellen Formen des Einheitsdeterminismus, die kausale
und die finale. Beide sind ausgesprochene determinative Monismen. Beide
begehen denselben Grundfehler: sie vereinfachen die Welt, verwischen die
Schichtung, zwingen alle Determination in ein einziges Schema. Sie beghen
diesen Fehler nur in entgegengesetzter Richtung. Der Kausaldeterminismus
meachanisiert Leben, Bewußtsein und geistiges Sein, der Finaldeterminismus
teleologisiert den Naturprozeß. Beide vernichten damit den Vorrang
und die determinative Überlegenheit des Menschen. Sie reihen ihn
als Glied ein in den einen Gesamtnexus, der durch ihn hindurch und über
ihn hinweg waltet. Ferner invertiert das Gesetz der Freiheit (das
»Gesetz der Höhe« als das vierte Dependenzgesetz, siehe
S. 520; HB), dieser das kategoriale Grundgesetz (das
Gesetz der Stärke als das 1. Dependenzgesetz, siehe S. 519-520; HB).
Beide Inversionen sind dieselbe Preisgabe möglicher Freiheit. Dann
bleibt als letzte Zuflucht wieder der Indeterminismus übrig; von
dem aber sahen wir schon, daß er gleichfalls das kategoriale Grundgesetz
verletzt; überdies, wer ihn gelten läßt, macht damit in
Wahrheit überhaupt alle Gesetzlichkeit eines Nexus illusorisch und
mit ihr zugleich fast alle konkrete Realgesetzlichkeit.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 574 |
Alle diese Schwierigkeiten sind künstliche, selbstgemachte,
durch spekulative Voraussetzungen verschuldete Aporien. Stellt man das
natürliche und in den Phänomenen aufweisbare Verhältnis
verschiedener Determinationen wieder her, so fallen sie mit einem Schlage
in sich zusammen. Denn so ist die Sachlage: die Einheit »einer«
Determinationsweise für alle Seinsstufen ist Konstruktion; gegeben
ist sie in keiner Weise, und nimmt man sie an, so sprechen die bekannten
Phänomenreihen - besonders die extremen des geistigen und des materiellen
Seins - in aller Eindeutigkeit gegen sie. Darum darf die Ontologie sie
nicht annehmen. Das Einheitspostulat hat sich schon auf anderen Problemgebieten
als Sackgasse erwiesen (Kap. 15). Im Freiheitsproblem aber wird es vollends
verhängnisvoll.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 574 |
Es ist nicht zu befürchten, daß ein philosophisches
Weltbild ohne konstruierte Einheit an Einheitlichkeit zu kurz kommen könnte.
Gerade an Einheit fehlt es dem Aufbau derrealen Welt auch ohne menschliche
Zutaten nicht. Im Schichtungs- und Dependenzverhältnis ist das leicht
zu erkennen. Dieses Verhältnis ist im Grunde selbst nichts anderes
als ein einziger, groß angelegter Einheitstypus - nur eben ein sehr
anders beschaffener, als die monistischen Konstruktionen ih sich vorstellen.
Die vereinfachten Schemata passen auf ihn alle nicht zu. Er ist kein Allgemeines,
kein oberstes Prinzip,kein Zentrum, kein Urgrund, kein Endziel. Er ist
eine in sich komplexe Beziehungseinheit, in der die umfaßte Mannigfaltigkeit
wesentlich bleibt. Man kann diesen Einheitstypus nicht wie ein genus den
Spezialfällen überordnen, seine Funktion geht in keiner Subsumption
auf. Ein Schichtenbau mit durchgehender Abhängigkeit und ebenso durchgehend
wiederkehrender Autonomie läßt durchaus keine andere Einheit
zu als die »umfassende«. in der die Besonderheit des Umfaßten
von Stufe zu Stufe die Art des Umfaßten mitbestimmt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 574-575 |
Diese Ert Einheit ist von Grund aus Einheit des »Aufbaus«
oder des Zusammenbestandes, gegliederte Einheit einer Seinsordnung. Man
kann sie nicht anders fassen als in der Gesetzlichkeit der Seinsordnung
selbst. Das aber heißt, man kann sie nur in der Schichtung des Seienden
erfassen. Diesen Weg ist die Herausarbeitung der kategorialen Gesetze
(vgl. S. 412 ff. [{1} Geltungsgesetze, S. 418 ff.;
{2} Kohärenzgesetze, S. 418, bes. 432 ff.; {3} Schichtungsgesetze,
S. 419, bes. 472 ff.; {4} Dependenzgesetze, S. 512 ff.; HB)], zumal
in deren beiden letzten Gruppen, gegangen. - Die kategorialen Gesetze
in ihrer engen Bezogenheit aufeinander sind der eigentliche Einheitstypus
der realen Welt. Ihre Zusammenstellung bildet ungesucht ein System von
Gesetzen. In diesem System spiegelt sich der Systemtypus des Seienden
- soweit wenigstens er sich den vorliegenden Phänomenketten im Überblick
abgewinnen läßt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 575 |
Ein System kontruieren ist leicht. Der Welt, wie sie ist, ihren
Systemtypus abgewinnen ist etwas ganz anderes. Sucht man die Einheit der
Welt, wo sie nicht ist, so wird man sie nie finden. Konstruiert man sie
in systembefangener Verbelndung, so verbaut man sich damit den Ausblock
in die Welt; man verfehlt unrettbar nicht nur die Chance zur »Lösung«
der ewigen Grundprobleme, sonder auch die Zugänge zu ihrer Fassung
und sacahgemäßen Behandlung. Dafür ist das Freiheitsproblem
das lehrreichste Beispiel. Folgt man dagegen unbefangen dem Gehalt der
probleme, wie man sie findet, läßt man die vorgefundenen Aoprien
gelten, wie sie sich darbieten, so wird man durch sie selbst auf das natürliche
System des Seienden hinausgeführt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 575 |
Denn dafür, daß die Welt, wie sie ist, Einheits- und
Systemcharakter hat, fehlt es im Erkennbaren an Hinweisen nicht. Man darf
nur nicht erwarten, daß schon die ersten Schritte beginnenden Eindringens
das Geheimnis offenbaren müßten.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 575 |
Die Methode ist zwar von ihrem Gegenstand her bestimmt, gehört
aber ihrerseits nicht der Seinsschicht des Gegnstandes an (der ja in jeder
beliebigen Seinsschicht sein kann), sondern ausschließlich dem geistigen
Sein. Denn Erkenntnis, Wissen, Forschung sind Sache des Geistes; da sie
aber die Richtung auf einen Gegenstand haben, der auf beliebiger Seinshöhe
stehen kann, so ist die Methode kategorial durch die »Zuordnung«
bestimmt, welche die Erkenntnis mit ihrtem Gegenstande inhaltlich verbindet
(vgl. Kap. 22d und e).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 577 |
Da die kategoriale Dialektik der Kohärenz folgt und diese
in ihren Gesetzen (vgl. S. 432 ff., bes. S. 433
ff.; HB) bekannt ist, so braucht man, um die wirkliche Struktur
der Dialektik zu gewinnen, nur die Kohärenzgesetze methodisch auszuwerten.
Die zentrale Rolle spielt hierbei das Implikationsgesetz (das
4. Kohärenzgesetz, vgl. S. 434 und 447 ff.; HB); die Gesetze
der Schichteneinheit (das 2. Kohärenzgesetz,
vgl. S. 433-434 und 439 ff.; HB) und der Schichtenganzheit (das
3. Kohärenzgesetz, vgl. S. 434 und 441
ff.; HB) ergeben nur mit ihm zusammen Konsequenzen. Das Gesetz
der Verbundenheit (das 1. Kohärenzgesetz, vgl.
S. 432 und 434 ff.; HB) dagegen spielt methodologisch neben diesen
keine Rolle. - Jene drei Gesetze besagen, daß alle Kategorien einer
Schicht in Wechselbedingtheit stehen, sich gegenseitig implizieren, isoliert
nicht vorkommen; ferner daß ihre Ganzheit das Prius vor den einzelnen
hat, daß jede Kategorie ihr Eigenwesen ebensowohl »außer
sich« in den anderen, als in sich hat, und daß die Kohärenz
der Schicht ebensowohl an jedem Element wie am Ganzen der Schicht total
vertreten ist. Daraus ergibt sich:
1. |
Man kann eine einzelne Kategorie
nur dann vollständig erkennen, wenn man alle Kategorien der
Schicht erkannt hat. |
2. |
Könnte man eine Kategorie vollständig
erkennen, so hätte man damit auch die übrigen Kategorien.
der Schicht erkannt. |
3. |
Man müßte dann von jeder
Kategorie aus, zu der man einmal gelangt ist, die ganze Kategorienschicht
aufrollen können. |
Da die Bedingung vollständiger Erkenntnis dem menschlichen Erfassen
nicht erfüllbar ist, so sind diese methdischen Regeln praktisch wertlos,
wenn man sie nicht der endlichen Erkenntnis anpassen kann. Wir können
weder von einer vollständige erkannten Kategorie noch von der erkannten
Vollständigkeit einer Kategorienschicht ausgehen. Auf beiden Seiten
steht uns nur zu Gebote, was die Analysis liefert. Und das eben ist beschränkt.
Die großartige Aussicht, die sich auf Grund der kategorialen Kohärenz
eröffnet, kann von der menschlichen Erkenntnis nicht vollständig
ausgewertet werden. Reduziert man aber jene drei methodischen Regeln auf
ds dem Menschen Erreichbare, so sinken sie auch selbst auf eine Art halber
Höhe zurück; dafür werden sie praktisch anwendbar. Sie
lauten dann folgendermaßen:
1. |
Eine einzelne Kategorie ist stets
nur so weit inhaltlich erkennbar, als die übrigen Kategorien
ihrer Schicht erkennbar sind. |
2. |
Hat man eine Kategorie in einigen
ihrer Momente erkannt, so ist eben damit vom Ganzen der Kategorienschicht
genau ebensoviel erkennbar geworden.. |
3. |
Von jeder beliebigen Kategorie kann
man die Kohärenz ihrer Schicht genau so weit erfassen, als
man sie selbst erfaßt hat. |
Daß diese drei Regeln immer noch eine methodische Handhabe ersten
Ranges darstellen, bedarf keines Wortes. Sie sprechen klar für sich
selbst. Nach ihnen stehen der menschlich begrenzten Erkenntnis von jedem
jeweiligen Stande der Kategorienforschung aus zwei Wege der konspektiven
Schau offen: vom Ganzen einer Schicht zum Gliede und vom Gliede zum Ganzen,
oder - da das Ganze nie gegeben ist - von jeweilig erfaßten Bruchstücken
der Schichtenkohärenz zur einzelnen Kategorie sowie umgekehrt von
erfaßten Bruchstücken einer Kategorie zur Schichtenkohärenz.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 598-600 |
In strenger Kohärenz stehen nur Kategorien.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 603 |
Nur dasPrinzipielle ist Sache der Kategorien.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 603 |
Es ist grundsätzlich ein Ding der Unmöglichkeit, philosophische
Fundamentalbegriffe in der Weise einzufühen, daß man ihre Definition
Vorausschickt. Man hilft sich wohl mit einer Nominaldefinition, aber die
ist inhaltlich nichtssagend. Die Erfahrung hat gelehrt, daß der
umgekerhte Weg der allein gangbare ist. der ist freilich paradox; man
führt den Begriff in vorläufier Unbestimmtheit ein und entwcikelt
statt seines Inhalts seine Beziehungen zu anderen Fundamentalbegriffen,
d.h. man wendet ihn an.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 603 |
Wollte man mit definierten Begriffen beginnen, wie es positivistische
Schulmeisterei verlangt, man müßte, um auch nur anzufangen,
vielmehr schon am Ende sein und die ganze Untersuchung hinter sich haben.
Hat eine Wissenschaft ihre Begriffe zu Ende definiert, so hat sie auch
ihren Gegenstand zu Ende erkannt, hat alos nichts mehr zu suchen. Solnage
sie arbeitet, sind die Begriffe unfertig; in ihrem Umfang sind sie notwendig
leer. Denn »erst die Prödikate sagen, was das Subjekt ist«
(Hegel). In der Reihe der Prädikate aber besteht der Inhalt des ganzen
Forschungsganges.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 604 |
So inhaltsreich ist eben das Wesen der Kategorien, daß die
Definition ihrer Begriffe einer ganzen Wissenschaft gleichkommt. Dieses
Verhältnis, ins Bewußtsein gehoben und zur planmäßig
arbeitenden Methode ausgeformt, ist die kategoriale Dialektik.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 604 |
In Wirklichkeit kommt es auf die Zusammenarbeit analytischer und
dialektischer Methode an, und zwar auf fortlaufende Zusammenarbeit. Von
jedem Resultat der einen führt dann die andere zu neuen resultaten.
Jede für sich allein kommt schnell zum Stehen. Zusammen führen
sie einander dauernd über sich hinaus.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 605 |
Die Geschichte der Phil0sophie hat große Beispiele dialektischer
Vorwegnahme aufzuweisen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 605 |
Die Hegelsche Logik vollends ist eine wahre Fundgrube neuentdeckten
kategorialen Gutes sowie der zugehörigen Begriffsbildung. Daran ändert
auch der Umstand nichts, daß hier die Dialektik gefährliche
Wege geht und in ihren Resultaten mit Vorsicht zu nehmen ist. Denn es
ist durchaus keine allzuschwere Aufgabe, sie Schritt für Schritt
nachträglich an die analytische Vorarbeit anzuschließen und
durch diese Rückbindung auf ein kritisches Maß zu restringieren.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 605 |
Nach Hegel gibt es ein dialektisches Hervorgehen des Höheren
aus dem Niederen, aber es bedeutet ihm nur ein Zum-Vorschein-Kommen: das
Höhere geht im Niederen nicht auf, wohl aber ist es in ihm latent
vorausgesetzt und muß ans Licht kommen, wo man das Niedere auf seine
Voraussetzung hin untersucht. Der ratio essendi nach hängt dann die
niedere Kategorie an der höheren; sie hat die Tendenz zu ihr, denn
sie kann sich erst in ihr vollenden. Sie ist also teleologisch abhängig
von der höheren Kategorie. Und die Dialektik als Methode läuft
dieser Abhängigkeit entgegen, indem sie Schritt für Schritt
vom Niederen zum Höheren aufsteigt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 606 |
In diesem Schema ist vor allem das Gesetz der Indifferenz (das
2. Dependenzgesetz, siehe S. 520; HB) verletzt, das da sagt, daß
die niederen Kategorien gleichgültig gegen die höheren dastehen
und ihrer jedenfalls nicht bedürfen. Zugleich aber ist auch das kategoriale
Grundgesetz (das 1. Dependenzgesetz - das Gesetz
der Stärke als das »kategoriale Grundgesetz«, siehe S.
519-520; HB) invertiert, denn die Selbständigkeit (das »Stäkersein)
der biederen Kategorien ist aufgehoben zugunsten eines teleologischen
Hineinspielens der höhere in ihre Schicht. Das Gesetz der Wiederkehr
(das 1. Schichtungsesetz, siehe S. 475-476; HB)
dagegen ist in gewissen Grenzen gewahrt, denn die niederen Kategorien
werden ja in die höheren aufgenommen (»aufgehoben«);
nur erscheint hier die Wiederkehr als »von oben her« bestimmt,
was immerhin nicht in ihrem Wesen liegt, sondern eine Folge der Inversion
aller kategorialen Dependenz ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 606-607 |
Für den Zweck der Methodenperspektive lassen sich die Schichtungsgesetze
(S. 419, bes. 472 ff.; HB) in zwei Sätzen
zusammenfassen:
1. |
Eine Fülle niederer Kategorien
kehrt in den höheren abgewandelt wieder. |
2. |
Die höheren gehen in diesen wiederkehrenden
Elementen nicht auf, ihre Distanz gegen diese liegt von Schicht
zu Schicht in einem Novum. |
Diese beiden Sätze vorausgesetzt, würde sich für einen
unendlichen Intellekt eine Reihe sehr weitgehender Konsequenzen ergeben:
1. |
Wäre der Inhalt eine Kategorie
(von etwa mittlerer Höhe) total erkannt, so müßte
aus ihm die Reihe der niederen Kategorien so weit erkennbar sein,
als sie weiderkehrende Elemente dieser Kategorie sind. |
2. |
Wäre der Inhalt der höchsten
Kategorien total erkannt, so müßte aus ihm das System
aller niederen mitsamt ihrer Rangordnung genau so weit erkennbar
sein, als ihre Wiederkehr bis in die höchsten hineireicht. |
3. |
Wäre der Inhalt aller Kategorien
einer Schicht total erkannt, so würde der Inhalt etwaiger höherer
Kategorien doch höchstens den überformten Elementen nach,
die in ihm wiederkehren,also nicht in seinem Eigentlichen (dem Novum)
erkennbar sein. |
4. |
Ob überhaupt es höhere Kategorien
über den erkannten gibt, in denen diese als Elemente wiederkehren
könnten, wäre damit nicht erkennbar. |
Diese methodischen Regeln, obschon so nur für einen unendlichen Verstand
gültig, drücken doch in aller Klarheit das Grundsätzliche
der Schichtenperspektive aus, daß von den höheren Kategorien
aus stets niedere zu erkennen sind, niemals aber von den niederen aus
die Eigenart der höhern (ihr Novum).
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 607 |
Das Gestz der Wiederkehr (das 1. Schichtungsesetz,
siehe S. 475-476; HB) formuliert zusammen mit dem Gesetz der Stärke
(dem 1. Dependenzgesetz als dem »kategorialen
Grundgesetz«, siehe S. 519-520; HB) den einzigen Modus der
Verbundenheit, der zwischen der Schichten waltet. Diese Verbundenheit
hat nur einseitige Richtung und irreversible Dependenz. Die Wiederkehr
verbindet die Schichten wohl fest miteinander, aber sie bindet nur die
höheren an die niederen, nicht die niederen an die höheren.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 607-608 |
Aus dem Gesagten läßt sich die weitere Konsequenz ziehen:
je höher im Schichtenreich ein Ausschnitt erkannter Kategorien gelegen
ist, um so mehr Erkenntnis niederer kategorien ist aus ihm zu gewinnen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 608 |
Nun gelten die angegebenen Methodenregeln (siehe
S. 607 und bes. 608-609; HB) nur für einen unendlichen Verstand.
Sollen sie praktisch verwendbar werden, so muß man sie dem endlichen
Verstande netsprechend reduzieren.
1. |
Ist der Inhalt einer Kategorie teilweise
erkannt, so ist aus ihm genau so viel an niederen Kategorien erkennbar,
als in ihm an wiederkehrenden Elementen erkannt ist. Ist also z.B.
nur das Novum erkannt, nicht aber die Elemente, so sind niedere
Kategorien durchaus nicht erkennbar. |
2. |
Ist der Inhalt einiger Kategorien
oder auch nur einer von ihnen erkannt, so ist aus ihm gebau so viel
an Kategorien aller Schichten erkennbar, als in ihm selbst an wiederkehrenden
Elementen erkannt ist. Vom Aufbau des ganzen Kategoriensystems,
soweit es überhaupt erfaßbar ist, läßt sich
nur von den höchsten Kategorien aus ein Bild gewinnen. |
3. |
Ist der Inhalt einiger Kategorien
gleicher Schicht erkannt, so läßt sich von ihm aus die
Eigenart (das Novum) etwaiger höherer Kategorien in keiner
Weise erkennen; wohl aber lassen sich gewisse wiederkehrende Elemente
höherer Kategorien angeben, sofern diese anderweitig bekannt
sind. |
4. |
Ob überhaupt es höhere Kategorien
über den erkannten gibt, in denen diese als Elemente wiederkehren
könnten, ist daraus in keiner Weise zu ersehen. |
Auch in solcher Reduktion verbleibt doch der Schichtenperspektive ein
beträchtliches Leistungsfeld. Die letzte Regel ist dieselbe geblieben,
weil sie negativ ist. Die Bedeutung der zweiten ist weit herabgesetzt;
Bruchstücke des Kategoriensystems werden
auch von Kategorien mittlerer Höhe
aus faßbar. Die an sich mögliche Überschau von oben also
kann dem bei unvollständig erfaßten Ausgangspunkten nur wenig
hinzufügen. Das ganze methodische Gewicht fällt unter solchen
Umständen auf die erste und dritte Regel, wobei aber weiderum die
erste die bei weitem wichtigere ist. Denn die erste handelt von der Erkennbarkeit
ganzer Kategorien niederer Schicht auf Grund
erkannter Elemente von höheren; in der dritten aber geht es um Erkennbarkeit
bloßer Elemente höherer Kategorien
auf Grund erkannter niederer Kategorien.
Die erste Regel ist das Gesetz der eigentlichen, abwärtsgerichteten
Schichtenperspektive, die dritte nur ein Gesetz der uneigentlichen, aufwärtsgerichteten.
Sie haben dieses gemeinsam, daß die Bindung ausschließlich
an den Elementen hängt, und nicht am Novum. Aufwärts aber ist
aus bloßen Elemente wenig zu ersehen, denn da ist das Novum die
Hauptsache; abwärts dagegen ist das Novum in den Elementen enthalten.
Aufwärts muß aus Elementen auf Kategorien geschlossen werden,
abwärts brauchen nur aus Kategorien
die Elemente aufgewiesen zu werden. In beiden Fällen bleibt das Eigentümliche
und Autonome der höheren Kategorien
aus dem Spiel.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 608-609 |
Im Zusammenhang der Methoden also gewinnen die erste und dritte
Methodenregel (siehe S. 607 und bes. 608-609; HB)
der Schichtenperspektive ganz erheblich an Gewicht; und was vielleicht
wichtiger ist, sie werden homogen, das Gewicht verschiebt sich ein wenig
zugunsten der dritten. Die erste bleibt ihr zwar immer noch weit überlegen;
aber man kann beide nun doch in zwei parallele Regeln der Ergänzung
umformulieren.
1. |
Ist an einer höheren Kategorie
eine Reihe von Elementen annähernd erkannt, die offenbar niederer
Provenienz, aber in ihrer Ursprungsschicht noch unerkannt oder unvollständig
sind, so ist von ihnen aus die Erkenntnis der niederen Kategorienschicht
stets ergänzbar. |
2. |
Ist an einer höheren Kategorie
das Novum annähernd erkannt, aber nicht die Elemente, die in
ihr wiederkehren, und ist andererseits eine Reihe niederer Kategorien
erkannt, so ist aus diesen die Erkenntnis der höheren den Elementen
nach ergänzbar. mittelbar kann sich damit auch die Erkenntnis
ihres Novums erweitern. |
Man kann diese beiden Ergänzungsregeln auch so zusammenfassen: alle
Erkenntnis niederer Kategorien ist von erkannten
höheren aus ergänzbar, einerlei welcher Schicht diese angehören
und wieweit ihr Novum erkannt ist; und alle Erkenntnis höherer Kategorien
ist der Elementarstruktur nach von erkannten niederen aus ergänzbar,
einerlei welcher Schicht die niederen angehören.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 611 |
Die Methode der Ergänzung hat auf diese Weise doch einen
breiten Spielraum im Gefüge der Methoden. Was die erste Ergänzungsregel
anlangt,so hat die Abwandlung der Elementargegensätze (siehe
S. 204-205 und bes. 230 ff.; HB) ein reiches Material dafür
geliefert, wie unübersehbar mannigfaltig der Gewinn für das
Erfassen der niedersten Kategorien ist, der
sich an der Auswertung von über die ganze Schichtenfolge verstreuten
höheren Kategorien aus ergibt, auch
wenn diese nur teilweise erkannt sind und nur sporadisch in vorläufiger
Auslese herangezogen werden können. Die zweite Ergänzungsregel
aber bekommt ihr Gewicht dadurch, daß die Erkenntnis der Elemente
erheblich an Bedeutung zunimmt, wenn sie auf ein schon vorerkanntes Novum
stößt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 611-612 |
Man vergegenwärtige sich dazu die Gesamtsituation. Die Analysis
fördert zunächst vom dekriptiv erfaßten Concretum aus
gewissen Kategoriengruppen zutage, die verschiedenen
Schichten angehören und nur lose Verbindung zeigen. Die Schichtenzugehörigkeit
der einzelnen ist mitgegeben, darum setzt hier dialektisch-konspektive
Schau ein und erweitert das Gesamtbild der einen und der anderen Schicht.
Aber weder die Übersicht der Schicht noch das Bild der Einzelkategorie
kommt damit zum Abschluß. Darum bedarf es des dritten Gliedes im
System der Methoden, der Schichtenperspektive (rechnet man die Deskription
mit ein, so ist sie bereits das vierte Glied). Diese Perspektive aber
findet in den mittleren Schichten eine gewisse Verdichtung des bereits
Erkannten vor; nach oben und nach unten zu steht sie zunächst vor
einer gewissen Leere.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 612 |
Die höchsten Kategorien sind
undurchsichtig wegen ihrer hohen Komplexheit, die niedersten wegen ihrer
Einfachheit, Nach beiden Seiten steht der Schichtenpespektive das Vordringen
offen, aber in sehr verschiedener Weise und mit noch mehr verschiedener
Aussicht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 612 |
Die höchsten Kategorien sind
etwa die des Gesinntseins, des Wertverständnisses, des Persönlichen,
der geformten Gemeinschaft und ihres Geisteslebens, der Geschichte, nicht
weniger aber auch die des Erkennens, der Wissenschaft, des künstlerischen
Schauens und seiner Gegenstände.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 612 |
Es ergeben sich somit drei weitere methodische Konsequenzen:
1. |
Von den höheren Kategorien aus
ist das System der niederen, sofern es anderweitig schon teilweise
erkannt ist, stets insoweit inhaltlich kompletierbar und kontrollierbar,
als jene selbst inhaltlich erkannt sind. |
2. |
Die Fundamentalkategorien
(siehe S. 171 ff., bes. 203 ff.; HB)
lassen sich nur aus der Elementaranalyse der höheren - und
vorwiegend der »mittleren« - erkennen. |
3. |
Von den Fundamentalkategorien aus,
soweit sie erkannt sind, ergibt sich ein Grundschema möglicher
Elementarstruktur höherer Kategorien überhaupt. |
Das Vorgehen der Schichtenperspektive also beruht auf der Gegenseitigkeit
zweier dimensional verbundener, der Richtung nach aber entgegengesetzter
und in ihrer Kompetenz sehr verschieden gearteter Verfahren. Mit der Gegenseitigkeit
im dialektischen Verfahren hat das nichts zu tun. Dialektik ist ebenso
richtungslos wie die Kohärenz der Kategorien,
auf der sie beruht. Schichtenperspektive ist so fest an eine Linie der
kategorialen Verbundeheit gefesselt wie die
Wiederkehr und die Dependenz der Kategorien
selbst. Aber sie bewegt sich innerhalb der einen Linie frei aufwärts
und abwärts; sie hat als Erkenntnisweg Autonomie der Richtung gegen
die einseitige Dependenz der Kategorien.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 614 |
Es gibt nun einen besonderen Modus der Betrachtung, bei dem die
abwärts gerichtete Schichtenperspektive in die aufwärts gerichtete
mit einbezogen ist und in ih5r von Schritt zu Schritt die gebende Instanz
bildet. Dieser Modus ist an sich nichts Neues gegenüber dem oben
Dargelegten. Das Besondere an ihm ist nur, daß die Leistungsfähigkeit
der Methode an ihm in eigenartiger Steigerung greifbar wird.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 614 |
Nach dem zweiten Schichtungsgesetz (dem
Gesetz der Abwandlung, siehe S. 475-476; HB) ist alle Wiederkehr
zugleich Abwandlung der wiederkehrenden Kategorien. Als Elemente höherer
Kategorien nehmen die niederen neue Gestalt an entsprechend der komplexeren
Gesamtstruktur, in die sie eintreten. Indem sie in diese eindringen, erfahren
sie deren Rückwirkung. Verfolgt man also die Wiederkehr einer niederen
Kategorie durch eine ganze Reihe von Schichten hin, so lernt man ihren
Grundcharakter auch in seinen Besonderungen an der reihe der wechselnden
Gestaltungen kennen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 614-615 |
Einem kategorialen Element ist es in sich nicht leicht anzusehen,
was alles in ihm liegt; auch die Kohärenz seiner eigenen Schicht
reicht dafür nicht aus. Wohl aber gewinnt man ihm sein inneres Wesen
ab, wenn man seine Abwandlungen in den höheren Schichten durchläuft.
Diese Abwandlungen sind die reine Explikation seines Wesens. Sie sind
gleichsam die »Erfahrungen«, die das Seiende höherer
Ordnung mit ihm als seine Elemente macht. Und darum liegt hier auch der
Boden der Erfahrung, welche das philosophische Danken des Seienden mit
ihm macht.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 615 |
Nicht, als müßten die besonderen Gestaltungen, welche
die Abwandlung durchläuft, dem Elemente zugeschrieben werden; sie
sind und bleiben vielmehr Funktion des jeweiligen Novums an ihm und gehören
ausschließlich den Schichten an, in denen sie auftreten, Wohl aber
fällt von diesen Gestalten ein eigenartiges Licht auf die Grundgestalt
zurück, welche das unveränderlich durchgehende Formelement und
das Schema für sie bildet. Denn alle höheren Ausgestaltungen
bleiben abhängig von der Grundgestalt. So kann denn diese von ihnen
aus sehr wohl erkannt werden - und zwar in der eigentümlichen Weise,
wie überhaupt Elementragestalten erkannt werden: aus der Expliaktion
dessen, was in ihrem Schema wesensmöglich ist.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 615 |
Ein anschauliches Bild von dieser »Methode der Abwandlung«
gibt die Kategorialanalyse der elementaren Seinsgegensätze (wie sie
in den Kapiteln 27-34 durchgeführt worden ist). Das Wesen von Einheit,
Widerstreit, Gefüge, Innerem u.s.f. erschließt sich dem Blick
nur spärlich, solange man es in einschichtiger Betrachtung cor Augen
hat; verfolgt man es aber durch seine mannigfaltigen Besonderungen im
Mathematischen, im Physikalisch-Materiellen, im Organischen, im Seelischen
und nun gar auf den verschiedneen Gebieten und Stufen des Geisteslebens,
so ergibt sich ein Reichtum der Formen, an dem der einheitliche Charakter
der Grundstruktur sich anschaulich von vielen Seieten her fassen läßt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 615 |
Es leuchtet ein, daß diese Methode in erster Linie die niedersten
Kategorien betrifft. Das muß schon darum gelten, weil die Abwandlung
der höheren Kategorien im Maße ihres Höherseins »kürzer«
ist; außerdem ist die Wiederkehr der höheren auch keine vollständige.
Es hat aber noch den anderen Grund, daß die niedersten Kategorien
als solche nicht direkt analytisch zugänglich sind, sondern auf rückschauende
Schichtenpersepktive angewiesen sind. So kommt es, da gerade im Anfang
der Kategorienlehre die Methode der Abwandlung das Feld beherrscht, im
Maße des Fortschreitens zu höheren Schichten aber immer mehr
gegen das analytische und dialektische in den Hintergrund tritt.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 615-616 |
Nur eins ist hierbei nicht zu vergessen. Die Methode der Abwandlung
hat ihre natürliche Richtung, sie arbeitet »von unten aucf«
und schreitet zum Höheren fort. In jedem einzelnen Punkte aber, an
dem sie die Elementarform in höherer Übeformung wiederfindet,
ist sie vielmehr die umgekehrte Schichtenperspektive: sie erkennt die
niedere Kategorie von der höheren aus. Und nur darum kann ihr die
aufsteigende Reihe der höheren das vervollständigte Bild der
niederen vermitteln. Sie folgt damit der ersten Ergänzungsregel,
die da sagt, daß alle Erkenntnis niederer Kategorien sich von der
Erkenntnis höherer aus vervollständigen läßt, einerlei
welcher Schicht die letzteren angehören.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 616 |
Sie beruht also trotz der aufwärtsgehenden Folge der Abwandlungen,
die sie durchläuft, vielmehr auf der abwärtsgerichteten Erkenntnis
des Einfachen vom Komplexeren her. Und dadurch stellt sie selbst sich
wiederum als ein Doppelverfahren dar, in welchem die Zusammenschau des
Ganzen sich nach beiden Seiten ausgleicht. Und wäre nicht durch analytisch
Vorerkanntes im Gebiet der höheren Schichten der Ansatz für
abwärts schauende Schichtenperspektive bereits in einer gewissen
Breite gegeben - wofür die Quellen weit über die Geschichte
der Philosophie und der Wissenschaften überhaupt verstreut liegen
-, so hätte sie keinen Boden, auf dem sie sich beegen könnte.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 616 |
So wird man von allen Seiten auf das Gefüge de Methoden,
als auf ein ständiges Hand-in-Hand-Arbeiten, zurückgewiesen.
Es ist eben in Wahrheit so, daß man an jeder einzelnen Kategorie
des ganzen Methodenapparates bedarf. Zu jeder einzelnen - mit alleiniger
Ausnahme der ersten Elemente - gibt es den direkten analytischen Aufstieg
vom Concretum her; an jeder beliebigen gibt es die dialektische Zusammenschau
der Kategorienschicht; und an jeder setzt die nach beiden Seiten führende
Schichtenpespektive ein. Und je nachdem die eine oder die andere Methode
vorangegangen ist, müssen die anderen zur Ergänzug und Kontraolle
nachfolgen.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 616 |
In der Beweglichkeit solchen Ineinandergreifens besteht die alleinige
Möglichkeit, daß die Kategorienanalyse ihrer Großen Aufgabe
in den Grenzen endlicher Erkenntnis Herr werde.
Paul
Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt - Grundriß
der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, S. 616 |
Was einst für ein Reich der Vollkommenheit
galt, das Reich der Wesenheiten, deren schwache Abbilder die Dinge sein
sollten, das gerade hat sich als das Reich des unvollständigen Seins
erwiesen, das nur in der Abstraktion verselbständigt wurde. In dieser
Einsicht liegt vielleicht der greifbarste Gegensatz der neuen Ontologie
zur alten.
Paul
Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, 1942 |
Die alte Seinslehre hing an der These, das
Allgemeine, in der essentia zur Formalsubstanz verdichtet und im
Begriff faßbar, sei das bestimmende und gestaltgebende Innere der
Dinge. Neben die Welt der Dinge, in der auch der Mensch eingeschlossen
ist, tritt die Welt der Wesenheiten, die zeitlos und materielos ein Reich
der Vollendung des höheren Seins bildet.
Paul
Nicolai Hartmann, Systematische Philosophie, 1942 |
So ist im Problem der Substanz (Beharrung)
der Erkenntnisgang von der Materie zur Energie vorgedrungen, im Problem
des real Allgemeinen von der substantiellen Form zur Gesetzlichkeit, im
Zeitproblem von der naiv verstandenen Zeitanschauung zur Realzeit.
Paul
Nicolai Hartmann, Ziele und Wege der Kategorialanalyse, in:
Z.ph.F., II, 1948 |
Das ideale Sein (der mathematischen Gegenstände) hat eine
Nahstellung zum Bewußtsein, die für keine andere Seinsweise
gilt, und diese ist greifbar im Phänomen einer unmittelbaren (apriorischen)
Gegebenheit.
Paul
Nicolai Hartmann, Ziele und Wege der Kategorialanalyse, in:
Z.ph.F., II, 1948 |
Ein einfacher Kausaldeterminismus ist vollkommen
neutral gegen das Einsetzen höherer Determination.
Paul
Nicolai Hartmann, Teleologisches Denken, 1950, S. 123 |
Wenn die Bedingungen der Möglichkeit
in ihrer Totalität da sind, dann bilden sie zugleich Notwendigkeit.
Paul
Nicolai Hartmann, Einführung in die Philosophie, postum |
|