WWW.HUBERT-BRUNE.DE
Wochenschau Tagesschau
Leben Op-Art G.U.T. ChInArAbDemoKampfClash

Arthur Schopenhauer (1788-1860)

Schopenhauer

 

–  Zitate (Auszüge)  –

NACH OBEN Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818

 Vorrede
 1. Buch
 2. Buch
 3. Buch
 4. Buch
 Anhang

 

 Ergänzungen zum 1. Buch
 Ergänzungen zum 2. Buch
 Ergänzungen zum 3. Buch
 Ergänzungen zum 4. Buch

 

NACH OBENVorrede

„Aber das Leben ist kurz und die Wahrheit wirkt ferne und lebt lange: sagen wir die Wahrheit.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, Vorrede, S. 14).

 

NACH OBEN 1. Buch

§ 1

„»Die Welt ist meine Vorstellung« - dies ist die Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektierte abstrakte Bewußtseyn bringen kann: und thut er dies wirklich, so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten. Es wird ihm dann deutlich und gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde; sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt; daß die Welt, welche ihn umgiebt, nur als Vorstellung da ist, d.h. durchweg nur in Beziehung auf ein Anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist. – Wenn irgendeine Wahrheit a priori ausgesprochen werden kann, so ist es diese: denn sie ist die Aussage derjenigen Form aller möglichen und erdenklichen Erfahrung, welche allgemeiner, als alle andern, als Zeit, Raum und Kausalität ist: denn alle diese setzen jene eben schon voraus, und wenn jede dieser Formen, welche alle wir als so viele besondere Gestaltungen des Satzes vom Grunde erkannt haben, nur für eine besondere Klasse von Vorstellungen gilt; so ist dagegen das Zerfallen in Objekt und Subjekt die gemeinsame Form aller jener Klassen, ist diejenige Form, unter welcher allein irgend eine Vorstellung, welcher Art sie auch sei, abstrakt oder intuitiv, rein oder empirisch, nur überhaupt möglich und denkbar ist. Keine Wahrheit ist also gewisser, von allen andern unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig, als diese, daß Alles, was für die Erkenntniß da ist, also die ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit Einem Wort, Vorstellung. Natürlich gilt Dieses, wie von der Gegenwart, so auch von jeder Vergangenheit und jeder Zukunft, vom Fernsten, wie vom Nahen: denn es gilt von Zeit und Raum selbst, in welchen allein sich dieses alles unterscheidet. Alles, was irgend zur Welt gehört und gehören kann, ist unausweichbar mit diesem Bedingtseyn durch das Subjekt behaftet, und ist nur für das Subjekt da. Die Welt ist Vorstellung.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 27-28).

„Neu ist diese Wahrheit keineswegs. Sie lag schon in den skeptischen Betrachtungen, von welchen Cartesius ausgieng. Berkeley aber war der erste, welcher sie entschieden aussprach: er hat sich dadurch ein unsterbliches Verdienst um die Philosophie erworben, wenn gleich das Uebrige seiner Lehren nicht bestehn kann. Kants erster Fehler war die Vernachlässigung dieses Satzes, wie im Anhange ausgeführt ist. – Wie früh hingegen diese Grundwahrheit von den Weisen Indiens erkannt worden ist, indem sie als der Fundamentalsatz der dem Vyasa zugeschriebenen Vedantaphilosophie auftritt, bezeugt W. Jones, in der letzten seiner Abhandlungen: on the philosophy of the Asiatics; Asiatic researches, Vol. IV, p. 164: the fundamental tenet of the Vedanta school consisted not in denying the existence of matter, that is of solidity, impenetrability, and extended figure (to deny which would be lunacy), but in correcting the popular notion of it, and in contending that it has no essence independent of mental perception; that existence and perceptibility are convertible terms. (**). Diese Worte drücken das Zusammenbestehn der empirischen Realität mit der transscendentalen Idealität hinlänglich aus.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 27-28).


„Das Grunddogma der Vedantaschule bestand nicht im Ableugnen des Daseyns der Materie, d.h. der Solidität, Undurchdringlichkeit und Ausdehnung (welche zu leugnen Wahnsinn wäre), sondern in der Berichtigung des gewöhnlichen Begriffs derselben, durch die Behauptung, daß sie kein von der erkennenden Auffassung unabhängiges Daseyn habe; indem Daseyn und Wahrnehmbarkeit Wechselbegriffe seien.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 28).

„Also nur von der angegebenen Seite, nur sofern sie Vorstellung ist, betrachten wir die Welt in diesem er sten Buche. Daß jedoch diese Betrachtung, ihrer Wahrheit unbeschadet, eine einseitige, folglich durch irgendeine willkürliche Abstraktion hervorgerufen ist, kündigt Jedem das innere Widerstreben an, mit welchem er die Welt als seine bloße Vorstellung annimmt; welcher Annahme er sich andererseits doch nimmermehr entziehn kann. Die Einseitigkeit dieser Betrachtung aber wird das folgende Buch ergänzen, durch eine Wahrheit, welche nicht so unmittelbar gewiß ist, wie die, von der wir hier ausgehn; sondern zu welcher nur tiefere Forschung, schwierigere Abstraktion, Trennung des Verschiedenen und Vereinigung des Identischen führen kann, – durch eine Wahrheit, welche sehr ernst und Jedem, wo nicht furchtbar, doch bedenklich seyn muß, nämlich diese, daß eben auch er sagen kann und sagen muß: »Die Welt ist mein Wille.«“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 28-29).

„Bis dahin aber, also in diesem ersten Buch, ist es nöthig, unverwandt diejenige Seite der Welt zu betrachten, von welcher wir ausgehn, die Seite der Erkennbarkeit, und demnach, ohne Widerstreben, alle irgend vorhandenen Objekte, ja sogar den eigenen Leib (wie wir bald näher erörtern werden) nur als Vorstellung zu betrachten, bloße Vorstellung zu nennen. Das, wovon hiebei abstrahirt wird, ist, wie später hoffentlich Jedem gewiß seyn wird, immer nur der Wille, als welcher allein die andere Seite der Welt ausmacht: denn diese ist, wie einerseits durch und durch Vorstellung, so andererseits durch und durch Wille. Eine Realität aber, die keines von diesen Beiden wäre, sondern ein Objekt an sich (zu welcher auch Kants Ding an sich ihm leider unter den Händen ausgeartet ist), ist ein erträumtes Unding und dessen Annahme ein Irrlicht in der Philosophie.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 29).

 

§ 2

„Dasjenige, was Alles erkennt und von Keinem erkannt wird, ist das Subjekt. Es ist sonach der Träger der Welt, die durchgängige, stets vorausgesetzte Bedingung alles Erscheinenden, alles Objekts: denn nur für das Subjekt ist, was nur immer da ist. Als dieses Subjekt findet Jeder sich selbst, jedoch nur sofern er erkennt, nicht sofern er Objekt der Erkenntniß ist. Objekt ist aber schon sein Leib, welchen selbst wir daher, von diesem Standpunkt aus, Vorstellung nennen. Denn der Leib ist Objekt unter Objekten und den Gesetzen der Objekte unterworfen, obwohl er unmittelbares Objekt ist6. Er liegt, wie alle Objekte der Anschauung, in den Formen alles Erkennens, in Zeit und Raum, durch welche die Vielheit ist. Das Subjekt aber, das Erkennende, nie Erkannte, liegt auch nicht in diesen Formen, von denen selbst es vielmehr immer schon vorausgesetzt wird: ihm kommt also weder Vielheit, noch deren Gegensatz, Einheit, zu. Wir erkennen es nimmer, sondern es eben ist es, das erkennt, wo nur erkannt wird.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 29).

„Die Welt als Vorstellung also, in welcher Hinsicht allein wir sie hier betrachten, hat zwei wesentliche, nothwendige und untrennbare Hälften. Die eine ist das Objekt: dessen Form ist Raum und Zeit, durch diese die Vielheit. Die andere Hälfte aber, das Subjekt, liegt nicht in Raum und Zeit: denn sie ist ganz und ungetheilt in jedem vorstellenden Wesen; daher ein einziges von diesen, eben so vollständig, als die vorhandenen Millionen, mit dem Objekt die Welt als Vorstellung ergänzt: verschwände aber auch jenes einzige; so wäre die Welt als Vorstellung nicht mehr. Diese Hälften sind daher unzertrennlich, selbst für den Gedanken: denn jede von beiden hat nur durch und für die andere Bedeutung und Daseyn, ist mit ihr da und verschwindet mit ihr. Sie begränzen sich unmittelbar: wo das Objekt anfängt, hört das Subjekt auf. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Gränze zeigt sich eben darin, daß die wesentlichen und daher allgemeinen Formen alles Objekts, welche Zeit, Raum und Kausalität sind, auch ohne die Erkenntniß des Objekts selbst, vom Subjekt ausgehend gefunden und vollständig erkannt werden können, d.h. in Kants Sprache, a priori in unserm Bewußtseyn liegen. Dieses entdeckt zu haben, ist ein Hauptverdienst Kants und ein sehr großes. Ich behaupte nun überdies, daß der Satz vom Grunde der gemeinschaftliche Ausdruck für alle diese uns a priori bewußten Formen des Objekts ist, und daß daher Alles, was wir rein a priori wissen, nichts ist, als eben der Inhalt jenes Satzes und was aus diesem folgt, in ihm also eigentlich unsere ganze a priori gewisse Erkenntniß ausgesprochen ist. In meiner Abhandlung über den Satz vom Grunde habe Ich ausführlich gezeigt, wie jedes irgend mögliche Objekt demselben unterworfen ist, d.h. in einer nothwendigen Beziehung zu andern Objekten steht, einerseits als bestimmt, andererseits als bestimmend: dies geht so weit, daß das ganze Daseyn aller Objekte, sofern sie Objekte, Vorstellungen und nichts anderes sind, ganz und gar zurückläuft auf jene ihre nothwendige Beziehung zu einander, nur in solcher besteht, also gänzlich relativ ist: wovon bald ein Mehreres. Ich habe ferner gezeigt, daß, gemäß den Klassen, in welche die Objekte ihrer Möglichkeit nach zerfallen, jene nothwendige Beziehung, welche der Satz vom Grunde im Allgemeinen ausdrückt, in andern Gestalten erscheint; wodurch wiederum die richtige Eintheilung jener Klassen sich bewährt. Ich setze hier beständig alles dort Gesagte als bekannt und dem Leser gegenwärtig voraus: denn es würde, wenn es nicht schon gesagt wäre, hier seine nothwendige Stelle haben.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 29-30).

 

§ 3

„Der Hauptunterschied zwischen allen unsern Vorstellungen ist der des Intuitiven und Abstrakten. Letzteres macht nur eine Klasse von Vorstellungen aus, die Begriffe: und diese sind auf der Erde allein das Eigenthum des Menschen, dessen ihn von allen Thieren unterscheidende Fähigkeit zu denselben von jeher Vernunft genannt worden ist. (**). Wir werden weiterhin diese abstrakten Vorstellungen für sich betrachten, zuvörderst aber ausschließlich von der intuitiven Vorstellung reden. Diese nun befaßt die ganze sichtbare Welt, oder die gesammte Erfahrung, nebst den Bedingungen der Möglichkeit derselben. Es ist, wie gesagt, eine sehr wichtige Entdeckung Kants, daß eben diese Bedingungen, diese Formen derselben, d.h. das Allgemeinste in ihrer Wahrnehmung, das allen ihren Erscheinungen auf gleiche Weise Eigene, Zeit und Raum, auch für sich und abgesondert von ihrem Inhalt, nicht nur in abstracto gedacht, sondern auch unmittelbar angeschaut werden kann, und daß diese Anschauung nicht etwan ein durch Wiederholung von der Erfahrung entlehntes Phantasma ist, sondern so sehr unabhängig von der Erfahrung, daß vielmehr um gekehrt diese als von jener abhängig gedacht werden muß, indem die Eigenschaften des Raumes und der Zeit, wie sie die Anschauung a priori erkennt, für alle mögliche Erfahrung als Gesetze gelten, welchen gemäß diese überall ausfallen muß. Dieserhalb habe ich, in meiner Abhandlung über den Satz vom Grunde, Zeit und Raum, sofern sie rein und inhaltsleer angeschaut werden, als eine besondere und für sich bestehende Klasse von Vorstellungen betrachtet. So wichtig nun auch diese von Kant entdeckte Beschaffenheit jener allgemeinen Formen der Anschauung ist, daß sie nämlich für sich und unabhängig von der Erfahrung anschaulich und ihrer ganzen Gesetzmäßigkeit nach erkennbar sind, worauf die Mathematik mit ihrer Unfehlbarkeit beruht; so ist es doch eine nicht in der beachtungswerthe Eigenschaft derselben, daß der Satz vom Grunde, der die Erfahrung als Gesetz der Kausalität und Motivation, und das Denken als Gesetz der Begründung der Urtheile bestimmt, hier in einer ganz eigenthümlichen Gestalt auftritt, der ich den Namen Grund des Seyns gegeben habe, und welche in der Zeit die Folge ihrer Momente, und im Raum die Lage seiner sich ins Unendliche wechselseitig bestimmenden Theile ist“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 30-31).


„Kant allein hat diesen Begriff der Vernunft verwirrt, in welcher Hinsicht ich auf den Anhang verweise (**), wie auch auf neue »Grundprobleme der Ethik«. Grundl. d. Moral, § 6, S. 148-154 der ersten Auflage.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 31).

„Wem aus der einleitenden Abhandlung die vollkommene Identität des Inhalts des Satzes vom Grunde, bei aller Verschiedenheit seiner Gestalten, deut lich geworden ist, der wird auch überzeugt seyn, wie wichtig zur Einsicht in sein Innerstes Wesen gerade die Erkenntniß der einfachsten seiner Gestaltungen, als solcher, ist, und für diese haben wir die Zeit erkannt. Wie in ihr jeder Augenblick nur ist, sofern er den vorhergehenden, seinen Vater, vertilgt hat, um selbst wieder eben so schnell vertilgt zu werden; wie Vergangenheit und Zukunft (abgesehn von den Folgen ihres Inhalts) so nichtig als irgend ein Traum sind, Gegenwart aber nur die ausdehnungs- und bestandlose Gränze zwischen Beiden ist; eben so werden wir die selbe Nichtigkeit auch in allen andern Gestalten des Satzes vom Grunde wiedererkennen und einsehn, daß wie die Zeit, so auch der Raum, und wie dieser, so auch Alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist, Alles also, was aus Ursachen oder Motiven hervorgeht, nur ein relatives Daseyn hat, nur durch und für ein Anderes, ihm gleichartiges, d.h. wieder nur eben so bestehendes, ist. Das Wesentliche dieser Ansicht ist alt: Herakleitos bejammerte in ihr den ewigen Fluß der Dinge: Plato würdigte ihren Gegenstand herab, als das immerdar Werdende, aber nie Seiende; Spinoza nannte es bloße Accidenzien der allein seienden und bleibenden einzigen Substanz; Kant setzte das so Erkannte als bloße Erscheinung dem Dinge an sich entgegen; endlich die uralte Weisheit der Inder spricht: »Es ist die Maja, der Schleier des Truges, welcher die Augen der Sterblichen umhüllt und sie eine Welt sehn läßt, von der man weder sagen kann, daß sie sei, noch auch, daß sie nicht sei: denn sie gleicht dem Traume, gleicht dem Sonnenglanz auf dem Sande, welchen der Wanderer von ferne für ein Wasser hält, oder auch dem hingeworfenen Strick, den er für eine Schlange ansieht.« (Diese Gleichnisse finden sich in unzähligen Stellen der Veden und Puranas wiederholt.) Was Alle diese aber meinten und wovon sie reden, ist nichts Anderes, als was auch wir jetzt eben betrachten: die Welt als Vorstellung, unterworfen dem Satze des Grundes.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 31-32).

 

§ 4

„Wer die Gestaltung des Satzes vom Grunde, welche in der reinen Zeit als solcher erscheint und auf der alles Zählen und Rechnen beruht, erkannt hat, der hat eben damit auch das ganze Wesen der Zeit erkannt. Sie ist weiter nichts, als eben jene Gestaltung des Satzes vom Grunde, und hat keine andere Eigenschaft. Succession ist die Gestalt des Satzes vom Grunde in der Zeit; Succession ist das ganze Wesen der Zeit. – Wer ferner den Satz vom Grunde, wie er im bloßen rein angeschauten Raum herrscht, erkannt hat, der hat eben damit das ganze Wesen des Raumes erschöpft; da dieser durch und durch nichts Anderes ist, als die Möglichkeit der wechselseitigen Bestimmungen seiner Theile durch einander, welche Lage heißt. Die ausführliche Betrachtung dieser und Niederlegung der sich daraus ergebenden Resultate in abstrakte Begriffe, zu bequemerer Anwendung, ist der Inhalt der ganzen Geometrie, – Eben so nun, wer diejenige Gestaltung des Satzes vom Grunde, welche den Inhalt jener Formen (der Zeit und des Raumes), ihre Wahrnehmbarkeit, d.i. die Materie, beherrscht, also das Gesetz der Kausalität erkannt hat; der hat eben damit das ganze Wesen der Materie als solcher erkannt: denn diese ist durch und durch nichts als Kausalität, welches Jeder unmittelbar einsieht, sobald er sich besinnt. Ihr Seyn nämlich ist ihr Wirken: kein anderes Seyn derselben ist auch nur zu denken möglich. Nur als wirkend füllt sie den Raum, füllt sie die Zeit: ihre Einwirkung auf das unmittelbare Objekt (das selbst Materie ist) bedingt die Anschauung, in der sie allein existirt: die Folge der Einwirkung jedes andern materiellen Objekts auf ein anderes wird nur erkannt, sofern das letztere jetzt anders als zuvor auf das unmittelbare Objekt einwirkt, besteht nur darin. Ursache und Wirkung ist also das ganze Wesen der Materie: ihr Seyn ist ihr Wirken. (Das Nähere hierüber in der Abhandlung über den Satz vom Grunde, § 21, S. 77.) Höchst treffend ist daher im Deutschen der Inbegriff alles Materiellen Wirklichkeit genannt8, welches Wort viel bezeichnender ist, als Realität. Das, worauf sie wirkt, ist allemal wieder Materie: ihr ganzes Seyn und Wesen besteht also nur in der gesetzmäßigen Veränderung, die ein Theil derselben im andern hervorbringt, ist folglich gänzlich relativ, nach einer nur innerhalb ihrer Gränzen geltenden Relation, also eben wie die Zeit, eben wie der Raum.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 32-33).

„Zeit aber und Raum, jedes für sich, sind auch ohne die Materie anschaulich vorstellbar; die Materie aber nicht ohne jene. Schon die Form, welche von ihr unzertrennlich ist, setzt den Raum voraus, und ihr Wirken, in welchem ihr ganzes Daseyn besteht, betrifft immer eine Veränderung, also eine Bestimmung der Zeit. Aber Zeit und Raum werden nicht bloß jedes für sich von der Materie vorausgesetzt; sondern eine Vereinigung Beider macht ihr Wesen aus, eben weil dieses, wie gezeigt, im Wirken, in der Kausalität, besteht. Alle gedenkbaren, unzähligen Erscheinungen und Zustände nämlich könnten im unendlichen Raum, ohne sich zu beengen, neben einander liegen, oder auch in der unendlichen Zeit, ohne sich zu stören, auf einander folgen; daher dann eine nothwendige Beziehung derselben auf einander und eine Regel, welche sie dieser gemäß bestimmte, keineswegs nöthig, ja nicht ein Mal anwendbar wäre: folglich gäbe es alsdann, bei allem Nebeneinander im Raum und allem Wechsel in der Zeit, so lange jede dieser beiden Formen für sich, und ohne Zusammenhang mit der andern ihren Bestand und Lauf hätte, noch gar keine Kausalität, und da diese das eigentliche Wesen der Materie ausmacht, auch keine Materie. – Nun aber erhält das Gesetz der Kausalität seine Bedeutung und Nothwendigkeit allein dadurch, daß das Wesen der Veränderung nicht im bloßen Wechsel der Zustände an sich, sondern vielmehr darin besteht, daß an dem selben Ort im Raum jetzt ein Zustand ist und darauf ein anderer, und zu einer und der selben bestimmten Zeit hier dieser Zustand und dort jener: nur diese gegenseitige Beschränkung der Zeit und des Raums durch einander giebt einer Regel, nach der die Veränderung vorgehn muß, Bedeutung und zugleich Nothwendigkeit. Was durch das Gesetz der Kausalität bestimmt wird, ist also nicht die Succession der Zustände in der bloßen Zeit, sondern diese Succession in Hinsicht auf einen bestimmten Raum, und nicht das Daseyn der Zustände an einem bestimmten Ort, sondern an diesem Ort zu einer bestimmten Zeit. Die Veränderung, d. h, der nach dem Kausalgesetz eintretende Wechsel, betrifft also jedesmal einen bestimmten Theil des Raumes und einen bestimmten Theil der Zeit zugleich und im Verein. Demzufolge vereinigt die Kausalität den Raum mit der Zeit. Wir haben aber gefunden, daß im Wirken, also in der Kausalität, das ganze Wesen der Materie besteht: folglich müssen auch in dieser Raum und Zeit vereinigt seyn, d.h. sie muß die Eigenschaften der Zeit und die des Raumes, so sehr sich Beide widerstreiten, zugleich an sich tragen, und was in jedem von jenen Beiden für sich unmöglich ist, muß sie in sich vereinigen, also die bestandlose Flucht der Zeit mit dem starren unveränderlichen Beharren des Raumes, die unendliche Theilbarkeit hat sie von Beiden. Diesem gemäß finden wir durch sie zuvörderst das Zugleichseyn herbeigeführt, welches weder in der bloßen Zeit, die kein Nebeneinander, noch im bloßen Raum, der kein Vor, Nach oder Jetzt kennt, seyn konnte. Das Zugleichseyn vieler Zustände aber macht eigentlich das Wesen der Wirklichkeit aus: denn durch dasselbe wird allererst die Dauer möglich, indem nämlich diese nur erkennbar ist an dem Wechsel des mit dem Dauernden zugleich Vorhandenen; aber auch nur mittelst des Dauernden im Wechsel erhält dieser jetzt den Charakter der Veränderung, d.h. des Wandels der Qualität und Form, beim Beharren der Substanz, d.i. der Materie9. Im bloßen Raum wäre die Welt starr und unbeweglich: kein Nacheinander, keine Veränderung, kein Wirken: eben mit dem Wirken ist aber auch die Vorstellung der Materie aufgehoben. In der bloßen Zeit wiederum wäre alles flüchtig: kein Beharren, kein Nebeneinander und daher kein Zugleich, folglich keine Dauer: also wieder auch keine Materie. Erst durch die Vereinigung von Zeit und Raum erwächst die Materie, d.i. die Möglichkeit des Zugleichseyns und dadurch der Dauer, durch diese wieder des Beharrens der Substanz, bei der Veränderung der Zustände. Im Verein von Zeit und Raum ihr Wesen habend, trägt die Materie durchweg das Gepräge von Beiden. Sie beurkundet ihren Ursprung aus dem Raum, theils durch die Form, die von ihr unzertrennlich ist, besonders aber (weil der Wechsel allein der Zeit angehört, in dieser allein und für sich aber nichts Bleibendes ist) durch ihr Beharren (Substanz), dessen Gewißheit a priori daher ganz und gar von der des Raumes abzuleiten ist11: ihren Ursprung aus der Zeit aber offenbart sie an der Qualität (Accidenz), ohne die sie nie erscheint, und welche schlechthin immer Kausalität, Wirken auf andere Materie, also Veränderung (ein Zeitbegriff) ist. Die Gesetzmäßigkeit dieses Wirkens aber bezieht sich immer auf Raum und Zeit zugleich und hat eben nur dadurch Bedeutung. Was für ein Zustand zu dieser Zeit an diesem Ort eintreten muß, ist die Bestimmung, auf welche ganz allein die Gesetzgebung der Kausalität sich erstreckt. Auf dieser Ableitung der Grundbestimmungen der Materie aus den uns a priori bewußten Formen unserer Erkenntniß beruht es, daß wir ihr gewisse Eigenschaften a priori zuerkennen, nämlich Raumerfüllung, d.i. Undurchdringlichkeit, d.i. Wirksamkeit, sodann Ausdehnung, unendliche Theilbarkeit, Beharrlichkeit, d.h. Unzerstörbarkeit, und endlich Beweglichkeit: hingegen ist die Schwere, ihrer Ausnahmslosigkeit ungeachtet, doch wohl der Erkenntniß a posteriori beizuzählen, obgleich Kant in den »Metaphys. Anfangsgr. d. Naturwiss.«, S. 71 sie als a priori erkennbar aufstellt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 33-35).

„Wie aber das Objekt überhaupt nur für das Subjekt da ist, als dessen Vorstellung; so ist jede besondere Klasse von Vorstellungen nur für eine eben so besondere Bestimmung im Subjekt da, die man ein Erkenntnißvermögen nennt. Das subjektive Korrelat von Zeit und Raum für sich, als leere Formen, hat Kant reine Sinnlichkeit genannt, welcher Ausdruck, weil Kant hier die Bahn brach, beibehalten werden mag; obgleich er nicht recht paßt, da Sinnlichkeit schon Materie voraussetzt. Das subjektive Korrelat der Materie oder der Kausalität, denn Beide sind Eines, ist der Verstand, und er ist nichts außerdem. Kausalität erkennen ist seine einzige Funktion, seine alleinige Kraft, und es ist eine große, Vieles umfassende, von mannigfaltiger Anwendung, doch unverkennbarer Identität aller ihrer Äußerungen. Umgekehrt ist alle Kausalität, also alle Materie, mithin die ganze Wirklichkeit, nur für den Verstand, durch den Verstand, im Verstande. Die erste, einfachste, stets vorhandene Aeußerung des Verstandes ist die Anschauung der wirklichen Welt: diese ist durchaus Erkenntniß der Ursache aus der Wirkung: daher ist alle Anschauung intellektual. Es könnte dennoch nie zu ihr kommen, wenn nicht irgend eine Wirkung unmittelbar erkannt würde und dadurch zum Ausgangspunkte diente. Dieses aber ist die Wirkung auf die thierischen Leiber. Insofern sind diese die unmittelbaren Objekte des Subjekts: die Anschauung aller andern Objekte ist durch sie vermittelt. Die Veränderungen, welche jeder thierische Leib erfährt, werden unmittelbar erkannt, d.h. empfunden, und indem sogleich diese Wirkung auf ihre Ursache bezogen wird, entsteht die Anschauung der letzteren als eines Objekts. Diese Beziehung ist kein Schluß in abstrakten Begriffen, geschieht nicht durch Reflexion, nicht mit Willkür, sondern unmittelbar, nothwendig und sicher. Sie ist die Erkenntnißweise des reinen Verstandes, ohne welchen es nie zur Anschauung käme; sondern nur ein dumpfes, pflanzenartiges Bewußtsein der Veränderungen des unmittelbaren Objekts übrig bliebe, die völlig bedeutungslos auf einander folgten, wenn sie nicht etwan als Schmerz oder Wollust eine Bedeutung für den Willen hätten. Aber wie mit dem Eintritt der Sonne die sichtbare Welt dasteht; so verwandelt der Verstand mit einem Schlage, durch seine einzige, einfache Funktion, die dumpfe, nichtssagende Empfindung in Anschauung. Was das Auge, das Ohr, die Hand empfindet, ist nicht die Anschauung: es sind bloße Data. Erst indem der Verstand von der Wirkung auf die Ursache übergeht, steht die Welt da, als Anschauung im Raume ausgebreitet, der Gestalt nach wechselnd, der Materie nach durch alle Zeit beharrend: denn er vereinigt Raum und Zeit in der Vorstellung Materie, d.i. Wirksamkeit. Diese Welt als Vorstellung ist, wie nur durch den Verstand, auch nur für den Verstand da. Im ersten Kapitel meiner Abhandlung »Ueber das Sehn und die Farben« habe ich bereits auseinandergesetzt, wie aus den Datis, welche die Sinne liefern, der Verstand die Anschauung schafft, wie durch Vergleichung der Eindrücke, welche vom nämlichen Objekt die verschiedenen Sinne erhalten, das Kind die Anschauung erlernt, wie eben nur dieses den Aufschluß über so viele Sinnenphänomene giebt, über das einfache Sehn mit zwei Augen, über das Doppeltsehn beim Schielen, oder bei ungleicher Entfernung hinter einander stehender Gegenstände, die man zugleich ins Auge faßt, und über allen Schein, welcher durch eine plötzliche Veränderung an den Sinneswerkzeugen hervorgebracht wird. Viel ausführlicher und gründlicher jedoch habe ich diesen wichtigen Gegenstand behandelt in der zweiten Auflage der Abhandlung über den Satz vom Grunde, § 21. Alles daselbst Gesagte hätte hier seine nothwendige Stelle, müßte also eigentlich hier nochmals gesagt werden: da Ich Indessen fast so viel Widerwillen habe, mich selbst, als Andere abzuschreiben, auch nicht im Stande bin, es besser, als dort geschehn, darzustellen; so verweise ich darauf, statt es hier zu wiederholen, setze es nun aber auch als bekannt voraus“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 35-37).

„Das Sehnlernen der Kinder und operirter Blindgebornen, das einfache Sehn des doppelt, mit zwei Augen, Empfundenen, das Doppeltsehn und Doppelttasten bei der Verrückung der Sinneswerkzeuge aus ihrer gewöhnlichen Lage, die aufrechte Erscheinung der Gegenstände, während ihr Bild im Auge verkehrt steht, das Uebertragen der Farbe, welche bloß eine innere Funktion, eine polarische Theilung der Thätigkeit des Auges ist, auf die äußern Gegenstände, und endlich auch das Stereoskop – dies Alles sind feste und unwiderlegliche Beweise davon, daß alle Anschauung nicht bloß sensual, sondern intellektual, d.h. reine Verstandeserkenntniß der Ursache aus der Wirkung ist, folglich das Gesetz der Kausalität voraussetzt, von dessen Erkenntniß alle Anschauung, mithin alle Erfahrung, ihrer ersten und ganzen Möglichkeit nach, abhängt, nicht umgekehrt die Erkenntniß des Kausalgesetzes von der Erfahrung, welches letztere der Humische Skepticismus war, der erst hiedurch widerlegt ist. Denn die Unabhängigkeit der Erkenntniß der Kausalität von aller Erfahrung, d.h. ihre Apriorität, kann allein dargethan werden aus der Abhängigkeit aller Erfahrung von ihr: und dieses wieder kann allein geschehn, indem man auf die hier angegebene und an den soeben bezeichneten Stellen ausgeführte Art nachweist, daß die Erkenntniß der Kausalität in der Anschauung überhaupt, in deren Gebiet alle Erfahrung liegt, schon enthalten ist, also völlig a priori in Hinsicht auf die Erfahrung besteht, von ihr als Bedingung vorausgesetzt wird, nicht sie voraussetzt: nicht aber kann dasselbe dargethan werden auf die von Kant versuchte und von mir in der Abhandlung über den Satz vom Grunde § 23 kritisirte Weise.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 37).

 

NACH OBEN 2. Buch

 

$ 18

„Die Aktion des Leibes ist nichts Anderes, als der objektivirte, d.h. in die Anschauung getretene Akt des Willens. Weiterhin wird sich uns zeigen, daß dieses von jeder Bewegung des Leibes gilt, nicht bloß von der auf Motive, sondern auch von der auf bloße Reize erfolgenden unwillkürlichen, ja, daß der ganze Leib nichts Anderes, als der objektivirte, d.h. zur Vorstellung gewordene Wille ist; welches alles sich im weitern Verfolg ergeben und deutlich werden wird.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 122-123).

 

$ 19

„Das erkennende Subjekt ist eben durch diese besondere Beziehung auf den einen Leib, der ihm, außer derselben betrachtet, nur eine Vorstellung gleich allen übrigen ist, Individuum. Die Beziehung aber, vermöge welcher das erkennende Subjekt Individuum ist, ist eben deshalb nur zwischen ihm und einer einzigen unter allen seinen Vorstellungen, daher es nur dieser einzigen nicht bloß als einer Vorstellung, sondern zugleich in ganz anderer Art, nämlich als eines Willens, sich bewußt ist. Da aber, wenn es von jener besondern Beziehung, von jener zwiefachen und ganz heterogenen Erkenntniß des Einen und Nämlichen, abstrahirt; dann jenes Eine, der Leib, eine Vorstellung gleich allen andern ist: so muß, um sich hierüber zu orientiren, das erkennende Individuum entweder annehmen, daß das Unterscheidende jener einen Vorstellung bloß darin liegt, daß seine Erkenntniß nur zu jener einen Vorstellung in dieser doppelten Beziehung steht, nur in dieses eine anschauliche Objekt ihm auf zwei Weisen zugleich die Einsicht offen steht, daß dies aber nicht durch einen Unterschied dieses Objekts von allen andern, sondern nur durch einen Unterschied des Verhältnisses seiner Erkenntniß zu diesem einen Objekt, von dem, so es zu allen andern hat, zu erklären ist; oder auch es muß annehmen, daß dieses eine Objekt wesentlich von allen andern verschieden ist, ganz allein unter allen zugleich Wille und Vorstellung ist, die übrigen hingegen bloße Vorstellung, d.h. bloße Phantome sind, sein Leib also das einzige wirkliche Individuum in der Welt, d.h. die einzige Willenserscheinung und das einzige unmittelbare Objekt des Subjekts. – Daß die andern Objekte, als bloße Vorstellung betrachtet, seinem Leibe gleich sind, d.h. wie dieser den (nur als Vorstellung selbst möglicherweise vorhandenen) Raum füllen, und auch wie dieser im Raume wirken, dies ist zwar beweisbar gewiß, aus dem für Vorstellungen a priori sichern Gesetz der Kausalität, welches keine Wirkung ohne Ursache zuläßt; aber, abgesehn davon, daß sich von der Wirkung nur auf eine Ursache überhaupt, nicht auf eine gleiche Ursache schließen läßt; so ist man hiemit immer noch im Gebiet der bloßen Vorstellung, für die allein das Gesetz der Kausalität gilt, und über welches hinaus es nie führen kann. Ob aber die dem Individuo nur als Vorstellungen bekannten Objekte, dennoch, gleich seinem eigenen Leibe, Erscheinungen eines Willens sind; dies ist, wie bereits im vorigen Buche ausgesprochen, der eigentliche Sinn der Frage nach der Realität der Außenwelt: dasselbe zu leugnen, ist der Sinn des theoretischen Egoismus, der eben dadurch alle Erscheinungen, außer seinem eigenen Individuum, für Phantome hält, wie der praktische Egoismus genau das Selbe in praktischer Hinsicht thut, nämlich nur die eigene Person als eine wirklich solche, alle übrigen aber als bloße Phantome ansieht und behandelt. Der theoretische Egoismus ist zwar durch Beweise nimmermehr zu widerlegen: dennoch ist er zuverlässig in der Philosophie nie anders, denn als skeptisches Sophisma, d.h. zum Schein gebraucht worden. Als ernstliche Ueberzeugung hingegen könnte er allein im Tollhause gefunden werden: als solche bedürfte es dann gegen ihn nicht sowohl eines Beweises, als einer Kur. Daher wir uns insofern auf ihn nicht weiter einlassen, sondern ihn allein als die letzte Feste des Skepticismus, der immer polemisch ist, betrachten. Bringt nun also unsere stets an Individualität gebundene und eben hierin ihre Beschränkung habende Erkenntniß es nothwendig mit sich, daß Jeder nur Eines seyn, hingegen alles andere erkennen kann, welche Beschränkung eben eigentlich das Bedürfniß der Philosophie erzeugt; so werden wir, die wir eben deshalb durch Philosophie die Schranken unserer Erkenntniß zu erweitern streben, jenes sich uns hier entgegenstellende skeptische Argument des theoretischen Egoismus ansehn als eine kleine Gränzfestung, die zwar auf immer unbezwinglich ist, deren Besatzung aber durchaus auch nie aus ihr herauskann, daher man ihr vorbeigehn und ohne Gefahr sie im Rücken liegen lassen darf.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 126-127).

 

$ 20

„Als des eigenen Leibes Wesen an sich, als dasjenige, was dieser Leib ist, außerdem daß er Objekt der Anschauung, Vorstellung ist, giebt, wie gesagt, der Wille zunächst sich kund in den willkürlichen Bewegungen dieses Leibes, sofern diese nämlich nichts Anderes sind, als die Sichtbarkeit der einzelnen Willensakte, mit welchen sie unmittelbar und völlig zugleich eintreten, als Ein und das Selbe mit ihnen, nur durch die Form der Erkennbarkeit, in die sie übergegangen, d.h. Vorstellung geworden sind, von ihnen unterschieden.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 128).

„Diese Akte des Willens haben aber immer noch einen Grund außer sich, in den Motiven. Jedoch bestimmen diese nie mehr, als das was ich zu dieser Zeit, an diesem Ort, unter diesen Umständen will; nicht aber daß ich überhaupt will, noch was ich überhaupt will, d.h. die Maxime, welche mein gesammtes Wollen charakterisirt. Daher ist mein Wollen nicht seinem ganzen Wesen nach aus den Motiven zu erklären; sondern diese bestimmen bloß seine Aeußerung im gegebenen Zeitpunkt, sind bloß der Anlaß, bei dem sich mein Wille zeigt: dieser selbst hingegen liegt außerhalb des Gebietes des Gesetzes der Motivation: nur seine Erscheinung in jedem Zeitpunkt ist durch dieses nothwendig bestimmt. Lediglich unter Voraussetzung meines empirischen Charakters ist das Motiv hinreichender Erklärungsgrund meines Handelns: abstrahire ich aber von meinem Charakter und frage dann, warum ich überhaupt dieses und nicht jenes will; so ist keine Antwort darauf möglich, weil eben nur die Erscheinung des Willens dem Satze vom Grunde unterworfen ist, nicht aber er selbst, der insofern grundlos zu nennen ist. Hiebei setze ich theils Kants Lehre vom empirischen und intelligibeln Charakter, wie auch meine in den »Grundproblemen der Ethik«, S. 48-58, und wieder S. 178 ff. der ersten Auflage dahin gehörigen Erörterungen voraus, theils werden wir im vierten Buch ausführlicher davon zu reden haben. Für jetzt habe ich nur darauf aufmerksam zu machen, daß das Begründetseyn einer Erscheinung durch die andere, hier also der That durch das Motiv, gar nicht damit streitet, daß ihr Wesen an sich Wille ist, der selbst keinen Grund hat, indem der Satz vom Grunde, in allen seinen Gestalten, bloß Form der Erkenntniß ist, seine Gültigkeit sich also bloß auf die Vorstellung, die Erscheinung, die Sichtbarkeit des Willens erstreikt, nicht auf diesen selbst, der sichtbar wird.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 128-129).

„Ist nun jede Aktion meines Leibes Erscheinung eines Willensaktes, in welchem sich, unter gegebenen Motiven, mein Wille selbst überhaupt und im Ganzen, also mein Charakter, wieder ausspricht; so muß auch die unumgängliche Bedingung und Voraussetzung jener Aktion Erscheinung des Willens seyn: denn sein Erscheinen kann nicht von etwas abhängen, das nicht unmittelbar und allein durch ihn, das mithin für ihn nur zufällig wäre, wodurch sein Erscheinen selbst nur zufällig würde: jene Bedingung aber ist der ganze Leib selbst. Dieser selbst also muß schon Erscheinung des Willens seyn, und muß zu meinem Willen im Ganzen, d.h. zu meinem intelligibeln Charakter, dessen Erscheinung in der Zeit mein empirischer Charakter ist, sich so verhalten, wie die einzelne Aktion des Leibes zum einzelnen Akte des Willens. Also muß der ganze Leib nichts Anderes seyn, als mein sichtbar gewordener Wille, muß mein Wille selbst seyn, sofern dieser anschauliches Objekt, Vorstellung der ersten Klasse ist.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 128-129).

 

§ 21

„Wem nun, durch alle diese Betrachtungen, auch in abstracto, mithin deutlich und sicher, die Erkenntniß geworden ist, welche in concreto Jeder unmittelbar, d.h. als Gefühl besitzt, daß nämlich das Wesen an sich seiner eigenen Erscheinung, welche als Vorstellung sich ihm sowohl durch seine Handlungen, als durch das bleibende Substrat dieser, seinen Leib, darstellt, sein Wille ist, der das Unmittelbarste seines Bewußtseyns ausmacht, als solches aber nicht völlig in die Form der Vorstellung, in welcher Objekt und Subjekt sich gegenüber stehn, eingegangen ist; sondern auf eine unmittelbare Weise, in der man Subjekt und Objekt nicht ganz deutlich unterscheidet, sich kund giebt, jedoch auch nicht im Ganzen, sondern nur in seinen einzelnen Akten dem Individuo selbst kenntlich wird; – wer, sage ich, mit mir diese Ueberzeugung gewonnen hat, dem wird sie, ganz von selbst, der Schlüssel werden zur Erkenntniß des Innersten Wesens der gesammten Natur, indem er sie nun auch auf alle jene Erscheinung übertragt, die ihm nicht, wie seine eigene, in unmittelbarer Erkenntniß neben der mittelbaren, sondern bloß in letzterer, also bloß einseitig, als Vorstellung allein, gegeben sind. Nicht allein in denjenigen Erscheinungen, welche seiner eigenen ganz ähnlich sind, in Menschen und Thieren, wird er als ihr Innerstes Wesen jenen nämlichen Willen anerkennen; sondern die fortgesetzte Reflexion wird ihn dahin leiten, auch die Kraft, welche in der Pflanze treibt und vegetirt, ja, die Kraft, durch welche der Krystall anschießt, die, welche den Magnet zum Nordpol wendet, die, deren Schlag ihm aus der Berührung heterogener Metalle entgegenfährt, die, welche in den Wahlverwandtschaften der Stoffe als Fliehn und Suchen, Trennen und Vereinen erscheint, ja, zuletzt sogar die Schwere, welche in aller Materie so gewaltig strebt, den Stein zur Erde und die Erde zur Sonne zieht, – diese Alle nur in der Erscheinung für verschieden, ihrem Innern Wesen nach aber als das Selbe zu erkennen, als jenes ihm unmittelbar so intim und besser als alles Andere Bekannte, was da, wo es am deutlichsten hervortritt, Wille heißt. Diese Anwendung der Reflexion ist es allein, welche uns nicht mehr bei der Erscheinung stehn bleiben läßt, sondern hinüberführt zum Ding an sich. Erscheinung heißt Vorstellung, und weiter nichts: alle Vorstellung, welcher Art sie auch sei, alles Objekt, ist Erscheinung. Ding an sich aber ist allein der Wille: als solcher ist er durchaus nicht Vorstellung, sondern toto genere von ihr verschieden: er ist es, wovon alle Vorstellung, alles Objekt, die Erscheinung, die Sichtbarkeit, die Objektität ist. Er ist das Innerste, der Kern jedes Einzelnen und eben so des Ganzen: er erscheint in jeder blindwirkenden Naturkraft: er auch erscheint im überlegten Handeln des Menschen; welcher Beiden große Verschiedenheit doch nur den Grad des Erscheinens, nicht das Wesen des Erscheinenden trifft.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 131-132).

 

§ 22

„Dieses Ding an sich (wir wollen den Kantischen Ausdruck als stehende Formel beibehalten), welches als solches nimmermehr Objekt ist, eben weil alles Objekt schon wieder seine bloße Erscheinung, nicht mehr es selbst ist, mußte, wenn es dennoch objektiv gedacht werden sollte, Namen und Begriff von einem Objekt borgen, von etwas irgendwie objektiv Gegebenem, folglich von einer seiner Erscheinungen; aber diese durfte, um als Verständigungspunkt zu dienen, keine andere seyn, als unter allen seinen Erscheinungen die vollkommenste, d.h. die deutlichste, am meisten entfaltete, vom Erkennen unmittelbar beleuchtete: diese aber eben ist des Menschen Wille. Man hat jedoch wohl zu bemerken, daß wir hier allerdings nur eine denominatio a potiori gebrauchen, durch welche eben deshalb der Begriff Wille eine größere Ausdehnung erhält, als er bisher hatte. Erkenntniß des Identischen in verschiedenen Erscheinungen und des Verschiedenen in ähnlichen ist eben, wie Plato so oft bemerkt, Bedingung zur Philosophie. Man hatte aber bis jetzt die Identität des Wesens jeder irgend strebenden und wirkenden Kraft in der Natur mit dem Willen nicht erkannt, und daher die mannigfaltigen Erscheinungen, welche nur verschiedene Species des selben Genus sind, nicht dafür angesehn, sondern als heterogen betrachtet: deswegen konnte auch kein Wort zur Bezeichnung des Begriffs dieses Genus vorhanden seyn. Ich benenne daher das Genus nach der vorzüglichsten Species, deren uns näher liegende, unmittelbare Erkenntniß zur mittelbaren Erkenntniß aller andern führt. Daher aber würde in einem immerwährenden Mißverständniß befangen bleiben, wer nicht fähig wäre, die hier geforderte Erweiterung des Begriffs zu vollziehn, sondern bei dem Worte Wille immer nur noch die bisher allein damit bezeichnete eine Species, den vom Erkennen geleiteten und ausschließlich nach Motiven, ja wohl gar nur nach abstrakten Motiven, also unter Leitung der Vernunft sich äußernden Willen verstehn wollte, welcher, wie gesagt, nur die deutlichste Erscheinung des Willens ist. Das uns unmittelbar bekannte Innerste Wesen eben dieser Erscheinung müssen wir nun in Gedanken rein aussondern, es dann auf alle schwächeren, undeutlicheren Erscheinungen des selben Wesens übertragen, wodurch wir die verlangte Erweiterung des Begriffs Wille vollziehn. – Auf die entgegengesetzte Weise würde mich aber der mißverstehn, der etwan meinte, es sei zuletzt einerlei, ob man jenes Wesen an sich aller Erscheinung durch das Wort Wille, oder durch irgend ein anderes bezeichnete. Dies würde der Fall seyn, wenn jenes Ding an sich etwas wäre, auf dessen Existenz wir bloß schlössen und es so allein mittelbar und bloß in abstracto erkennten: dann könnte man es allerdings nennen wie man wollte: der Name stände als bloßes Zeichen einer unbekannten Größe da. Nun aber bezeichnet das Wort Wille, welches uns, wie ein Zauberwort, das Innerste Wesen jedes Dinges in der Natur aufschließen soll, keineswegs eine unbekannte Größe, ein durch Schlüsse erreichtes Etwas; sondern ein durchaus unmittelbar Erkanntes und so sehr Bekanntes, daß wir, was Wille sei, viel besser wissen und verstehn, als sonst irgend etwas, was immer es auch sei. – Bisher subsumirte man den Begriff Wille unter den Begriff Kraft: dagegen mache ich es gerade umgekehrt und will jede Kraft in der Natur als Wille gedacht wissen. Man glaube ja nicht, daß dies Wortstreit, oder gleichgültig sei: vielmehr ist es von der allerhöchsten Bedeutsamkeit und Wichtigkeit. Denn dem Begriffe Kraft liegt, wie allen andern, zuletzt die anschauliche Erkenntniß der objektiven Welt, d.h. die Erscheinung, die Vorstellung, zum Grunde, und daraus ist er geschöpft. Er ist aus dem Gebiet abstrahirt, wo Ursache und Wirkung herrscht, also aus der anschaulichen Vorstellung, und bedeutet eben das Ursachseyn der Ursache, auf dem Punkt, wo es ätiologisch durchaus nicht weiter erklärlich, sondern eben die nothwendige Voraussetzung aller ätiologischen Erklärung ist. Hingegen der Begriff Wille ist der einzige, unter allen möglichen, welcher seinen Ursprung nicht in der Erscheinung, nicht in bloßer anschaulicher Vorstellung hat, sondern aus dem Innern kommt, aus dem unmittelbarsten Bewußtseyn eines Jeden hervorgeht, in welchem dieser sein eigenes Individuum, seinem Wesen nach, unmittelbar, ohne alle Form, selbst ohne die von Subjekt und Objekt, erkennt und zugleich selbst ist, da hier das Erkennende und das Erkannte zusammenfallen. Führen wir daher den Begriff der Kraft auf den des Willens zurück, so haben wir in der That ein Unbekannteres auf ein unendlich Bekannteres, ja, auf das einzige uns wirklich unmittelbar und ganz und gar Bekannte zurückgeführt und unsere Erkenntniß um ein sehr großes erweitert. Subsumiren wir hingegen, wie bisher geschah, den Begriff Wille unter den der Kraft; so begeben wir uns der einzigen unmittelbaren Erkenntniß, die wir vom innern Wesen der Welt haben, indem wir sie untergehn lassen in einen aus der Erscheinung abstrahirten Begriff, mit welchem wir daher nie über die Erscheinung hinauskönnen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 132-134).

 

§ 23

„Der Wille als Ding an sich ist von seiner Erscheinung gänzlich verschieden und völlig frei von allen Formen derselben, in welche er eben erst eingeht, indem er erscheint, die daher nur seine Objektität betreffen, ihm selbst fremd sind. Schon die allgemeinste Form aller Vorstellung, die des Objekts für ein Subjekt, trifft ihn nicht; noch weniger die dieser untergeordneten, welche insgesammt ihren gemeinschaftlichen Ausdruck im Satz vom Grunde haben, wohin bekanntlich auch Zeit und Raum gehören, und folglich auch die durch diese allein bestehende und möglich gewordene Vielheit. In dieser letztern Hinsicht werde ich, mit einem aus der alten eigentlichen Scholastik entlehnten Ausdruck, Zeit und Raum das principium individuationis nennen, welches ich ein für alle Mal zu merken bitte. Denn Zeit und Raum allein sind es, mittelst welcher das dem Wesen und dem Begriff nach Gleiche und Eine doch als verschieden, als Vielheit neben und nach einander erscheint: sie sind folglich das principium individuationis, der Gegenstand so vieler Grübeleien und Streitigkeiten der Scholastiker, welche man im Suarez (Disp5, sect.3) beisammen findet. – Der Wille als Ding an sich liegt, dem Gesagten zufolge, außerhalb des Gebietes des Satzes vom Grund in allen seinen Gestaltungen, und ist folglich schlechthin grundlos, obwohl jede seiner Erscheinungen durchaus dem Satz vom Grunde unterworfen ist: er ist ferner frei von aller Vielheit, obwohl seine Erscheinungen in Zeit und Raum unzählig sind: er selbst ist Einer: jedoch nicht wie ein Objekt Eines ist, dessen Einheit nur im Gegensatz der möglichen Vielheit erkannt wird: noch auch wie ein Begriff Eins ist, der nur durch Abstraktion von der Vielheit entstanden ist: sondern er ist Eines als das, was außer Zeit und Raum, dem principio individuationis, d.i. der Möglichkeit der Vielheit, liegt. Erst wenn uns dieses alles durch die folgende Betrachtung der Erscheinungen und verschiedenen Manifestationen des Willens völlig deutlich geworden seyn wird, werden wir den Sinn der Kantischen Lehre völlig verstehn, daß Zeit, Raum und Kausalität nicht dem Dinge an sich zukommen, sondern nur Formen des Erkennens sind.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 134-135).

„Die Grundlosigkeit des Willens hat man auch wirklich da erkannt, wo er sich am deutlichsten manifestirt, als Wille des Menschen, und diesen frei, unabhängig genannt. Sogleich hat man aber auch, über die Grundlosigkeit des Willens selbst, die Nothwendigkeit, der seine Erscheinung überall unterworfen ist, übersehn, und die Thaten für frei erklärt, was sie nicht sind, da jede einzelne Handlung aus der Wirkung des Motivs auf den Charakter mit strenger Nothwendigkeit folgt. Alle Nothwendigkeit ist, wie schon gesagt, Verhältniß der Folge zum Grunde und durchaus nichts weiter. Der Satz vom Grunde ist allgemeine Form aller Erscheinung, und der Mensch in seinem Thun muß, wie jede andere Erscheinung, ihm unterworfen seyn. Weil aber im Selbstbewußtseyn der Wille unmittelbar und an sich erkannt wird, so liegt auch in diesem Bewußtseyn das der Freiheit. Allein es wird übersehn, daß das Individuum, die Person, nicht Wille als Ding an sich, sondern schon Erscheinung des Willens ist, als solche schon determinirt und in die Form der Erscheinung, den Satz vom Grund, eingegangen. Daher kommt die wunderliche Thatsache, daß Jeder sich a priori für ganz frei, auch in seinen einzelnen Handlungen, hält und meint, er könne jeden Augenblick einen andern Lebenswandel anfangen, welches hieße ein Anderer werden. Allein a posteriori, durch die Erfahrung, findet er zu seinem Erstaunen, daß er nicht frei ist, sondern der Nothwendigkeit unterworfen, daß er, aller Vorsätze und Reflexionen ungeachtet, sein Thun nicht ändert, und vom Anfang seines Lebens bis zum Ende den selben von ihm selbst mißbilligten Charakter durchführen und gleichsam die übernommene Rolle bis zu Ende spielen muß. Ich kann diese Betrachtung hier nicht weiter ausführen, da sie als ethisch an eine andere Stelle die ser Schrift gehört. Hier wünsche ich inzwischen nur darauf hinzuweisen, daß die Erscheinung des an sich grundlosen Willens doch als solche dem Gesetz der Nothwendigkeit, d.i. dem Satz vom Grunde, unterworfen ist; damit wir an der Nothwendigkeit, mit welcher die Erscheinungen der Natur erfolgen, keinen Anstoß nehmen, in ihnen die Manifestationen des Willens zu erkennen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 135-136).

 

§ 27

„Wenn von den Erscheinungen des Willens, auf den niedrigeren Stufen seiner Objektivation, also im Unorganischen, mehrere unter einander in Konflikt gerathen, indem jede, am Leitfaden der Kausalität, sich der vorhandenen Materie bemächtigen will; so geht aus diesem Streit die Erscheinung einer hohem Idee hervor, welche die vorhin dagewesenen unvollkommeneren alle überwältigt, jedoch so, daß sie das Wesen derselben auf eine untergeordnete Weise bestehn läßt, indem sie ein Analogon davon in sich aufnimmt; welcher Vorgang eben nur aus der Identität des erscheinenden Willens in allen Ideen und aus seinem Streben zu immer höherer Objektivation begreiflich ist. Wir sehn daher z.B. im Festwerden der Knochen ein unverkennbares Analogen der Krystallisation, als welche ursprünglich den Kalk beherrschte, obgleich die Ossifikation nie auf Krystallisation zurückzuführen ist. Schwächer zeigt sich diese Analogie im Festwerden des Fleisches. So auch ist die Mischung der Säfte im thierischen Körper und die Sekretion ein Analogen der chemischen Mischung und Abscheidung, sogar wirken die Gesetze dieser dabei noch fort, aber untergeordnet, sehr modificirt, von einer hohem Idee überwältigt; daher bloß chemische Kräfte, außerhalb des Organismus, nie solche Säfte liefern werden; sondern Encheiresin naturae nennt es die Chemie, // Spottet ihrer selbst und weiß nicht wie.““ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 166).

 

§ 54

„Vor Allem müssen wir deutlich erkennen, daß die Form der Erscheinung des Willens, also die Form des Lebens oder der Realität, eigentlich nur die Gegenwart ist, nicht Zukunft, noch Vergangenheit: diese sind nur im Begriff, sind nur im Zusammenhange der Erkenntniß da, sofern sie dem Satz vom Grunde folgt. In der Vergangenheit hat kein Mensch gelebt, und in der Zukunft wird nie einer leben; sondern die Gegenwart allein ist die Form alles Lebens, ist aber auch sein sicherer Besitz, der ihm nie entrissen werden kann. Die Gegenwart ist immer da, samt ihrem Inhalt: Beide stehn fest, ohne zu wanken; wie der Regenbogen auf dem Wasserfall. Denn dem Willen ist das Leben, dem Leben die Gegenwart sicher und gewiß. – Freilich, wenn wir zurückdenken an die verflossenen Jahrtausende, an die Millionen von Menschen, die in ihnen lebten; dann fragen wir: Was waren sie? Was ist aus ihnen geworden? – Aber wir dürfen dagegen nur die Vergangenheit unsers eigenen Lebens uns zurückrufen und ihre Scenen lebhaft in der Phantasie erneuern, und nun wieder fragen: Was war dies alles? Was ist aus ihm geworden? – Wie mit ihm, so ist es mit dem Leben jener Millionen. Oder sollten wir meinen, die Vergangenheit erhielte dadurch, daß sie durch den Tod besiegelt ist, ein neues Daseyn? Unsere eigene Vergangenheit, auch die nächste und der gestrige Tag, ist nur noch ein nichtiger Traum der Phantasie, und das Selbe ist die Vergangenheit aller jener Millionen. Was war? Was ist? – Der Wille, dessen Spiegel das Leben ist, und das willensfreie Erkennen, welches in jenem Spiegel ihn deutlich erblickt. Wer Dies noch nicht erkannt hat, oder nicht erkennen will, muß zu jener obigen Frage nach dem Schicksal vergangener Geschlechter, auch noch diese fügen: warum gerade er, der Fragende, so glücklich ist, diese kostbare, flüchtige, allein reale Gegenwart inne zu haben, während jene Hunderte von Menschengeschlechtern, ja auch die Helden und Weisen jener Zeiten, in die Nacht der Vergangenheit gesunken und dadurch zu Nichts geworden sind; er aber, sein unbedeutendes Ich, wirklich da ist? – oder kürzer, wenn gleich sonderbar: warum dies Jetzt, sein Jetzt, – doch gerade jetzt ist und nicht auch schon längst war? – Er sieht, indem er so seltsam fragt, sein Daseyn und seine Zeit als unabhängig von einander an und jenes als in diese hineingeworfen: er nimmt eigentlich zwei Jetzt an, eines das dem Objekt, das andere, das dem Subjekt angehört, und wundert sich über den glücklichen Zufall ihres Zusammentreffens. In Wahrheit aber macht (wie in der Abhandlung über den Satz vom Grunde gezeigt ist) nur der Berührungspunkt des Objekts, dessen Form die Zeit ist, mit dem Subjekt, welches keine Gestaltung des Satzes vom Grunde zur Form hat, die Gegenwart aus. Nun ist aber alles Objekt der Wille, sofern er Vorstellung geworden, und das Subjekt ist das nothwendige Korrelat alles Objekts; reale Objekte giebt es aber nur in der Gegenwart: Vergangenheit und Zukunft enthalten bloße Begriffe und Phantasmen, daher ist die Gegenwart die wesentliche Form der Erscheinung des Willens und von dieser unzertrennlich. Die Gegenwart allein ist Das, was immer da ist und unverrückbar feststeht. Empirisch aufgefaßt das Flüchtigste von Allem, stellt sie dem metaphysischen Blick, der über die Formen der empirischen Anschauung hinwegsieht, sich als das allein Beharrende dar, das Nunc stans der Scholastiker. Die Quelle und der Träger ihres Inhalts ist der Wille zum Leben, oder das Ding an sich, – welches wir sind. Das, was immerfort wird und vergeht, indem es entweder schon gewesen ist, oder noch kommen soll, gehört der Erscheinung als solcher an, vermöge ihrer Formen, welche das Entstehn und Vergehn möglich machen. Demnach denke man: Quid fuit? – Quod est. – Quid erit? – Quod fuit; und nehme es im strengen Sinn der Worte, verstehe also nicht simile, sondern idem. Denn dem Willen ist das Leben, dem Leben die Gegenwart gewiß. Daher auch kann Jeder sagen: »Ich bin ein für alle Mal Herr der Gegenwart, und durch alle Ewigkeit wird sie mich begleiten, wie mein Schatten: demnach wundere ich mich nicht, wo sie nur hergekommen sei, und wie es zugehe, daß sie gerade jetzt sei.« – Wir können die Zeit einem endlos drehenden Kreise vergleichen: die stets sinkende Hälfte wäre die Vergangenheit, die stets steigende die Zukunft; oben aber der untheilbare Punkt, der die Tangente berührt, wäre die ausdehnungslose Gegenwart: wie die Tangente nicht mit fortrollt, so auch nicht die Gegenwart, der Berührungspunkt des Objekts, dessen Form die Zeit ist, mit dem Subjekt, das keine Form hat, weil es nicht zum Erkennbaren gehört, sondern Bedingung alles Erkennbaren ist. Oder: die Zeit gleicht einem unaufhaltsamen Strohm, und die Gegenwart einem Felsen, an dem sich jener bricht, aber nicht ihn mit fortreißt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 294-296).

„Der Wille, als Ding an sich, ist so wenig, als das Subjekt der Erkenntniß, welches zuletzt doch in gewissem Betracht er selbst oder seine Aeußerung ist, dem Satze vom Grunde unterworfen; und wie dem Willen das Leben, seine eigene Erscheinung, gewiß ist, so ist es auch die Gegenwart, die einzige Form des wirklichen Lebens. Wir haben demnach nicht nach der Vergangenheit vor dem Leben, noch nach der Zukunft nach dem Tode zu forschen: vielmehr haben wir als die einzige Form, in welcher der Wille sich erscheint, die Gegenwart zu erkennen76; sie wird ihm nicht entrinnen, aber er ihr wahrlich auch nicht. Wen daher das Leben, wie es ist, befriedigt, wer es auf alle Weise bejaht, der kann es mit Zuversicht als endlos betrachten und die Todesfurcht als eine Täuschung bannen, welche ihm die ungereimte Furcht eingiebt, er könne der Gegenwart je verlustig werden, und ihm eine Zeit vorspiegelt ohne eine Gegenwart darin: eine Täuschung, welche in Hinsicht auf die Zeit Das ist, was in Hinsicht auf den Raum jene andere, vermöge welcher Jeder, in seiner Phantasie, die Stelle auf der Erdkugel, welche er gerade einnimmt, als das Oben und alles Uebrige als das Unten ansieht: eben so knüpft Jeder die Gegenwart an seine Individualität und meint, mit dieser verlösche alle Gegenwart; Vergangenheit und Zukunft seien nun ohne dieselbe. Wie aber auf der Erdkugel überall oben ist, so ist auch die Form alles Lebens Gegenwart, und den Tod fürchten, weil er uns die Gegenwart entreißt, ist nicht weiser, als fürchten, man könne von der runden Erdkugel, auf welcher man glücklicherweise nun gerade oben steht, hinuntergleiten. Der Objektivation des Willens ist die Form der Gegenwart wesentlich, welche als ausdehnungsloser Punkt die nach beiden Seiten unendliche Zeit schneidet und unverrückbar fest steht, gleich einem Immerwährenden Mittag, ohne kühlenden Abend; wie die wirkliche Sonne ohne Unterlaß brennt, während sie nur scheinbar in den Schooß der Nacht sinkt: daher, wenn ein Mensch den Tod als seine Vernichtung fürchtet, es nicht anders ist, als wenn man dächte, die Sonne könne am Abendklagen: »Wehe mir! ich gehe unter in ewige Nacht.« (**) – Hingegen auch umgekehrt: wen die Lasten des Lebens drücken, wer zwar wohl das Leben möchte und es bejaht, aber die Quaalen desselben verabscheut, und besonders das harte Loos, das gerade ihm zugefallen ist, nicht länger tragen mag: ein solcher hat nicht vom Tode Befreiung zu hoffen und kann sich nicht durch Selbstmord retten; nur mit falschem Scheine lockt ihn der finstere kühle Orkus als Hafen der Ruhe. Die Erde wälzt sich vom Tage in die Nacht; das Individuum stirbt; aber die Sonne selbst brennt ohne Unterlaß ewigen Mittag. Dem Willen zum Leben ist das Leben gewiß: die Form des Lebens ist Gegenwart ohne Ende; gleichviel wie die Individu en, Erscheinungen der Idee, in der Zeit entstehn und vergehn, flüchtigen Träumen zu vergleichen. – Der Selbstmord erscheint uns also schon hier als eine vergebliche und darum thörichte Handlung: wenn wir in unserer Betrachtung weiter vorgedrungen seyn werden, wird er sich uns in einem noch ungünstigem Lichte darstellen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 296-297).


„In Eckermann's »Gesprächen mit Goethe« (zweite Auflage, Bd. 1, S. 154) sagt Goethe: »Unser Geist ist ein Wesen ganz unzerstörbarer Natur: es ist ein Fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unsern irdischen Augen unterzugehn scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet.« – Goethe hat das Gleichniß von mir; nicht etwan ich von ihm. Ohne Zweifel gebraucht er es, in diesem 1824 gehaltenen Gespräch, in Folge einer, vielleicht unbewußten, Reminiscenz obiger Stelle; da solche, mit den selben Worten wie hier, in der ersten Auflage, S. 401, steht; auch eben daselbst S. 528, wie hier am Schlusse des § 65, wiederkehrt. Jene erste Auflage war ihm im December 1818 übersandt worden, und im März 1819 ließ er mir nach Neapel, wo ich mich damals befand, seinen Beifall, durch meine Schwester, brieflich berichten, und hatte einen Zettel beigelegt, worauf er die Zahlen einiger Seiten, welche ihm besonders gefallen, angemerkt hatte: also hatte er mein Buch gelesen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 297).

 

§ 56

„Wir haben längst dieses den Kern und das Ansich jedes Dinges ausmachende Streben als das selbe und nämliche erkannt, was in uns, wo es sich am deutlichsten, am Lichte des vollesten Bewußtseins manifestirt, Wille heißt. Wir nennen dann seine Hemmung durch ein Hindernis, welches sich zwischen ihn und sein einstweiliges Ziel stellt, Leiden; hingegen sein Erreichen des Ziels Befriedigung, Wohlseyn, Glück. Wir können diese Benennungen auch auf jene, dem Grade nach schwachem, dem Wesen nach identischen Erscheinungen der erkenntnißlosen Welt übertragen. Diese sehn wir alsdann in stetem Leiden begriffen und ohne bleibendes Glück. Denn alles Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, so lange es nicht befriedigt ist; keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens. Das Streben sehn wir überall vielfach gehemmt, überall kämpfend; so lange also immer als Leiden: kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maaß und Ziel des Leidens.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 325).

 

§ 57

„Auf jeder Stufe, welche die Erkenntniß beleuchtet, erscheint sich der Wille als Individuum. Im unendlichen Raum und unendlicher Zeit findet das menschliche Individuum sich als endliche, folglich als eine gegen Jene verschwindende Größe, in sie hineingeworfen und hat, wegen ihrer Unbegränztheit, immer nur ein relatives, nie ein absolutes Wann und Wo seines Daseyns: denn sein Ort und seine Dauer sind endliche Theile eines Unendlichen und Gränzenlosen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 326-327 ).

„Das Leben der Allermeisten ist auch nur ein steter Kampf um diese Existenz selbst, mit der Gewißheit ihn zuletzt zu verlieren. Was sie aber in diesem so mühsäligen Kampfe ausdauern läßt, ist nicht sowohl die Liebe zum Leben, als die Furcht vor dem Tode, der jedoch als unausweichbar im Hintergrunde steht und jeden Augenblick herantreten kann. – Das Leben selbst ist ein Meer voller Klippen und Strudel, die der Mensch mit der größten Behutsamkeit und Sorgfalt vermeidet, obwohl er weiß, daß, wenn es ihm auch gelingt, mit aller Anstrengung und Kunst sich durchzuwinden, er eben dadurch mit jedem Schritt dem größten, dem totalen, dem unvermeidlichen und unheilbaren Schiffbruch näher kommt, ja gerade auf ihn zusteuert, – dem Tode: dieser ist das endliche Ziel der mühsäligen Fahrt und für ihn schlimmer als alle Klippen, denen er auswich.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 328).

„Nun ist es aber sogleich sehr bemerkenswerth, daß einerseits die Leiden und Quaalen des Lebens leicht so anwachsen können, daß selbst der Tod, in der Flucht vor welchem das ganze Leben besteht, wünschenswerth wird und man freiwillig zu ihm eilt; und andererseits wieder, daß sobald Noth und Leiden dem Menschen eine Rast vergönnen, die Langeweile gleich so nahe ist, daß er des Zeitvertreibes nothwendig bedarf. Was alle Lebenden beschäftigt und in Bewegung erhält, ist das Streben nach Daseyn. Mit dem Daseyn aber, wenn es ihnen gesichert ist, wissen sie nichts anzufangen: daher ist das Zweite, was sie in Bewegung setzt, das Streben, die Last des Daseyns los zu werden, es unfühlbar zu machen, »die Zeit zu tödten«, d.h. der Langenweile zu entgehn. Demgemäß sehn wir, daß fast alle vor Noth und Sorgen geborgene Menschen, nachdem sie nun endlich alle andern Lasten abgewälzt haben, jetzt sich selbst zur Last sind und nun jede durchgebrachte Stunde für Gewinn achten, also jeden Abzug von eben jenem Leben, zu dessen möglichst langer Erhaltung sie bis dahin alle Kräfte aufboten.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 328-329).

 

$ 58

„Alle Befriedigung, oder was man gemeinhin Glück nennt, ist eigentlich und wesentlich immer nur negativ und durchaus nie positiv. Es ist nicht eine ursprünglich und von selbst auf uns kommende Beglückung, sondern muß immer die Befriedigung eines Wunsches seyn. Denn Wunsch, d.h. Mangel, ist die vorhergehende Bedingung jedes Genusses. Mit der Befriedigung hört aber der Wunsch und folglich der Genuß auf. Daher kann die Befriedigung oder Beglückung nie mehr seyn, als die Befreiung von einem Schmerz, von einer Noth: denn dahin gehört nicht nur jedes wirkliche, offenbare Leiden, sondern auch jeder Wunsch, dessen Importunität unsere Ruhe stört, ja sogar auch die ertödtende Langeweile, die uns das Daseyn zur Last macht.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 335).

 

§ 63

„Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegrenzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 368-369).

„Aus dieser Ahndung stammt jenes so unvertilgbare und allen Menschen (ja vielleicht selbst den klügeren Thieren) gemeinsame Grausen, das sie plötzlich ergreift, wenn sie, durch irgend einen Zufall, irre werden am principio individuationis, indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint: z.B. wenn es scheint, daß irgend eine Veränderung ohne Ursache vor sich gienge, oder ein Gestorbener wieder dawäre, oder sonst irgendwie das Vergangene oder das Zukünftige gegenwärtig, oder das Ferne nah wäre. Das ungeheure Entsetzen über so etwas gründet sich darauf, daß sie plötzlich irre werden an den Erkenntnißformen der Erscheinungen, welche allein ihr eigenes Individuum von der übrigen Welt gesondert halten. Diese Sonderung aber eben liegt nur in der Erscheinung und nicht im Dinge an sich: eben darauf beruht die ewige Gerechtigkeit.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 369).

 

§ 71

„Vor uns bleibt allerdings nur das Nichts. Aber Das, was sich gegen dieses Zerfließen ins Nichts sträubt, unsere Natur, ist ja eben nur der Wille zum Leben, der wir selbst sind, wie er unsere Welt ist. Daß wir so sehr das Nichts verabscheuen, ist nichts weiter, als ein anderer Ausdruck davon, daß wir so sehr das Leben wollen, und nichts sind, als dieser Wille, und nichts kennen, als eben ihn. – Wenden wir aber den Blick von unserer eigenen Dürftigkeit und Befangenheit auf Diejenigen, welche die Welt überwanden, in denen der Wille, zur vollen Selbsterkenntniß gelangt, sich in Allem wiederfand und dann sich selbst frei verneinte, und welche dann nur noch seine letzte Spur, mit dem Leibe, den sie belebt, verschwinden zu sehn abwarten; so zeigt sich uns, statt des rastlosen Dranges und Treibens, statt des steten Ueberganges von Wunsch zu Furcht und von Freude zu Leid, statt der nie befriedigten und nie ersterbenden Hoffnung, daraus der Lebenstraum des wollenden Menschen besteht, jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüths, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz, wie ihn Raphael und Correggio dargestellt haben, ein ganzes und sicheres Evangelium ist: nur die Erkenntniß ist geblieben, der Wille ist verschwunden. Wir aber blicken dann mit tiefer und schmerzlicher Sehnsucht auf diesen Zustand, neben welchem das Jammervolle und Heillose unsers eigenen, durch den Kontrast, in vollem Lichte erscheint. Dennoch ist diese Betrachtung die einzige, welche uns dauernd trösten kann, wann wir einerseits unheilbares Leiden und endlosen Jammer als der Erscheinung des Willens, der Welt, wesentlich erkannt haben, und andererseits, bei aufgehobenem Willen, die Welt zerfließen sehn und nur das leere Nichts vor uns behalten. Also auf diese Weise, durch Betrachtung des Lebens und Wandels der Heiligen, welchen in der eigenen Erfahrung zu begegnen freilich selten vergönnt ist, aber welche ihre aufgezeichnete Geschichte und, mit dem Stämpel innerer Wahrheit verbürgt, die Kunst uns vor die Augen bringt, haben wir den finstern Eindruck jenes Nichts, das als das letzte Ziel hinter aller Tugend und Heiligkeit schwebt, und das wir, wie die Kinder das Finstere, fürchten, zu verscheuchen; statt selbst es zu umgehn, wie die Inder, durch Mythen und bedeutungsleere Worte, wie Resorbtion in das Brahm, oder Nirwana der Buddhaisten.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 426).

„Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 426).

 

NACH OBEN Anhang 

Kritik der Kantischen Philosophie

Kants größtes Verdienst ist die Unterscheidung der Erscheinung vom Dinge an sich, – auf Grund der Nachweisung, daß zwischen den Dingen und uns immer noch der Intellekt steht, weshalb sie nicht nach dem, was sie an sich selbst seyn mögen, erkannt werden können.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 450).

„Dem Einfachen steht ... nicht das Zusammengesetzte, sondern das Extendirte, das Theilehabende, das Theilbare gegenüber.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 507).

„ Man mißversteht sich ... selbst, wenn man das Unendliche, welcher Art es auch sei, als ein objektiv Vorhandenes und Fertiges, und unabhängig vom Regressus zu denken vermeint.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 511).

„Nachdem wir das Ding an sich als den Willen erkannt haben. Ueberhaupt liegt hier der Punkt, wo Kants Philosophie auf die meinige hinleitet, oder wo diese aus ihr als ihrem Stamm hervorgeht. Hievon wird man sich überzeugen, wenn man in der Kritik der reinen Vernunft, S. 356 und 537; v, 564 und 565, mit Aufmerksamkeit liest: mit dieser Stelle vergleiche man noch die Einleitung zur Kritik der Urtheilskraft, S. XVIII und XIX der dritten, oder S. 13 der Rosenkranzischen Ausgabe, wo es sogar heißt: »Der Freiheitsbegriff kann in seinem Objekt (das ist denn doch der Wille) ein Ding an sich, aber nicht in der Anschauung, vorstellig machen; dagegen der Naturbegriff seinen Gegenstand zwar in der Anschauung, aber nicht als Ding an sich vorstellig machen kann.« Besonders aber lese man über die Auflösung der Antinomien den § 53 der Prolegomena und beantworte dann aufrichtig die Frage, ob alles dort Gesagte nicht lautet wie ein Räthsel, zu welchem meine Lehre das Wort ist. Kant ist mit seinem Denken nicht zu Ende gekommen: ich habe bloß seine Sache durchgeführt. Demgemäß habe ich was Kant von der menschlichen Erscheinung allein sagt auf alle Erscheinung überhaupt, als welche von jener nur dem Grade nach verschieden ist, übertragen, nämlich daß das Wesen an sich derselben ein absolut Freies, d.h. ein Wille ist. Wie fruchtbar aber diese Einsicht im Verein mit Kants Lehre von der Idealität des Raumes, der Zeit und der Kausalität ist, ergiebt sich aus meinem Werk.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 512-513).

„. Die Welt selbst ist allein aus dem Willen (da sie eben er selbst ist, sofern er erscheint) zu erklären und nicht durch Kausalität. Aber in der Welt ist Kausalität das einzige Princip der Erklärung und geschieht Alles lediglich nach Gesetzen der Natur.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 518).

„Bis auf Kant stand ein wirkliches Dilemma fest zwischen Materialismus und Theismus, d.h. zwischen der Annahme, daß ein blinder Zufall, oder daß eine von außen ordnende Intelligenz nach Zwecken und Begriffen, die Welt zu Stande gebracht hätte, neque dabatur tertium.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 523).

„Es ist gewiß keines der geringsten Verdienste Friedrichs des Großen, daß unter seiner Regierung Kant sich entwickeln konnte und die »Kritik der reinen Vernunft« veröffentlichen durfte. Schwerlich würde unter irgend einer andern Regierung ein besoldeter Professor so etwas gewagt haben. Schon dem Nachfolger des großen Königs mußte Kant versprechen, nicht mehr zu schreiben.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 524).

„Und Cicero setzt (De nat. Deor., III, c. 26-31) weitläuftig auseinander, daß Vernunft das nothwendige Mittel und Werkzeug zu allen Verbrechen ist.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 528).

„Für das Vermögen der Begriffe habe ich die Vernunft erklärt. Diese ganz eigene Klasse allgemeiner, nicht anschaulicher, nur durch Worte symbolisirter und fixirter Vorstellungen ist es, die den Menschen vom Thiere unterscheidet und ihm die Herrschaft auf Erden giebt. “ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 528).

„Der Inhalt des absoluten Solls, das Grundgesetz der praktischen Vernunft, ist nun das Gerühmte: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.« – Dieses Princip giebt Dem, welcher ein Regulativ für seinen eigenen Willen verlangt, die Aufgabe gar eines für den Willen Aller zu suchen. – Dann fragt sich, wie ein solches zu finden sei. Offenbar soll ich, um die Regel meines Verhaltens aufzufinden, nicht mich allein berücksichtigen, sondern die Gesammtheit aller Individuen. Alsdann wird, statt meines eigenen Wohlseins, das Wohlseyn Aller, ohne Unterschied, mein Zweck. Derselbe bleibt aber noch immer Wohlseyn. Ich finde sodann, daß Alle sich nur so gleich wohl befinden können, wenn Jeder seinem Egoismus den fremden zur Schranke setzt. Hieraus folgt freilich, daß ich Niemanden beeinträchtigen soll, weil, indem dies Princip als allgemein angenommen wird, auch ich nicht beeinträchtigt werde, welches aber der alleinige Grund ist, weshalb ich, ein Moralprincip noch nicht besitzend, sondern erst suchend, dieses zum allgemeinen Gesetz wünschen kann. Aber offenbar bleibt, auf diese Weise, Wunsch nach Wohlseyn, d.h. Egoismus, die Quelle dieses ethischen Princips. Als Basis der Staatslehre wäre es vortrefflich, als Basis der Ethik taugt es nicht. Denn zu der in jenem Moralprincip aufgegebenen Festsetzung eines Regulativs für den Willen Aller, bedarf, der es sucht, nothwendig selbst wieder eines Regulativs, sonst wäre ihm ja Alles gleichgültig. Dies Regulativ aber kann nur der eigene Egoismus seyn, da nur auf diesen das Verhalten Anderer einfließt, und daher nur mittelst desselben und in Rücksicht auf ihn, Jener einen Willen in Betreff des Handelns Anderer haben kann und es ihm nicht gleichgültig ist. Sehr naiv giebt Kant dieses selbst zu erkennen, S. 123 der »Kritik der praktischen Vernunft« (Rosenkranzische Ausgabe, S. 192), wo er das Aufsuchen der Maxime für den Willen also ausführt: »Wenn Jeder Anderer Noth mit völliger Gleichgültigkeit ansähe, und du gehörtest mit zu einer solchen Ordnung der Dinge, würdest du darin willigen?« – Quam temere in nosmet legem sancimus iniquam! wäre das Regulativ der nachgefragten Einwilligung. Eben so in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, S. 56 der dritten, S. 50 der Rosenkranzischen Ausgabe: »Ein Wille, der beschlösse. Niemanden in der Noth beizustehn, würde sich widerstreiten, indem sich Fälle ereignen können, wo er Anderer Liebe und Theilnahme bedarf« u.s.w. Dieses Princip der Ethik, welches daher, beim Licht betrachtet, nichts Anderes, als ein indirekter und verblümter Ausdruck des alten, einfachen Grundsatzes, quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris ist, bezieht sich also zuerst und unmittelbar auf das Passive, das Leiden, und dann erst vermittelst dieses auf das Thun: daher wäre es, wie gesagt, als Leitfaden zur Errichtung des Staats, welcher auf die Verhütung des Unrechtleidens gerichtet ist, auch Allen und Jedem die größte Summe von Wohlseyn verschaffen möchte, ganz brauchbar; aber in der Ethik, wo der Gegenstand der Untersuchung das Thun als Thun und in seiner unmittelbaren Bedeutung für den Thäter ist, nicht aber seine Folge, das Leiden, oder seine Beziehung auf Andere, ist jene Rücksicht durchaus nicht zulässig, indem sie im Grunde doch wieder auf ein Glücksäligkeitsprincip, also auf Egoismus, hinausläuft.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 534-536).

„ Die schon von Platon und Seneka behandelte Frage, ob die Tugend sich lehren lasse, ist zu verneinen. Man wird sich endlich entschließen müssen einzusehn, was auch der Christlichen Lehre von der Gnadenwahl den Ursprung gab, daß, der Hauptsache und dem Innern nach, die Tugend gewissermaaßen wie der Genius angeboren ist, und daß eben so wenig, als alle Professoren der Aesthetik, mit vereinten Kräften, irgend Einem die Fähigkeit genialer Produktionen, d.h. achter Kunstwerke beibringen können, eben so wenig alle Professoren der Ethik und Prediger der Tugend einen unedeln Charakter zu einem tugendhaften, edeln umzuschaffen vermögen, wovon die Unmöglichkeit sehr viel offenbarer ist, als die der Umwandlung des Bleies in Gold; und das Aufsuchen einer Ethik und eines obersten Princips derselben, die praktischen Einfluß hätten und wirklich das Menschengeschlecht umwandelten und besserten, ist ganz gleich dem Suchen des Steines der Weisen. – Von der Möglichkeit jedoch einer gänzlichen Sinnesänderung des Menschen (Wiedergeburt), nicht mittelst abstrakter (Ethik), sondern mittelst intuitiver Erkenntniß (Gnadenwirkung), ist am Ende unsers vierten Buches ausführlich geredet; der Inhalt welches Buches mich überhaupt der Nothwendigkeit überhebt, hiebei länger zu verweilen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 537).

„Daß Kant in die eigentliche Bedeutung des ethischen Gehaltes der Handlungen keineswegs eingedrungen sei, zeigt er endlich auch durch seine Lehre vom höchsten Gut als der nothwendigen Vereinigung von Tugend und Glücksäligkeit und zwar so, daß jene die Würdigkeit zu dieser wäre. Schon der logische Tadel trifft ihn hier, daß der Begriff der Würdigkeit, der hier den Maaßstab macht, bereits eine Ethik als seinen Maaßstab voraussetzt, also nicht von ihm ausgegangen werden durfte. In unserm vierten Buche hat sich ergeben, daß alle ächte Tugend, nachdem sie ihren höchsten Grad erreicht hat, zuletzt hinleitet zu einer völligen Entsagung, in der alles Wollen ein Ende findet: hingegen ist Glücksäligkeit ein befriedigtes Wollen, Beide sind also von Grund aus unvereinbar. Für Den, welchem meine Darstellung eingeleuchtet hat, bedarf es weiter keiner Auseinandersetzung der gänzlichen Verkehrtheit dieser Kantischen Ansicht vom höchsten Gut. Und unabhängig von meiner positiven Darstellung habe ich hier weiter keine negative zu geben.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 537).

 

NACH OBEN Ergänzungen  zum zweiten Buch

Kapitel 18 (dieses Kapitel bezieht sich auf § 18 des 1. Bandes): Von der Erkennbarkeit des Dinges an sich.

Wille und Intellekt
Diese Graphik ist   n i c h t
von Arthur Schopenhauer,
sondern von mir !     HB

„Zu diesem Buche, welches den eigenthümlichsten und wichtigsten Schritt meiner Philosophie, nämlich den von Kant als unmöglich aufgegebenen Uebergang von der Erscheinung zum Dinge an sich, enthält, habe ich die wesentlichste Ergänzung schon 1835 veröffentlicht, unter dem Titel »Ueber den Willen in der Natur« (**). Man würde sehr irren, wenn man die fremden Aussprüche, an welche ich dort meine Erläuterungen geknüpft habe, für den eigentlichen Stoff und Gegenstand jener dem Umfang nach kleinen, dem Inhalt nach wichtigen Schrift halten wollte: vielmehr sind diese bloß der Anlaß, von welchem ausgehend ich daselbst jene Grundwahrheit meiner Lehre mit so großer Deutlichkeit, wie sonst nirgends, erörtert und bis zur empirischen Naturerkenntniß herabgeführt habe. Und zwar ist dies am erschöpfendesten und stringentesten unter der Rubrik »Physische Astronomie« geschehn; so daß ich nicht hoffen darf, jemals einen richtigeren und genaueren Ausdruck jenes Kernes meiner Lehre zu finden, als der daselbst niedergelegte ist. Wer meine Philosophie gründlich kennen und ernstlich prüfen will, hat daher vor Allem die besagte Rubrik zu berücksichtigen. Ueberhaupt also würde Alles in jener kleinen Schrift Gesagte den Hauptinhalt gegenwärtiger Ergänzungen ausmachen, wenn es nicht, als ihnen vorangegangen, ausgeschlossen bleiben müßte; wogegen ich es nun aber hier als bekannt voraussetze, indem sonst gerade das Beste fehlen würde.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 723-724).

„Zunächst will ich jetzt, von einem allgemeinern Standpunkt aus, über den Sinn, in welchem von einer Erkenntniß des Dinges an sich die Rede seyn kann und über die nothwendige Beschränkung desselben einige Betrachtungen voranschicken.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 724).

„Was ist Erkenntniß? – Sie ist zunächst und wesentlich Vorstellung. – Was ist Vorstellung? – Ein sehr komplicirter physiologischer Vorgang im Gehirne eines Thiers, dessen Resultat das Bewußtseyn eines Bildes eben daselbst ist. – Offenbar kann die Beziehung eines solchen Bildes auf etwas von dem Thiere, in dessen Gehirn es dasteht, gänzlich Verschiedenes nur eine sehr mittelbare seyn. – Dies ist vielleicht die einfachste und faßlichste Art, die tiefe Kluft zwischen dem Idealen und Realen aufzudecken. Diese nämlich gehört zu den Dingen, deren man, wie der Bewegung der Erde, nicht unmittelbar inne wird: darum hatten die Alten sie, wie eben auch diese, nicht bemerkt. Hingegen, von Cartesius zuerst, ein Mal nachgewiesen, hat sie seitdem den Philosophen keine Ruhe gegönnt. Nachdem aber zuletzt Kant die völlige Diversität des Idealen und Realen am allergründlichsten dargethan, war es ein so kecker, wie absurder, jedoch auf die Urtheilskraft des philosophischen Publikums in Deutschland ganz richtig berechneter und daher von glänzendem Erfolg gekrönter Versuch, durch, auf angebliche intellektuale Anschauung sich berufende, Machtansprüche, die absolute Identität Beider behaupten zu wollen. – In Wahrheit hingegen ist ein subjektives und ein objektives Daseyn, ein Seyn für sich und ein Seyn für Andere, ein Bewußtseyn des eigenen Selbst und ein Bewußtseyn von andern Dingen, uns unmittelbar gegeben, und Beide sind es auf so grundverschiedene Weise, daß keine andere Verschiedenheit dieser gleich kommt. Von sich weiß Jeder unmittelbar, von allem Andern nur sehr mittelbar. Dies ist die Thatsache und das Problem.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 724).

„Hingegen ob, durch fernere Vorgänge im Innern eines Gehirns, aus den darin entstandenen anschaulichen Vorstellungen oder Bildern Allgemeinbegriffe (Universalia) abstrahirt werden, zum Behuf fernerer Kombinationen, wodurch das Erkennen ein vernünftiges wird und nunmehr Denken heißt, – dies ist hier nicht mehr das Wesentliche, sondern von untergeordneter Bedeutung. Denn alle solche Begriffe entlehnen ihren Inhalt allein aus der anschaulichen Vorstellung, welche daher Urerkenntniß ist und also bei Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem Idealen und dem Realen allein in Betracht kommt. Demnach zeugt es von gänzlicher Unkenntniß des Problems, oder ist wenigstens sehr ungeschickt, jenes Verhältniß bezeichnen zu wollen als das zwischen Seyn und Denken. Das Denken hat zunächst bloß zum Anschauen ein Verhältniß, das Anschauen aber hat eines zum Seyn an sich des Angeschauten, und dieses Letztere ist das große Problem, welches uns hier beschäftigt. Das empirische Seyn hingegen, wie es vorliegt, ist nichts Anderes, als eben nur das Gegebenseyn in der Anschauung: dieser ihr Verhältniß zum Denken ist aber kein Räthsel; da die Begriffe, also der unmittelbare Stoff des Denkens, offenbar aus der Anschauung abstrahirt sind; woran kein vernünftiger Mensch zweifeln kann. Beiläufig gesagt, kann man, wie wichtig die Wahl der Ausdrücke in der Philosophie sei, daran sehn, daß jener oben gerügte, ungeschickte Ausdruck und das aus ihm entstandene Mißverständniß die Grundlage der ganzen Hegelschen Afterphilosophie geworden ist, welche das Deutsche Publikum fünfundzwanzig Jahre hindurch beschäftigt hat. –“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 724-725).

„Wollte man nun aber sagen: »Die Anschauung ist schon die Erkenntniß des Dinges an sich: denn sie ist die Wirkung des außer uns Vorhandenen, und wie dies wirkt, so ist es: sein Wirken ist eben sein Seyn«; so steht dem entgegen: 1) daß das Gesetz der Kausalität, wie genugsam bewiesen, subjektiven Ursprungs ist, so gut wie die Sinnesempfindung, von der die Anschauung ausgeht: 2) daß ebenfalls Zeit und Raum, in denen das Objekt sich darstellt, subjektiven Ursprungs sind: 3) daß wenn das Seyn des Objekts eben in seinem Wirken besteht, dies besagt, daß es bloß in den Veränderungen, die es in Andern hervorbringt, besteht, mithin selbst und an sich gar nichts ist. – Bloß von der Materie ist es wahr, wie ich im Text gesagt und in der Abhandlung über den Satz vom Grunde, am Schlusse des § 21, ausgeführt habe, daß ihr Seyn in ihrem Wirken besteht, daß sie durch und durch nur Kausalität, also die objektiv angeschaute Kausalität selbst ist: daher ist sie aber eben auch nichts an sich (hê hylê to alêthinon pseudos, materia mendacium verax), sondern ist, als Ingredienz des angeschauten Objekts, ein bloßes Abstraktum, welches für sich allein in keiner Erfahrung gegeben werden kann. Weiter unten wird sie, in einem eigenen Kapitel, ausführlich betrachtet werden. – Das angeschaute Objekt aber muß etwas an sich selbst seyn und nicht bloß etwas für Andere: denn sonst wäre es schlechthin nur Vorstellung, und wir hätten einen absoluten Idealismus, der am Ende theoretischer Egoismus würde, bei welchem alle Realität wegfällt und die Welt zum bloßen subjektiven Phantasma wird. Wenn wir inzwischen, ohne weiter zu fragen, bei der Welt als Vorstellung ganz und gar stehn bleiben; so ist es freilich einerlei, ob ich die Objekte für Vorstellungen in meinem Kopfe, oder für in Zeit und Raum sich darstellende Erscheinungen erkläre: weil eben Zeit und Raum selbst nur in meinem Kopfe sind. In diesem Sinne ließe sich alsdann eine Identität des Idealen und Realen immerhin behaupten: jedoch wäre, nachdem Kant dagewesen, nichts Neues damit gesagt. Ueberdies aber wäre dadurch das Wesen der Dinge und der erscheinenden Welt offenbar nicht erschöpft; sondern man stände damit noch immer erst auf der idealen Seite. Die reale Seite muß etwas von der Welt als Vorstellung toto genere Verschiedenes seyn, nämlich Das, was die Dinge an sich selbst sind: und diese gänzliche Diversität des Idealen und Realen ist es, welche Kant am gründlichsten nachgewiesen hat.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 725-726).

„Locke nämlich hatte den Sinnen die Erkenntniß der Dinge, wie sie an sich sind, abgesprochen; Kant aber sprach sie auch dem anschauenden Verstande ab, unter welchem Namen ich hier Das, was er die reine Sinnlichkeit nennt, und das die empirische Anschauung vermittelnde Gesetz der Kausalität, sofern es a priori gegeben ist, zusammenfasse. Nicht nur haben Beide Recht, sondern auch ganz unmittelbar läßt sich einsehn, daß ein Widerspruch in der Behauptung liegt, ein Ding werde erkannt nach Dem, was es an und für sich, d.h. außer der Erkenntniß, sei. Denn jedes Erkennen ist, wie gesagt, wesentlich ein Vorstellen: aber mein Vorstellen, eben weil es meines ist, kann niemals identisch seyn mit dem Wesen an sich des Dinges außer mir. Das An- und Fürsichseyn jedes Dinges muß nothwendig ein subjektives seyn: in der Vorstellung eines Andern hingegen steht es eben so nothwendig als ein objektives da; ein Unterschied, der nie ganz ausgeglichen werden kann. Denn durch denselben ist die ganze Art seines Daseyns von Grund aus verändert: als objektives setzt es ein fremdes Subjekt, als dessen Vorstellung es existirt, voraus, und ist zudem, wie Kant nachgewiesen hat, in Formen eingegangen, die seinem eigenen Wesen fremd sind, weil sie eben jenem fremden Subjekt, dessen Erkennen erst durch dieselben möglich wird, angehören. Wenn ich, in diese Betrachtung vertieft, etwan leblose Körper von leicht übersehbarer Größe und regelmäßiger, faßlicher Form anschaue und nun versuche, dies räumliche Daseyn, in seinen drei Dimensionen, als das Seyn an sich, folglich als das den Dingen subjektive Da seyn derselben aufzufassen; so wird mir die Unmöglichkeit der Sache geradezu fühlbar, indem ich jene objektiven Formen nimmermehr als das den Dingen subjektive Seyn denken kann, vielmehr mir unmittelbar bewußt werde, daß was ich da vorstelle ein in meinem Gehirn zu Stande gebrachtes und nur für mich als erkennendes Subjekt existirendes Bild ist, welches nicht das letzte, mithin subjektive Seyn an sich und für sich auch nur dieser leblosen Körper ausmachen kann. Andererseits aber darf ich nicht annehmen, daß auch nur diese leblosen Körper ganz allein in meiner Vorstellung existirten; sondern muß ihnen, da sie unergründliche Eigenschaften und vermöge dieser Wirksamkeit haben, ein Seyn an sich, irgend einer Art, zugestehn. Aber eben diese Unergründlichkeit der Eigenschaften, wie sie zwar einerseits auf ein von unserm Erkennen unabhängig Vorhandenes deutet, giebt andererseits den empirischen Beleg dazu, daß unser Erkennen, weil es nur im Vorstellen mittelst subjektiver Formen besteht, stets bloße Erscheinungen, nicht das Wesen an sich der Dinge liefert. Hieraus nämlich ist es zu erklären, daß in Allem, was wir erkennen, uns ein gewisses Etwas, als ganz unergründlich, verborgen bleibt und wir gestehn müssen, daß wir selbst die gemeinsten und einfachsten Erscheinungen nicht von Grund aus verstehn können. Denn nicht etwan bloß die höchsten Produktionen der Natur, die lebenden Wesen, oder die komplicirten Phänomene der unorganischen Welt bleiben uns unergründlich; sondern selbst jeder Bergkrystall, jeder Schwefelkies, ist vermöge seiner krystallographischen, optischen, chemischen, elektrischen Eigenschaften, für die eindringende Betrachtung und Untersuchung, ein Abgrund von Unbegreiflichkeiten und Geheimnissen. Dem könnte nicht so seyn, wenn wir die Dinge erkennten, wie sie an sich selbst sind: denn da müßten wenigstens die einfacheren Erscheinungen, zu deren Eigenschaften nicht Unkenntniß uns den Weg versperrt, von Grund aus uns verständlich seyn und ihr ganzes Seyn und Wesen in die Erkenntniß übergehn können. Es liegt also nicht am Mangelhaften unserer Bekanntschaft mit den Dingen, sondern am Wesen des Erkennens selbst. Denn wenn schon unsere Anschauung, mithin die ganze empirische Auffassung der sich uns darstellenden Dinge, wesentlich und hauptsächlich durch unser Erkenntnißvermögen bestimmt und durch dessen Formen und Funktionen bedingt ist; so kann es nicht anders ausfallen, als daß die Dinge auf eine von ihrem selbst-eigenen Wesen ganz verschiedene Weise sich darstellen und daher wie in einer Maske erscheinen, welche das darunter Versteckte immer nur voraussetzen, aber nie erkennen läßt; weshalb es dann als unergründliches Geheimniß durchblinkt, und nie die Natur irgend eines Dinges ganz und ohne Rückhalt in die Erkenntniß übergehn kann, noch viel weniger aber irgend ein Reales sich a priori konstruiren läßt, wie ein Mathematisches. Also ist die empirische Unerforschlichkeit aller Naturwesen ein Beleg a posteriori der Idealität und bloßen Erscheinungswirklichkeit ihres empirischen Daseyns.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 726-727).

„Diesem allen zufolge wird man auf dem Wege der objektiven Erkenntniß, mithin von der Vorstellung ausgehend, nie über die Vorstellung, d.i. die Erscheinung, hinausgelangen, wird also bei der Außenseite der Dinge stehn bleiben, nie aber in ihr Inneres dringen und erforschen können, was sie an sich selbst, d.h. für sich selbst, seyn mögen. So weit stimme ich mit Kant überein. Nun aber habe ich, als Gegengewicht dieser Wahrheit, jene andere hervorgehoben, daß wir nicht bloß das erkennende Subjekt sind, sondern andererseits auch selbst zu den erkennenden Wesen gehören, selbst das Ding an sich sind; daß mithin zu jenem selbst-eigenen und inneren Wesen der Dinge, bis zu welchem wir von außen nicht dringen können, uns ein Weg von innen offen steht, gleichsam ein unterirdischer Gang, eine geheime Verbindung, die uns, wie durch Verrath, mit Einem Male in die Festung versetzt, welche durch Angriff von außen zu nehmen unmöglich war. – Das Ding an sich kann, eben als solches, nur ganz unmittelbar ins Bewußtseyn kommen, nämlich dadurch, daß es selbst sich seiner bewußt wird: es objektiv erkennen wollen, heißt etwas Widersprechendes verlangen. Alles Objektive ist Vorstellung, mithin Erscheinung, ja bloßes Gehirnphänomen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 727-728).

„Kants Hauptresultat läßt sich im Wesentlichen so resumiren: »Alle Begriffe, denen nicht eine Anschauung in Raum und Zeit (sinnliche Anschauung) zum Grunde liegt, d.h. also die nicht aus einer solchen Anschauung geschöpft worden, sind schlechterdings leer, d.h. geben keine Erkenntniß. Da nun aber die Anschauung nur Erscheinungen, nicht Dinge an sich, liefern kann; so haben wir auch von Dingen an sich gar keine Erkenntniß.« – Ich gebe dies von Allem zu, nur nicht von der Erkenntniß, die Jeder von seinem eigenen Wollen hat: diese ist weder eine Anschauung (denn alle Anschauung ist räumlich) noch ist sie leer; vielmehr ist sie realer, als irgend eine andere. Auch ist sie nicht a priori, wie die bloß formale, sondern ganz und gar a posteriori; daher eben wir sie auch nicht, im einzelnen Fall, anticipiren können, sondern hiebei oft des Irrthums über uns selbst überführt werden. – In der That ist unser Wollen die einzige Gelegenheit, die wir haben, irgend einen sich äußerlich darstellenden Vorgang zugleich aus seinem Innern zu verstehn, mithin das einzige uns unmittelbar Bekannte und nicht, wie alles Uebrige, bloß in der Vorstellung Gegebene. Hier also liegt das Datum, welches allein tauglich ist, der Schlüssel zu allem Andern zu werden, oder, wie ich gesagt habe, die einzige, enge Pforte zur Wahrheit. Demzufolge müssen wir die Natur verstehn lernen aus uns selbst, nicht umgekehrt uns selbst aus der Natur. Das uns unmittelbar Bekannte muß uns die Auslegung zu dem nur mittelbar Bekannten geben; nicht umgekehrt. Versteht man etwan das Fortrollen einer Kugel auf erhaltenen Stoß gründlicher, als seine eigene Bewegung auf ein wahrgenommenes Motiv? Mancher mag es wähnen: aber ich sage: es ist umgekehrt. Wir werden jedoch zu der Einsicht gelangen, daß in den beiden soeben erwähnten Vorgängen das Wesentliche identisch ist, wiewohl so identisch, wie der tiefste noch hörbare Ton der Harmonie mit dem zehn Oktaven höher liegenden gleichnamigen der selbe ist.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 728-729).

„Inzwischen ist wohl zu beachten, und ich habe es immer festgehalten, daß auch die innere Wahrnehmung, welche wir von unserm eigenen Willen haben, noch keineswegs eine erschöpfende und adäquate Erkenntniß des Dinges an sich liefert. Dies würde der Fall seyn, wenn sie eine ganz unmittelbare wäre: weil sie nun aber dadurch vermittelt ist, daß der Wille, mit und mittelst der Korporisation, sich auch einen Intellekt (zum Behuf seiner Beziehungen zur Außenwelt) schafft und durch diesen nunmehr im Selbstbewußtseyn (dem nothwendigen Widerspiel der Außenwelt) sich als Willen erkennt; so ist diese Erkenntniß des Dinges an sich nicht vollkommen adäquat. Zunächst ist sie an die Form der Vorstellung gebunden, ist Wahrnehmung und zerfällt, als solche, in Subjekt und Objekt. Denn auch im Selbstbewußtseyn ist das Ich nicht schlechthin einfach, sondern besteht aus einem Erkennenden, Intellekt, und einem Erkannten, Wille: jener wird nicht erkannt, und dieser ist nicht erkennend, wenn gleich Beide in das Bewußtsein Eines Ich zusammenfließen. Aber eben deshalb ist dieses Ich sich nicht durch und durch intim, gleichsam durchleuchtet, sondern ist opak und bleibt daher sich selber ein Räthsel. Also auch in der innern Erkenntniß findet noch ein Unterschied Statt zwischen dem Seyn an sich ihres Objekts und der Wahrnehmung desselben im erkennenden Subjekt. Jedoch ist die innere Erkenntniß von zwei Formen frei, welche der äußern anhängen, nämlich von der des Raums und von der alle Sinnesanschauung vermittelnden Form der Kausalität. Hingegen bleibt noch die Form der Zeit, wie auch die des Erkanntwerdens und Erkennens überhaupt. Demnach hat in dieser innern Erkenntniß das Ding an sich seine Schleier zwar großen Theils abgeworfen, tritt aber doch noch nicht ganz nackt auf. In Folge der ihm noch anhängenden Form der Zeit erkennt Jeder seinen Willen nur in dessen successiven einzelnen Akten, nicht aber im Ganzen, an und für sich: daher eben Keiner seinen Charakter a priori kennt, sondern ihn erst erfahrungsmäßig und stets unvollkommen kennen lernt. Aber dennoch ist die Wahrnehmung, in der wir die Regungen und Akte des eigenen Willens erkennen, bei Weitem unmittelbarer, als jede andere: sie ist der Punkt, wo das Ding an sich am unmittelbarsten in die Erscheinung tritt, und in größter Nähe vom erkennenden Subjekt beleuchtet wird; daher eben der also intim erkannte Vorgang der Ausleger jedes andern zu werden einzig und allein geeignet ist.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 729).

„Denn bei jedem Hervortreten eines Willensaktes aus der dunklen Tiefe unsers Innern in das erkennende Bewußtseyn geschieht ein unmittelbarer Uebergang des außer der Zeit liegenden Dinges an sich in die Erscheinung. Demnach ist zwar der Willensakt nur die nächste und deutlichste Erscheinung des Dinges an sich; doch folgt hieraus, daß wenn alle übrigen Erscheinungen eben so unmittelbar und innerlich von uns erkannt werden könnten, wir sie für eben Das ansprechen müßten, was der Wille in uns ist. In diesem Sinne also lehre ich, daß das innere Wesen eines jeden Dinges Wille ist, und nenne den Willen das Ding an sich. Hiedurch wird Kants Lehre von der Unerkennbarkeit des Dinges an sich dahin modificirt, daß dasselbe nur nicht schlechthin und von Grund aus erkennbar sei, daß jedoch die bei Weitem unmittelbarste seiner Erscheinungen, welche durch diese Unmittelbarkeit sich von allen übrigen toto genere unterscheidet, es für uns vertritt, und wir sonach die ganze Welt der Erscheinungen zurückzuführen haben auf diejenige, in welcher das Ding an sich in der allerleichtesten Verhüllung sich darstellt und nur noch insofern Erscheinung bleibt, als mein Intellekt, der allein das der Erkenntniß Fähige ist, von mir als dem Wollenden noch immer unterschieden bleibt und auch die Erkenntnißform der Zeit, selbst bei der innern Perception, nicht ablegt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 730).

„Demzufolge läßt, auch nach diesem letzten und äußersten Schritt, sich noch die Frage aufwerfen, was denn jener Wille, der sich in der Welt und als die Welt darstellt, zuletzt schlechthin an sich selbst sei? d.h. was er sei, ganz abgesehn davon, daß er sich als Wille darstellt, oder überhaupt erscheint, d.h. überhaupt erkannt wird.– Diese Frage ist nie zu beantworten: weil, wie gesagt, das Erkanntwerden selbst schon dem Ansichseyn widerspricht und jedes Erkannte schon als solches nur Erscheinung ist. Aber die Möglichkeit dieser Frage zeigt an, daß das Ding an sich, welches wir am unmittelbarsten im Willen erkennen, ganz außerhalb aller möglichen Erscheinung, Bestimmungen, Eigenschaften, Daseynsweisen haben mag, welche für uns schlechthin unerkennbar und unfaßlich sind, und welche eben dann als das Wesen des Dinges an sich übrig bleiben, wann sich dieses, wie im vierten Buche dargelegt wird, als Wille frei aufgehoben hat, daher ganz aus der Erscheinung herausgetreten und für unsere Erkenntniß, d.h. hinsichtlich der Welt der Erscheinungen, ins leere Nichts übergegangen ist. Wäre der Wille das Ding an sich schlechthin und absolut; so wäre auch dieses Nichts ein absolutes; statt daß es sich eben dort uns ausdrücklich nur als ein relatives ergiebt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 730).

„Indem ich nun daran gehe, die, sowohl in unserm zweiten Buche, als auch in der Schrift »Ueber den Willen in der Natur« (**) gelieferte Begründung der Lehre, daß in sämmtlichen Erscheinungen dieser Welt sich, auf verschiedenen Stufen, eben Das objektivirt, was in der unmittelbarsten Erkenntniß sich als Wille kund giebt, noch durch einige dahin gehörige Betrachtungen zu ergänzen, will ich damit anfangen, eine Reihe psychologischer Thatsachen vorzuführen, welche darthun, daß zunächst in unserm eigenen Bewußtseyn der Wille stets als das Primäre und Fundamentale auftritt und durchaus den Vorrang behauptet vor dem Intellekt, welcher sich dagegen durchweg als das Sekundäre, Untergeordnete und Bedingte erweist. Diese Nachweisung ist um so nöthiger, als alle mir vorhergegangenen Philosophen, vom ersten bis zum letzten, das eigentliche Wesen, oder den Kern des Menschen in das erkennende Bewußtseyn setzen, und demnach das Ich, oder bei Vielen dessen transscendente Hypostase, genannt Seele, als zunächst und wesentlich erkennend, ja denkend, und erst in Folge hievon, sekundärer und abgeleiteter Weise, als wollend aufgefaßt und dargestellt haben. Dieser uralte und ausnahmslose Grundirrthum, dieses enorme prôton pseudos und fundamentale hysteron proteron ist, vor allen Dingen, zu beseitigen und dagegen die naturgemäße Beschaffenheit der Sache zum völlig deutlichen Bewußtseyn zu bringen. Da aber Dieses, nach Jahrtausenden des Philosophirens, hier zum ersten Male geschieht, wird einige Ausführlichkeit dabei an ihrer Stelle seyn. Das auffallende Phänomen, daß in diesem grundwesentlichen Punkte alle Philosophen geirrt, ja, die Wahrheit auf den Kopf gestellt haben, möchte, zumal bei denen der Christlichen Jahrhunderte, zum Theil daraus zu erklären seyn, daß sie sämmtlich die Absicht hatten, den Menschen als vom Thiere möglichst weit verschieden darzustellen, dabei jedoch dunkel fühlten, daß die Verschiedenheit Beider im Intellekt liegt, nicht im Willen; woraus ihnen unbewußt die Neigung hervorgieng, den Intellekt zum Wesentlichen und zur Hauptsache zu machen, ja, das Wollen als eine bloße Funktion des Intellekts darzustellen. – Daher ist auch der Begriff einer Seele nicht nur, wie durch die Kritik der reinen Vernunft feststeht, als transscendente Hypostase unstatthaft; sondern er wird zur Quelle unheilbarer Irrthümer, dadurch, daß er, in seiner »einfachen Substanz«, eine untheilbare Einheit der Erkenntniß und des Willens vorweg feststellt, deren Trennung gerade der Weg zur Wahrheit ist. Jener Begriff darf daher in der Philosophie nicht mehr vorkommen, sondern ist den Deutschen Medicinern und Physiologen zu überlassen, welche, nachdem sie Skalpel und Spatel weggelegt haben, mit ihren bei der Konfirmation überkommenen Begriffen zu philosophiren unternehmen. Sie mögen allenfalls ihr Glück damit in England versuchen. Die französischen Physiologen und Zootomen haben sich (bis vor Kurzem) von jenem Vorwurf durchaus frei gehalten.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 730-731).

„Die nächste, allen jenen Philosophen sehr unbequeme Folge ihres gemeinschaftlichen Grundirrthums ist diese: da im Tode das erkennende Bewußtseyn augenfällig untergeht; so müssen sie entweder den Tod als Vernichtung des Menschen gelten lassen, wogegen unser Inneres sich auflehnt; oder sie müssen zu der Annahme einer Fortdauer des erkennenden Bewußtseyns greifen, zu welcher ein starker Glaube gehört, da Jedem seine eigene Erfahrung die durchgängige und gänzliche Abhängigkeit des erkennenden Bewußtseyns vom Gehirn sattsam bewiesen hat, und man eben so leicht eine Verdauung ohne Magen glauben kann, wie ein erkennendes Bewußtseyn ohne Gehirn. Aus diesem Dilemma führt allein meine Philosophie, als welche zuerst das eigentliche Wesen des Menschen nicht in das Bewußtseyn, sondern in den Willen setzt, der nicht wesentlich mit Bewußtseyn verbunden ist, sondern sich zum Bewußtseyn, d.h. zur Erkenntniß, verhält wie Substanz zu Accidenz, wie ein Beleuchtetes zum Licht, wie die Saite zum Resonanzboden, und der von innen in das Bewußtseyn fällt, wie die Körperwelt von außen. Nunmehr können wir die Unzerstörbarkeit dieses unsers eigentlichen Kerns und wahren Wesens fassen, trotz dem offenbarten Untergehn des Bewußtseyns im Tode und dem entsprechenden Nichtvorhandenseyn desselben vor der Geburt. Denn der Intellekt ist so vergänglich, wie das Gehirn, dessen Produkt, oder vielmehr Aktion er ist. Das Gehirn aber ist, wie der gesammte Organismus, Produkt, oder Erscheinung, kurz Sekundäres, des Willens, welcher allein das Unvergängliche ist.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 732).

 

Kapitel 19 (dieses Kapitel bezieht sich auf § 19 des 1. Bandes): Vom Primat des Willens im Selbstbewußtseyn.

„Der Wille, als das Ding an sich, macht das innere, wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen aus: an sich selbst ist er jedoch bewußtlos. Denn das Bewußtsein ist bedingt durch den Intellekt, und dieser ist ein bloßes Accidenz unseres Wesens; denn er ist eine Funktion des Gehirns, welches, nebst den ihm anhängigen Nerven und Rückenmark, eine bloße Frucht, ein Produkt, ja insofern ein Parasit des übrigen Organismus ist, als es nicht direkt eingreift in dessen inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbsterhaltung bloß dadurch dient, daß es die Verhältnisse desselben zur Außenwelt regulirt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 732).

„ Der Organismus selbst hingegen ist die Sichtbarkeit, Objektität, des individuellen Willens, das Bild desselben, wie es sich darstellt in eben jenem Gehirn (welches wir, im ersten Buch, als die Bedingung der objektiven Welt überhaupt, kennen gelernt haben), daher eben auch vermittelt durch dessen Erkenntnißformen, Raum, Zeit und Kausalität, folglich sich darstellend als ein Ausgedehntes, successiv Agirendes und Materielles, d.h. Wirkendes. Sowohl direkt empfunden, als mittelst der Sinne angeschaut werden die Glieder nur im Gehirn. – Diesem zufolge kann man sagen: der Intellekt ist das sekundäre Phänomen, der Organismus das primäre, nämlich die unmittelbare Erscheinung des Willens; – der Wille ist metaphysisch, der Intellekt physisch; – der Intellekt ist, wie seine Objekte, bloße Erscheinung; Ding an sich ist allein der Wille: – sodann in einem mehr und mehr bildlichen Sinne, mithin gleichnißweise: der Wille ist die Substanz des Menschen, der Intellekt das Accidenz: – der Wille ist die Materie, der Intellekt die Form: – der Wille ist die Wärme, der Intellekt das Licht.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 732-733).

„Nur mit Einem Worte will ich hier auf Dasjenige deuten, was im folgenden Buche ausführlich erörtert wird, daß nämlich die vollkommenste Erkenntniß, also die rein objektive, d.h. die geniale Auffassung der Welt, bedingt ist durch ein so tiefes Schweigen des Willens, daß, so lange sie anhält, sogar die Individualität aus dem Bewußtsein verschwindet und der Mensch als reines Subjekt des Erkennens, welches das Korrelat der Idee ist, übrig bleibt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 750).

„Selbst der Verstand der Thiere wird durch die Noth bedeutend gesteigert, so daß sie in schwierigen Fällen Dinge leisten, über die wir erstaunen: z.B. fast alle berechnen, daß es sicherer ist, nicht zu fliehen, wann sie sich ungesehn glauben: daher liegt der Hase still in der Furche des Feldes und läßt den Jäger dicht an sich vorbeigehn; Insekten, wenn sie nicht entrinnen können, stellen sich todt u.s.f..“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 752).

„Wenn nun von einem Menschen gesagt wird: »er hat ein gutes Herz, wiewohl einen schlechten Kopf«; von einem andern aber: »er hat einen sehr guten Kopf, jedoch ein schlechtes Herz«; so fühlt Jeder, daß beim Ersteren das Lob den Tadel weit überwiegt; beim Andern umgekehrt. Dem entsprechend sehn wir, wenn Jemand eine schlechte Handlung begangen hat, seine Freunde und ihn selbst bemüht, die Schuld vom Willen auf den Intellekt zu wälzen und Fehler des Herzens für Fehler des Kopfes auszugeben; schlechte Streiche werden sie Verirrungen nennen, werden sagen, es sei bloßer Unverstand gewesen, Unüberlegtheit, Leichtsinn, Thorheit; ja, sie werden zur Noth Paroxysmus, momentane Geistesstörung und, wenn es ein schweres Verbrechen betrifft, sogar Wahnsinn vorschützen, um nur den Willen von der Schuld zu befreien. Und eben so wir selbst, wenn wir einen Unfall oder Schaden verursacht haben, werden, vor Andern und vor uns selbst, sehr gern unsere stultitia anklagen, um nur dem Vorwurf der malitia auszuweichen. Dem entsprechend ist, bei gleich ungerechtem Urtheil des Richters, der Unterschied, ob er geirrt habe, oder bestochen gewesen sei, so himmelweit. Alles dieses bezeugt genugsam, daß der Wille allein das Wirkliche und das Wesentliche, der Kern des Menschen ist, der Intellekt aber bloß sein Werkzeug, welches immerhin fehlerhaft seyn mag, ohne daß er dabei betheiligt wäre. Die Anklage des Unverstandes ist, vor dem moralischen Richterstuhle, ganz und gar keine; vielmehr giebt sie hier sogar Privilegien. Und eben so vor den weltlichen Gerichten ist es, um einen Verbrecher von aller Strafe zu befreien, überall hinreichend, daß man die Schuld von seinem Willen auf seinen Intellekt wälze, indem man entweder unvermeidlichen Irrthum, oder Geistesstörung nachweist: denn da hat es nicht mehr auf sich, als wenn Hand oder Fuß wider Willen ausgeglitten wären. Dies habe ich ausführlich erörtert in dem meiner Preisschrift über die Freiheit des Willens beigegebenen Anhang »über die intellektuelle Freiheit«, wohin ich, um mich nicht zu wiederholen, hier verweise.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 760-761).

„Ueberall berufen sich Die, welche irgend eine Leistung zu Tage fördern, im Fall solche ungenügend ausfällt, auf ihren guten Willen, an dem es nicht gefehlt habe. Hiedurch glauben sie das Wesentliche, das, wofür sie eigentlich verantwortlich sind, und ihr eigentliches Selbstsicher zu stellen: das Unzureichende der Fähigkeiten hingegen sehn sie an als den Mangel an einem tauglichen Werkzeug.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 761).

„Ist Einer dumm, so entschuldigt man ihn damit, daß er nicht dafür kann: aber wollte man Den, der schlecht ist, eben damit entschuldigen; so würde man ausgelacht werden. Und doch ist das Eine, wie das Andere, angeboren. Dies beweist, daß der Wille der eigentliche Mensch ist, der Intellekt bloß sein Werkzeug.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 761).

„Immer also ist es nur unser Wollen was als von uns abhängig, d.h. als Aeußerung unsers eigentlichen Wesens betrachtet wird und wofür man uns daher verantwortlich macht. Dieserhalb eben ist es absurd und ungerecht, wenn man uns für unsern Glauben, also für unsere Erkenntniß, zur Rede stellen will: denn wir sind genöthigt diese, obschon sie in uns waltet, anzusehn als etwas, das so wenig in unserer Gewalt steht, wie die Vorgänge der Außenwelt. Auch hieran also wird deutlich, daß der Wille allein das Innere und Eigene des Menschen ist, der Intellekt hingegen, mit seinen, gesetzmäßig wie die Außenwelt vor sich gehenden Operationen, zu jenem sich als ein Aeußeres, ein bloßes Werkzeug verhält.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 761).

„Hohe Geistesgaben hat man allezeit angesehn als ein Geschenk der Natur, oder der Götter: eben deshalb hat man sie Gaben, Begabung, ingenii dotes, gifts (a man highly gifted) genannt, sie betrachtend als etwas vom Menschen selbst Verschiedenes, ihm durch Begünstigung Zugefallenes. Nie hingegen hat man es mit den moralischen Vorzügen, obwohl auch sie angeboren sind, eben so genommen: vielmehr hat man diese stets angesehn als etwas vom Menschen selbst Ausgehendes, ihm wesentlich Angehöriges, ja, sein eigenes Selbst Ausmachendes. Hieraus nun folgt abermals, daß der Wille das eigentliche Wesen des Menschen ist, der Intellekt hingegen sekundär, ein Werkzeug, eine Ausstattung.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 761-762).

„Diesem entsprechend verheißen alle Religionen für die Vorzüge des Willens, oder Herzens, einen Lohn jenseit des Lebens, in der Ewigkeit; keine aber für die Vorzüge des Kopfes, des Verstandes. Die Tugend erwartet ihren Lohn in jener Welt; die Klugheit hofft ihn in dieser; das Genie weder in dieser, noch in jener: es ist sein eigener Lohn. Demnach ist der Wille der ewige Theil, der Intellekt der zeitliche.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 762).

„Verbindung, Gemeinschaft, Umgang zwischen Menschen, gründet sich, in der Regel, auf Verhältnisse, die den Willen, selten auf solche, die den Intellekt betreffen: die erstere Art der Gemeinschaft kann man die materiale, die andere die formale nennen. Jener Art sind die Bande der Familie und Verwandtschaft, ferner alle auf irgend einem gemeinschaftlichen Zwecke, oder Interesse, wie das des Gewerbes, Standes, der Korporation, Partei, Faktion u.s.w. beruhenden Verbindungen. Bei diesen nämlich kommt es bloß auf die Gesinnung, die Absicht an; wobei die größte Verschiedenheit der intellektuellen Fähigkeiten und ihrer Ausbildung bestehn kann. Daher kann Jeder mit Jedem nicht nur in Frieden und Einigkeit leben, sondern auch zum gemeinsamen Wohl Beider mit ihm zusammen wirken und ihm verbündet seyn. Auch die Ehe ist ein Bund der Herzen, nicht der Köpfe. Anders aber verhält es sich mit der bloß formalen Gemeinschaft, als welche nur Gedankenaustausch bezweckt: diese verlangt eine gewisse Gleichheit der intellektuellen Fähigkeiten und der Bildung. Große Unterschiede hierin setzen zwischen Mensch und Mensch eine unübersteigbare Kluft: eine solche liegt z.B. zwischen einem großen Geist und einem Dummkopf, zwischen einem Gelehrten und einem Bauern, zwischen einem Hofmann und einem Matrosen. Dergleichen heterogene Wesen haben daher Mühe sich zu verständigen, so lange es auf die Mittheilung von Gedanken, Vorstellungen und Ansichten ankommt. Nichtsdestoweniger kann enge materiale Freundschaft zwischen ihnen Statt finden, und sie können treue Verbündete, Verschworene und Verpflichtete seyn. Denn in Allem was allein den Willen betrifft, wohin Freundschaft, Feindschaft, Redlichkeit, Treue, Falschheit, und Verrath gehört, sind sie völlig homogen, aus dem selben Teig geformt, und weder Geist noch Bildung machen darin einen Unterschied: ja, oft beschämt hier der Rohe den Gelehrten, der Matrose den Hofmann. Denn bei den verschiedensten Graden der Bildung bestehn die selben Tugenden und Laster, Affekte und Leidenschaften, und, wenn auch in ihren Aeußerungen etwas modificirt, erkennen sie sich doch, selbst in den heterogensten Individuen sehr bald gegenseitig, wonach die gleichgesinnten zusammentreten, die entgegengesetzten sich anfeinden.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 762-763).

„Glänzende Eigenschaften des Geistes erwerben Bewunderung, aber nicht Zuneigung: diese bleibt den moralischen, den Eigenschaften des Charakters, vorbehalten. Zu seinem Freunde wird wohl Jeder lieber den Redlichen, den Gutmüthigen, ja selbst den Gefälligen, Nachgiebigen und leicht Beistimmenden wählen, als den bloß Geistreichen. Vor Diesem wird sogar durch unbedeutende, zufällige, äußere Eigenschaften, welche gerade der Neigung eines Andern entsprechen, Mancher den Vorzug gewinnen. Nur wer selbst viel Geist hat, wird den Geistreichen zu seiner Gesellschaft wünschen; seine Freundschaft hingegen wird sich nach den moralischen Eigenschaften richten: denn auf diesen beruht seine eigentliche Hochschätzung eines Menschen, in welcher ein einziger guter Charakterzug große Mängel des Verstandes bedeckt und auslischt. Die erkannte Güte eines Charakters macht uns geduldig und nachgiebig gegen Schwächen des Verstandes, wie auch gegen die Stumpfheit und das kindische Wesen des Alters. Ein entschieden edler Charakter, bei gänzlichem Mangel intellektueller Vorzüge und Bildung, steht da, wie Einer, dem nichts abgeht; hingegen wird der größte Geist, wenn mit starken moralischen Fehlern behaftet, noch immer tadelhaft erscheinen. – Denn wie Fackeln und Feuerwerk vor der Sonne blaß und unscheinbar werden, so wird Geist, ja Genie, und ebenfalls die Schönheit, überstrahlt und verdunkelt von der Güte des Herzens. Wo diese in hohem Grade hervortritt, kann sie den Mangel jener Eigenschaften so sehr ersetzen, daß man solche vermißt zu haben sich schämt. Sogar der beschränkteste Verstand, wie auch die grotteske Häßlichkeit, werden, sobald die ungemeine Güte des Herzens sich in ihrer Begleitung kund gethan, gleichsam verklärt, umstrahlt von einer Schönheit höherer Art, indem jetzt aus ihnen eine Weisheit spricht, vor der jede andere verstummen muß. Denn die Güte des Herzens ist eine transscendente Eigenschaft, gehört einer über dieses Leben hinausreichenden Ordnung der Dinge an und ist mit jeder andern Vollkommenheit inkommensurabel. Wo sie in hohem Grade vorhanden ist, macht sie das Herz so groß, daß es die Welt umfaßt, so daß jetzt Alles in ihm, nichts mehr außerhalb liegt; da sie ja alle Wesen mit dem eigenen identificirt. Alsdann verleiht sie auch gegen Andre jene gränzenlose Nachsicht, die sonst Jeder nur sich selber widerfahren läßt. Ein solcher Mensch ist nicht fähig, sich zu erzürnen: sogar wenn etwan seine eigenen, intellektuellen oder körperlichen Fehler den boshaften Spott und Hohn Anderer hervorgerufen haben, wirft er, in seinem Herzen, nur sich selber vor, zu solchen Aeußerungen der Anlaß gewesen zu seyn, und fährt daher, ohne sich Zwang anzuthun, fort, Jene auf das liebreichste zu behandeln, zuversichtlich hoffend, daß sie von ihrem Irrthum hinsichtlich seiner zurückkommen und auch in ihm sich selber wiedererkennen werden. – Was ist dagegen Witz und Genie? was Bako von Verulam?“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 763-764).

„Auf das selbe Ergebniß, welches wir hier aus der Betrachtung unserer Schätzung Anderer erhalten haben, führt auch die der Schätzung des eigenen Selbst. Wie ist doch die in moralischer Hinsicht eintretende Selbstzufriedenheit so grundverschieden von der in intellektualer Hinsicht! Die erstere entsteht, indem wir, beim Rückblick auf unsern Wandel, sehn, daß wir mit schweren Opfern Treue und Redlichkeit geübt, daß wir Manchem geholfen. Manchem verziehen haben, besser gegen Andere gewesen sind, als diese gegen uns, so daß wir mit König Lear sagen dürfen: »Ich bin ein Mann, gegen den mehr gesündigt worden, als er gesündigt hat«; und vollends wenn vielleicht gar irgend eine edle That in unserer Rückerinnerung glänzt! Ein tiefer Ernst wird die stille Freude begleiten, die eine solche Musterung uns giebt: und wenn wir dabei Andere gegen uns zurückstehn sehn; so wird uns dies in keinen Jubel versetzen, vielmehr werden wir es bedauern und werden aufrichtig wünschen, sie wären alle wie wir. – Wie ganz anders wirkt hingegen die Erkenntniß unserer intellektuellen Ueberlegenheit! Ihr Grundbaß ist ganz eigentlich der oben angeführte Ausspruch des Hobbes: Omnis animi voluptas, omnisque alacritas in eo sita est, quod quis habeat, quibuscum conferens se, possit magnifice sentire de se ipso. Uebermüthige, triumphirende Eitelkeit, stolzes, höhnisches Herabsehn auf Andere, wonnevoller Kitzel des Bewußtseins entschiedener und bedeutender Ueberlegenheit, dem Stolz auf körperliche Vorzüge verwandt, – das ist hier das Ergebniß. – Dieser Gegensatz zwischen beiden Arten der Selbstzufriedenheit zeigt an, daß die eine unser wahres, inneres und ewiges Wesen, die andere einen mehr äußerlichen, nur zeitlichen, ja fast nur körperlichen Vorzug betrifft. Ist doch in der That der Intellekt die bloße Funktion des Gehirns, der Wille hingegen Das, dessen Funktion der ganze Mensch, seinem Seyn und Wesen nach, ist.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 764).

„Erwägen wir, nach außen blickend, daß h bioV bracuV, h de tecnh makra (vita brevis, ars longa), und betrachten, wie die größten und schönsten Geister, oft wann sie kaum den Gipfel ihrer Leistungsfähigkeit erreicht haben, imgleichen große Gelehrte, wann sie eben erst zu einer gründlichen Einsicht ihrer Wissenschaft gelangt sind, vom Tode hinweggerafft werden; so bestätigt uns auch Dieses, daß der Sinn und Zweck des Lebens kein intellektualer, sondern ein moralischer ist.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 764-765).

„Der durchgreifende Unterschied zwischen den geistigen und den moralischen Eigenschaften giebt sich endlich auch dadurch zu erkennen, daß der Intellekt höchst bedeutende Veränderungen durch die Zeit erleidet, während der Wille und Charakter von dieser unberührt bleibt. – Das Neugeborene hat noch gar keinen Gebrauch seines Verstandes, erlangt ihn jedoch, innerhalb der ersten zwei Monate, bis zur Anschauung und Apprehension der Dinge in der Außenwelt; welchen Vorgang ich in der Abhandlung »Ueber das Sehn und die Farben«, S. 10 der zweiten Auflage, näher dargelegt habe. Diesem ersten und wichtigsten Schritte folgt viel langsamer, nämlich meistens erst im dritten Jahre, die Ausbildung der Vernunft, bis zur Sprache und dadurch zum Denken. Dennoch bleibt die frühe Kindheit unwiderruflich der Albernheit und Dummheit preisgegeben: zunächst weil dem Gehirn noch die physische Vollendung fehlt, welche es, sowohl seiner Größe als seiner Textur nach, erst im siebenten Jahre erreicht. Sodann aber ist zu seiner energischen Thätigkeit noch der Antagonismus des Genitalsystems erfordert; daher jene erst mit der Pubertät anfängt. Durch dieselbe aber hat alsdann der Intellekt erst die bloße Fähigkeit zu seiner psychischen Ausbildung erlangt: diese selbst kann allein durch Uebung, Erfahrung und Belehrung gewonnen werden. Sobald daher der Geist sich der kindischen Albernheit entwunden hat, geräth er in die Schlingen zahlloser Irrthümer, Vorurtheile, Chimären, mitunter von der absurdesten und krassesten Art, die er eigensinnig festhält, bis die Erfahrung sie ihm nach und nach entwindet, manche auch unvermerkt abhanden kommen: dieses Alles geschieht erst im Lauf vieler Jahre; so daß man ihm zwar die Mündigkeit bald nach dem zwanzigsten Jahre zugesteht, die vollkommene Reife jedoch erst ins vierzigste Jahr, das Schwabenalter, versetzt hat. Allein während diese psychische, auf Hülfe von außen beruhende Ausbildung noch im Wachsen ist, fängt die innere physische Energie des Gehirns bereits an wieder zu sinken. Diese nämlich hat, vermöge ihrer Abhängigkeit vom Blutandrang und der Einwirkung des Pulsschlages auf das Gehirn, und dadurch wieder vom Uebergewicht des arteriellen Systems über das venöse, wie auch von der frischen Zartheit der Gehirnfasern, zudem auch durch die Energie des Genitalsystems, ihren eigentlichen Kulminationspunkt um das dreißigste Jahr: schon nach dem fünfunddreißigsten wird eine leise Abnahme derselben merklich, die durch das allmälig herankommende Uebergewicht des venösen Systems über das arterielle, wie auch durch die immer fester und spröder werdende Konsistenz der Gehirnfasern, mehr und mehr eintritt und viel merklicher sein würde, wenn nicht andererseits die psychische Vervollkommnung, durch Uebung, Erfahrung, Zuwachs der Kenntnisse und erlangte Fertigkeit im Handhaben derselben, ihr entgegenwirkte; welcher Antagonismus glücklicherweise bis ins späte Alter fortdauert, indem mehr und mehr das Gehirn einem ausgespielten Instrumente zu vergleichen ist. Aber dennoch schreitet die Abnahme der ursprünglichen, ganz auf organischen Bedingungen beruhenden Energie des Intellekts zwar langsam, aber unaufhaltsam weiter: das Vermögen ursprünglicher Konception, die Phantasie, die Bildsamkeit, das Gedächtniß, werden merklich schwächer, und so geht es Schritt vor Schritt abwärts, bis hinab in das geschwätzige, gedächtnißlose, halb bewußtlose, endlich ganz kindische Alter.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 765-766).

„Der Wille hingegen wird von allem diesem Werden, Wechsel und Wandel nicht mitgetroffen, sondern ist, vom Anfang bis zum Ende, unveränderlich der selbe. Das Wollen braucht nicht, wie das Erkennen, erlernt zu werden, sondern geht sogleich vollkommen von Statten. Das Neugeborene bewegt sich ungestüm, tobt und schreit: es will auf das heftigste; obschon es noch nicht weiß, was es will. Denn das Medium der Motive, der Intellekt, ist noch ganz unentwickelt: der Wille ist über die Außenwelt, wo seine Gegenstände liegen, im Dunkeln, und tobt jetzt wie ein Gefangener gegen die Wände und Gitter seines Kerkers. Doch allmälig wird es Licht: alsbald geben die Grundzüge des allgemeinen menschlichen Wollens und zugleich die hier vorhandene individuelle Modifikation derselben sich kund. Der schon hervortretende Charakter zeigt sich zwar erst in schwachen und schwankenden Zügen, wegen der mangelhaften Dienstleistung des Intellekts, der ihm die Motive vorzuhalten hat; aber für den aufmerksamen Beobachter kündigt er bald seine vollständige Gegenwart an, und in Kurzem wird sie unverkennbar. Die Charakterzüge treten hervor, welche für das ganze Leben bleibend sind: die Hauptrichtungen des Willens, die leicht erregbaren Affekte, die vorherrschende Leidenschaft, sprechen sich aus. Daher verhalten die Vorfälle in der Schule sich zu denen des künftigen Lebenslaufes meistens wie das stumme Vorspiel, welches dem im Hamlet bei Hofe aufzuführenden Drama vorhergeht und dessen Inhalt pantomimisch verkündet, zu diesem selbst. Keineswegs aber lassen sich eben so aus den im Knaben sich zeigenden intellektuellen Fähigkeiten die künftigen prognosticiren: vielmehr werden die ingenia praecocia, die Wunderkinder, in der Regel Flachköpfe; das Genie hingegen ist in der Kindheit oft von langsamen Begriffen und faßt schwer, eben weil es tief faßt. Diesem entspricht es, daß Jeder lachend und ohne Rückhalt die Albernheiten und Dummheiten seiner Kindheit erzählt, z.B. Goethe, wie er alles Kochgeschirr zum Fenster hinausgeworfen (Dichtung und Wahrheit, Bd. 1, S. 7): denn man weiß, daß alles Dieses nur das Veränderliche betrifft. Hingegen die schlechten Züge, die boshaften und hinterlistigen Streiche seiner Jugend wird ein kluger Mann nicht zum Besten geben: denn er fühlt, daß sie auch von seinem gegenwärtigen Charakter noch Zeugniß ablegen. Man hat mir erzählt, daß der Kranioskop und Menschenforscher Gall, wann er mit einem ihm noch unbekannten Mann in Verbindung zu treten hatte, diesen auf seine Jugendjahre und Jugendstreiche zu sprechen brachte, um, wo möglich, daraus die Züge seines Charakters ihm abzulauschen; weil dieser auch jetzt noch der selbe seyn mußte. Eben hierauf beruht es, daß, während wir auf die Thorheiten und den Unverstand unserer Jugendjahre gleichgültig, ja mit lächelndem Wohlgefallen zurücksehn, die schlechten Charakterzüge eben jener Zeit, die damals begangenen Bosheiten und Frevel, selbst im späten Alter als unauslöschliche Vorwürfe dastehn und unser Gewissen beängstigen. – Wie nun also der Charakter sich fertig einstellt, so bleibt er auch bis ins späte Alter unverändert. Der Angriff des Alters, welcher die intellektuellen Kräfte allmälig verzehrt, läßt die moralischen Eigenschaften unberührt. Die Güte des Herzens macht den Greis noch verehrt und geliebt, wann sein Kopf schon die Schwächen zeigt, die ihn dem Kindesalter wieder zu nähern anfangen. Sanftmuth, Geduld, Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, Uneigennützigkeit, Menschenfreundlichkeit u.s.w. erhalten sich durch das ganze Leben und gehn nicht durch Altersschwäche verloren: in jedem hellen Augenblick des abgelebten Greises treten sie unvermindert hervor, wie die Sonne aus Winterwolken. Und andererseits bleibt Bosheit, Tücke, Habsucht, Hartherzigkeit, Falschheit, Egoismus und Schlechtigkeit jeder Art auch bis ins späteste Alter unvermindert. Wir würden Dem nicht: glauben, sondern ihn auslachen, der uns sagte: »In frühem Jahren war ich ein boshafter Schurke, jetzt aber bin ich ein redlicher und edelmüthiger Mann.« Recht schön hat daher Walter Scott in Nigels fortunes am alten Wucherer gezeigt, wie brennender Geiz, Egoismus und Unredlichkeit noch in voller Blüthe stehn, gleich den Giftpflanzen im Herbst, und sich noch heftig äußern, nachdem der Intellekt schon kindisch geworden. Die einzigen Veränderungen, welche in unsern Neigungen vorgehn, sind solche, welche unmittelbare Folgen der Abnahme unserer Körperkräfte und damit der Fähigkeiten zum Genießen sind: so wird die Wollust der Völlerei Platz machen, die Prachtliebe dem Geiz, und die Eitelkeit der Ehrsucht; eben wie der Mann, welcher, ehe er noch einen Bart hatte, einen falschen anklebte, späterhin seinen grau gewordenen Bart braun färben wird. Während also alle organischen Kräfte, die Muskelstärke, die Sinne, das Gedächtniß, Witz, Verstand, Genie, sich abnutzen und im Alter stumpf werden, bleibt der Wille allein unversehrt und unverändert: der Drang und die Richtung des Wollens bleibt die selbe. Ja, in manchen Stücken zeigt sich im Alter der Wille noch entschiedener: so, in der Anhänglichkeit am Leben, welche bekanntlich zunimmt; sodann in der Festigkeit und Beharrlichkeit bei Dem, was er ein Mal ergriffen hat, im Eigensinn; welches daraus erklärlich ist, daß die Empfänglichkeit des Intellekts für andere Eindrücke und dadurch die Beweglichkeit des Willens durch hinzuströhmende Motive abgenommen hat: daher die Unversöhnlichkeit des Zorns und Hasses alter Leute: The young man's wrath is like light straw on fire; // But like red-hot steel is the old man's ire. (Old Ballad).“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 766-768).

„Aus allen diesen Betrachtungen wird es dem tiefern Blicke unverkennbar, daß, während der Intellekt eine lange Reihe allmäliger Entwickelungen zu durchlaufen hat, dann aber, wie alles Physische, dem Verfall entgegengeht, der Wille hieran keinen Theil nimmt, als nur sofern er Anfangs mit der Unvollkommenheit seines Werkzeuges, des Intellekts, und zuletzt wieder mit dessen Abgenutztheit zu kämpfen hat, selbst aber als ein Fertiges auftritt und unverändert bleibt, den Gesetzen der Zeit und des Werdens und Vergehns in ihr nicht unterworfen. Hiedurch also giebt er sich als das Metaphysische, nicht selbst der Erscheinungswelt Angehörige, zu erkennen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 768).

„Ganz speciell aber heißen Liebeshändel Herzensangelegenheiten, affaires de coeur; weil der Geschlechtstrieb der Brennpunkt des Willens ist und die Auswahl in Bezug auf denselben die Hauptangelegenheit des natürlichen menschlichen Wollens ausmacht, wovon ich den Grund in einem ausführlichen Kapitel zum vierten Buche nachweisen werde.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 769).

„10) Worauf beruht die Identität der Person? – Nicht auf der Materie des Leibes: sie ist nach wenigen Jahren eine andere. Nicht auf der Form desselben: sie ändert sich im Ganzen und in allen Theilen; bis auf den Ausdruck des Blickes, an welchem man daher auch nach vielen Jahren einen Menschen noch erkennt; welches beweist, daß trotz allen Veränderungen, die an ihm die Zeit hervorbringt, doch etwas in ihm davon völlig unberührt bleibt: es ist eben Dieses, woran wir, auch nach dem längsten Zwischenraume, ihn wiedererkennen und den Ehemaligen unversehrt wiederfinden; eben so auch uns selbst: denn wenn man auch noch so alt wird; so fühlt man doch im Innern sich ganz und gar als den selben, der man war, als man jung, ja, als man noch ein Kind war. Dieses, was unverändert stets ganz das Selbe bleibt und nicht mitaltert, ist eben der Kern unsers Wesens, welcher nicht in der Zeit liegt. – Man nimmt an, die Identität der Person beruhe auf der des Bewußtseyns. Versteht man aber unter dieser bloß die zusammenhängende Erinnerung des Lebenslaufs; so ist sie nicht ausreichend. Wir wissen von unserm Lebenslauf allenfalls etwas mehr, als von einem ehemals gelesenen Roman; dennoch nur das Allerwenigste. Die Hauptbegebenheiten, die interessanten Scenen haben sich eingeprägt: im Uebrigen sind tausend Vorgänge vergessen, gegen einen, der behalten worden. Je älter wir werden, desto spurloser geht Alles vorüber. Hohes Alter, Krankheit, Gehirnverletzung, Wahnsinn, können das Gedächtniß ganz rauben. Aber die Identität der Person ist damit nicht verloren gegangen. Sie beruht auf dem identischen Willen und dem unveränderlichen Charakter desselben. Er eben auch ist es, der den Ausdruck des Blicks unveränderlich macht. Im Herzen steckt der Mensch; nicht im Kopf. Zwar sind wir, in Folge unserer Relation mit der Außenwelt, gewohnt, als unser eigentliches Selbst das Subjekt des Erkennens, das erkennende Ich, zu betrachten, welches am Abend ermattet, im Schlafe verschwindet, am Morgen mit erneuerten Kräften heller strahlt. Dieses ist jedoch die bloße Gehirnfunktion und nicht unser eigenstes Selbst. Unser wahres Selbst, der Kern unsers Wesens, ist Das, was hinter jenem steckt und eigentlich nichts Anderes kennt, als wollen und nichtwollen, zufrieden und unzufrieden seyn, mit allen Modifikationen der Sache, die man Gefühle, Affekte und Leidenschaften nennt. Dies ist Das, was jenes Andere hervorbringt; nicht mitschläft, wann jenes schläft, und eben so, wann dasselbe im Tode untergeht, unversehrt bleibt. – Alles hingegen, was der Erkenntniß angehört, ist der Vergessenheit ausgesetzt: selbst die Handlungen von moralischer Bedeutsamkeit sind uns, nach Jahren, bisweilen nicht vollkommen erinnerlich, und wir wissen nicht mehr genau und ins Einzelne, wie wir in einem kritischen Fall gehandelt haben. Aber der Charakter selbst, von dem die Thaten bloß Zeugniß ablegen, kann von uns nicht vergessen werden: er ist jetzt noch ganz der selbe, wie damals. Der Wille selbst, allein und für sich, beharrt: denn er allein ist unveränderlich, unzerstörbar, nicht alternd, nicht physisch, sondern metaphysisch, nicht zur Erscheinung gehörig, sondern das Erscheinende selbst. Wie auf ihm auch die Identität des Bewußtseins, so weit sie geht, beruht, habe ich oben, Kapitel 15 (**), nachgewiesen, brauche mich also hier nicht weiter damit aufzuhalten“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 770-771).

„11) Aristoteles sagt beiläufig, im Buch über die Vergleichung des Wünschenswerthen: »gut leben ist besser als leben« (beltion tou zhn to eu zhn, Top. III, 2). Hieraus ließe sich, mittelst zweimaliger Kontraposition, folgern: nicht leben ist besser als schlecht leben. Dies ist dem Intellekt auch einleuchtend: dennoch leben die Allermeisten sehr schlecht, lieber als gar nicht. Diese Anhänglichkeit an das Leben kann also nicht im Objekt derselben ihren Grund haben, da das Leben, wie im vierten Buche gezeigt worden, eigentlich ein stetes Leiden, oder wenigstens, wie weiter unten, Kapitel 28 (**) dargethan wird, ein Geschäft ist, welches die Kosten nicht deckt: also kann jene Anhänglichkeit nur im Subjekt derselben gegründet seyn. Sie ist aber nicht im Intellekt gegründet, ist keine Folge der Ueberlegung, und überhaupt keine Sache der Wahl; sondern dies Lebenwollen ist etwas, das sich von selbst versteht: es ist ein prius des Intellekts selbst. Wir selbst sind der Wille zum Leben: daher müssen wir leben, gut oder schlecht. Nur daraus, daß diese Anhänglichkeit an ein Leben, welches ihrer so wenig werth ist, ganz a priori und nicht a posteriori ist, erklärt sich die allem Lebenden einwohnende, überschwängliche Todesfurcht, welche Rochefoucauld mit seltener Freimüthigkeit und Naivetät, in seiner letzten Reflexion, ausgesprochen hat, und auf der auch die Wirksamkeit aller Trauerspiele und Heldenthaten zuletzt beruht, als welche wegfallen würde, wenn wir das Leben nur nach seinem objektiven Werthe schätzten. Auf diesen unaussprechlichen horror mortis gründet sich auch der Lieblingssatz aller gewöhnlichen Köpfe, daß wer sich das Leben nimmt verrückt seyn müsse, nicht weniger jedoch das mit einer gewissen Bewunderung verknüpfte Erstaunen, welches diese Handlung, selbst in denkenden Köpfen, jedesmal hervorruft, weil dieselbe der Natur alles Lebenden so sehr entgegenläuft, daß wir Den, welcher sie zu vollbringen vermochte, in gewissem Sinne bewundern müssen, ja sogar eine gewisse Beruhigung darin finden, daß, auf die schlimmsten Fälle, dieser Ausweg wirklich offen steht, als woran wir zweifeln könnten, wenn es nicht die Erfahrung bestätigte. Denn der Selbstmord geht von einem Beschlüsse des Intellekts aus: unser Lebenwollen aber ist ein prius des Intellekts. – Auch diese Betrachtung also, welche Kapitel 28 (**) ausführlich zur Sprache kommt, bestätigt das Primat des Willens im Selbstbewußtsein.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 771-772).

„12) Hingegen beweist nichts deutlicher die sekundäre, abhängige, bedingte Natur des Intellekts, als seine periodische Intermittenz. Im tiefen Schlaf hört alles Erkennen und Vorstellen gänzlich auf. Allein der Kern unsers Wesens, das Metaphysische desselben, welches die organischen Funktionen als ihr primum mobile nothwendig voraussetzen, darf nie pausiren, wenn nicht das Leben aufhören soll, und ist auch, als ein Metaphysisches, mithin Unkörperliches, keiner Ruhe bedürftig. Daher haben die Philosophen, welche als diesen metaphysischen Kern eine Seele, d.h. ein ursprünglich und wesentlich erkennendes Wesen aufstellten, sich zu der Behauptung genöthigt gesehn, daß diese Seele in ihrem Vorstellen und Erkennen ganz unermüdlich sei, solches mithin auch im tiefsten Schlafe fortsetze; nur daß uns, nach dem Erwachen, keine Erinnerung davon bliebe. Das Falsche dieser Behauptung einzusehn wurde aber leicht, sobald man, in Folge der Lehre Kants, jene Seele bei Seite gesetzt hatte. Denn Schlaf und Erwachen zeigen dem unbefangenen Sinn auf das deutlichste, daß das Erkennen eine sekundäre und durch den Organismus bedingte Funktion ist, so gut wie irgend eine andere. Unermüdlich ist allein das Herz; weil sein Schlag und der Blutumlauf nicht unmittelbar durch Nerven bedingt, sondern eben die ursprüngliche Aeußerung des Willens sind. Auch alle andern, bloß durch Gangliennerven, die nur eine sehr mittelbare und entfernte Verbindung mit dem Gehirn haben, gelenkte, physiologische Funktionen werden im Schlafe fortgesetzt, wiewohl die Sekretionen langsamer geschehn: selbst der Herzschlag wird, wegen seiner Abhängigkeit von der Respiration, als welche durch das Cerebralsystem (medulla oblongata) bedingt ist, mit dieser ein wenig langsamer. Der Magen ist vielleicht im Schlaf am thätigsten, welches seinem speciellen, gegenseitige Störungen veranlassenden Consensus mit dem jetzt feiernden Gehirn zuzuschreiben ist. Das Gehirn allein, und mit ihm das Erkennen, pausirt im tiefen Schlafe ganz. Denn es ist bloß das Ministerium des Aeußern, wie das Gangliensystem das Ministerium des Innern ist. Das Gehirn, mit seiner Funktion des Erkennens, ist nichts weiter, als eine vom Willen, zu seinen draußen liegenden Zwecken, aufgestellte Vedette, welche oben, auf der Warte des Kopfes, durch die Fenster der Sinne umherschaut, aufpaßt, von wo Unheil drohe und wo Nutzen abzusehn sei, und nach deren Bericht der Wille sich entscheidet. Diese Vedette ist dabei, wie jeder im aktiven Dienst Begriffene, in einem Zustande der Spannung und Anstrengung, daher sie es gern sieht, wenn sie, nach verrichteter Wacht, wieder eingezogen wird; wie jede Wache gern wieder vom Posten abzieht. Dies Abziehn ist das Einschlafen, welches daher so süß und angenehm ist und zu welchem wir so willfährig sind: hingegen ist das Aufgerütteltwerden unwillkommen, weil es die Vedette plötzlich wieder auf den Posten ruft: man fühlt dabei ordentlich die nach der wohlthätigen Systole wieder eintretende beschwerliche Diastole, das Wiederauseinanderfahren des Intellekts vom Willen. Einer sogenannten Seele, die ursprünglich und von Hause aus ein erkennendes Wesen wäre, müßte, im Gegentheil, beim Erwachen zu Muthe seyn, wie dem Fisch, der wieder ins Wasser kommt. Im Schlafe, wo bloß das vegetative Leben fortgesetzt wird, wirkt der Wille allein nach seiner ursprünglichen und wesentlichen Natur, ungestört von außen, ohne Abzug seiner Kraft durch die Thätigkeit des Gehirns und Anstrengung des Erkennens, welches die schwerste organische Funktion, für den Organismus aber bloß Mittel, nicht Zweck ist: daher ist im Schlafe die ganze Kraft des Willens auf Erhaltung und, wo es nöthig ist, Ausbesserung des Organismus gerichtet; weshalb alle Heilung, alle wohlthätigen Krisen, im Schlaf erfolgen; indem die vis naturae medicatrix erst dann freies Spiel hat, wann sie von der Last der Erkenntnißfunktion befreit ist. Der Embryo, welcher gar erst den Leib noch zu bilden hat, schläft daher fortwährend und das Neugeborene den größten Theil seiner Zeit. In diesem Sinne erklärt auch Burdach (Physiologie, Bd. 3, S. 484) ganz richtig den Schlaf für den ursprünglichen Zustand.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 772-773).

„Das Bedürfniß des Schlafes steht demgemäß in geradem Verhältniß zur Intensität des Gehirnlebens, also zur Klarheit des Bewußtseyns. Solche Thiere, deren Gehirnleben schwach und dumpf ist, schlafen wenig und leicht, z.B. Reptilien und Fische: wobei ich erinnere, daß der Winterschlaf fast nur dem Namen nach ein Schlaf ist, nämlich nicht eine Inaktion des Gehirns allein, sondern des ganzen Organismus, also eine Art Scheintod. Thiere von bedeutender Intelligenz schlafen tief und lange. Auch Menschen bedürfen um so mehr Schlaf, je entwickelter, der Quantität und Qualität nach, und je thätiger ihr Gehirn ist. Montaigne erzählt von sich, daß er stets ein Langschläfer gewesen, einen großen Theil seines Lebens verschlafen habe und noch im hohem Alter acht bis neun Stunden in Einem Zuge schlafe (Liv. III, ch. 13). Auch von Cartesius wird uns berichtet, daß er viel geschlafen habe (Baillet, Vie de Descartes, 1693, p. 288). Kant hatte sich zum Schlaf sieben Stunden ausgesetzt: aber damit auszukommen wurde ihm so schwer, daß er seinem Bedienten befohlen hatte, ihn wider Willen und ohne auf seine Gegenreden zu hören, zur bestimmten Zeit zum Aufstehn zu zwingen (Jachmann, Immanuel Kant, S. 162). Denn je vollkommener wach Einer ist, d.h. je klarer und aufgeweckter sein Bewußtsein, desto größer ist für ihn die Nothwendigkeit des Schlafes, also desto tiefer und länger schläft er. Vieles Denken, oder angestrengte Kopfarbeit wird demnach das Bedürfniß des Schlafes vermehren. Daß auch fortgesetzte Muskelanstrengung schläfrig macht, ist daraus zu erklären, daß bei dieser das Gehirn fortdauernd, mittelst der medulla oblongata, des Rückenmarks und der motorischen Nerven, den Muskeln den Reiz ertheilt, der auf ihre Irritabilität wirkt, dasselbe also dadurch seine Kraft erschöpft: die Ermüdung, welche wir in Armen und Beinen spüren, hat demnach ihren eigentlichen Sitz im Gehirn; eben wie der Schmerz, den eben diese Theile fühlen, eigentlich im Gehirn empfunden wird: denn es verhält sich mit den motorischen, wie mit den sensibeln Nerven. Die Muskeln, welche nicht vom Gehirn aktuirt werden, z.B. die des Herzens, ermüden eben deshalb nicht. Aus dem selben Grunde ist es erklärlich, daß man sowohl während, als nach großer Muskelanstrengung nicht scharf denken kann. Daß man im Sommer viel weniger Energie des Geistes hat, als im Winter, ist zum Theil daraus erklärlich, daß man im Sommer weniger schläft: denn je tiefer man geschlafen hat, desto vollkommener wach, desto »aufgeweckter« ist man nachher. Dies darf uns jedoch nicht verleiten, den Schlaf über die Gebühr zu verlängern; weil er alsdann an Intension, d.h. Tiefe und Festigkeit, verliert, was er an Extension gewinnt; wodurch er zum bloßen Zeitverlust wird. Dies meint auch Goethe, wenn er (im zweiten Theil des »Faust«) vom Morgenschlummer sagt: »Schlaf ist Schaale: wirf sie fort.« – Ueberhaupt also bestätigt das Phänomen des Schlafes ganz vorzüglich, daß Bewußtseyn, Wahrnehmen, Erkennen, Denken, nichts Ursprüngliches in uns ist, sondern ein bedingter, sekundärer Zustand. Es ist ein Aufwand der Natur, und zwar ihr höchster, den sie daher, je höher er getrieben worden, desto weniger ohne Unterbrechung fortführen kann. Es ist das Produkt, die Efflorescenz des cerebralen Nervensystems, welches selbst, wie ein Parasit, vom übrigen Organismus genährt wird. Dies hängt auch mit Dem zusammen, was in unserm dritten Buche gezeigt wird, daß das Erkennen um so reiner und vollkommener ist, je mehr es sich vom Wollen losgemacht und gesondert hat, wodurch die rein objektive, die ästhetische Auffassung eintritt; eben wie ein Extraktum so reiner ist, je mehr er sich von Dem, woraus er abgezogen worden, gesondert und von allem Bodensatz geläutert hat. – Den Gegensatz zeigt der Wille, dessen unmittelbarste Aeußerung das ganze organische Leben und zunächst das unermüdliche Herz ist.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 774-775).

 

Kapitel 20 (dieses Kapitel bezieht sich auf § 20 des 1. Bandes): Objektivation des Willens im thierischen Organismus.

„Ich verstehe unter Objektivation das Sichdarstellen in der realen Körperwelt. Inzwischen ist diese selbst, wie im ersten Buch und dessen Ergänzungen ausführlich dargethan, durchaus bedingt durch das erkennende Subjekt, also den Intellekt, mithin außerhalb seiner Erkenntniß schlechterdings als solche undenkbar: denn sie ist zunächst nur anschauliche Vorstellung und als solche Gehirnphänomen. Nach ihrer Aufhebung würde das Ding an sich übrig bleiben. Daß dieses der Wille sei, ist das Thema des zweiten Buchs, und wird daselbst zuvörderst am menschlichen und thierischen Organismus nachgewiesen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 776).

„Die Erkenntniß der Außenwelt kann auch bezeichnet werden als das Bewußtsein anderer Dinge, im Gegensatz des Selbstbewußtseyns. Nachdem wir nun in diesem letztern den Willen als das eigentliche Objekt oder den Stoff desselben gefunden haben, werden wir jetzt, in der selben Absicht, das Bewußtseyn von andern Dingen, also die objektive Erkenntniß, in Betracht nehmen. Hier ist nun meine Thesis diese: was im Selbstbewußtsein, also subjektiv, der Intellekt ist, das stellt im Bewußtseyn anderer Dinge, also objektiv, sich als das Gehirn dar: und was im Selbstbewußtseyn, also subjektiv, der Wille ist, das stellt im Bewußtseyn anderer Dinge, also objektiv, sich als der gesammte Organismus dar.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 776).

„Zu den für diesen Satz, sowohl in unserm zweiten Buche, als in den beiden ersten Kapiteln der Abhandlung »Ueber den Willen in der Natur« (**), gelieferten Beweisen füge ich die folgenden Ergänzungen und Erläuterungen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 776).

„Zur Begründung des ersten Theiles jener Thesis ist das Meiste schon im vorhergehenden Kapitel beigebracht, indem an der Nothwendigkeit des Schlafes, an den Veränderungen durch das Alter, und an den Unterschieden der anatomischen Konformation nachgewiesen wurde, daß der Intellekt, als sekundärer Natur, durchgängig abhängt von einem einzelnen Organ, dem Gehirn, dessen Funktion er ist, wie das Greifen Funktion der Hand; daß er mithin physisch ist, wie die Verdauung, nicht metaphysisch, wie der Wille. Wie gute Verdauung einen gesunden, starken Magen, wie Athletenkraft muskulöse, sehnige Arme erfordert; so erfordert außerordentliche Intelligenz ein ungewöhnlich entwickeltes, schön gebautes, durch feine Textur ausgezeichnetes und durch energischen Pulsschlag belebtes Gehirn. Hingegen ist die Beschaffenheit des Willens von keinem Organ abhängig und aus keinem zu prognosticiren. Der größte Irrthum in Galls Schädellehre ist, daß er auch für moralische Eigenschaften Organe des Gehirns aufstellt. – Kopfverletzungen mit Verlust von Gehirnsubstanz wirken, in der Regel, sehr nachtheilig auf den Intellekt: sie haben gänzlichen oder theilweisen Blödsinn zur Folge, oder Vergessenheit der Sprache, auf immer oder auf eine Zeit, bisweilen jedoch von mehreren gewußten Sprachen nur einer, bisweilen wieder bloß der Eigennamen, imgleichen den Verlust anderer besessener Kenntnisse u. dgl. m. Hingegen lesen wir nie, daß nach einem Unglücksfall solcher Art der Charakter eine Veränderung erlitten hätte, daß der Mensch etwan moralisch schlechter oder besser geworden wäre, oder gewisse Neigungen oder Leidenschaften verloren, oder auch neue angenommen hätte; niemals. Denn der Wille hat seinen Sitz nicht im Gehirn, und überdies ist er, als das Metaphysische, das prius des Gehirns, wie des ganzen Leibes, daher nicht durch Verletzungen des Gehirns veränderlich. – Nach einem von Spallanzani gemachten und von Voltaire wiederholten Versuch28 bleibt eine Schnecke, der man den Kopf abgeschnitten, am Leben, und nach einigen Wochen wächst ihr ein neuer Kopf, nebst Fühlhörnern: mit diesem stellt sich Bewußtseyn und Vorstellung wieder ein; während bis dahin das Thier, durch ungeregelte Bewegungen, bloßen, blinden Willen zu erkennen gab. Auch hier also finden wir den Willen als die Substanz, welche beharrt, den Intellekt hingegen bedingt durch sein Organ, als das wechselnde Accidenz. Er läßt sich bezeichnen als der Regulator des Willens.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 776-777).

„Vielleicht ist es Tiedemann, welcher zuerst das cerebrale Nervensystem mit einem Parasiten verglichen hat (Tiedemann und Treviranus, Journal für Physiologie, Bd. 1, S. 62). Der Vergleich ist treffend, sofern das Gehirn, nebst ihm anhängendem Rückenmark und Nerven, dem Organismus gleichsam eingepflanzt ist und von ihm genährt wird, ohne selbst seinerseits zur Erhaltung der Oekonomie desselben direkt etwas beizutragen; daher das Leben auch ohne Gehirn bestehn kann, wie bei den hirnlosen Mißgeburten, auch bei Schildkröten, die nach abgeschnittenem Kopfe noch drei Wochen leben; nur muß dabei die medulla oblongata, als Organ der Respiration, verschont seyn. Sogar eine Henne, der Flourens das ganze große Gehirn weggeschnitten hatte, lebte noch zehn Monate und gedieh. Selbst beim Menschen führt die Zerstörung des Gehirns nicht direkt, sondern erst durch Vermittelung der Lunge und dann des Herzens den Tod herbei. Dagegen besorgt das Gehirn die Lenkung der Verhältnisse zur Außenwelt: dies allein ist sein Amt, und hiedurch trägt es seine Schuld an den es ernährenden Organismus ab; da dessen Existenz durch die äußern Verhältnisse bedingt ist. Demgemäß bedarf es, unter allen Theilen allein, des Schlafes: weil nämlich seine Thätigkeit von seiner Erhaltung völlig gesondert ist, jene bloß Kräfte und Substanz verzehrt, diese vom übrigen Organismus, als seiner Amme, geleistet wird: indem also seine Thätigkeit zu seinem Bestande nichts beiträgt, wird sie erschöpft, und erst wann sie pausirt, im Schlaf, geht seine Ernährung ungehindert von Statten.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 777-778).

„Der zweite Theil unserer obigen Thesis wird einer ausführlicheren Erörterung bedürfen, selbst nach Allem, was ich bereits in den angeführten Schriften darüber gesagt habe. – Schon oben, Kapitel 18 (**|**), habe ich nachgewiesen, daß das Ding an sich, welches jeder, also auch unserer eigenen Erscheinung zum Grunde liegen muß, im Selbstbewußtseyn die eine seiner Erscheinungsformen, den Raum, abstreift, und allein die andere, die Zeit, beibehält; weshalb es hier sich unmittelbarer als irgendwo kund giebt, und wir es, nach dieser seiner unverhülltesten Erscheinung, als Willen ansprechen. Nun aber kann, in der bloßen Zeit allein, sich keine beharrende Substanz, dergleichen die Materie ist, darstellen; weil eine solche, wie § 4 (**|**) des ersten Bandes dargethan, nur durch die innige Vereinigung des Raumes mit der Zeit möglich wird. Daher wird, im Selbstbewußtseyn, der Wille nicht als das bleibende Substrat seiner Regungen wahrgenommen, mithin nicht als beharrende Substanz angeschaut; sondern bloß seine einzelnen Akte, Bewegungen und Zustände, dergleichen die Entschließungen, Wünsche und Affekte sind, werden, successiv und während der Zeit ihrer Dauer, unmittelbar, jedoch nicht anschaulich, erkannt. Die Erkenntniß des Willens im Selbstbewußtseyn ist demnach keine Anschauung desselben, sondern ein ganz unmittelbares Innewerden seiner successiven Regungen. Hingegen für die nach außen gerichtete, durch die Sinne vermittelte und im Verstande vollzogene Erkenntniß, die neben der Zeit auch den Raum zur Form hat, welche Beide sie, durch die Verstandesfunktion der Kausalität, aufs Innigste verknüpft, wodurch sie eben zur Anschauung wird, stellt sich das Selbe, was in der innern unmittelbaren Wahrnehmung als Wille gefaßt wurde, anschaulich dar, als organischer Leib, dessen einzelne Bewegungen die Akte, dessen Theile und Formen die bleibenden Bestrebungen, den Grundcharakter des individuell gegebenen Willens veranschaulichen, ja, dessen Schmerz und Wohlbehagen ganz unmittelbare Affektionen dieses Willens selbst sind.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 778-779).

„Zunächst werden wir dieser Identität des Leibes mit dem Willen inne in den einzelnen Aktionen Beider; da in diesen was im Selbstbewußtseyn als unmittelbarer, wirklicher Willensakt erkannt wird, zugleich und ungetrennt sich äußerlich als Bewegung des Leibes darstellt, und Jeder seine, durch momentan eintretende Motive eben so momentan eintretenden Willensbeschlüsse alsbald in eben so vielen Aktionen seines Leibes so treu abgebildet erblickt, wie diese selbst in seinem Schatten; woraus dem Unbefangenen auf die einfachste Weise die Einsicht entspringt, daß sein Leib bloß die äußerliche Erscheinung seines Willens ist, d.h. die Art und Weise wie, in seinem anschauenden Intellekt, sein Wille sich darstellt; oder sein Wille selbst, unter der Form der Vorstellung. Nur wenn wir dieser ursprünglichen und einfachen Belehrung uns gewaltsam entziehn, können wir, auf eine kurze Weile, den Hergang unserer eigenen Leibesaktion als ein Wunder anstaunen, welches dann darauf beruht, daß zwischen dem Willensakt und der Leibesaktion wirklich keine Kausalverbindung ist: denn sie sind eben unmittelbar identisch, und ihre scheinbare Verschiedenheit entsteht allein daraus, daß hier das Eine und Selbe in zwei verschiedenen Erkenntnißweisen, der innern und der äußern, wahrgenommen wird. – Das wirkliche Wollen ist nämlich vom Thun unzertrennlich, und ein Willensakt im engsten Sinn ist nur der, welchen die That dazu stämpelt. Hingegen bloße Willensbeschlüsse sind, bis zur Ausführung, nur Vorsätze und daher Sache des Intellekts allein: sie haben als solche ihre Stelle bloß im Gehirn und sind nichts weiter, als abgeschlossene Berechnungen der relativen Stärke der verschiedenen, sich entgegenstehenden Motive, haben daher zwar große Wahrscheinlichkeit, aber nie Unfehlbarkeit. Sie können nämlich sich als falsch ausweisen, nicht nur mittelst Aenderung der Umstände, sondern auch dadurch, daß die Abschätzung der respektiven Wirkung der Motive auf den eigentlichen Willen irrig war, welches sich alsdann zeigt, indem die That dem Vorsatz untreu wird: daher eben ist vor der Ausführung kein Entschluß gewiß. Also ist allein im wirklichen Handeln der Wille selbst thätig, mithin in der Muskelaktion, folglich in der Irritabilität: also objektivirt sich in dieser der eigentliche Wille. Das große Gehirn ist der Ort der Motive, woselbst, durch diese, der Wille zur Willkür wird, d.h. eben durch Motive näher bestimmt wird. Diese Motive sind Vorstellungen, welche auf Anlaß äußerer Reize der Sinnesorgane, mittelst der Funktionen des Gehirns entstehn und auch zu Begriffen, dann zu Beschlüssen verarbeitet werden. Wann es zum wirklichen Willensakt kommt, wirken diese Motive, deren Werkstätte das große Gehirn ist, unter Vermittelung des kleinen Gehirns, auf das Rückenmark und die von diesem ausgehenden motorischen Nerven, welche dann auf die Muskeln wirken, jedoch bloß als Reize der Irritabilität derselben; da auch galvanische, chemische und selbst mechanische Reize die selbe Kontraktion, die der motorische Nerv hervorruft, bewirken können. Also was im Gehirn Motiv war, wirkt, wenn es durch die Nervenleitung zum Muskel gelangt, als bloßer Reiz. Die Sensibilität an sich ist völlig unvermögend einen Muskel zu kontrahiren: dies kann nur dieser selbst, und seine Fähigkeit hiezu heißt Irritabilität, d.h. Reizbarkeit: sie ist ausschließlich Eigenschaft des Muskels; wie Sensibilität ausschließliche Eigenschaft des Nerven ist. Dieser giebt zwar dem Muskel den Anlaß zu seiner Kontraktion; aber keineswegs ist er es, welcher, irgendwie mechanisch, den Muskel zusammenzöge: sondern dies geschieht ganz allein vermöge der Irritabilität, welche des Muskels selbst-eigene Kraft ist. Diese ist, von außen aufgefaßt, eine Qualitas occulta; und nur das Selbstbewußtseyn revelirt sie als den Willen. In der hier kurz dargelegten Kausalkette, von der Einwirkung des außenliegenden Motivs bis zur Kontraktion des Muskels, tritt nicht etwan der Wille als letztes Glied derselben mit ein; sondern er ist das metaphysische Substrat der Irritabilität des Muskels: er spielt also hier genau die selbe Rolle, welche, in einer physikalischen oder chemischen Kausalkette, die dabei dem Vorgange zum Grunde liegenden geheimnißvollen Naturkräfte spielen, welche als solche nicht selbst als Glieder in der Kausalkette begriffen sind, sondern allen Gliedern derselben die Fähigkeit zu wirken verleihen; wie ich dies in § 26 (**) des ersten Bandes ausführlich dargelegt habe. Daher würden wir eine dergleichen geheimnißvolle Naturkraft eben auch der Kontraktion des Muskels unterlegen; wenn diese uns nicht durch eine ganz anderweitige Erkenntnißquelle, das Selbstbewußtseyn, aufgeschlossen wäre, als Wille. Dieserhalb erscheint, wie oben gesagt, unsere eigene Muskelbewegung, wenn wir vom Willen ausgehn, uns als ein Wunder; weil zwar von dem außenliegenden Motiv bis zur Muskelaktion eine strenge Kausalkette fortgeht, der Wille selbst aber nicht als Glied in ihr begriffen ist, sondern als das metaphysische Substrat der Möglichkeit einer Aktuirung des Muskels durch Gehirn und Nerv, auch der gegenwärtigen Muskelaktion zum Grunde liegt; daher diese eigentlich nicht seine Wirkung, sondern seine Erscheinung ist. Als solche tritt sie ein in der, vom Willen an sich selbst ganz verschiedenen, Welt der Vorstellung, deren Form das Kausalitätsgesetz ist; wodurch sie, wenn man vom Willen ausgeht, für die aufmerksame Reflexion, das Ansehn eines Wunders erhält, für die tiefere Forschung aber die unmittelbarste Beglaubigung der großen Wahrheit liefert, daß was in der Erscheinung als Körper und ihr Wirken auftritt, an sich Wille ist. – Wenn nun etwan der motorische Nerv, der zu meiner Hand leitet, durchschnitten ist; so kann mein Wille sie nicht mehr bewegen. Dies liegt aber nicht daran, daß die Hand aufgehört hätte, wie jeder Theil meines Leibes, die Objektität, die bloße Sichtbarkeit, meines Willens zu seyn, oder mit andern Worten, daß die Irritabilität verschwunden wäre; sondern daran, daß die Einwirkung des Motivs, in Folge deren allein ich meine Hand bewegen kann, nicht zu ihr gelangen und als Reiz auf ihre Muskeln wirken kann, da die Leitung vom Gehirn zu ihr unterbrochen ist. Also ist eigentlich mein Wille, in diesem Theil, nur der Einwirkung des Motivs entzogen. In der Irritabilität objektivirt sich der Wille unmittelbar, nicht in der Sensibilität.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 779-781).

„Um über diesen wichtigen Punkt allen Mißverständnissen, besonders solchen, die von der rein empirisch betriebenen Physiologie ausgehn, vorzubeugen, will ich den ganzen Hergang etwas gründlicher auseinandersetzen. – Meine Lehre besagt, daß der ganze Leib der Wille selbst ist, sich darstellend in der Anschauung des Gehirns, folglich eingegangen in dessen Erkenntnißformen. Hieraus folgt, daß der Wille im ganzen Leibe überall gleichmäßig gegenwärtig sei; wie dies auch nachweislich der Fall ist; da die organischen Funktionen nicht weniger als die animalischen sein Werk sind. Wie nun aber ist es hiemit zu vereinigen, daß die willkürlichen Aktionen, diese unleugbarsten Aeußerungen des Willens, doch offenbar vom Gehirn ausgehn, sodann erst, durch das Mark, in die Nervenstämme gelangen, welche endlich die Glieder in Bewegung setzen, und deren Lähmung, oder Durchschneidung, daher die Möglichkeit der willkürlichen Bewegung aufhebt? Danach sollte man denken, daß der Wille, eben wie der Intellekt, seinen Sitz allein im Gehirn habe und, eben wie dieser, eine bloße Funktion des Gehirns sei.   –  Diesem ist jedoch nicht so; sondern der ganze Leib ist und bleibt die Darstellung des Willens in der Anschauung, also der, vermöge der Gehirnfunktionen, objektiv angeschaute Wille selbst. Jener Hergang, bei den Willensakten, beruht aber darauf, daß der Wille, welcher, nach meiner Lehre, in jeder Erscheinung der Natur, auch der vegetabilischen und unorganischen, sich äußert, im menschlichen und thierischen Leibe als ein bewußter Wille auftritt. Ein Bewußtsein aber ist wesentlich ein einheitliches und erfordert daher stets einen centralen Einheitspunkt. Die Nothwendigkeit des Bewußtseyns wird, wie ich oft auseinandergesetzt habe, dadurch herbeigeführt, daß, in Folge der gesteigerten Komplikation und dadurch der mannigfaltigeren Bedürfnisse eines Organismus, die Akte seines Willens durch Motive gelenkt werden müssen, nicht mehr, wie auf den tieferen Stufen, durch bloße Reize. Zu diesem Behuf mußte er hier mit einem erkennenden Bewußtsein, also mit einem Intellekt, als dem Medio und Ort der Motive, versehn auftreten. Dieser Intellekt, wenn selbst objektiv angeschaut, stellt sich dar als das Gehirn, nebst Dependenzien, also Rückenmark und Nerven. Er nun ist es, in welchem, auf Anlaß äußerer Eindrücke, die Vorstellungen entstehn, welche zu Motiven für den Willen werden. Im vernünftigen Intellekt aber erfahren sie hiezu überdies noch eine weitere Verarbeitung durch Reflexion und Ueberlegung. Ein solcher Intellekt nun also muß zuvörderst alle Eindrücke, nebst deren Verarbeitung durch seine Funktionen, sei es zu bloßer Anschauung, oder zu Begriffen, in einen Punkt vereinigen, der gleichsam der Brennpunkt aller seiner Strahlen wird, damit jene Einheit des Bewußtseins entstehe, welche das theoretische Ich ist, der Träger des ganzen Bewußtseyns, in welchem selbst es mit dem wollenden Ich, dessen bloße Erkenntnißfunktion es ist, als identisch sich darstellt. Jener Einheitspunkt des Bewußtseyns, oder das theoretische Ich, ist eben Kants synthetische Einheit der Apperception, auf welche alle Vorstellungen sich wie auf eine Perlenschnur reihen und vermöge deren das »Ich denke«, als Faden der Perlenschnur, »alle unsere Vorstellungen muß begleiten können«A4. – Dieser Sammelplatz der Motive also, woselbst ihr Eintritt in den einheitlichen Fokus des Bewußtseyns Statt hat, ist das Gehirn. Hier werden sie im vernunftlosen Bewußtseyn bloß angeschauet, im vernünftigen durch Begriffe verdeutlicht, also noch allererst in abstracto gedacht und verglichen; worauf der Wille sich, seinem individuellen und unwandelbaren Charakter gemäß, entscheidet, und so der Entschluß hervorgeht, welcher nunmehr, mittelst des Cerebellums, des Marks und der Nervenstämme, die äußeren Glieder in Bewegung setzt. Denn, wenn gleich auch in diesen der Wille ganz unmittelbar gegenwärtig ist, indem sie seine bloße Erscheinung sind; so bedurfte er, wo er nach Motiven, oder gar nach Ueberlegung, sich zu bewegen hat, eines solchen Apparats, zur Auffassung und Verarbeitung der Vorstellungen zu solchen Motiven, in deren Gemäßheit seine Akte hier als Entschlüsse auftreten; – eben wie die Ernährung des Bluts, durch den Chylus, eines Magens und der Gedärme bedarf, in welchen dieser bereitet wird und dann als solcher ihm zufließt durch den ductus thoracicus, welcher hier die Rolle spielt, die dort das Rückenmark hat. – Am einfachsten und allgemeinsten läßt die Sache sich so fassen: der Wille ist in allen Muskelfasern des ganzen Leibes als Irritabilität unmittelbar gegenwärtig, als ein fortwährendes Streben zur Thätigkeit überhaupt. Soll nun aber dieses Streben sich realisiren, also sich als Bewegung äußern; so muß diese Bewegung, eben als solche, irgend eine Richtung haben: diese Richtung aber muß durch irgend etwas bestimmt werden: d.h. sie bedarf eines Lenkers: dieser nun ist das Nervensystem. Denn der bloßen Irritabilität, wie sie in der Muskelfaser liegt und an sich purer Wille ist, sind alle Richtungen gleichgültig: also bestimmt sie sich nach keiner, sondern verhält sich wie ein Körper, der nach allen Richtungen gleichmäßig gezogen wird; er ruht. Indem die Nerventhätigkeit als Motiv (bei Reflexbewegungen als Reiz) hinzutritt, erhält die strebende Kraft, d.i. die Irritabilität, eine bestimmte Richtung und liefert jetzt die Bewegungen. – Diejenigen äußeren Willensakte jedoch, welche keiner Motive, also auch nicht der Verarbeitung bloßer Reize zu Vorstellungen im Gehirn, daraus eben Motive werden, bedürfen, sondern unmittelbar auf Reize, meistens innere, erfolgen, sind die Reflexbewegungen, ausgehend vom bloßen Rückenmark, wie z.B. die Spasmen und Krämpfe, in denen der Wille ohne Theilnahme des Gehirns wirkt. – Auf analoge Weise betreibt der Wille das organische Leben, ebenfalls auf Nervenreiz, welcher nicht vom Gehirn ausgeht. Nämlich der Wille erscheint in jedem Muskel als Irritabilität und ist folglich für sich im Stande, diesen zu kontrahiren; jedoch nur überhaupt: damit eine bestimmte Kontraktion, in einem gegebenen Augenblick, erfolge, bedarf es, wie überall, einer Ursache, die hier ein Reiz seyn muß. Diesen giebt überall der Nerv, welcher in den Muskel geht. Hängt dieser Nerv mit dem Gehirn zusammen; so ist die Kontraktion ein bewußter Willensakt, d.h. geschieht auf Motive, welche, in Folge äußerer Einwirkung, im Gehirn, als Vorstellungen, entstanden sind. Hängt der Nerv nicht mit dem Gehirn zusammen, sondern mit dem sympathicus maximus; so ist die Kontraktion unwillkürlich und unbewußt, nämlich ein dem organischen Leben dienender Akt, und der Nervenreiz dazu wird veranlaßt durch innere Einwirkung, z.B. durch den Druck der eingenommenen Nahrung auf den Magen, oder des Chymus auf die Gedärme, oder des einströmenden Blutes auf die Wände des Herzens: er ist demnach Magenverdauung, oder motus peristalticus, oder Herzschlag u.s.w..“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 781-783).

 

Kapitel 21: Rückblick und allgemeinere Betrachtung.

„Wäre nicht, wie die beiden vorhergehenden Kapitel darthun, der Intellekt sekundärer Natur; so würde nicht Alles, was ohne denselben, d.h. ohne Dazwischenkunft der Vorstellung, zu Stande kommt, wie z.B. die Zeugung, die Entwickelung und Erhaltung des Organismus, die Heilung der Wunden, der Ersatz oder die vikarirende Ergänzung verstümmelter Theile, die heilbringende Krisis in Krankheiten, die Werke thierischer Kunsttriebe und das Schaffen des Instinkts überhaupt, so unendlich besser und vollkommener ausfallen, als Das, was mit Hülfe des Intellekts geschieht, nämlich alle bewußten und beabsichtigten Leistungen und Werke der Menschen, als welche, gegen jene andern gehalten, bloße Stümperei sind. Ueberhaupt bedeutet Natur das ohne Vermittelung des Intellekts Wirkende, Treibende, Schaffende. Daß nun eben dieses identisch sei mit Dem, was wir in uns als Willen finden, ist das alleinige Thema dieses zweiten Buchs, wie auch der Abhandlung »Ueber den Willen in der Natur« (**). Die Möglichkeit dieser Grunderkenntniß beruht darauf, daß dasselbe in uns unmittelbar vom Intellekt, der hier als Selbstbewußtseyn auftritt, beleuchtet wird; sonst wir es eben so wenig in uns, als außer uns näher kennen lernen würden und ewig vor unerforschlichen Naturkräften stehn bleiben müßten. Die Beihülfe des Intellekts haben wir wegzudenken, wenn wir das Wesen des Willens an sich selbst erfassen und dadurch, so weit es möglich ist, ins Innere der Natur dringen wollen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 797-798).

„Dieserhalb ist, beiläufig gesagt, mein direkter Antipode unter den Philosophen Anaxagoras; da er zum Ersten und Ursprünglichen, wovon Alles ausgeht, einen nous, eine Intelligenz, ein Vorstellendes, beliebig annahm, und als der Erste gilt, der eine solche Ansicht aufgestellt hat. Derselben gemäß wäre die Welt früher in der bloßen Vorstellung, als an sich selbst vorhanden gewesen; während bei mir der erkenntnißlose Wille es ist, der die Realität der Dinge begründet, deren Entwickelung schon sehr weit gediehen seyn muß, ehe es endlich, im animalen Bewußtseyn, zur Vorstellung und Intelligenz kommt; so daß bei mir das Denken als das Allerletzte auftritt. Inzwischen hat, nach dem Zeugniß des Aristoteles (Metaph., I, 4), Anaxagoras selbst mit seinem nous nicht viel anzufangen gewußt, sondern ihn nur aufgestellt und dann eben stehn lassen, wie einen gemalten Heiligen am Eingang, ohne zu seinen Entwickelungen der Natur sich desselben zu bedienen, es sei denn in Nothfällen, wann er sich ein Mal nicht anders zu helfen wußte. – Alle Physikotheologie ist eine Ausführung des, der (Anfangs dieses Kapitels ausgesprochenen) Wahrheit entgegenstehenden, Irrthums, daß nämlich die vollkommenste Art der Entstehung der Dinge, die durch Vermittelung eines Intellekts sei. Daher eben schiebt dieselbe aller tiefern Ergründung der Natur einen Riegel vor.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 798).

„Seit Sokrates' Zeit und bis auf die unserige finden wir als einen Hauptgegenstand des unaufhörlichen Disputirens der Philosophen jenes ens rationis, genannt Seele. Wir sehn die Meisten die Unsterblichkeit, welches sagen will, die metaphysische Wesenheit, derselben behaupten, Andere jedoch, gestützt auf Thatsachen, welche die gänzliche Abhängigkeit des Intellekts von körperlichen Organen unwidersprechlich darthun, den Widerspruch dagegen unermüdet aufrecht erhalten. Jene Seele wurde von Allen und vor Allem als schlechthin einfach genommen: denn gerade hieraus wurde ihr metaphysisches Wesen, ihre Immaterialität und Unsterblichkeit bewiesen; obgleich diese gar nicht ein Mal nothwendig daraus folgt; denn, wenn wir auch die Zerstörung eines geformten Körpers uns nur durch Zerlegung in seine Theile denken können; so folgt daraus nicht, daß die Zerstörung eines einfachen Wesens, von dem wir ohnehin keinen Begriff haben, nicht auf irgend eine andere Art, etwan durch allmäliges Schwinden, möglich sei. Ich hingegen gehe davon aus, daß ich die vorausgesetzte Einfachheit unsers subjektiv bewußten Wesens, oder des Ichs, aufhebe, indem ich nachweise, daß die Aeußerungen, aus welchen man dieselbe folgerte, zwei sehr verschiedene Quellen haben, und daß allerdings der Intellekt physisch bedingt, die Funktion eines materiellen Organs, daher von diesem abhängig, und ohne dasselbe so unmöglich sei, wie das Greifen ohne die Hand, daß er demnach zur bloßen Erscheinung gehöre und also das Schicksal dieser theile, – daß hingegen der Wille an kein specielles Organ gebunden, sondern überall gegenwärtig, überall das eigentlich Bewegende und Bildende, mithin das Bedingende des ganzen Organismus sei, daß er in der That das metaphysische Substrat der gesammten Erscheinung ausmache, folglich nicht, wie der Intellekt, ein Posterius, sondern das Prius derselben, und diese von ihm, nicht er von ihr, abhängig sei. Der Leib aber wird sogar zu einer bloßen Vorstellung herabgesetzt, indem er nur die Art ist, wie in der Anschauung des Intellekts, oder Gehirns, der Wille sich darstellt. Der Wille hingegen, welcher in allen früheren, sonst noch so verschiedenen Systemen als eines der letzten Ergebnisse auftritt, ist bei mir das Allererste. Der Intellekt wird, als bloße Funktion des Gehirns, vom Untergang des Leibes mitgetroffen; hingegen keineswegs der Wille. Aus dieser Heterogeneität Beider, nebst der sekundären Natur des Intellekts, wird es begreiflich, daß der Mensch, in der Tiefe seines Selbstbewußtseyns, sich ewig und unzerstörbar fühlt, dennoch aber keine Erinnerung, weder a parte ante noch a parte post, über seine Lebensdauer hinaus haben kann. Ich will hier nicht der Erörterung der wahren Unzerstörbarkeit unsers Wesens, als welche ihre Stelle im vierten Buche hat, vorgreifen, sondern habe nur die Stelle, an welche sie sich knüpft, bezeichnen wollen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 798-799).

„Daß nun aber, in einem allerdings einseitigen, jedoch von unserm Standpunkt aus wahren Ausdrucke, der Leib eine bloße Vorstellung genannt wird, beruht darauf, daß ein Daseyn im Raum, als ein ausgedehntes, und in der Zeit, als ein sich änderndes, in Beiden aber durch Kausalnexus näher bestimmtes, nur möglich ist in der Vorstellung, als auf deren Formen jene Bestimmungen sämmtlich beruhen, also in einem Gehirn, in welchem demnach ein solches Daseyn als ein objektives, d.h. ein fremdes, auftritt. Daher kann selbst unser eigener Leib diese Art von Daseyn nur in einem Gehirn haben. Denn die Erkenntniß, welche ich von meinem Leibe als einem Ausgedehnten, Raumerfüllenden und Beweglichen habe, ist bloß mittelbar: sie ist ein Bild in meinem Gehirn, welches mittelst Sinne und Verstand zu Stande kommt. Unmittelbar gegeben ist mir der Leib allein in der Muskelaktion und im Schmerz oder Behagen, welche Beide zunächst und unmittelbar dem Willen angehören. – Das Zusammenbringen aber dieser beiden verschiedenen Erkenntnißweisen meines eigenen Leibes vermittelt nachher die fernere Einsicht, daß alle andern Dinge, welche ebenfalls das beschriebene objektive Daseyn, welches zunächst nur in meinem Gehirn ist, haben, deshalb nicht außer demselben gar nicht vorhanden seien, sondern ebenfalls an sich zuletzt eben Das seyn müssen, was sich dem Selbstbewußtseyn als Wille kund giebt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 799-800).

 

Kapitel 21 (dieses Kapitel bezieht sich auf die letztere Hälfte des § 27 des 1. Bandes): Objektive Ansicht des Intellekts.

„ Die Philosophen vor Kant, wenige ausgenommen, haben die Erklärung des Hergangs unsers Erkennens von der verkehrten Seite angegriffen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 804).

„Besagtermaaßen also machte man, beim Proceß des Erkennens, das allerletzte Produkt desselben, das abstrakte Denken, zum Ersten und Ursprünglichen, griff demnach, wie gesagt, die Sache am verkehrten Ende an.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 805).

„Aber nicht nur die Anschauung der Außenwelt, oder das Bewußtsein anderer Dinge, ist durch das Gehirn und seine Funktionen bedingt, sondern auch das Selbstbewußtseyn. Der Wille an sich selbst ist bewußtlos und bleibt es im größten Theile seiner Erscheinungen. Die sekundäre Welt der Vorstellung muß hinzutreten, damit er sich seiner bewußt werde; wie das Licht erst durch die es zurückwerfenden Körper sichtbar wird und außerdem sich wirkungslos in die Finsterniß verliert. Indem der Wille, zum Zweck der Auffassung seiner Beziehungen zur Außenwelt, im thierischen Individuo, ein Gehirn hervorbringt, entsteht erst in diesem das Bewußtsein des eigenen Selbst, mittelst des Subjekts des Erkennens, welches die Dinge als daseiend, das Ich als wollend auffaßt. Nämlich die im Gehirn aufs Höchste gesteigerte, jedoch in die verschiedenen Theile desselben ausgebreitete Sensibilität muß zuvörderst alle Strahlen ihrer Thätigkeit zusammenbringen, sie gleichsam in einen Brennpunkt koncentriren, der jedoch nicht, wie bei Hohlspiegeln, nach außen, sondern, wie bei Konvexspiegeln, nach innen fällt: mit diesem Punkte nun beschreibt sie zunächst die Linie der Zeit, auf der daher Alles, was sie vorstellt, sich darstellen muß und welche die erste und wesentlichste Form alles Erkennens, oder die Form des innern Sinnes ist. Dieser Brennpunkt der gesammten Gehirnthätigkeit ist Das, was Kant die synthetische Einheit der Apperception nannte: erst mittelst desselben wird der Wille sich seiner selbst bewußt, indem dieser Fokus der Gehirnthätigkeit, oder das Erkennende, sich mit seiner eigenen Basis, daraus er entsprungen ist, dem Wollenden, als identisch auffaßt und so das Ich entsteht. Dieser Fokus der Gehirnthätigkeit bleibt dennoch zunächst ein bloßes Subjekt des Erkennens und als solches fähig, der kalte und antheilslose Zuschauer, der bloße Lenker und Berather des Willens zu seyn, wie auch, ohne Rücksicht auf diesen und sein Wohl oder Weh, die Außenwelt rein objektiv aufzufassen. Aber sobald er sich nach innen richtet, erkennt er als die Basis seiner eigenen Erscheinung den Willen, und fließt daher mit diesem in das Bewußtseyn eines Ich zusammen. Jener Brennpunkt der Gehirnthätigkeit (oder das Subjekt der Erkenntniß) ist, als untheilbarer Punkt, zwar einfach, deshalb aber doch keine Substanz (Seele), sondern ein bloßer Zustand. Das, dessen Zustand er selbst ist, kann nur indirekt, gleichsam durch Reflex, von ihm erkannt werden: aber das Aufhören des Zustandes darf nicht angesehn werden als die Vernichtung Dessen, von dem es ein Zustand ist. Dieses erkennende und bewußte Ich verhält sich zum Willen, welcher die Basis der Erscheinung desselben ist, wie das Bild im Fokus des Hohlspiegels zu diesem selbst, und hat, wie jenes, nur eine bedingte, ja eigentlich bloß scheinbare Realität. Weit entfernt, das schlechthin Erste zu seyn (wie z.B. Fichte lehrte), ist es im Grunde tertiär, indem es den Organismus voraussetzt, dieser aber den Willen. – Ich gebe zu, daß alles hier Gesagte doch eigentlich nur Bild und Gleichniß, auch zum Theil hypothetisch sei: allein wir stehn bei einem Punkte, bis zu welchem kaum die Gedanken, geschweige die Beweise reichen. Ich bitte daher, es mit Dem zu vergleichen, was ich im zwanzigsten Kapitel (**|**) über diesen Gegenstand ausführlich beigebracht habe.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 805-806).

„Wie demnach Locke Alles, was mittelst der Empfindung in die Wahrnehmung kommt, den Sinnesorganen vindicirte, um es den Dingen an sich abzusprechen; so hat Kant, in gleicher Absicht und auf dem selben Wege weitergehend, Alles was die eigentliche Anschauung möglich macht, nämlich Raum, Zeit und Kausalität, als Gehirnfunktion nachgewiesen; wenn gleich er dieses physiologischen Ausdrucks sich enthalten hat, zu welchem jedoch unsere jetzige, von der entgegengesetzten, realen Seite kommende Betrachtungsweise uns nothwendig hinführt. Kant kam, auf seinem analytischen Wege, zu dem Resultat, daß was wir erkennen bloße Erscheinungen seien. Was dieser räthselhafte Ausdruck eigentlich besage, wird aus unserer objektiven und genetischen Betrachtung des Intellekts klar: es sind die Motive, für die Zwecke eines individuellen Willens, wie sie in dem, zu diesem Behuf von ihm hervorgebrachten Intellekt (welcher selbst, objektiv, als Gehirn erscheint) sich darstellen, und welche, so weit man ihre Verkettung verfolgen mag, aufgefaßt, in ihrem Zusammenhange die in Zeit und Raum sich objektiv ausbreitende Welt liefern, welche ich die Welt als Vorstellung nenne. Auch verschwindet, von unserm Gesichtspunkt aus, das Anstößige, welches in der Kantischen Lehre daraus entsteht, daß, indem der Intellekt, statt der Dinge, wie sie an sich sind, bloße Erscheinungen erkennt, ja, in Folge derselben zu Paralogismen und ungegründeten Hypostasen verleitet wird, mittelst »Sophistikationen, nicht der Menschen, sondern der Vernunft selbst, von denen selbst der Weiseste sich nicht losmachen, und vielleicht zwar nach vieler Bemühung den Irrthum verhüten, den Schein aber, der ihn unaufhörlich zwackt und äfft, niemals los werden kann«, – es das Ansehn gewinnt, als sei unser Intellekt absichtlich bestimmt, uns zu Irrthümern zu verleiten. Denn die hier gegebene objektive Ansicht des Intellekts, welche eine Genesis desselben enthält, macht begreiflich, daß er, ausschließlich zu praktischen Zwecken bestimmt, das bloße Medium der Motive ist, mithin durch richtige Darstellung dieser seine Bestimmung erfüllt, und daß, wenn wir aus dem Komplex und der Gesetzmäßigkeit der hiebei sich uns objektiv darstellenden Erscheinungen das Wesen der Dinge an sich selbst zu konstruiren unternehmen, dieses auf eigene Gefahr und Verantwortlichkeit geschieht. Wir haben nämlich erkannt, daß die ursprünglich erkenntnißlose und im Finstern treibende innere Kraft der Natur, welche, wenn sie sich bis zum Selbstbewußtseyn emporgearbeitet hat, sich diesem als Wille entschleiert, diese Stufe nur mittelst Produktion eines animalischen Gehirns und der Erkenntniß, als Funktion desselben, erreicht, wonach in diesem Gehirn das Phänomen der anschaulichen Welt entsteht. Nun aber dieses bloße Gehirnphänomen, mit der seinen Funktionen unwandelbar anhängenden Gesetzmäßigkeit, für das, unabhängig von ihm, vor ihm und nach ihm vorhandene, objektive Wesen an sich selbst der Welt und der Dinge in ihr zu erklären, ist offenbar ein Sprung, zu welchem nichts uns berechtigt. Aus diesem mundus phaenomenon, aus dieser, unter so vielfachen Bedingungen entstehenden Anschauung sind nun aber alle unsere Begriffe geschöpft, haben allen Gehalt nur von ihr, oder doch nur in Beziehung auf sie. Daher sind sie, wie Kant sagt, nur von immanentem, nicht von transscendentem Gebrauch: d.h. diese unsere Begriffe, dieses erste Material des Denkens, folglich noch mehr die durch ihre Zusammensetzung entstehenden Urtheile, sind der Aufgabe, das Wesen der Dinge an sich und den wahren Zusammenhang der Welt und des Daseyns zu denken, unangemessen: ja, dieses Unternehmen ist dem, den stereometrischen Gehalt eines Körpers in Quadratzollen auszudrücken, analog. Denn unser Intellekt, ursprünglich nur bestimmt, einem individuellen Willen seine kleinlichen Zwecke vorzuhalten, faßt demgemäß bloße Relationen der Dinge auf und dringt nicht in ihr Inneres, in ihr eigenes Wesen: er ist demnach eine bloße Flächenkraft, haftet an der Oberfläche der Dinge und faßt bloße species transitivas, nicht das wahre Wesen derselben. Hieraus eben entspringt es, daß wir kein einziges Ding, auch nicht das einfachste und geringste, durch und durch verstehn und begreifen können; sondern an jedem etwas uns völlig Unerklärliches übrig bleibt. – Eben weil der Intellekt ein Produkt der Natur und daher nur auf ihre Zwecke berechnet ist, haben die Christlichen Mystiker ihn recht artig das »Licht der Natur« benannt und in seine Schranken zurückgewiesen: denn die Natur ist das Objekt, zu welchem allein er das Subjekt ist. Jenem Ausdruck liegt eigentlich schon der Gedanke zum Grunde, aus dem die Kritik der reinen Vernunft entsprungen ist. Daß wir auf dem unmittelbaren Wege, d.h. durch die unkritische, direkte Anwendung des Intellekts und seiner Data, die Welt nicht begreifen können, sondern beim Nachdenken über sie uns immer tiefer in unauflösliche Räthsel verstricken, rührt eben daher, daß der Intellekt, also die Erkenntniß selbst, schon ein Sekundäres, ein bloßes Produkt ist, herbeigeführt durch die Entwickelung des Wesens der Welt, die ihm folglich bis dahin vorhergängig war, und er zuletzt eintrat, als ein Durchbruch ans Licht aus der dunkeln Tiefe des erkenntnißlosen Strebens, dessen Wesen sich in dem zugleich dadurch entstehenden Selbstbewußtseyn als Wille darstellt. Das der Erkenntniß als ihre Bedingung Vorhergängige, wodurch sie allererst möglich wurde, also ihre eigene Basis, kann nicht unmittelbar von ihr gefaßt werden; wie das Auge nicht sich selbst sehn kann. Vielmehr sind die auf der Oberfläche der Dinge sich darstellenden Verhältnisse zwischen Wesen und Wesen allein ihre Sache, und sind es nur mittelst des Apparats des Intellekts, nämlich seiner Formen, Raum, Zeit, Kausalität. Eben weil die Welt ohne Hülfe der Erkenntniß sich gemacht hat, geht ihr ganzes Wesen nicht in die Erkenntniß ein, sondern diese setzt das Daseyn der Welt schon voraus; weshalb der Ursprung desselben nicht in ihrem Bereiche liegt. Sie ist demnach beschränkt auf die Verhältnisse zwischen dem Vorhandenen, und damit für den individuellen Willen, zu dessen Dienst allein sie entstand, ausreichend. Denn der Intellekt ist, wie gezeigt worden, durch die Natur bedingt, liegt in ihr, gehört zu ihr, und kann daher nicht sich ihr als ein ganz Fremdes gegenüberstellen, um so ihr ganzes Wesen schlechthin objektiv und von Grund aus in sich aufzunehmen. Er kann, wenn das Glück gut ist, Alles in der Natur verstehn, aber nicht die Natur selbst, wenigstens nicht unmittelbar.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 814-816).

„So entmuthigend für die Metaphysik diese aus der Beschaffenheit und dem Ursprung des Intellekts hervorgehende wesentliche Beschränkung desselben auch seyn mag; so hat eben diese doch auch eine andere, sehr tröstliche Seite. Sie benimmt nämlich den unmittelbaren Aussagen der Natur ihre unbedingte Gültigkeit, in deren Behauptung der eigentliche Naturalismus besteht. Wenn daher auch die Natur uns jedes Lebende als aus dem Nichts hervorgehend und, nach einem ephemeren Daseyn, auf immer dahin zurückkehrend darstellt, und sie sich daran zu vergnügen scheint, unaufhörlich von Neuem hervorzubringen, um unaufhörlich zerstören zu können, hingegen nichts Bestehendes zu Tage zu fördern vermag; wenn wir demnach als das einzige Bleibende die Materie anerkennen müssen, welche, unentstanden und unvergänglich, Alles aus ihrem Schooße gebiert, weshalb ihr Name aus mater rerum entstanden scheint, und neben ihr, als den Vater der Dinge, die Form, welche, eben so flüchtig, wie jene beharrlich, eigentlich jeden Augenblick wechselt und sich nur erhalten kann, so lange sie sich der Materie parasitisch anklammert (bald diesem, bald jenem Theil derselben), aber wenn sie diesen Anhall ein Mal ganz verliert, untergeht, wie die Paläotherien und Ichthyosauren bezeugen; so müssen wir dies zwar als die unmittelbare und unverfälschte Aussage der Natur anerkennen; aber, wegen des oben auseinandergesetzten Ursprungs und daraus sich ergebender Beschaffenheit des Intellekts, können wir dieser Aussage keine unbedingte Wahrheit zugestehn, vielmehr nur eine durchweg bedingte, welche Kant treffend als eine solche bezeichnet hat, indem er sie die Erscheinung im Gegensatz des Dinges an sich nannte.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 816-817).

„Wenn es, trotz dieser wesentlichen Beschränkung des Intellekts, möglich wird, auf einem Umwege, nämlich mittelst der weit verfolgten Reflexion und durch künstliche Verknüpfung der nach außen gerichteten, objektiven Erkenntniß mit den Datis des Selbstbewußtseyns, zu einem gewissen Verständniß der Welt und des Wesens der Dinge zu gelangen; so wird dieses doch nur ein sehr limitirtes, ganz mittelbares und relatives, nämlich eine parabolische Uebersetzung in die Formen der Erkenntniß, also ein quadam prodire tenus seyn, welches stets noch viele Probleme ungelöst übrig lassen muß. – Hingegen war der Grundfehler des alten, durch Kant zerstörten Dogmatismus, in allen seinen Formen, dieser, daß er schlechthin von der Erkenntniß, d.i. der Welt als Vorstellung, ausgieng, um aus deren Gesetzen das Seiende überhaupt abzuleiten und aufzubauen, wobei er jene Welt der Vorstellung, nebst ihren Gesetzen, als etwas schlechthin Vorhandenes und absolut Reales nahm; während das ganze Daseyn derselben von Grund aus relativ und ein bloßes Resultat oder Phänomen des ihr zum Grunde liegenden Wesens an sich ist, – oder, mit andern Worten, daß er eine Ontologie konstruirte, wo er bloß zu einer Dianoiologie Stoff hatte. Kant deckte das subjektiv Bedingte und deshalb schlechterdings Immanente, d.h. zum transscendenten Gebrauch Untaugliche, der Erkenntniß, aus der eigenen Gesetzmäßigkeit dieser selbst, auf: weshalb er seine Lehre sehr treffend Kritik der Vernunft nannte. Er führte dies theils dadurch aus, daß er den beträchtlichen und durchgängigen apriorischen Theil aller Erkenntniß nachwies, welcher, als durchaus subjektiv, alle Objektivität verkümmert; theils dadurch, daß er angeblich darthat, daß die Grundsätze der als rein objektiv genommenen Erkenntniß, wenn bis ans Ende verfolgt, auf Widersprüche leiteten. Nur aber hatte er voreilig angenommen, daß außer der objektiven Erkenntniß, d.h. außer der Welt als Vorstellung, uns nichts gegeben sei, als etwan noch das Gewissen, aus welchem er das Wenige, was noch von Metaphysik übrig blieb, konstruirte, nämlich die Moraltheologie, welcher er jedoch auch schlechterdings nur praktische, durchaus nicht theoretische Gültigkeit zugestand. – Er hatte übersehn, daß, wenn gleich allerdings die objektive Erkenntniß, oder die Welt als Vorstellung, nichts, als Erscheinungen, nebst deren phänomenalen Zusammenhang und Regressus liefert; dennoch unser selbsteigenes Wesen nothwendig auch der Welt der Dinge an sich angehört, indem es in dieser wurzeln muß: hieraus aber müssen, wenn auch die Wurzel nicht gerade zu Tage gezogen werden kann, doch einige Data zu erfassen seyn, zur Aufklärung des Zusammenhangs der Welt der Erscheinungen mit dem Wesen an sich der Dinge. Hier also liegt der Weg, auf welchem ich über Kant und die von ihm gezogene Gränze hinausgegangen bin, jedoch stets auf dem Boden der Reflexion, mithin der Redlichkeit, mich haltend, daher ohne das windbeutelnde Vorgeben intellektualer Anschauung, oder absoluten Denkens, welches die Periode der Pseudophilosophie zwischen Kant und mir charakterisirt. Kant gieng, bei seiner Nachweisung des Unzulänglichen der vernünftigen Erkenntniß zur Ergründung des Wesens der Welt, von der Erkenntniß, als einer Thatsache, die unser Bewußtseyn liefert, aus, verfuhr also, in diesem Sinne, a posteriori. Ich aber habe in diesem Kapitel, wie auch in der Schrift »Ueber den Willen in der Natur«, nachzuweisen gesucht, was die Erkenntniß ihrem Wesen und Ursprung nach sei, nämlich ein Sekundäres, zu individuellen Zwecken Bestimmtes: woraus folgt, daß sie zur Ergründung des Wesens der Welt unzulänglich seyn muß; bin also, insofern, zum selben Ziel a priori gelangt. Man erkennt aber nichts ganz und vollkommen, als bis man darum herumgekommen und nun von der andern Seite zum Ausgangspunkt zurückgelangt ist. Daher muß man, auch bei der hier in Betracht genommenen, wichtigen Grunderkenntniß, nicht bloß, wie Kant gethan, vom Intellekt zur Erkenntniß der Welt gehn, sondern auch, wie ich hier unternommen habe, von der als vorhanden genommenen Welt zum Intellekt. Dann wird diese, im weitem Sinn, physiologische Betrachtung die Ergänzung jener ideologischen, wie die Franzosen sagen, richtiger transscendentalen“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 817-818).

 

Kapitel 23 (dieses Kapitel bezieht sich auf § 23 des 1. Bandes): Ueber die Objektivation des Willens in der erkenntnislosen Natur.

„Wenn wir den Willen da, wo ihn Niemand leugnet, also in den erkennenden Wesen, betrachten; so finden wir überall, als seine Grundbestimmung, die Selbsterhaltung eines jeden Wesens ....“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 826).

„In Deutschland hat Kant's Lehre den Absurditäten der Atomistik und der durchweg mechanischen Physik auf die Dauer vorgebeugt, wenn gleich im gegenwärtigen Augenblick diese Ansichten auch hier grassiren; welches eine Folge der durch Hegel herbeigeführten Seichtigkeit, Rohheit und Unwissenheit ist.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 830).

 

NACH OBEN Ergänzungen  zum dritten Buch

Kapitel 30 (dieses Kapitel bezieht sich auf § 33, 34 des 1. Bandes): Vom reinen Subjekt des Erkennens.

„Zur Auffassung einer Idee, zum Eintritt derselben in unser Bewußtseyn, kommt es nur mittelst einer Veränderung in uns, die man auch als einen Akt der Selbstverleugnung betrachten könnte; sofern sie darin besteht, daß die Erkenntniß sich ein Mal vom eigenen Willen gänzlich abwendet, also das ihr anvertraute theure Pfand jetzt gänzlich aus den Augen läßt und die Dinge so betrachtet, als ob sie den Willen nie etwas angehn könnten. Denn hiedurch allein wird die Erkenntniß zum reinen Spiegel des objektiven Wesens der Dinge. Jedem ächten Kunstwerk muß eine so bedingte Erkenntniß, als sein Ursprung, zum Grunde liegen. Die zu derselben erforderte Veränderung im Subjekte kann, eben weil sie in der Elimination alles Wollens besteht, nicht vom Willen ausgehn, also kein Akt der Willkür seyn, d.h. nicht in unserm Belieben stehn. Vielmehr entspringt sie allein aus einem temporären Ueberwiegen des Intellekts über den Willen, oder, physiologisch betrachtet, aus einer starken Erregung der anschauenden Gehirnthätigkeit, ohne alle Erregung der Neigungen oder Affekte. Um dies etwas genauer zu erläutern, erinnere ich daran, daß unser Bewußtseyn zwei Seiten hat: theils nämlich ist es Bewußtseyn vom eigenen Selbst, welches der Wille ist; theils Bewußtseyn von andern Dingen, und als solches zunächst anschauende Erkenntniß der Außenwelt, Auffassung der Objekte. Je mehr nun die eine Seite des gesammten Bewußtseyns hervortritt, desto mehr weicht die andere zurück. Demnach wird das Bewußtseyn anderer Dinge, also die anschauende Erkenntniß, um so vollkommener, d.h. um so objektiver, je weniger wir uns dabei des eigenen Selbstbewußt sind. Hier findet wirklich ein Antagonismus Statt. Je mehr wir des Objekts uns bewußt sind, desto weniger des Subjekts: je mehr hingegen dieses das Bewußtseyn einnimmt, desto schwächer und unvollkommener ist unsere Anschauung der Außenwelt. Der zur reinen Objektivität der Anschauung erforderte Zustand hat theils bleibende Bedingungen, in der Vollkommenheit des Gehirns und der seiner Thätigkeit günstigen physiologischen Beschaffenheit überhaupt; theils vorübergehende, sofern derselbe begünstigt wird durch Alles, was die Spannung und Empfänglichkeit des cerebralen Nervensystems, jedoch ohne Erregung irgend einer Leidenschaft, erhöht. Man denke hiebei nicht an geistige Getränke, oder Opium: vielmehr gehört dahin eine ruhig durchschlafene Nacht, ein kaltes Bad und Alles was, durch Beruhigung des Blutumlaufs und der Leidenschaftlichkeit, der Gehirnthätigkeit ein unerzwungenes Uebergewicht verschafft. Diese naturgemäßen Beförderungsmittel der cerebralen Nerventhätigkeit sind es vorzüglich, welche, freilich um so besser, je entwickelter und energischer überhaupt das Gehirn ist, bewirken, daß immer mehr das Objekt sich vom Subjekt ablöst, und endlich jenen Zustand der reinen Objektivität der Anschauung herbeiführen, welcher von selbst den Willen aus dem Bewußtseyn eliminirt und in welchem alle Dinge mit erhöhter Klarheit und Deutlichkeit vor uns stehn; so daß wir beinah bloß von ihnen wissen, und fast gar nicht von uns; also unser ganzes Bewußtseyn fast nichts weiter ist, als das Medium, dadurch das angeschaute Objekt in die Welt als Vorstellung eintritt. Zum reinen willenlosen Erkennen kommt es also, indem das Bewußtseyn anderer Dinge sich so hoch potenzirt, daß das Bewußtseyn vom eigenen Selbst verschwindet. Denn nur dann faßt man die Welt rein objektiv auf, wann man nicht mehr weiß, daß man dazu gehört; und alle Dinge stellen sich um so schöner dar, je mehr man sich bloß ihrer und je weniger man sich seiner selbst bewußt ist. – Da nun alles Leiden aus dem Willen, der das eigentliche Selbst ausmacht, hervorgeht; so ist, mit dem Zurücktreten dieser Seite des Bewußtseyns, zugleich alle Möglichkeit des Leidens aufgehoben, wodurch der Zustand der reinen Objektivität der Anschauung ein durchaus beglückender wird; daher ich in ihm den einen der zwei Bestandtheile des ästhetischen Genusses nachgewiesen habe. Sobald hingegen das Bewußtseyn des eigenen Selbst, also die Subjektivität, d.i. der Wille, wieder das Uebergewicht erhält, tritt auch ein demselben angemessener Grad von Unbehagen oder Unruhe ein: von Unbehagen, sofern die Leiblichkeit (der Organismus, welcher an sich Wille ist) wieder fühlbar wird; von Unruhe, sofern der Wille, auf geistigem Wege, durch Wünsche, Affekte, Leidenschaften, Sorgen, das Bewußtseyn wieder erfüllt. Denn überall ist der Wille, als das Princip der Subjektivität, der Gegensatz, ja, Antagonist der Erkenntniß. Die größte Koncentration der Subjektivität besteht im eigentlichen Willensakt, in welchem wir daher das deutlichste Bewußtseyn unsers Selbst haben. Alle andern Erregungen des Willens sind nur Vorbereitungen zu ihm: er selbst ist für die Subjektivität Das, was für den elektrischen Apparat das Ueberspringen des Funkens ist. – Jede leibliche Empfindung ist schon an sich Erregung des Willens und zwar öfterer der noluntas, als der voluntas. Die Erregung desselben auf geistigem Wege ist die, welche mittelst der Motive geschieht: hier wird also durch die Objektivität selbst die Subjektivität erweckt und ins Spiel gesetzt. Dies tritt ein, sobald irgend ein Objekt nicht mehr rein objektiv, also antheilslos, aufgefaßt wird, sondern, mittelbar oder unmittelbar, Wunsch oder Abneigung erregt, sei es auch nur mittelst einer Erinnerung: denn alsdann wirkt es schon als Motiv, im weitesten Sinne dieses Worts.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 888-890).

„Ich bemerke hiebei, daß das abstrakte Denken und das Lesen, welche an Worte geknüpft sind, zwar im weitem Sinne auch zum Bewußtseyn anderer Dinge, also zur objektiven Beschäftigung des Geistes, gehören; jedoch nur mittelbar, nämlich mittelst der Begriffe: diese selbst aber sind das künstliche Produkt der Vernunft und schon daher ein Werk der Absichtlichkeit. Auch ist bei aller abstrakten Geistesbeschäftigung der Wille der Lenker, als welcher ihr, seinen Absichten gemäß, die Richtung ertheilt und auch die Aufmerksamkeit zusammenhält; daher dieselbe auch stets mit einiger Anstrengung verknüpft ist: diese aber setzt Thätigkeit des Willens voraus. Bei dieser Art der Geistesthätigkeit hat also nicht die vollkommene Objektivität des Bewußtseyns Statt, wie sie, als Bedingung, die ästhetische Auffassung, d.i. die Erkenntniß der Ideen, begleitet.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 890).

„Dem Obigen zufolge ist die reine Objektivität der Anschauung, vermöge welcher nicht mehr das einzelne Ding als solches, sondern die Idee seiner Gattung erkannt wird, dadurch bedingt, daß man nicht mehr seiner selbst, sondern allein der angeschauten Gegenstände sich bewußt ist, das eigene Bewußtseyn also bloß als der Träger der objektiven Existenz jener Gegenstände übrig geblieben ist. Was diesen Zustand erschwert und daher selten macht, ist, daß darin gleichsam das Accidenz (der Intellekt) die Substanz (den Willen) bemeistert und aufhebt, wenn gleich nur auf eine kurze Weile. Hier liegt auch die Analogie und sogar Verwandtschaft desselben mit der am Ende des folgenden Buches dargestellten Verneinung des Willens. – Obgleich nämlich die Erkenntniß, wie im vorigen Buche nachgewiesen, aus dem Willen entsprossen ist und in der Erscheinung desselben, dem Organismus, wurzelt; so wird sie doch gerade durch ihn verunreinigt, wie die Flamme durch ihr Brennmaterial und seinen Rauch. Hierauf beruht es, daß wir das rein objektive Wesen der Dinge, die in ihnen hervortretenden Ideen, nur dann auffassen können, wann wir kein Interesse an ihnen selbst haben, indem sie in keiner Beziehung zu unserm Willen stehn. Hieraus nun wieder entspringt es, daß die Ideen der Wesen uns leichter aus dem Kunstwerk, als aus der Wirklichkeit ansprechen. Denn was wir nur im Bilde, oder in der Dichtung erblicken, steht außer aller Möglichkeit irgend einer Beziehung zu unserm Willen; da es schon an sich selbst bloß für die Erkenntniß daist und sich unmittelbar allein an diese wendet. Hingegen setzt das Auffassen der Ideen aus der Wirklichkeit gewissermaaßen ein Abstrahiren vom eigenen Willen, ein Erheben über sein Interesse, voraus, welches eine besondere Schwungkraft des Intellekts erfordert. Diese ist im höhern Grade und auf einige Dauer nur dem Genie eigen, als welches eben darin besteht, daß ein größeres Maaß von Erkenntnißkraft daist, als der Dienst eines individuellen Willens erfordert, welcher Ueberschuß frei wird und nun ohne Bezug auf den Willen die Welt auffaßt. Daß also das Kunstwerk die Auffassung der Ideen, in welcher der ästhetische Genuß besteht, so sehr erleichtert, beruht nicht bloß darauf, daß die Kunst, durch Hervorhebung des Wesentlichen und Aussonderung des Unwesentlichen, die Dinge deutlicher und charakteristischer darstellt, sondern eben so sehr darauf, daß das zur rein objektiven Auffassung des Wesens der Dinge erforderte gänzliche Schweigen des Willens am sichersten dadurch erreicht wird, daß das angeschaute Objekt selbst gar nicht im Gebiete der Dinge liegt, welche einer Beziehung zum Willen fähig sind, indem es kein Wirkliches, sondern ein bloßes Bild ist. Dies nun gilt nicht allein von den Werken der bildenden Kunst, sondern eben so von der Poesie: auch ihre Wirkung ist bedingt durch die antheilslose, willenlose und dadurch rein objektive Auffassung. Diese ist es gerade, welche einen angeschauten Gegenstand malerisch, einen Vorgang des wirklichen Lebens poetisch erscheinen läßt; indem nur sie über die Gegenstände der Wirklichkeit jenen zauberischen Schimmer verbreitet, welchen man bei sinnlich angeschauten Objekten das Malerische, bei den nur in der Phantasie geschauten das Poetische nennt. Wenn die Dichter den heitern Morgen, den schönen Abend, die stille Mondnacht u. dgl. m. besingen; so ist, ihnen unbewußt, der eigentliche Gegenstand ihrer Verherrlichung das reine Subjekt des Erkennens, welches durch jene Naturschönheiten hervorgerufen wird, und bei dessen Auftreten der Wille aus dem Bewußtseyn verschwindet, wodurch diejenige Ruhe des Herzens eintritt, welche außerdem auf der Welt nicht zu erlangen ist. Wie könnte sonst z.B. der Vers Nox erat, et coelo fulgebat luna sereno, // Inter minora sidera, so wohlthuend, ja, bezaubernd auf uns wirken? – Ferner daraus, daß auch die Neuheit und das völlige Fremdseyn der Gegenstände einer solchen antheilslosen, rein objektiven Auffassung derselben günstig ist, erklärt es sich, daß der Fremde, oder bloß Durchreisende, die Wirkung des Malerischen, oder Poetischen, von Gegenständen erhält, welche dieselben auf den Einheimischen nicht hervorzubringen vermögen: so z.B. macht auf Jenen der Anblick einer ganz fremden Stadt oft einen sonderbar angenehmen Eindruck, den er keineswegs im Bewohner derselben hervorbringt: denn er entspringt daraus, daß Jener, außer aller Beziehung zu dieser Stadt und ihren Bewohnern stehend, sie rein objektiv anschaut. Hierauf beruht zum Theil der Genuß des Reisens. Auch scheint hier der Grund zu liegen, warum man die Wirkung erzählender oder dramatischer Werke dadurch zu befördern sucht, daß man die Scene in ferne Zeiten und Länder verlegt: in Deutschland nach Italien und Spanien; in Italien nach Deutschland, Polen und sogar Holland. – Ist nun die völlig objektive, von allem Wollen gereinigte, intuitive Auffassung Bedingung des Genusses ästhetischer Gegenstände; so ist sie um so mehr die der Hervorbringung derselben. Jedes gute Gemälde, jedes ächte Gedicht, trägt das Gepräge der beschriebenen Gemüthsverfassung. Denn nur was aus der Anschauung, und zwar der rein objektiven, entsprungen, oder unmittelbar durch sie angeregt ist, enthält den lebendigen Keim, aus welchem ächte und originelle Leistungen erwachsen können: nicht nur in den bildenden Künsten, sondern auch in der Poesie, ja, in der Philosophie. Das punctum saliens jedes schönen Werkes, jedes großen oder tiefen Gedankens, ist eine ganz objektive Anschauung. Eine solche aber ist durchaus durch das völlige Schweigen des Willens bedingt, welches den Menschen als reines Subjekt des Erkennens übrig läßt. Die Anlage zum Vorwalten dieses Zustandes ist eben das Genie.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 890-893).

„Mit dem Verschwinden des Willens aus dem Bewußtseyn ist eigentlich auch die Individualität, und mit dieser ihr Leiden und ihre Noth, aufgehoben. Daher habe ich das dann übrig bleibende reine Subjekt des Erkennens beschrieben als das ewige Weltauge, welches, wenn auch mit sehr verschiedenen Graden der Klarheit, aus allen lebenden Wesen sieht, unberührt vom Entstehn und Vergehn derselben, und so, als identisch mit sich, als stets Eines und das Selbe, der Träger der Welt der beharrenden Ideen, d.i. der adäquaten Objektität des Willens, ist; während das individuelle und durch die aus dem Willen entspringende Individualität in seinem Erkennen getrübte Subjekt, nur einzelne Dinge zum Objekt hat und wie diese selbst vergänglich ist. – In dem hier bezeichneten Sinne kann man Jedem ein zwiefaches Daseyn beilegen. Als Wille, und daher als Individuum, ist er nur Eines und dieses Eine ausschließlich, welches ihm vollauf zu thun und zu leiden giebt. Als rein objektiv Vorstellendes ist er das reine Subjekt der Erkenntniß, in dessen Bewußtseyn allein die objektive Welt ihr Daseyn hat: als solches ist er alle Dinge, sofern er sie anschaut, und in ihm ist ihr Daseyn ohne Last und Beschwerde. Es ist nämlich sein Daseyn, sofern es in seiner Vorstellung existirt; aber da ist es ohne Wille. Sofern es hingegen Wille ist, ist es nicht in ihm. Wohl ist Jedem in dem Zustande, wo er alle Dinge ist; wehe da, wo er ausschließlich Eines ist. – Jeder Zustand, jeder Mensch, jede Scene des Lebens, braucht nur rein objektiv aufgefaßt und zum Gegenstand einer Schilderung, sei es mit dem Pinsel oder mit Worten, gemacht zu werden, um interessant, allerliebst, beneidenswerth zu erscheinen; – aber steckt man darin, ist man es selbst, – da (heißt es oft) mag es der Teufel aushallen. Daher sagt Goethe: Was im Leben uns verdrießt, // Man im Bilde gern genießt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 893).

„In meinen Jünglingsjahren hatte ich eine Periode, wo ich beständig bemüht war, mich und mein Thun von außen zu sehn und mir zu schildern; – wahrscheinlich um es mir genießbar zu machen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 893).

„Da die hier durchgeführte Betrachtung vor mir nie zur Sprache gekommen ist, will ich einige psychologische Erläuterungen derselben hinzufügen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 893).

„Bei der unmittelbaren Anschauung der Welt und des Lebens betrachten wir, in der Regel, die Dinge bloß in ihren Relationen, folglich ihrem relativen, nicht ihrem absoluten Wesen und Daseyn nach. Wir werden z.B. Häuser, Schiffe, Maschinen und dgl. ansehn mit dem Gedanken an ihren Zweck und an ihre Angemessenheit zu demselben; Menschen mit dem Gedanken an ihre Beziehung zu uns, wenn sie eine solche haben; nächstdem aber mit dem an ihre Beziehung zu einander, sei es in ihrem gegenwärtigen Thun und Treiben, oder ihrem Stande und Gewerbe nach, etwan ihre Tüchtigkeit dazu beurtheilend u.s.w. Wir können eine solche Betrachtung der Relationen mehr oder weniger weit verfolgen, bis zu den entferntesten Gliedern ihrer Verkettung: die Betrachtung wird dadurch an Genauigkeit und Ausdehnung gewinnen; aber ihrer Qualität und Art nach bleibt sie die selbe. Es ist die Betrachtung der Dinge in ihren Relationen, ja, mittelst dieser, also nach dem Satz vom Grunde. Dieser Betrachtungsweise ist Jeder meistens und in der Regel hingegeben: ich glaube sogar, daß die meisten Menschen gar keiner andern fähig sind. – Geschieht es nun aber ausnahmsweise, daß wir eine momentane Erhöhung der Intensität unserer intuitiven Intelligenz erfahren; so sehn wir sogleich die Dinge mit ganz andern Augen, indem wir sie jetzt nicht mehr ihren Relationen nach, sondern nach Dem, was sie an und für sich selbst sind, auffassen und nun plötzlich, außer ihrem relativen, auch ihr absolutes Daseyn wahrnehmen. Alsbald vertritt jedes Einzelne seine Gattung: demnach fassen wir jetzt das Allgemeine der Wesen auf. Was wir nun dergestalt erkennen, sind die Ideen der Dinge: aus diesen aber spricht jetzt eine höhere Weisheit, als die, welche von bloßen Relationen weiß. Auch wir selbst sind dabei aus den Relationen herausgetreten und dadurch das reine Subjekt des Erkennens geworden. – Was nun aber diesen Zustand ausnahmsweise herbeiführt, müssen innere physiologische Vorgänge seyn, welche die Thätigkeit des Gehirns reinigen und erhöhen, in dem Grade, daß eine solche plötzliche Springfluth derselben entsteht. Von außen ist derselbe dadurch bedingt, daß wir der zu betrachtenden Scene völlig fremd und von ihr abgesondert bleiben, und schlechterdings nicht thätig darin verflochten sind.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 893-894).

„Um einzusehn, daß eine rein objektive und daher richtige Auffassung der Dinge nur dann möglich ist, wann wir dieselben ohne allen persönlichen Antheil, also unter völligem Schweigen des Willens betrachten, vergegenwärtige man sich, wie sehr jeder Affekt, oder Leidenschaft, die Erkenntniß trübt und verfälscht, ja, jede Neigung oder Abneigung, nicht etwan bloß das Urtheil, nein, schon die ursprüngliche Anschauung der Dinge entstellt, färbt, verzerrt. Man erinnere sich, wie, wann wir durch einen glücklichen Erfolg erfreut sind, die ganze Welt sofort eine heitere Farbe und eine lachende Gestalt annimmt; hingegen düster und trübe aussieht, wann Kummer uns drückt; sodann, wie selbst ein lebloses Ding, welches jedoch das Werkzeug zu irgend einem von uns verabscheuten Vorgang werden soll, eine scheußliche Physiognomie zu haben scheint: z.B. das Schafott, die Festung, auf welche wir gebracht werden, der Instrumentenkasten des Chirurgus, der Reisewagen der Geliebten u.s.w., ja, Zahlen, Buchstaben, Siegel, können uns furchtbar angrinzen und wie schreckliche Ungeheuer auf uns wirken. Hingegen sehn die Werkzeuge zur Erfüllung unserer Wünsche sogleich angenehm und lieblich aus, z.B. die bucklichte Alte mit dem Liebesbrief; der Jude mit den Louisd'ors, die Strickleiter zum entrinnen u.s.w. Wie nun hier, bei entschiedenem Abscheu oder Liebe, die Verfälschung der Vorstellung durch den Willen unverkennbar ist; so ist sie in minderem Grade vorhanden bei jedem Gegenstande, der nur irgend eine entfernte Beziehung auf unsern Willen, d.h. auf unsere Neigung oder Abneigung, hat. Nur wann der Wille, mit seinen Interessen, das Bewußtseyn geräumt hat und der Intellekt frei seinen eigenen Gesetzen folgt, und als reines Subjekt die objektive Welt abspiegelt, dabei aber doch, obwohl von keinem Wollen angespornt, aus eigenem Triebe in höchster Spannung und Thätigkeit ist, treten Farbe und Gestalt der Dinge in ihrer wahren und vollen Bedeutung hervor: aus einer solchen Auffassung allein also können ächte Kunstwerke hervorgehn, deren bleibender Werth und stets erneuerter Beifall eben daraus entspringt, daß sie allein das rein Objektive darstellen, als welches den verschiedenen subjektiven und daher entstellten Anschauungen, als das ihnen allen Gemeinsame und allein fest Stehende, zum Grunde liegt und durchschimmert als das gemeinsame Thema aller jener subjektiven Variationen. Denn gewiß stellt die vor unsern Augen ausgebreitete Natur sich in den verschiedenen Köpfen sehr verschieden dar: und wie Jeder sie sieht, so allein kann er sie wiedergeben, sei es durch den Pinsel, oder den Meißel, oder Worte, oder Geberden auf der Bühne. Nur Objektivität befähigt zum Künstler: sie ist aber allein dadurch möglich, daß der Intellekt, von seiner Wurzel, dem Willen, abgelöst, frei schwebend, und doch höchst energisch thätig sei.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 894-895).

„Dem Jüngling, dessen anschauender Intellekt noch mit frischer Energie wirkt, stellt sich wohl oft die Natur mit vollkommener Objektivität und daher in voller Schönheit dar. Aber den Genuß eines solchen Anblicks stört bisweilen die betrübende Reflexion, daß die gegenwärtigen, sich so schön darstellenden Gegenstände nicht auch in einer persönlichen Beziehung zu ihm stehn, vermöge deren sie ihn interessiren und freuen könnten: er erwartet nämlich sein Leben in Gestalt eines interessanten Romans. »Hinter jenem vorspringenden Felsen müßte die wohlberittene Schaar der Freunde meiner harren, – an jenem Wasserfall die Geliebte ruhen, – dieses schön beleuchtete Gebäude ihre Wohnung und jenes umrankte Fenster das ihrige seyn; – aber diese schöne Welt ist öde für mich!« u.s.w. Dergleichen melancholische Jünglingsschwärmereien verlangen eigentlich etwas sich geradezu Widersprechendes. Denn die Schönheit, mit der jene Gegenstände sich darstellen, beruht gerade auf der reinen Objektivität, d.i. Interessenlosigkeit, ihrer Anschauung, und würde daher durch die Beziehung auf den eigenen Willen, welche der Jüngling schmerzlich vermißt, sofort aufgehoben, mithin der ganze Zauber, der ihm jetzt einen, wenn auch mit einer schmerzlichen Beimischung versetzten Genuß gewährt, gar nicht vorhanden seyn. – Das Selbe gilt übrigens von jedem Alter und in jedem Verhältniß: die Schönheit landschaftlicher Gegenstände, welche uns jetzt entzückt, würde, wenn wir in persönlichen Beziehungen zu ihnen ständen, deren wir uns stets bewußt bleiben, verschwunden seyn. Alles ist nur so lange schön, als es uns nicht angeht. (Hier ist nicht die Rede von verliebter Leidenschaft, sondern von ästhetischem Genuß.) Das Leben ist nie schön, sondern nur die Bilder des Lebens sind es, nämlich im verklärenden Spiegel der Kunst oder der Poesie; zumal in der Jugend, als wo wir es noch nicht kennen. Mancher Jüngling würde große Beruhigung erhalten, wenn man ihm zu dieser Einsicht verhelfen könnte.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 895-896).

„Warum wirkt der Anblick des Vollmondes so wohlthätig, beruhigend und erhebend? Weil der Mond ein Gegenstand der Anschauung, aber nie des Wollens ist: »Die Sterne, die begehrt man nicht, // Man freut sich ihrer Pracht.« –“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 896).

„Ferner ist er erhaben, d.h. stimmt uns erhaben, weil er, ohne alle Beziehung auf uns, dem irdischen Treiben ewig fremd, dahinzieht, und Alles sieht, aber an nichts Antheil nimmt. Bei seinem Anblick schwindet daher der Wille, mit seiner steten Noth, aus dem Bewußtseyn, und läßt es als ein rein erkennendes zurück. Vielleicht mischt sich auch noch ein Gefühl bei, daß wir diesen Anblick mit Millionen theilen, deren individuelle Verschiedenheit darin erlischt, so daß sie in diesem Anschauen Eines sind; welches ebenfalls den Eindruck des Erhabenen erhöht. Dieser wird endlich auch dadurch befördert, daß der Mond leuchtet, ohne zu wärmen; worin gewiß der Grund liegt, daß man ihn keusch genannt und mit der Diana identificirt hat. – In Folge dieses ganzen wohlthätigen Eindruckes auf unser Gemüth wird der Mond allmälig der Freund unsers Busens, was hingegen die Sonne nie wird, welcher, wie einem überschwänglichen Wohlthäter, wir gar nicht ins Gesicht zu sehn vermögen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 896).

„Als Zusatz zu dem, § 38 des ersten Bandes, über den ästhetischen Genuß, welchen das Licht, die Spiegelung und die Farben gewähren, Gesagten, finde hier noch folgende Bemerkung Raum. Die ganz unmittelbare, gedankenlose, aber auch namenlose Freude, welche der durch metallischen Glanz, noch mehr durch Transparenz verstärkte Eindruck der Farben in uns erregt, wie z.B. bei farbigen Fenstern, noch mehr mittelst der Wolken und ihres Reflexes, beim Sonnenuntergange, – beruht zuletzt darauf, daß hier auf die leichteste Weise, nämlich auf eine beinahe physisch nothwendige, unser ganzer Antheil für das Erkennen gewonnen wird, ohne irgend eine Erregung unsers Willens; wodurch wir in den Zustand des reinen Erkennens treten, wenn gleich dasselbe hier, in der Hauptsache, in einem bloßen Empfinden der Affektion der Retina besteht, welches jedoch, als an sich von Schmerz oder Wollust völlig frei, ohne alle direkte Erregung des Willens ist, also dem reinen Erkennen angehört.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 897).

 

Kapitel 31 (dieses Kapitel bezieht sich auf § 36 des 1. Bandes): Vom Genie.

„Die überwiegende Fähigkeit zu der in den beiden vorhergegangenen Kapiteln geschilderten Erkenntnißweise, aus welcher alle ächten Werke der Künste, der Poesie und selbst der Philosophie entspringen, ist es eigentlich, die man mit dem Namen des Genies bezeichnet. Da dieselbe demnach zu ihrem Gegenstande die (Platonischen) Ideen hat, diese aber nicht in abstracto, sondern nur anschaulich aufgefaßt werden; so muß das Wesen des Genies in der Vollkommenheit und Energie der anschauenden Erkenntniß liegen. Dem entsprechend hören wir als Werke des Genies am entschiedensten solche bezeichnen, welche unmittelbar von der Anschauung ausgehn und an die Anschauung sich wenden, also die der bildenden Künste, und nächstdem die der Poesie, welche ihre Anschauungen durch die Phantasie vermittelt. – Auch macht sich schon hier die Verschiedenheit des Genies vom bloßen Talent bemerkbar, als welches ein Vorzug ist, der mehr in der größern Gewandtheit und Schärfe der diskursiven, als der intuitiven Erkenntniß liegt. Der damit Begabte denkt rascher und richtiger als die Uebrigen; das Genie hingegen schaut eine andere Welt an, als sie Alle, wiewohl nur indem es in die auch ihnen vorliegende tiefer hineinschaut, weil sie in seinem Kopfe sich objektiver, mithin reiner und deutlicher darstellt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 897).

„Der Intellekt ist, seiner Bestimmung nach, bloß das Medium der Motive: demzufolge faßt er ursprünglich an den Dingen nichts weiter auf, als ihre Beziehungen zum Willen, die direkten, die indirekten, die möglichen. Bei den Thieren, wo es fast ganz bei den direkten bleibt, ist eben darum die Sache am augenfälligsten: was auf ihren Willen keinen Bezug hat, ist für sie nicht da. Deshalb sehn wir bisweilen mit Verwunderung, daß selbst kluge Thiere etwas an sich Auffallendes gar nicht bemerken, z.B. über augenfällige Veränderungen an unserer Person oder Umgebung kein Befremden äußern. Beim Normalmenschen kommen nun zwar die indirekten, ja die möglichen Beziehungen zum Willen hinzu, deren Summe den Inbegriff der nützlichen Kenntnisse ausmacht; aber in den Beziehungen bleibt auch hier die Erkenntniß stecken. Daher eben kommt es im normalen Kopfe nicht zu einem ganz rein objektiven Bilde der Dinge; weil seine Anschauungskraft, sobald sie nicht vom Willen angespornt und in Bewegung gesetzt wird, sofort ermattet und unthätig wird, indem sie nicht Energie genug hat, um aus eigener Elasticität und zwecklos die Welt rein objektiv aufzufassen. Wo hingegen dies geschieht, wo die vorstellende Kraft des Gehirns einen solchen Ueberschuß hat, daß ein reines, deutliches, objektives Bild der Außenwelt sich zwecklos darstellt, als welches für die Absichten des Willens unnütz, in den höhern Graden sogar störend ist, und selbst ihnen schädlich werden kann; – da ist schon wenigstens die Anlage zu jener Abnormität vorhanden, die der Name des Genies bezeichnet, welcher andeutet, daß hier ein dem Willen, d.i. dem eigentlichen Ich, Fremdes, gleichsam ein von außen hinzukommender Genius, thätig zu werden scheint. Aber ohne Bild zu reden: das Genie besteht darin, daß die erkennende Fähigkeit bedeutend stärkere Entwickelung erhalten hat, als der Dienst des Willens, zu welchem allein sie ursprünglich entstanden ist, erfordert. Daher könnte, der Strenge nach, die Physiologie einen solchen Ueberschuß der Gehirnthätigkeit und mit ihr des Gehirns selbst, gewissermaaßen den monstris per excessum beizählen, welche sie bekanntlich den monstris per defectum und denen per situm mutatum nebenordnet. Das Genie besteht also in einem abnormen Uebermaaß des Intellekts, welches seine Benutzung nur dadurch finden kann, daß es auf das Allgemeine des Daseyns verwendet wird; wodurch es alsdann dem Dienste des ganzen Menschengeschlechts obliegt, wie der normale Intellekt dem des Einzelnen. Um die Sache recht faßlich zu machen, könnte man sagen: wenn der Normalmensch aus 2/3 Wille und 1/3 Intellekt besteht; so hat hingegen das Genie 2/3 Intellekt und 1/3 Wille (in meiner Ausgabe ist zu lesen: »das Genie 1/3 Intellekt und 1/3 Wille«; Anm. HB). Dies ließe sich dann noch durch ein chemisches Gleichniß erläutern: die Basis und die Säure eines Mittelsalzes unterscheiden sich dadurch, daß in jeder von Beiden das Radikal zum Oxygen das umgekehrte Verhältniß, von dem im andern, hat. Die Basis nämlich, oder das Alkali, ist dies dadurch, daß in ihr das Radikal überwiegend ist gegen das Oxygen, und die Säure ist dies dadurch, daß in ihr das Oxygen das Ueberwiegende ist. Eben so nun verhalten sich, in Hinsicht auf Willen und Intellekt, Normalmensch und Genie. Daraus entspringt zwischen ihnen ein durchgreifender Unterschied, der schon in ihrem ganzen Wesen, Thun und Treiben sichtbar ist, recht eigentlich aber in ihren Leistungen an den Tag tritt. Noch könnte man als Unterschied hinzufügen, daß, während jener totale Gegensatz zwischen den chemischen Stoffen die stärkste Wahlverwandtschaft und Anziehung zu einander begründet, beim Menschengeschlecht eher das Gegentheil sich einzufinden pflegt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 897-899).

„Der Wille, welcher die Wurzel des Intellekts ist, widersetzt sich jeder auf irgend etwas Anderes als seine Zwecke gerichteten Thätigkeit desselben. Daher ist der Intellekt einer rein objektiven und tiefen Auffassung der Außenwelt nur dann fähig, wann er sich von dieser seiner Wurzel wenigstens einstweilen abgelöst hat. So lange er derselben noch verbunden bleibt, ist er aus eigenen Mitteln gar keiner Thätigkeit fähig, sondern schläft in Dumpfheit, so oft der Wille (das Interesse) ihn nicht weckt und in Bewegung setzt. Geschieht dies jedoch, so ist er zwar sehr tauglich, dem Interesse des Willens gemäß, die Relationen der Dinge zu erkennen, wie dies der kluge Kopf thut, der immer auch ein aufgeweckter, d.h. vom Wollen lebhaft erregter Kopf seyn muß; aber er ist eben deshalb nicht fähig, das rein objektive Wesen der Dinge zu erfassen. Denn das Wollen und die Zwecke machen ihn so einseitig, daß er an den Dingen nur das sieht, was sich darauf bezieht, das Uebrige aber theils verschwindet, theils verfälscht ins Bewußtseyn tritt. So wird z.B. ein in Angst und Eile Reisender den Rhein mit seinen Ufern nur als einen Queerstrich, die Brücke darüber nur als einen diesen schneidenden Strich sehn. Im Kopfe des von seinen Zwecken erfüllten Menschen sieht die Welt aus, wie eine schöne Gegend auf einem Schlachtfeldplan aussieht. Freilich sind dies Extreme, der Deutlichkeit wegen genommen: allein auch jede nur geringe Erregung des Willens wird eine geringe, jedoch stets jenen analoge Verfälschung der Erkenntniß zur Folge haben. In ihrer wahren Farbe und Gestalt, in ihrer ganzen und richtigen Bedeutung kann die Welt erst dann hervortreten, wann der Intellekt, des Wollens ledig, frei über den Objekten schwebt und ohne vom Willen angetrieben zu seyn, dennoch energisch thätig ist. Allerdings ist dies der Natur und Bestimmung des Intellekts entgegen, also gewissermaaßen widernatürlich, daher eben überaus selten: aber gerade hierin liegt das Wesen des Genies, als bei welchem allein jener Zustand in hohem Grade und anhaltend Statt findet, während er bei den Uebrigen nur annäherungs- und ausnahmsweise eintritt. – In dem hier dargelegten Sinne nehme ich es, wenn Jean Paul (»Vorschule der Aesthetik«, § 12) das Wesen des Genies in die Besonnenheit setzt. Nämlich der Normalmensch ist in den Strudel und Tumult des Lebens, dem er durch seinen Willen angehört, eingesenkt: sein Intellekt ist erfüllt von den Dingen und den Vorgängen des Lebens; aber diese Dinge und das Leben selbst, in objektiver Bedeutung, wird er gar nicht gewahr; wie der Kaufmann auf der Amsterdammer Börse vollkommen vernimmt was sein Nachbar sagt, aber das dem Rauschen des Meeres ähnliche Gesumme der ganzen Börse, darüber der entfernte Beobachter erstaunt, gar nicht hört. Dem Genie hingegen, dessen Intellekt vom Willen, also von der Person, abgelöst ist, bedeckt das diese Betreffende nicht die Welt und die Dinge selbst; sondern es wird ihrer deutlich inne, es nimmt sie, an und für sich selbst, in objektiver Anschauung, wahr: in diesem Sinne ist es besonnen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 902-903).

„Die hier dargelegten Betrachtungen über das Genie schließen sich ergänzend an die im 22. Kapitel (**) enthaltene Darstellung des in der ganzen Reihe der Wesen wahrnehmbaren, immer weitern Auseinandertretens des Willens und des Intellekts. Dieses eben erreicht im Genie seinen höchsten Grad, als wo es bis zur völligen Ablösung des Intellekts von seiner Wurzel, dem Willen, geht, so daß der Intellekt hier völlig frei wird, wodurch allererst die Welt als Vorstellung zur vollkommenen Objektivation gelangt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 904).

„Jetzt noch einige die Individualität des Genies betreffende Bemerkungen. – Schon Aristoteles hat, nach Cicero (Tusc., I, 33), bemerkt, omnes ingeniosos melancholicos esse; welches sich, ohne Zweifel, auf die Stelle in des Aristoteles Problemata, 30, I, bezieht. Auch Goethe sagt: »Meine Dichtergluth war sehr gering, // So lang ich dem Guten entgegenging: // Dagegen brannte sie lichterloh, // Wann ich vor drohendem Uebel floh. – // Zart Gedicht, wie Regenbogen, // Wird nur auf dunkeln Grund gezogen: // Darum behagt dem Dichtergenie // Das Element der Melancholie.« Dies ist daraus zu erklären, daß, da der Wille seine ursprüngliche Herrschaft über den Intellekt stets wieder geltend macht, dieser, unter ungünstigen persönlichen Verhältnissen, sich leichter derselben entzieht; weil er von widerwärtigen Umständen sich gern ab wendet, gewissermaaßen um sich zu zerstreuen, und nun mit desto größerer Energie sich auf die fremde Außenwelt richtet, also leichter rein objektiv wird. Günstige persönliche Verhältnisse wirken umgekehrt. Im Ganzen und Allgemeinen jedoch beruht die dem Genie beigegebene Melancholie darauf, daß der Wille zum Leben, von je hellerem Intellekt er sich beleuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 904).

„Alle Pfuscher sind es, im letzten Grunde, dadurch, daß ihr Intellekt, dem Willen noch zu fest verbunden, nur unter dessen Anspornung in Thätigkeit geräth, und daher eben ganz in dessen Dienste bleibt. Sie sind demzufolge keiner andern, als persönlicher Zwecke fähig. Diesen gemäß schaffen sie schlechte Gemälde, geistlose Gedichte, seichte, absurde, sehr oft auch unredliche Philosopheme, wann es nämlich gilt, durch fromme Unredlichkeit, sich hohen Vorgesetzten zu empfehlen. All ihr Thun und Denken ist also persönlich. Daher gelingt es ihnen höchstens, sich das Aeußere, Zufällige und Beliebige fremder, ächter Werke als Manier anzueignen, wo sie dann, statt des Kerns, die Schaale fassen, jedoch vermeinen, Alles erreicht, ja, jene übertroffen zu haben. Wird dennoch das Mißlingen offenbar; so hofft Mancher, es durch seinen guten Willen am Ende doch zu erreichen. Aber gerade dieser gute Wille macht es unmöglich; weil derselbe doch nur auf persönliche Zwecke hinausläuft: bei solchen aber kann es weder mit Kunst, noch Poesie, noch Philosophie je Ernst werden. Auf Jene paßt daher ganz eigentlich die Redensart: sie stehn sich selbst im Lichte. Ihnen ahndet es nicht, daß allein der von der Herrschaft des Willens und allen seinen Projekten losgerissene und dadurch frei thätige Intellekt, weil nur er den wahren Ernst verleiht, zu ächten Produktionen befähigt: und das ist gut für sie; sonst sprängen sie ins Wasser. – Der gute Wille ist in der Moral Alles; aber in der Kunst ist er nichts: da gilt, wie schon das Wort andeutet, allein das Können. – Alles kommt zuletzt darauf an, wo der eigentliche Ernst des Menschen liegt. Bei fast Allen liegt er ausschließlich im eigenen Wohl und dem der Ihrigen; daher sie dies und nichts Anderes zu fördern im Stande sind; weil eben kein Vorsatz, keine willkürliche und absichtliche Anstrengung, den wahren, tiefen, eigentlichen Ernst verleiht, oder ersetzt, oder richtiger verlegt. Denn er bleibt stets da, wo die Natur ihn hingelegt hat: ohne ihn aber kann Alles nur halb betrieben werden. Daher sorgen, aus dem selben Grunde, geniale Individuen oft schlecht für ihre eigene Wohlfahrt. Wie ein bleiernes Anhängsel einen Körper immer wieder in die Lage zurückbringt, die sein durch dasselbe determinirter Schwerpunkt erfordert; so zieht der wahre Ernst des Menschen die Kraft und Aufmerksamkeit seines Intellekts immer dahin zurück, wo er liegt: alles Andere treibt der Mensch ohne wahren Ernst. Daher sind allein die höchst seltenen, abnormen Menschen, deren wahrer Ernst nicht im Persönlichen und Praktischen, sondern im Objektiven und Theoretischen liegt, im Stande, das Wesentliche der Dinge und der Welt, also die höchsten Wahrheiten, aufzufassen und in irgend einer Art und Weise wiederzugeben. Denn ein solcher außerhalb des Individui, in das Objektive fallender Ernst desselben ist etwas der menschlichen Natur Fremdes, etwas Unnatürliches, eigentlich Uebernatürliches: jedoch allein durch ihn ist ein Mensch groß, und demgemäß wird alsdann sein Schaffen einem von ihm verschiedenen Genius zugeschrieben, der ihn in Besitz nehme. Einem solchen Menschen ist sein Bilden, Dichten oder Denken Zweck, den Uebrigen ist es Mittel. Diese suchen dabei ihre Sache, und wissen, in der Regel, sie wohl zu fördern, da sie sich den Zeitgenossen anschmiegen, bereit, den Bedürfnissen und Launen derselben zu dienen: daher leben sie meistens in glücklichen Umständen; Jener oft in sehr elenden. Denn sein persönliches Wohl opfert er dem objektiven Zweck: er kann eben nicht anders; weil dort sein Ernst liegt. Sie halten es umgekehrt: darum sind sie klein; er aber ist groß. Demgemäß ist sein Werk für alle Zeiten, aber die Anerkennung desselben fängt meistens erst bei der Nachwelt an: sie leben und sterben mit ihrer Zeit. Groß überhaupt ist nur Der, welcher bei seinem Wirken, dieses sei nun ein praktisches, oder ein theoretisches, nicht seine Sache sucht; sondern allein einen objektiven Zweck verfolgt: er ist es aber selbst dann noch, wann, im Praktischen, dieser Zweck ein mißverstandener, und sogar wenn er, in Folge davon, ein Verbrechen seyn sollte. Daß er nicht sich und seine Sache sucht, dies macht ihn, unter allen Umständen, groß. Klein hingegen ist alles auf persönliche Zwecke gerichtete Treiben; weil der dadurch in Thätigkeit Versetzte sich nur in seiner eigenen, verschwindend kleinen Person erkennt und findet. Hingegen wer groß ist, erkennt sich in Allem und daher im Ganzen: er lebt nicht, wie Jener, allein im Mikrokosmos, sondern noch mehr im Makrokosmos. Darum eben ist das Ganze ihm angelegen, und er sucht es zu erfassen, um es darzustellen, oder um es zu erklären, oder um praktisch darauf zu wirken. Denn ihm ist es nicht fremd; er fühlt daß es ihn angeht. Wegen dieser Ausdehnung seiner Sphäre nennt man ihn groß. Demnach gebührt nur dem wahren Helden, in irgend einem Sinn, und dem Genie jenes erhabene Prädikat: es besagt, daß sie, der menschlichen Natur entgegen, nicht ihre eigene Sache gesucht, nicht für sich, sondern für Alle gelebt haben. – Wie nun offenbar die Allermeisten stets klein seyn müssen und niemals groß seyn können; so ist doch das Umgekehrte nicht möglich, daß nämlich Einer durchaus, d.h. stets und jeden Augenblick, groß sei: »Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht, // Und die Gewohnheit nennt er seine Amme.« Jeder große Mann nämlich muß dennoch oft nur das Individuum seyn, nur sich im Auge haben, und das heißt klein seyn. Hierauf beruht die sehr richtige Bemerkung, daß kein Held es vor seinem Kammerdiener bleibt; nicht aber darauf, daß der Kammerdiener den Helden nicht zu schätzen verstehe; – welches Goethe, in den »Wahlverwandtschaften« (Bd. 2, Kap. 5), als Einfall der Ottilie auftischt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 905-907).

„Das Genie ist sein eigener Lohn: denn das Beste was Einer ist, muß er nothwendig für sich selbst seyn. »Wer mit einem Talente, zu einem Talente geboren ist, findet in demselben sein schönstes Daseyn«, sagt Goethe. Wenn wir zu einem großen Mann der Vorzeit hinaufblicken, denken wir nicht: »Wie glücklich ist er, von uns Allen noch jetzt bewundert zu werden«; sondern: »Wie glücklich muß er gewesen seyn im unmittelbaren Genuß eines Geistes, an dessen zurückgelassenen Spuren Jahrhunderte sich erquicken.« Nicht im Ruhme, sondern in Dem, wodurch man ihn erlangt, liegt der Werth, und in der Zeugung unsterblicher Kinder der Genuß. Daher sind Die, welche die Nichtigkeit des Nachruhmes daraus zu beweisen suchen, daß wer ihn erlangt, nichts davon erfährt, dem Klügling zu vergleichen, der einem Manne, welcher auf einen Haufen Austerschaalen im Hofe seines Nachbarn neidische Blicke würfe, sehr weise die gänzliche Unbrauchbarkeit derselben demonstriren wollte.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 907).

„Der gegebenen Darstellung des Wesens des Genies zufolge ist dasselbe insofern naturwidrig, als es darin besteht, daß der Intellekt, dessen eigentliche Bestimmung der Dienst des Willens ist, sich von diesem Dienste emancipirt, um auf eigene Hand thätig zu seyn. Demnach ist das Genie ein seiner Bestimmung untreu gewordener Intellekt. Hierauf beruhen die demselben beigegebenen Nachtheile, zu deren Betrachtung wir jetzt den Weg uns dadurch bahnen, daß wir das Genie mit dem weniger entschiedenen Ueberwiegen des Intellekts vergleichen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 907).

„Der Intellekt des Normalmenschen, streng an den Dienst seines Willens gebunden, mithin eigentlich bloß mit der Aufnahme der Motive beschäftigt, läßt sich ansehn als der Komplex von Drahtfäden, womit jede dieser Puppen auf dem Welttheater in Bewegung gesetzt wird. Hieraus entspringt der trockene, gesetzte Ernst der meisten Leute, der nur noch von dem der Thiere übertroffen wird, als welche niemals lachen. Dagegen könnte man das Genie, mit seinem entfesselten Intellekt, einem unter den großen Drahtpuppen des berühmten Mailändischen Puppentheaters mitspielenden, lebendigen Menschen vergleichen, der unter ihnen der Einzige wäre, welcher Alles wahrnähme und daher gern sich von der Bühne auf eine Weile losmachte, um aus den Logen das Schauspiel zu genießen; – das ist die geniale Besonnenheit. – Aber selbst der überaus verständige und vernünftige Mann, den man beinahe weise nennen könnte, ist vom Genie gar sehr und zwar dadurch verschieden, daß sein Intellekt eine praktische Richtung behält, auf die Wahl der allerbesten Zwecke und Mittel bedacht ist, daher im Dienste des Willens bleibt und demnach recht eigentlich naturgemäß beschäftigt ist. Der feste, praktische Lebensernst, welchen die Römer als gravitas bezeichneten, setzt voraus, daß der Intellekt nicht den Dienst des Willens verlasse, um hinauszuschweifen zu Dem, was diesen nicht angeht: darum läßt er nicht jenes Auseinandertreten des Intellekts und des Willens zu, welches Bedingung des Genies ist. Der kluge, ja der eminente Kopf, der zu großen Leistungen im Praktischen Geeignete, ist es gerade dadurch, daß die Objekte seinen Willen lebhaft erregen und zum rastlosen Nachforschen ihrer Verhältnisse und Beziehungen anspornen. Auch sein Intellekt ist also mit dem Willen fest verwachsen. Vor dem genialen Kopf hingegen schwebt, in seiner objektiven Auffassung, die Erscheinung der Welt als ein ihm Fremdes, ein Gegenstand der Kontemplation, der sein Wollen aus dem Bewußtseyn verdrängt. Um diesen Punkt dreht sich der Unterschied zwischen der Befähigung zu Thaten und der zu Werken. Die letztere verlangt Objektivität und Tiefe der Erkenntniß, welche gänzliche Sonderung des Intellekts vom Willen zur Voraussetzung hat: die erstere hingegen verlangt Anwendung der Erkenntniß, Geistesgegenwart und Entschlossenheit, welche erfordert, daß der Intellekt unausgesetzt den Dienst des Willens besorge. Wo das Band zwischen Intellekt und Wille gelöst ist, wird der von seiner natürlichen Bestimmung abgewichene Intellekt den Dienst des Willens vernachlässigen: er wird z.B. selbst in der Noth des Augenblicks noch seine Emancipation geltend machen und etwan die Umgebung, von welcher dem Individuo gegenwärtige Gefahr droht, ihrem malerischen Eindruck nach aufzufassen nicht umhin können. Der Intellekt des vernünftigen und verständigen Mannes hingegen ist stets auf seinem Posten, ist auf die Umstände und deren Erfordernisse gerichtet: ein solcher wird daher in allen Fällen das der Sache Angemessene beschließen und ausführen, folglich keineswegs in jene Excentricitäten, persönliche Fehltritte, ja, Thorheiten verfallen, denen das Genie darum ausgesetzt ist, daß sein Intellekt nicht ausschließlich der Führer und Wächter seines Willens bleibt, sondern, bald mehr bald weniger, vom rein Objektiven in Anspruch genommen wird. Den Gegensatz, in welchem die beiden hier abstrakt dargestellten, gänzlich verschiedenen Arten der Befähigung zu einander stehn, hat Goethe uns im Widerspiel des Tasso und Antonio veranschaulicht. Die oft bemerkte Verwandtschaft des Genies mit dem Wahnsinn beruht eben hauptsächlich auf jener, dem Genie wesentlichen, dennoch aber naturwidrigen Sonderung des Intellekts vom Willen. Diese aber selbst ist keineswegs Dem zuzuschreiben, daß das Genie von geringerer Intensität des Willens begleitet sei; da es vielmehr durch einen heftigen und leidenschaftlichen Charakter bedingt ist: sondern sie ist daraus zu erklären, daß der praktisch Ausgezeichnete, der Mann der Thaten, bloß das ganze und volle Maaß des für einen energischen Willen erforderten Intellekts hat, während den meisten Menschen sogar dieses abgeht; das Genie aber in einem völlig abnormen, wirklichen Uebermaaß von Intellekt besteht, dergleichen zum Dienste keines Willens erfordert ist. Dieserhalb eben sind die Männer der ächten Werke tausend Mal seltener, als die Männer der Thaten. Jenes abnorme Uebermaaß des Intellekts eben ist es, vermöge dessen dieser das entschiedene Uebergewicht erhält, sich vom Willen losmacht und nun, seines Ursprungs vergessend, aus eigener Kraft und Elasticität freithätig ist; woraus die Schöpfungen des Genies hervorgehn.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 907-909).

„Eben dieses nun ferner, daß das Genie im Wirken des freien, d.h. vom Dienste des Willens emancipirten Intellekts besteht, hat zur Folge, daß die Produktionen desselben keinen nützlichen Zwecken dienen. Es werde musicirt, oder philosophirt, gemalt, oder gedichtet; – ein Werk des Genies ist kein Ding zum Nutzen. Unnütz zu seyn, gehört zum Charakter der Werke des Genies: es ist ihr Adelsbrief. Alle übrigen Menschenwerke sind da zur Erhaltung, oder Erleichterung unserer Existenz; bloß die hier in Rede stehenden nicht: sie allein sind ihrer selbst wegen da, und sind, in diesem Sinn, als die Blüthe, oder der reine Ertrag des Daseyns anzusehn. Deshalb geht beim Genuß derselben uns das Herz auf: denn wir tauchen dabei aus dem schweren Erdenäther der Bedürftigkeit auf. – Diesem analog sehn wir, auch außerdem, das Schöne selten mit dem Nützlichen vereint. Die hohen und schönen Bäume tragen kein Obst: die Obstbäume sind kleine, häßliche Krüppel. Die gefüllte Gartenrose ist nicht fruchtbar, sondern die kleine, wilde, fast geruchlose ist es. Die schönsten Gebäude sind nicht die nützlichen: ein Tempel ist kein Wohnhaus. Ein Mensch von hohen, seltenen Geistesgaben, genöthigt einem bloß nützlichen Geschäft, dem der Gewöhnlichste gewachsen wäre, obzuliegen, gleicht einer köstlichen, mit schönster Malerei geschmückten Vase, die als Kochtopf verbraucht wird; und die nützlichen Leute mit den Leuten von Genie vergleichen, ist wie Bausteine mit Diamanten vergleichen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 909-910).

„Der bloß praktische Mensch also gebraucht seinen Intellekt zu Dem, wozu ihn die Natur bestimmte, nämlich zum Auffassen der Beziehungen der Dinge, theils zu einander, theils zum Willen des erkennenden Individuums. Das Genie hingegen gebraucht ihn, der Bestimmung desselben entgegen, zum Auffassen des objektiven Wesens der Dinge. Sein Kopf gehört daher nicht ihm, sondern der Welt an, zu deren Erleuchtung in irgend einem Sinne er beitragen wird. Hieraus müssen dem damit begünstigten Individuo vielfältige Nachtheile erwachsen“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 910).

„Darum also fehlt dem Genie die Nüchternheit, als welche gerade darin besteht, daß man in den Dingen nichts weiter sieht, als was ihnen, besonders in Hinsicht auf unsere möglichen Zwecke, wirklich zukommt: daher kann kein nüchterner Mensch ein Genie seyn. Zu den angegebenen Nachthellen gesellt sich nun noch die übergroße Sensibilität, welche ein abnorm erhöhtes Nerven- und Cerebral-Leben mit sich bringt, und zwar im Verein mit der das Genie ebenfalls bedingenden Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit des Wollens, die sich physisch als Energie des Herzschlages darstellt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 911).

„Aus allem Diesen entspringt sehr leicht jene Ueberspanntheit der Stimmung, jene Heftigkeit der Affekte, jener schnelle Wechsel der Laune, unter vorherrschender Melancholie, die Goethe uns im Tasso vor Augen gebracht hat. Welche Vernünftigkeit, ruhige Fassung, abgeschlossene Uebersicht, völlige Sicherheit und Gleichmäßigkeit des Betragens zeigt doch der wohlausgestattete Normalmensch, im Vergleich mit der bald träumerischen Versunkenheit, bald leidenschaftlichen Aufregung des Genialen, dessen innere Quaal der Mutterschooß unsterblicher Werke ist. – Zu diesem Allen kommt noch, daß das Genie wesentlich einsam lebt. Es ist zu selten, als daß es leicht auf seines Gleichen treffen könnte, und zu verschieden von den Uebrigen, um ihr Geselle zu seyn. Bei ihnen ist das Wollen, bei ihm das Erkennen das Vorwaltende: daher sind ihre Freuden nicht seine, seine nicht ihre. Sie sind bloß moralische Wesen und haben bloß persönliche Verhältnisse: er ist zugleich ein reiner Intellekt, der als solcher der ganzen Menschheit angehört. Der Gedankengang des von seinem mütterlichen Boden, dem Willen, abgelösten und nur periodisch zu ihm zurückkehrenden Intellekts wird sich von dem des normalen, auf seinem Stamme haftenden, bald durchweg unterscheiden. Daher, und wegen der Ungleichheit des Schritts, ist Jener nicht zum gemeinschaftlichen Denken, d.h. zur Konversation mit den Andern geeignet: sie werden an ihm und seiner drückenden Ueberlegenheit so wenig Freude haben, wie er an ihnen. Sie werden daher sich behaglicher mit ihres Gleichen fühlen, und er wird die Unterhaltung mit seines Gleichen, obschon sie in der Regel nur durch ihre nachgelassenen Werke möglich ist, vorziehn. .... Das glücklichste Loos, was dem Genie werden kann, ist Entbindung vom Thun und Lassen, als welches nicht sein Element ist, und freie Muße zu seinem Schaffen. – Aus diesem Allen ergiebt sich, daß wenn gleich das Genie den damit Begabten in den Stunden, wo er, ihm hingegeben, ungehindert im Genuß desselben schwelgt, hoch beglücken mag; dasselbe dennoch keineswegs geeignet ist, ihm einen glücklichen Lebenslauf zu bereiten, vielmehr das Gegentheil. Dies bestätigt auch die in den Biographien niedergelegte Erfahrung. Dazu kommt noch ein Mißverhältniß nach außen, indem das Genie, in seinem Treiben und Leisten selbst, meistens mit seiner Zeit im Widerspruch und Kampfe steht. Die bloßen Talentmänner kommen stets zu rechter Zeit: denn, wie sie vom Geiste ihrer Zeit angeregt und vom Bedürfniß derselben hervorgerufen werden; so sind sie auch gerade nur fähig diesem zu genügen. Sie greifen daher ein in den fortschreitenden Bildungsgang ihrer Zeitgenossen, oder in die schrittweise Förderung einer speciellen Wissenschaft: dafür wird ihnen Lohn und Beifall. Der nächsten Generation jedoch sind ihre Werke nicht mehr genießbar: sie müssen durch andere ersetzt werden, die dann auch nicht ausbleiben. Das Genie hingegen trifft in seine Zeit, wie ein Komet in die Planetenbahnen, deren wohlgeregelter und übersehbarer Ordnung sein völlig excentrischer Lauf fremd ist. Demnach kann es nicht eingreifen in den vorgefundenen, regelmäßigen Bildungsgang der Zeit, sondern wirft seine Werke weit hinaus in die vorliegende Bahn (wie der sich dem Tode weihende Imperator seinen Speer unter die Feinde), auf welcher die Zeit solche erst einzuholen hat. Sein Verhältniß zu den während dessen kulminirenden Talentmännern könnte es in den Worten des Evangelisten ausdrücken: O kairos ho emos oupô parestin; ho de kairos ho hymeteros pantote estin hetoimos (Johannes, 7, 6). – Das Talent vermag zu leisten was die Leistungsfähigkeit, jedoch nicht die Apprehensionsfähigkeit der Uebrigen überschreitet: daher findet es sogleich seine Schätzer. Hingegen geht die Leistung des Genies nicht nur über die Leistungs-, sondern auch über die Apprehensionsfähigkeit der Andern hinaus: daher werden Diese seiner nicht unmittelbar inne. Das Talent gleicht dem Schützen, der ein Ziel trifft, welches die Uebrigen nicht erreichen können; das Genie dem, der eines trifft, bis zu welchem sie nicht ein Mal zu sehn vermögen: daher sie nur mittelbar, also spät, Kunde davon erhalten, und sogar diese nur auf Treu und Glauben annehmen. Demgemäß sagt Goethe im Lehrbrief: »Die Nachahmung ist uns angeboren; das Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird das Treffliche gefunden, seltner geschätzt«. “ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 911-912).

„Noch habe ich hier eine besondere Bemerkung hinzuzufügen über den kindlichen Charakter des Genies, d.h. über eine gewisse Aehnlichkeit, welche zwischen dem Genie und dem Kindesalter Statt findet. – In der Kindheit nämlich ist, wie beim Genie, das Cerebral- und Nervensystem entschieden überwiegend: denn seine Entwickelung eilt der des übrigen Organismus weit voraus; so daß bereits mit dem siebenten Jahre das Gehirn seine volle Ausdehnung und Masse erlangt hat. .... Am spätesten hingegen fängt die Entwickelung des Genitalsystems an, und erst beim Eintritt des Mannesalters sind Irritabilität, Reproduktion und Genitalfunktion in voller Kraft, wo sie dann, in der Regel, das Uebergewicht über die Gehirnfunktion haben. Hieraus ist es erklärlich, daß die Kinder, im Allgemeinen, so klug, vernünftig, wißbegierig und gelehrig, ja, im Ganzen, zu aller theoretischen Beschäftigung aufgelegter und tauglicher, als die Erwachsenen, sind: sie haben nämlich in Folge jenes Entwickelungsganges mehr Intellekt als Willen, d.h. als Neigung, Begierde, Leidenschaft. Denn Intellekt und Gehirn sind Eins, und eben so ist das Genitalsystem Eins mit der heftigsten aller Begierden: daher ich dasselbe den Brennpunkt des Willens genannt habe. Eben weil die heillose Thätigkeit dieses Systems noch schlummert, während die des Gehirns schon volle Regsamkeit hat, ist die Kindheit die Zeit der Unschuld und des Glückes, das Paradies des Lebens, das verlorene Eden, auf welches wir, unsern ganzen übrigen Lebensweg hindurch, sehnsüchtig zurückblicken. Die Basis jenes Glückes aber ist, daß in der Kindheit unser ganzes Daseyn viel mehr im Erkennen, als im Wollen liegt; welcher Zustand zudem noch von außen durch die Neuheit aller Gegenstände unterstützt wird. Daher liegt die Welt, im Morgenglanze des Lebens, so frisch, so zauberisch schimmernd, so anziehend vor uns. Die kleinen Begierden, schwankenden Neigungen und geringfügigen Sorgen der Kindheit sind gegen jenes Vorwalten der erkennenden Thätigkeit nur ein schwaches Gegengewicht. Der unschuldige und klare Blick der Kinder, an dem wir uns erquicken, und der bisweilen, in einzelnen, den erhabenen, kontemplativen Ausdruck, mit welchem Raphael seine Engelsköpfe verherrlicht hat, erreicht, ist aus dem Gesagten erklärlich. Demnach entwickeln die Geisteskräfte sich viel früher, als die Bedürfnisse, welchen zu dienen sie bestimmt sind: und hierin verfährt die Natur, wie überall, sehr zweckmäßig. Denn in dieser Zeit der vorwaltenden Intelligenz sammelt der Mensch einen großen Vorrath von Erkenntnissen, für künftige, ihm zur Zeit noch fremde Bedürfnisse. Daher ist sein Intellekt jetzt unablässig thätig, faßt begierig alle Erscheinungen auf, brütet darüber und speichert sie sorgfältig auf, für die kommende Zeit, – der Biene gleich, die sehr viel mehr Honig sammelt, als sie verzehren kann, im Vorgefühl künftiger Bedürfnisse. Gewiß ist was der Mensch bis zum Eintritt der Pubertät an Einsicht und Kenntniß erwirbt, im Ganzen genommen, mehr, als Alles was er nachher lernt, würde er auch noch so gelehrt: denn es ist die Grundlage aller menschlichen Erkenntnisse. – Bis zur selben Zeit waltet im kindlichen Leibe die Plasticität vor, deren Kräfte späterhin, nachdem sie ihr Werk vollendet hat, durch eine Metastase, sich auf das Generationssystem werfen, wodurch mit der Pubertät der Geschlechtstrieb eintritt und jetzt allmälig der Wille das Uebergewicht erhält. Dann folgt auf die vorwaltend theoretische, lernbegierige Kindheit das unruhige, bald stürmische, bald schwermüthige Jünglingsalter, welches nachher in das heftige und ernste Mannesalter übergeht. Gerade weil im Kinde jener unheilschwangere Trieb fehlt, ist das Wollen desselben so gemäßigt und dem Erkennen untergeordnet, woraus jener Charakter von Unschuld, Intelligenz und Vernünftigkeit entsteht, welcher dem Kindesalter eigenthümlich ist. – Worauf nun die Aehnlichkeit des Kindesalters mit dem Genie beruhe, brauche ich kaum noch auszusprechen: im Ueberschuß der Erkenntnißkräfte über die Bedürfnisse des Willens, und im daraus entspringenden Vorwalten der bloß erkennenden Thätigkeit. Wirklich ist jedes Kind gewissermaaßen ein Genie, und jedes Genie gewissermaaßen ein Kind. Die Verwandtschaft Beider zeigt sich zunächst in der Naivetät und erhabenen Einfalt, welche ein Grundzug des ächten Genies ist: sie tritt auch außerdem in manchen Zügen an den Tag; so daß eine gewisse Kindlichkeit allerdings zum Charakter des Genies gehört. In Riemers Mittheilungen über Goethe wird (Bd. I, S. 184) erwähnt, daß Herder und Andere Goethen tadelnd nachsagten, er sei ewig ein großes Kind: gewiß haben sie es mit Recht gesagt, nur nicht mit Recht getadelt. Auch von Mozart hat es geheißen, er sei zeitlebens ein Kind geblieben. (Nissens Biographie Mozarts: S. 2 und 529.) Schlichtegrolls Nekrolog (von 1791, Bd. II, S. 109) sagt von ihm: »Er wurde früh in seiner Kunst ein Mann; in allen übrigen Verhältnissen aber blieb er beständig ein Kind.« Jedes Genie ist schon darum ein großes Kind, weil es in die Welt hineinschaut als in ein Fremdes, ein Schauspiel, daher mit rein objektivem Interesse. Demgemäß hat es, so wenig wie das Kind, jene trockene Ernsthaftigkeit der Gewöhnlichen, als welche, keines andern als des subjektiven Interesses fähig, in den Dingen immer bloß Motive für ihr Thun sehn. Wer nicht zeitlebens gewissermaaßen ein großes Kind bleibt, sondern ein ernsthafter, nüchterner, durchweg gesetzter und vernünftiger Mann wird, kann ein sehr nützlicher und tüchtiger Bürger dieser Welt seyn; nur nimmermehr ein Genie. In der That ist das Genie es dadurch, daß jenes, dem Kindesalter natürliche, Ueberwiegen des sensibeln Systems und der erkennenden Thätigkeit sich bei ihm, abnormerweise, das ganze Leben hindurch erhält, also hier ein perennirendes wird. Eine Spur davon zieht sich freilich auch bei manchen gewöhnlichen Menschen noch bis ins Jünglingsalter hinüber; daher z.B. an manchen Studenten noch ein rein geistiges Streben und eine geniale Excentricität unverkennbar ist. Allein die Natur kehrt in ihr Gleis zurück: sie verpuppen sich und erstehn, im Mannesalter, als eingefleischte Philister, über die man erschrickt, wann man sie in spätern Jahren wieder antrifft. – Auf dem ganzen hier dargelegten Hergang beruht auch Goethes schöne Bemerkung: »Kinder halten nicht was sie versprechen; junge Leute sehr selten, und wenn sie Wort halten, hält es ihnen die Welt nicht.« (Wahlverwandtschaften, Th. I, Kap. 10.) Die Welt nämlich, welche die Kronen, die sie für das Verdienst hoch emporhielt, nachher Denen aufsetzt, welche Werkzeuge ihrer niedrigen Absichten werden, oder aber sie zu betrügen verstehn. – Dem Gesagten gemäß giebt es, wie eine bloße Jugendschönheit, die fast Jeder ein Mal besitzt (beauté du diable), auch eine bloße Jugend-Intellektualität, ein gewisses geistiges, zum Auffassen, Verstehn, Lernen geneigtes und geeignetes Wesen, welches Jeder in der Kindheit, Einige noch in der Jugend haben, das aber danach sich verliert, eben wie jene Schönheit. Nur bei höchst Wenigen, den Auserwählten, dauert das Eine, wie das Andere, das ganze Leben hindurch fort; so daß selbst im höhern Alter noch eine Spur davon sichtbar bleibt: dies sind die wahrhaft schönen, und die wahrhaft genialen Menschen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 915-917).

„Das hier in Erwägung genommene Ueberwiegen des cerebralen Nervensystems und der Intelligenz in der Kindheit, nebst dem Zurücktreten derselben im reifen Alter, erhält eine wichtige Erläuterung und Bestätigung, dadurch, daß bei dem Thiergeschlechte, welches dem Menschen am nächsten stehet, den Affen, das selbe Verhältniß in auffallendem Grade Statt findet. Es ist allmälig gewiß geworden, daß der so höchst intelligente Orang-Utan ein junger Pongo ist, welcher, wann herangewachsen, die große Menschenähnlichkeit des Antlitzes und zugleich die erstaunliche Intelligenz verliert, indem der untere, thierische Theil des Gesichts sich vergrößert, die Stirn dadurch zurücktritt, große cristae, zur Muskelanlage, den Schädel thierisch gestalten, die Thätigkeit des Nervensystems sinkt und an ihrer Stelle eine außerordentliche Muskelkraft sich entwickelt, welche, als zu seiner Erhaltung ausreichend, die große Intelligenz jetzt überflüssig macht.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 917-918).

 

Kapitel 32 (dieses Kapitel bezieht sich auf § 36 des 1. Bandes): Ueber den Wahnsinn.

„In jenem Widerstreben des Willens, das ihm Widrige in die Beleuchtung des Intellekts kommen zu lassen, liegt die Stelle, an welcher der Wahnsinn auf den Geist einbrechen kann. Jeder widrige neue Vorfall nämlich muß vom Intellekt assimilirt werden, d.h. im System der sich auf unsern Willen und sein Interesse beziehenden Wahrheiten eine Stelle erhalten, was immer Befriedigenderes er auch zu verdrängen haben mag. Sobald dies geschehn ist, schmerzt er schon viel weniger; aber diese Operation selbst ist oft sehr schmerzlich, geht auch meistens nur langsam und mit Widerstreben von Statten. Inzwischen kann nur sofern sie jedesmal richtig vollzogen worden, die Gesundheit des Geistes bestehn. Erreicht hingegen, in einem einzelnen Fall, das Widerstreben und Sträuben des Willens wider die Aufnahme einer Erkenntniß den Grad, daß jene Operation nicht rein durchgeführt wird; werden demnach dem Intellekt gewisse Vorfälle oder Umstände völlig unterschlagen, weil der Wille ihren Anblick nicht ertragen kann; wird alsdann, des nothwendigen Zusammenhangs wegen, die dadurch entstandene Lücke beliebig ausgefüllt; – so ist der Wahnsinn da. Denn der Intellekt hat seine Natur aufgegeben, dem Willen zu gefallen: der Mensch bildet sich jetzt ein was nicht ist. Jedoch wird der so entstandene Wahnsinn jetzt der Lethe unerträglicher Leiden: er war das letzte Hülfsmittel der geängstigten Natur, d.i. des Willens.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 920).

 

Kapitel 35 (dieses Kapitel bezieht sich auf § 43 des 1. Bandes): Zur Aestetetik der Architektur.

„In Gemäßheit der im Texte gegebenen Ableitung des rein Aesthetischen der Baukunst aus den untersten Stufen der Objektivation des Willens, oder der Natur, deren Ideen sie zu deutlicher Anschaulichkeit bringen will, ist das einzige und beständige Thema derselben Stütze und Last, und ihr Grundgesetz, daß keine Last ohne genügende Stütze, und keine Stütze ohne angemessene Last, mithin das Verhältniß dieser Beiden gerade das passende sei. Die reinste Ausführung dieses Themas ist Säule und Gebälk: daher ist die Säulenordnung gleichsam der Generalbaß der ganzen Architektur geworden.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 929).

„Wollen wir jedoch, wie wir als den eigentlichen, ästhetischen Grundgedanken der antiken Baukunst die Entfaltung des Kampfes zwischen Starrheit und Schwere erkannt haben, auch in der Gothischen einen analogen Grundgedanken auffinden; so müßte es dieser seyn, daß hier die gänzliche Ueberwältigung und Besiegung der Schwere durch die Starrheit dargestellt werden soll. Denn demgemäß ist hier die Horizontallinie, welche die der Last ist, fast ganz verschwunden, und das Wirken der Schwere tritt nur noch indirekt, nämlich in Bogen und Gewölbe verlarvt, auf, während die Vertikallinie, welche die der Stütze ist, allein herrscht, und in unmäßig hohen Strebepfeilern, Thürmen, Thürmchen und Spitzen ohne Zahl, welche unbelastet in die Höhe gehn, das siegreiche Wirken der Starrheit versinnlicht. Während in der antiken Baukunst das Streben und Drängen von oben nach unten eben so wohl vertreten und dargelegt ist, wie das von unten nach oben; so herrscht hier das letztere entschieden vor: wodurch auch jene oft bemerkte Analogie mit dem Krystall entsteht, da dessen Anschießen ebenfalls mit Ueberwältigung der Schwere geschieht. Wenn wir nun diesen Sinn und Grundgedanken der Gothischen Baukunst unterlegen und diese dadurch als gleichberechtigten Gegensatz der antiken aufstellen wollten; so wäre dagegen zu erinnern, daß der Kampf zwischen Starrheit und Schwere, welchen die antike Baukunst so offen und naiv darlegt, ein wirklicher und wahrer, in der Natur gegründeter ist; die gänzliche Ueberwindung der Schwere durch die Starrheit hingegen ein bloßer Schein bleibt, eine Fiktion, durch Täuschung beglaubigt. – Wie aus dem hier angegebenen Grundgedanken und den oben bemerkten Eigenthümlichkeiten der Gothischen Baukunst der mysteriöse und hyperphysische Charakter, welcher derselben zuerkannt wird, hervorgeht, wird Jeder sich leicht deutlich machen können. Hauptsächlich entsteht er, wie schon erwähnt, dadurch, daß hier das Willkürliche an die Stelle des rein Rationellen, sich als durchgängige Angemessenheit des Mittels zum Zweck Kundgebenden, getreten ist. Das viele eigentlich Zwecklose und doch so sorgfältig Vollendete erregt die Voraussetzung unbekannter, unerforschlicher, geheimer Zwecke, d.i. das mysteriöse Ansehn. Hingegen ist die glänzende Seite der Gothischen Kirchen die innere; weil hier die Wirkung des von schlanken, krystallinisch aufstrebenden Pfeilern getragenen, hoch hinaufgehobenen und, bei verschwundener Last, ewige Sicherheit verheißenden Kreuzgewölbes auf das Gemüth eindringt, die meisten der erwähnten Uebelstände aber draußen liegen. An antiken Gebäuden ist die Außenseite die vortheilhaftere; weil man dort Stütze und Last besser übersieht, im Innern hingegen die flache Decke stets etwas Niederdrückendes und Prosaisches behält. An den Tempeln der Alten war auch meistentheils, bei vielen und großen Außenwerken, das eigentliche Innere klein. Einen erhabeneren Anstrich erhielt es durch das Kugelgewölbe einer Kuppel, wie im Pantheon, von welcher daher auch die Italiäner, in diesem Stil bauend, den ausgedehntesten Gebrauch gemacht haben. Dazu stimmt, daß die Alten, als südliche Völker, mehr im Freien lebten, als die nordischen Nationen, welche die Gothische Baukunst vorgezogen haben. – Wer nun aber schlechterdings die Gothische Baukunst als eine wesentliche und berechtigte gelten lassen will, mag, wenn er zugleich Analogien liebt, sie den negativen Pol der Architektur, oder auch die Moll-Tonart derselben benennen. – Im Interesse des guten Geschmacks muß ich wünschen, daß große Geldmittel dem objektiv, d.h. wirklich Guten und Rechten, dem an sich Schönen, zugewendet werden, nicht aber Dem, dessen Werth bloß auf Ideenassociationen beruht. Wenn ich nun sehe, wie dieses ungläubige Zeitalter die vom gläubigen Mittelalter unvollendet gelassenen Gothischen Kirchen so emsig ausbaut, kommt es mir vor, als wolle man das dahingeschiedene Christenthum einbalsamiren.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 935-936).

 

Kapitel 37 (dieses Kapitel bezieht sich auf § 51 des 1. Bandes): Zur Aestetetik der Dichtkunst.

„Als die einfachste und richtigste Definition der Poesie möchte ich diese aufstellen, daß sie die Kunst ist, durch Worte die Einbildungskraft ins Spiel zu versetzen. Wie sie dies zu Wege bringt, habe ich im ersten Bande, § 51, angegeben. Eine specielle Bestätigung des dort Gesagten giebt folgende Stelle aus einem seitdem veröffentlichten Briefe Wielands an Merck: »Ich habe drittehalb Tage über eine einzige Strophe zugebracht, wo im Grunde die Sache auf einem einzigen Worte, das ich brauchte und nicht finden konnte, beruhte. Ich drehte und wandte das Ding und mein Gehirn nach allen Seiten; weil ich natürlicherweise, wo es um ein Gemälde zu thun ist, gern die nämliche bestimmte Vision, welche vor meiner Stirn schwebte, auch vor die Stirn meiner Leser bringen möchte, und dazu oft, ut nosti, von einem einzigen Zuge, oder Drucker, oder Reflex, Alles abhängt.« (Briefe an Merck, postum, S. 193.) – Dadurch, daß die Phantasie des Lesers der Stoff ist, in welchem die Dichtkunst ihre Bilder darstellt, hat diese den Vortheil, daß die nähere Ausführung und die feineren Züge in der Phantasie eines Jeden so ausfallen, wie es seiner Individualität, seiner Erkenntnißsphäre und seiner Laune gerade am angemessensten ist und ihn daher am lebhaftesten anregt; statt daß die bildenden Künste sich nicht so anbequemen können, sondern hier ein Bild, eine Gestalt Allen genügen soll: diese aber wird doch immer, in Etwas, das Gepräge der Individualität des Künstlers, oder seines Modells, tragen, als einen subjektiven, oder zufälligen, nicht wirksamen Zusatz; wenn gleich um so weniger, je objektiver, d.h. genialer der Künstler ist. Schon hieraus ist es zum Theil erklärlich, daß die Werke der Dichtkunst eine viel stärkere, tiefere und allgemeinere Wirkung ausüben, als Bilder und Statuen: diese nämlich lassen das Volk meistens ganz kalt, und überhaupt sind die bildenden die am schwächsten wirkenden Künste. Hiezu giebt einen sonderbaren Beleg das so häufige Auffinden und Entdecken von Bildern großer Meister in Privathäusern und allerlei Lokalitäten, wo sie, viele Menschenalter hindurch, nicht etwan vergraben und versteckt, sondern bloß unbeachtet, also wirkungslos, gehangen haben. Zu meiner Zeit in Florenz (1823) wurde sogar eine Raphael'sche Madonna entdeckt, welche eine lange Reihe von Jahren hindurch im Bedientenzimmer eines Palastes (im Quartiere di S. Spirito) an der Wand gehangen hatte: und Dies geschieht unter Italiänern, dieser vor allen übrigen mit Schönheitssinn begabten Nation. Es beweist, wie wenig direkte und unvermittelte Wirkung die Werke der bildenden Künste haben, und daß ihre Schätzung weit mehr, als die aller andern, der Bildung und Kenntniß bedarf. Wie unfehlbar macht hingegen eine schöne, das Herztreffende Melodie ihre Reise um das Erdenrund, und wandert eine vortreffliche Dichtung von Volk zu Volk. Daß die Großen und Reichen gerade den bildenden Künsten die kräftigste Unterstützung widmen und nur auf ihre Werke beträchtliche Summen verwenden, ja, heut zu Tage eine Idololatrie, im eigentlichen Sinne, für ein Bild von einem berühmten, alten Meister den Werth eines großen Landgutes hingiebt, Dies beruht hauptsächlich auf der Seltenheit der Meisterstücke, deren Besitz daher dem Stolze zusagt, sodann aber auch darauf, daß der Genuß derselben gar wenig Zeit und Anstrengung erfordert und jeden Augenblick, auf einen Augenblick, bereit ist; während Poesie und selbst Musik ungleich beschwerlichere Bedingungen stellen. Dem entsprechend lassen die bildenden Künste sich auch entbehren: ganze Völker, z.B. die Mohammedanischen, sind ohne sie; aber ohne Musik und Poesie ist keines.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 941-942).

„Die Absicht nun aber, in welcher der Dichter unsere Phantasie in Bewegung setzt, ist, uns die Ideen zu offenbaren, d.h. an einem Beispiel zu zeigen, was das Leben, was die Welt sei.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 943).

„Der erzählende, auch der dramatische Dichter nimmt aus dem Leben das ganz Einzelne heraus und schildert es genau in seiner Individualität, offenbart aber hiedurch das ganze menschliche Daseyn; indem er zwar scheinbar es mit dem Einzelnen, in Wahrheit aber mit Dem, was überall und zu allen Zeiten ist, zu thun hat. Hieraus entspringt es, daß Sentenzen, besonders der dramatischen Dichter, selbst ohne generelle Aussprüche zu seyn, im wirklichen Leben häufige Anwendung finden. – Zur Philosophie verhält sich die Poesie, wie die Erfahrung sich zur empirischen Wissenschaft verhält. Die Erfahrung nämlich macht uns mit der Erscheinung im Einzelnen und beispielsweise bekannt: die Wissenschaft umfaßt das Ganze derselben, mittelst allgemeiner Begriffe. So will die Poesie uns mit den (Platonischen) Ideen der Wesen mittelst des Einzelnen und beispielsweise bekannt machen: die Philosophie will das darin sich aussprechende innere Wesen der Dinge im Ganzen und Allgemeinen erkennen lehren.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 944-945).

„Metrum und Reim sind eine Fessel, aber auch eine Hülle, die der Poet um sich wirft, und unter welcher es ihm vergönnt ist zu reden, wie er sonst nicht dürfte: und das ist es, was uns freut. – Er ist nämlich für Alles was er sagt nur halb verantwortlich: Metrum und Reim müssen es zur andern Hälfte vertreten. – Das Metrum, oder Zeitmaaß, hat, als bloßer Rhythmus, sein Wesen allein in der Zeit, welche eine reine Anschauung a priori ist, gehört also, mit Kant zu reden, bloß der reinen Sinnlichkeit an; hingegen ist der Reim Sache der Empfindung im Gehörorgan, also der empirischen Sinnlichkeit.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 945).

„Wie demnach in der lyrischen Poesie das subjektive Element vorherrscht, so ist dagegen im Drama das objektive allein und ausschließlich vorhanden. Zwischen Beiden hat die epische Poesie, in allen ihren Formen und Modifikationen, von der erzählenden Romanze bis zum eigentlichen Epos, eine breite Mitte inne. Denn obwohl sie in der Hauptsache objektiv ist; so enthält sie doch ein bald mehr bald minder hervortretendes subjektives Element, welches am Ton, an der Form des Vertrags, wie auch an eingestreuten Reflexionen seinen Ausdruck findet. Wir verlieren nicht den Dichter so ganz aus den Augen, wie beim Drama.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 949-950).

„Der Zweck des Dramas überhaupt ist, uns an einem Beispiel zu zeigen, was das Wesen und Daseyn des Menschen sei. Dabei kann nun die traurige, oder die heitere Seite derselben uns zugewendet werden, oder auch deren Uebergänge. Aber schon der Ausdruck »Wesen und Daseyn des Menschen« enthält den Keim zu der Kontroverse, ob das Wesen, d.i. die Charaktere, oder das Daseyn, d.i. das Schicksal, die Begebenheit, die Handlung, die Hauptsache sei. Uebrigens sind Beide so fest mit einander verwachsen, daß wohl ihr Begriff, aber nicht ihre Darstellung sich trennen läßt. Denn nur die Umstände, Schicksale, Begebenheiten bringen die Charaktere zur Aeußerung ihres Wesens, und nur aus den Charakteren entsteht die Handlung, aus der die Begebenheiten hervorgehn. Allerdings kann, in der Darstellung, das Eine oder das Andere mehr hervorgehoben seyn; in welcher Hinsicht das Charakterstück und das Intriguenstück die beiden Extreme bilden.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 950).

„Ich räume ein, daß im Trauerspiel der Alten dieser Geist der Resignation selten direkt hervortritt und ausgesprochen wird. Oedipus Koloneus stirbt zwar resignirt und willig; doch tröstet ihn die Rache an seinem Vaterland, Iphigenia Aulika ist sehr willig zu sterben; doch ist es der Gedanke an Griechenlands Wohl, der sie tröstet und die Veränderung ihrer Gesinnung hervorbringt, vermöge welcher sie den Tod, dem sie zuerst auf alle Weise entfliehen wollte, willig übernimmt. Kassandra, im Agamemnon des großen Aeschylos, stirbt willig, arkeitw bios (1306); aber auch sie tröstet der Gedanke an Rache. Herkules, in den Trachinerinnen, giebt der Nothwendigkeit nach, stirbt gelassen, aber nicht resignirt. Eben so der Hippolytos des Euripides, bei dem es uns auffällt, daß die ihn zu trösten erscheinende Artemis ihm Tempel und Nachruhm verheißt, aber durchaus nicht auf ein über das Leben hinausgehendes Daseyn hindeutet, und ihn im Sterben verläßt, wie alle Götter von dem Sterbenden weichen: – im Christenthum treten sie zu ihm heran; und eben so im Brahmanismus und Buddhaismus, wenn auch bei letzterem die Götter eigentlich exotisch sind. Hippolytos also, wie fast alle tragischen Helden der Alten, zeigt Ergebung in das unabwendbare Schicksal und den unbiegsamen Willen der Götter, aber kein Aufgeben des Willens zum Leben selbst. Wie der Stoische Gleichmuth von der Christlichen Resignation sich von Grund aus dadurch unterscheidet, daß er nur gelassenes Ertragen und gefaßtes Erwarten der unabänderlich nothwendigen Uebel lehrt, das Christenthum aber Entsagung, Aufgeben des Wollens; eben so zeigen die tragischen Helden der Alten standhaftes Unterwerfen unter die unausweichbaren Schläge des Schicksals, das Christliche Trauerspiel dagegen Aufgeben des ganzen Willens zum Leben, freudiges Verlassen der Welt, im Bewußtseyn ihrer Werthlosigkeit und Nichtigkeit. – Aber ich bin auch ganz der Meinung, daß das Trauerspiel der Neuern höher steht, als das der Alten. Shakespeare ist viel größer als Sophokles: gegen Goethes Iphigenia könnte man die des Euripides beinahe roh und gemein finden. Die Bakchantinnen des Euripides sind ein empörendes Machwerk zu Gunsten der heidnischen Pfaffen. Manche antike Stücke haben gar keine tragische Tendenz; wie die Alkeste und Iphigenia Taurika des Euripides: einige haben widerwärtige, oder gar ekelhafte Motive; so die Antigone und Philoktet. Fast alle zeigen das Menschengeschlecht unter der entsetzlichen Herrschaft des Zufalls und Irrthums, aber nicht die dadurch veranlaßte und davon erlösende Resignation. Alles, weil die Alten noch nicht zum Gipfel und Ziel des Trauerspiels, ja, der Lebensansicht überhaupt, gelangt waren.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 951-952).

„Wenn nun als die Tendenz und letzte Absicht des Trauerspiels sich uns ergeben hat ein Hinwenden zur Resignation, zur Verneinung des Willens zum Leben; so werden wir in seinem Gegensatz, dem Lustspiel, die Aufforderung zur fortgesetzten Bejahung dieses Willens leicht erkennen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 955).

 

Kapitel 38 (dieses Kapitel bezieht sich auf § 51 des 1. Bandes): Ueber Geschichte.

„.Was endlich das, besonders durch die überall so geistesverderbliche und verdummende Hegelsche Afterphilosophie aufgekommene Bestreben, die Weltgeschichte als ein planmäßiges Ganzes zu fassen, oder, wie sie es nennen, »sie organisch zu konstruiren«, betrifft; so liegt demselben eigentlich ein roher und platter Realismus zum Grunde, der die Erscheinung für das Wesen an sich der Welt hält und vermeint, auf sie, auf ihre Gestalten und Vorgänge käme es an; wobei er noch im Stillen von gewissen mythologischen Grundansichten unterstützt wird, die er stillschweigend voraussetzt: sonst ließe sich fragen, für welchen Zuschauer denn eine dergleichen Komödie eigentlich aufgeführt würde? – Denn, da nur das Individuum, nicht aber das Menschengeschlecht wirkliche, unmittelbare Einheit des Bewußtseyns hat; so ist die Einheit des Lebenslaufes dieses eine bloße Fiktion. Zudem, wie in der Natur nur die Species real, die genera bloße Abstraktionen sind, so sind im Menschengeschlecht nur die Individuen und ihr Lebenslauf real, die Völker und ihr Leben bloße Abstraktionen. Endlich laufen die Konstruktionsgeschichten, von plattem Optimismus geleitet, zuletzt immer auf einen behaglichen, nahrhaften, fetten Staat, mit wohlgeregelter Konstitution, guter Justiz und Polizei, Technik und Industrie und höchstens auf intellektuelle Vervollkommnung hinaus; weil diese in der That die allein mögliche ist, da das Moralische im Wesentlichen unverändert bleibt. Das Moralische aber ist es, worauf, nach dem Zeugniß unsers innersten Bewußtseyns, Alles ankommt: und dieses liegt allein im Individuo, als die Richtung seines Willens. In Wahrheit hat nur der Lebenslauf jedes Einzelnen Einheit, Zusammenhang und wahre Bedeutsamkeit: er ist als eine Belehrung anzusehn, und der Sinn derselben ist ein moralischer. Nur die innern Vorgänge, sofern sie den Willen betreffen, haben wahre Realität und sind wirkliche Begebenheiten; weil der Wille allein das Ding an sich ist. In jedem Mikrokosmos liegt der ganze Makrokosmos, und dieser enthält nichts mehr als jener. Die Vielheit ist Erscheinung, und die äußern Vorgänge sind bloße Konfigurationen der Erscheinungswelt, haben daher unmittelbar weder Realität noch Bedeutung, sondern erst mittelbar, durch ihre Beziehung auf den Willen der Einzelnen. Das Bestreben sie unmittelbar deuten und auslegen zu wollen, gleicht sonach dem, in den Gebilden der Wolken Gruppen von Menschen und Thieren zu sehn. – Was die Geschichte erzählt, ist in der That nur der lange, schwere und verworrene Traum der Menschheit.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 959-960).

„Die Hegelianer, welche die Philosophie der Geschichte sogar als den Hauptzweck aller Philosophie ansehn, sind auf Plato zu verweisen, der unermüdlich wiederholt, daß der Gegenstand der Philosophie das Unveränderliche und immerdar Bleibende sei, nicht aber Das, was bald so, bald anders ist. Alle Die, welche solche Konstruktionen des Weltverlaufs, oder, wie sie es nennen, der Geschichte, aufstellen, haben die Hauptwahrheit aller Philosophie nicht begriffen, daß nämlich zu aller Zeit das Selbe ist, alles Werden und Entstehn nur scheinbar, die Ideen allein bleibend, die Zeit ideal. Dies will der Plato, Dies will der Kant. Man soll demnach zu verstehn suchen, was da ist, wirklich ist, heute und immerdar, – d.h. die Ideen (in Plato's Sinn) erkennen. Die Thoren hingegen meinen, es solle erst etwas werden und kommen. Daher räumen sie der Geschichte eine Hauptstelle in ihrer Philosophie ein und konstruiren dieselbe nach einem vorausgesetzten Weltplane, welchem gemäß Alles zum Besten gelenkt wird, welches dann finaliter eintreten soll und eine große Herrlichkeit seyn wird. Demnach nehmen sie die Welt als vollkommen real und setzen den Zweck derselben in das armsälige Erdenglück, welches, selbst wenn noch so sehr von Menschen gepflegt und vom Schicksal begünstigt, doch ein hohles, täuschendes, hinfälliges und trauriges Ding ist, aus welchem weder Konstitutionen und Gesetzgebungen, noch Dampfmaschinen und Telegraphen jemals etwas wesentlich Besseres machen können. Besagte Geschichts-Philosophen und -Verherrlicher sind demnach einfältige Realisten, dazu Optimisten und Eudämonisten, mithin platte Gesellen und eingefleischte Philister, zudem auch eigentlich schlechte Christen; da der wahre Geist und Kern des Christenthums, eben so wie des Brahmanismus und Buddhaismus, die Erkenntniß der Nichtigkeit des Erdenglücks, die völlige Verachtung desselben und Hinwendung zu einem ganz anderartigen, ja, entgegengesetzten Daseyn ist: Dies, sage ich, ist der Geist und Zweck des Christenthums, der wahre »Humor der Sache«; nicht aber ist es, wie sie meinen, der Monotheismus; daher eben der atheistische Buddhaismus dem Christenthum viel näher verwandt ist, als das optimistische Judenthum und seine Varietät, der Islam.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 960-961).

„Erst durch die Geschichte wird ein Volk sich seiner selbst vollständig bewußt. Demnach ist die Geschichte als das vernünftige Selbstbewußtseyn des menschlichen Geschlechtes anzusehn, und ist diesem Das, was dem Einzelnen das durch die Vernunft bedingte, besonnene und zusammenhängende Bewußtseyn ist, durch dessen Ermangelung das Thier in der engen, anschaulichen Gegenwart befangen bleibt. Daher ist jede Lücke in der Geschichte wie eine Lücke im erinnernden SelbstBewußtseyn eines Menschen; und vor einem Denkmal des Uralterthums, welches seine eigene Kunde überlebt hat, wie z.B. die Pyramiden, Tempel und Paläste in Yukatan, stehn wir so besinnungslos und einfältig, wie das Thier vor der menschlichen Handlung, in die es dienend verflochten ist, oder wie ein Mensch vor seiner eigenen alten Zifferschrift, deren Schlüssel er vergessen hat, ja, wie ein Nachtwandler, der was er im Schlafe gemacht hat, am Morgen vorfindet. In diesem Sinne also ist die Geschichte anzusehn als die Vernunft, oder das besonnene Bewußtseyn des menschlichen Geschlechts, und vertritt die Stelle eines dem ganzen Geschlechte unmittelbar gemeinsamen Selbstbewußtseyns, so daß erst vermöge ihrer dasselbe wirklich zu einem Ganzen, zu einer Menschheit, wird. Dies ist der wahre Werth der Geschichte; und dem gemäß beruht das so allgemeine und überwiegende Interesse an ihr hauptsächlich darauf, daß sie eine persönliche Angelegenheit des Menschengeschlechts ist.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 962).

 

Kapitel 39 (dieses Kapitel bezieht sich auf § 52 des 1. Bandes): Zur Metaphysik der Musik.

„Die vier Stimmen aller Harmonie, also Baß, Tenor, Alt und Sopran, oder Grundton, Terz, Quinte und Oktave, entsprechen den vier Abstufungen in der Reihe der Wesen, also dem Mineralreich, Pflanzenreich, Thierreich und dem Menschen. Dies erhält noch eine auffallende Bestätigung an der musikalischen Grundregel, daß der Baß in viel weiterem Abstande unter den drei obern Stimmen bleiben soll, als diese zwischen einander haben; so daß er sich denselben nie mehr, als höchstens bis auf eine Oktave nähern darf, meistens aber noch weiter darunter bleibt, wonach dann der regelrechte Dreiklang seine Stelle in der dritten Oktave vom Grundton hat. Dem entsprechend ist die Wirkung der weiten Harmonie, wo der Baß fern bleibt, viel mächtiger und schöner, als die der engen, wo er näher heraufgerückt ist, und die nur wegen des beschränkten Umfangs der Instrumente eingeführt wird. Diese ganze Regel aber ist keineswegs willkürlich, sondern hat ihre Wurzel in dem natürlichen Ursprung des Tonsystems; sofern nämlich die nächsten, mittelst der Nebenschwingungen mittönenden, harmonischen Stufen die Oktave und deren Quinte sind. In dieser Regel nun erkennen wir das musikalische Analogen der Grundbeschaffenheit der Natur, vermöge welcher die organischen Wesen unter einander viel näher verwandt sind, als mit der leblosen, unorganischen Masse des Mineralreichs, zwischen welcher und ihnen die entschiedenste Gränze und die weiteste Kluft in der ganzen Natur Statt findet. – Daß die hohe Stimme, welche die Melodie singt, doch zugleich integrirender Theil der Harmonie ist und darin selbst mit dem tiefsten Grundbaß zusammenhängt, läßt sich betrachten als das Analogon davon, daß die selbe Materie, welche in einem menschlichen Organismus Träger der Idee des Menschen ist, dabei doch zugleich auch die Ideen der Schwere und der chemischen Eigenschaften, also der niedrigsten Stufen der Objektivation des Willens, darstellen und tragen muß.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 964-965).

„Weil die Musik nicht, gleich allen andern Künsten, die Ideen, oder Stufen der Objektivation des Willens, sondern unmittelbar den Willen selbst darstellt; so ist hieraus auch erklärlich, daß sie auf den Willen, d.i. die Gefühle, Leidenschaften und Affekte des Hörers, unmittelbar einwirkt, so daß sie dieselben schnell erhöht, oder auch umstimmt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 965).

„Ich gehe von der allgemein bekannten und durch neuere Einwürfe keineswegs erschütterten Theorie aus, daß alle Harmonie der Töne auf der Koincidenz der Vibrationen beruht, welche, wann zwei Töne zugleich erklingen, etwan bei jeder zweiten, oder bei jeder dritten, oder bei jeder vierten Vibration eintrifft, wonach sie dann Oktave, Quinte, oder Quarte von einander sind u.s.w.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 966).

„Weil nun ferner, in Folge der zum Grunde gelegten physikalischen Theorie, das eigentlich Musikalische der Töne in der Proportion der Schnelligkeit ihrer Vibrationen, nicht aber in ihrer relativen Stärke liegt; so folgt das musikalische Gehör, bei der Harmonie, stets vorzugsweise dem höchsten Ton, nicht dem stärksten: daher sticht, auch bei der stärksten Orchesterbegleitung, der Sopran hervor und erhält dadurch ein natürliches Recht auf den Vortrag der Melodie, welches zugleich unterstützt wird durch seine, auf der selben Schnelligkeit der Vibrationen beruhende, große Beweglichkeit, wie sie sich in den figurirten Sätzen zeigt, und wodurch der Sopran der geeignete Repräsentant der erhöhten, für den leisesten Eindruck empfänglichen und durch ihn bestimmbaren Sensibilität, folglich des auf der obersten Stufe der Wesenleiter stehenden, aufs höchste gesteigerten Bewußtseyns wird. Seinen Gegensatz bildet, aus den umgekehrten Ursachen, der schwerbewegliche, nur in großen Stufen, Terzen, Quarten und Quinten, steigende und fallende und dabei in jedem seiner Schritte durch feste Regeln geleitete Baß, welcher daher der natürliche Repräsentant des gefühllosen, für feine Eindrücke unempfänglichen und nur nach allgemeinen Gesetzen bestimmbaren, unorganischen Naturreiches ist. Er darf sogar nie um einen Ton, z.B. von Quarte auf Quinte steigen; da dies in den obern Stimmen die fehlerhafte Quinten- und Oktaven-Folge herbeiführt: daher kann er, ursprünglich und in seiner eigenen Natur, nie die Melodie vortragen. Wird sie ihm dennoch zugetheilt; so geschieht es mittelst des Kontrapunkts, d.h. er ist ein versetzter Baß, nämlich eine der obern Stimmen ist herabgesetzt und als Baß verkleidet: eigentlich bedarf er dann noch eines zweiten Grundbasses zu seiner Begleitung, Diese Widernatürlichkeit einer im Basse liegenden Melodie führt herbei, daß Baßarien, mit voller Begleitung, uns nie den reinen, ungetrübten Genuß gewähren, wie die Sopranarie, als welche, im Zusammenhang der Harmonie, allein naturgemäß ist. Beiläufig gesagt, könnte ein solcher melodischer, durch Versetzung erzwungener Baß, im Sinn unserer Metaphysik der Musik, einem Marmorblocke verglichen werden, dem man die menschliche Gestalt aufgezwungen hat: dem steinernen Gast im »Don Juan« ist er eben dadurch wundervoll angemessen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 968-969).

„Die Melodie besteht aus zwei Elementen, einem rhythmischen und einem harmonischen: jenes kann man auch als das quantitative, dieses als das qualitative bezeichnen, da das erstere die Dauer, das letztere die Höhe und Tiefe der Töne betrifft. In der Notenschrift hängt das erstere den senkrechten, das letztere den horizontalen Linien an. Beiden liegen rein arithmetische Verhältnisse, also die der Zeit, zum Grunde: dem einen die relative Dauer der Töne, dem andern die relative Schnelligkeit ihrer Vibrationen. Das rhythmische Element ist das wesentlichste; da es, für sich allein und ohne das andere eine Art Melodie darzustellen vermag, wie z.B. auf der Trommel geschieht: die vollkommene Melodie verlangt jedoch beide. Sie besteht nämlich in einer abwechselnden Entzweiung und Versöhnung[ derselben; wie ich sogleich zeigen werde, aber zuvor, da von dem harmonischen Elemente schon im Bisherigen die Rede gewesen, das rhythmische etwas näher betrachten will.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 969-970).

„Der Rhythmus ist in der Zeit was im Raume die Symmetrie ist, nämlich Theilung in gleiche und einander entsprechende Theile, und zwar zunächst in größere, welche wieder in kleinere, jenen untergeordnete, zerfallen. In der von mir aufgestellten Reihe der Künste bilden Architektur und Musik die beiden äußersten Enden. Auch sind sie, ihrem innern Wesen, ihrer Kraft, dem Umfang ihrer Sphäre und ihrer Bedeutung nach, die heterogensten, ja, wahre Antipoden: sogar auf die Form ihrer Erscheinung erstreckt sich dieser Gegensatz, indem die Architektur allein im Raum ist, ohne irgend eine Beziehung auf die Zeit, die Musik allein in der Zeit, ohne irgend eine Beziehung auf den Raum.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 970).

„Nach dieser Erörterung des Rhythmus habe ich jetzt darzuthun, wie in der stets erneuerten Entzweiung und Versöhnung des rhythmischen Elements der Melodie mit dem harmonischen das Wesen derselben besteht. Ihr harmonisches Element nämlich hat den Grundton zur Voraussetzung, wie das rhythmische die Taktart, und besteht in einem Abirren[534] von demselben, durch alle Töne der Skala, bis es, auf kürzerem oder längerem Umwege, eine harmonische Stufe, meistens die Dominante oder Unterdominante, erreicht, die ihm eine unvollkommene Beruhigung gewährt: dann aber folgt, auf gleich langem Wege, seine Rückkehr zum Grundton, mit welchem die vollkommene Beruhigung eintritt. Beides muß nun aber so geschehn, daß das Erreichen der besagten Stufe, wie auch das Wiederfinden des Grundtons, mit gewissen bevorzugten Zeitpunkten des Rhythmus zusammentreffe, da es sonst nicht wirkt. Also, wie die harmonische Tonfolge gewisse Töne verlangt, vorzüglich die Tonika, nächst ihr die Dominante u.s.w.; so fordert seinerseits der Rhythmus gewisse Zeitpunkte, gewisse abgezählte Takte und gewisse Theile dieser Takte, welche man die schweren, oder guten Zeiten, oder die accentuirten Takttheile nennt, im Gegensatz der leichten, oder schlechten Zeiten, oder unaccentuirten Takttheile. Nun besteht die Entzweiung jener beiden Grundelemente darin, daß indem die Forderung des einen befriedigt wird, die des andern es nicht ist, die Versöhnung aber darin, daß beide zugleich und auf ein Mal befriedigt werden. Nämlich jenes Herumirren der Tonfolge, bis zum Erreichen einer mehr oder minder harmonischen Stufe, muß diese erst nach einer bestimmten Anzahl Takte, sodann aber auf einem guten Zeittheil des Taktes antreffen, wodurch dieselbe zu einem gewissen Ruhepunkte für sie wird; und eben so muß die Rückkehr zur Tonika diese nach einer gleichen Anzahl Takte und ebenfalls auf einem guten Zeittheil wiederfinden, wodurch dann die völlige Befriedigung eintritt. So lange dieses geforderte Zusammentreffen der Befriedigungen beider Elemente nicht erreicht wird, mag einerseits der Rhythmus seinen regelrechten Gang gehn, und andererseits die geforderten Noten oft genug vorkommen; sie werden dennoch ganz ohne jene Wirkung bleiben, durch welche die Melodie entsteht ....“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 971-972).

„Hier trifft die harmonische Tonfolge gleich am Schluß des ersten Takts auf die Tonika: allein sie erhält dadurch keine Befriedigung; weil der Rhythmus im schlechtesten Takttheile begriffen[535] ist. Gleich darauf, im zweiten Takt, hat der Rhythmus das gute Takttheil; aber die Tonfolge ist auf die Septime gekommen. Hier sind also die beiden Elemente der Melodie ganz entzweit; und wir fühlen uns beunruhigt. In der zweiten Hälfte der Periode trifft Alles umgekehrt, und sie werden, im letzten Ton, versöhnt. Dieser Vorgang ist in jeder Melodie, wiewohl meistens in viel größerer Ausdehnung, nachzuweisen. Die dabei nun Statt findende beständige Entzweiung und Versöhnung ihrer beiden Elemente ist, metaphysisch betrachtet, das Abbild der Entstehung neuer Wünsche und sodann ihrer Befriedigung. Eben dadurch schmeichelt die Musik sich so in unser Herz, daß sie ihm stets die vollkommene Befriedigung seiner Wünsche vorspiegelt. Näher betrachtet, sehn wir in diesem Hergang der Melodie eine gewissermaaßen innere Bedingung (die harmonische) mit einer äußern (der rhythmischen) wie durch einen Zufall zusammentreffen, – welchen freilich der Komponist herbeiführt und der insofern dem Reim in der Poesie zu vergleichen ist: dies aber eben ist das Abbild des Zusammentreffens unserer Wünsche mit den von ihnen unabhängigen, günstigen, äußeren Umständen, also das Bild des Glücks. – Noch verdient hiebei die Wirkung des Vorhalts beachtet zu werden. Er ist eine Dissonanz, welche die mit Gewißheit erwartete, finale Konsonanz verzögert; wodurch das Verlangen nach ihr verstärkt wird und ihr Eintritt desto mehr befriedigt: offenbar ein Analogen der durch Verzögerung erhöhten Befriedigung des Willens. Die vollkommene Kadenz erfordert den vorhergehenden Septimenackord auf der Dominante; weil nur auf das dringendeste Verlangen die am tiefsten gefühlte Befriedigung und gänzliche Beruhigung folgen kann. Durchgängig also besteht die Musik in einem steten Wechsel von mehr oder minder beunruhigenden, d.i. Verlangen erregenden Ackorden, mit mehr oder minder beruhigenden und befriedigenden; eben wie das Leben des Herzens (der Wille) ein steter Wechsel von größerer oder geringerer Beunruhigung, durch Wunsch oder Furcht, mit eben so verschieden gemessener Beruhigung ist. Demgemäß besteht die harmonische Fortschreitung in der kunstgerechten Abwechselung der Dissonanz und Konsonanz. Eine Folge bloß konsonanter Ackorde würde übersättigend, ermüdend und leer seyn, wie der languor, den die Befriedigung aller Wünsche herbeiführt. Daher müssen[536] Dissonanzen, obwohl sie beunruhigend und fast peinlich wirken, eingeführt werden, aber nur um, mit gehöriger Vorbereitung, wieder in Konsonanzen aufgelöst zu werden. Ja, es giebt eigentlich in der ganzen Musik nur zwei Grundackorde: den dissonanten Septimenackord und den harmonischen Dreiklang, als auf welche alle vorkommenden Ackorde zurückzuführen sind. Dies ist eben Dem entsprechend, daß es für den Willen im Grunde nur Unzufriedenheit und Befriedigung giebt, unter wie vielerlei Gestalten sie auch sich darstellen mögen. Und wie es zwei allgemeine Grundstimmungen des Gemüths giebt, Heiterkeit oder wenigstens Rüstigkeit, und Betrübniß oder doch Beklemmung; so hat die Musik zwei allgemeine Tonarten Dur und Moll, welche jenen entsprechen, und sie muß stets sich in einer von beiden befinden. Es ist aber in der That höchst wunderbar, daß es ein weder physisch schmerzliches, noch auch konventionelles, dennoch sogleich ansprechendes und unverkennbares Zeichen des Schmerzes giebt: das Moll. Daran läßt sich ermessen, wie tief die Musik im Wesen der Dinge und des Menschen gegründet ist. – Bei nordischen Völkern, deren Leben schweren Bedingungen unterliegt, namentlich bei den Russen, herrscht das Moll vor, sogar in der Kirchenmusik. – Allegro in Moll ist in der Französischen Musik sehr häufig und charakterisirt sie: es ist, wie wenn Einer tanzt, während ihn der Schuh drückt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 972-973).

 

NACH OBEN Ergänzungen  zum vierten Buch

Kapitel 44: Metaphysik der Geschlechtsliebe.

Ihr Weisen, hoch und tief gelahrt,
Die ihr's ersinnt und wißt,
Wie, wo und wann sich Alles paart?
Warum sich's liebt und küßt?
Ihr hohen Weisen, sagt mir's an!
Ergrübelt, was mir da,
Ergrübelt mir, wo, wie und wann,
Warum mir so geschah?

Bürger.

„Dieses Kapitel ist das letzte von vieren, deren mannigfaltige gegenseitige Beziehungen zu einander, vermöge welcher sie gewissermaaßen ein untergeordnetes Ganzes bilden, der aufmerksame Leser erkennen wird, ohne daß ich nöthig hätte, durch Berufungen und Zurückweisungen meinen Vortrag zu unterbrechen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1041).

„Die Dichter ist man gewohnt hauptsächlich mit der Schilderung der Geschlechtsliebe beschäftigt zu sehn. Diese ist in der Regel das Hauptthema aller dramatischen Werke, der tragischen, wie der komischen, der romantischen, wie der klassischen, der Indischen, wie der Europäischen: nicht weniger ist sie der Stoff des bei Weitem größten Theils der lyrischen Poesie, und ebenfalls der epischen; zumal wenn wir dieser die hohen Stöße von Romanen beizählen wollen, welche, in allen civilisirten Ländern Europas, jedes Jahr so regelmäßig wie die Früchte des Bodens erzeugt, schon seit Jahrhunderten. Alle diese Werke sind, ihrem Hauptinhalte nach, nichts Anderes, als vielseitige, kurze oder ausführliche Beschreibungen der in Rede stehenden Leidenschaft. Auch haben die gelungensten Schilderungen derselben, wie z.B. Romeo und Julie, die neue Heloise, der Werther, unsterblichen Ruhm erlangt. Wenn dennoch Rochefoucauld meint, es sei mit der leidenschaftlichen Liebe wie mit den Gespenstern, Alle redeten davon, aber Keiner hätte sie gesehn; und ebenfalls Lichtenberg in seinem Aufsatze »Ueber die Macht der Liebe« die Wirklichkeit und Naturgemäßheit jener Leidenschaft bestreitet und ableugnet; so ist dies ein großer Irrthum. Denn es ist unmöglich, daß ein der menschlichen Natur Fremdes und ihr Widersprechendes, also eine bloß aus der Luft gegriffene Fratze, zu allen Zeiten vom Dichtergenie unermüdlich dargestellt und von der Menschheit mit unveränderter Theilnahme aufgenommen werden könne; da ohne Wahrheit kein Kunstschönes seyn kann: Rien n'est beau que le vrai; le vrai seul est aimable.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1041-1042).

„Allerdings aber bestätigt es auch die Erfahrung, wenn gleich nicht die alltägliche, daß Das, was in der Regel nur als eine lebhafte, jedoch noch bezwingbare Neigung vorkommt, unter gewissen Umständen anwachsen kann zu einer Leidenschaft, die an Heftigkeit jede andere übertrifft, und dann alle Rücksichten beseitigt, alle Hindernisse mit unglaublicher Kraft und Ausdauer überwindet, so daß für ihre Befriedigung unbedenklich das Leben gewagt, ja, wenn solche schlechterdings versagt bleibt, in den Kauf gegeben wird. Die Werther und Jacopo Ortis existiren nicht bloß im Romane; sondern jedes Jahr hat deren in Europa wenigstens ein halbes Dutzend aufzuweisen: sed ignotis perierunt mortibus illi: denn ihre Leiden finden keinen andern Chronisten, als den Schreiber amtlicher Protokolle, oder den Berichterstatter der Zeitungen. Doch werden die Leser der polizeigerichtlichen Aufnahmen in Englischen und Französischen Tagesblättern die Richtigkeit meiner Angabe bezeugen. Noch größer aber ist die Zahl Derer, welche die selbe Leidenschaft ins Irrenhaus bringt. Endlich hat jedes Jahr auch einen und den andern Fall von gemeinschaftlichem Selbstmord eines liebenden, aber durch äußere Umstände verhinderten Paares aufzuweisen; wobei mir inzwischen unerklärlich bleibt, wie Die, welche, gegenseitiger Liebe gewiß, im Genüsse dieser die höchste Säligkeit zu finden erwarten, nicht lieber durch die äußersten Schritte sich allen Verhältnissen entziehn und jedes Ungemach erdulden, als daß sie mit dem Leben ein Glück aufgeben, über welches hinaus ihnen kein größeres denkbar ist. – Was aber die niedern Grade und die bloßen Anflüge jener Leidenschaft anlangt, so hat Jeder sie täglich vor Augen und, so lange er nicht alt ist, meistens auch im Herzen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1042).

„Also kann man, nach dem hier in Erinnerung Gebrachten, weder an der Realität, noch an der Wichtigkeit der Sache zweifeln, und sollte daher, statt sich zu wundern, daß auch ein Philosoph dieses beständige Thema aller Dichter ein Mal zu dem seinigen macht, sich darüber wundern, daß eine Sache, welche im Menschenleben durchweg eine so bedeutende Rolle spielt, von den Philosophen bisher so gut wie gar nicht in Betrachtung genommen ist und als ein unbearbeiteter Stoff vorliegt. Wer sich noch am meisten damit abgegeben hat, ist Plato, besonders im »Gastmahl« und im »Phädrus«: was er jedoch darüber vorbringt, hält sich im Gebiete der Mythen, Fabeln und Scherze, betrifft auch größtentheils nur die Griechische Knabenliebe. Das Wenige, was Rousseau im Discours sur l'inégalité (p. 96, ed. Bip.) über unser Thema sagt, ist falsch und ungenügend. Kants Erörterung des Gegenstandes, im dritten Abschnitt der Abhandlung »Ueber das Gefühl des Schönen und Erhabenen« (S. 435 fg. der Rosenkranzischen Ausgabe), ist sehr oberflächlich und ohne Sachkenntniß, daher zum Theil auch unrichtig. Endlich Platners Behandlung der Sache in seiner Anthropologie, §§ 1347 fg., wird Jeder platt und seicht finden. Hingegen verdient Spinoza's Definition, wegen ihrer überschwänglichen Naivetät, zur Aufheiterung, angeführt zu werden: Amor est titillatio, concomitante idea causae externae (Eth., IV, prop. 44, dem.). Vorgänger habe ich demnach weder zu benutzen, noch zu widerlegen: die Sache hat sich mir objektiv aufgedrungen und ist von selbst in den Zusammenhang meiner Weltbetrachtung getreten. – Den wenigsten Beifall habe ich übrigens von Denen zu hoffen, welche gerade selbst von dieser Leidenschaft beherrscht sind, und demnach in den sublimsten und ätherischesten Bildern ihre überschwänglichen Gefühle auszudrücken suchen: ihnen wird meine Ansicht zu physisch, zu materiell erscheinen; so metaphysisch, ja transscendent, sie auch im Grunde ist. Mögen sie vorläufig erwägen, daß der Gegenstand, welcher sie heute zu Madrigalen und Sonetten begeistert, wenn er 18 Jahre früher geboren wäre, ihnen kaum einen Blick abgewonnen hätte.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1042-1043).

„Denn alle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch geberden mag, wurzelt allein im Geschlechtstriebe, ja, ist durchaus nur ein näher bestimmter, specialisirter, wohl gar im strengsten Sinn individualisirter Geschlechtstrieb. Wenn man nun, dieses fest haltend, die wichtige Rolle betrachtet, welche die Geschlechtsliebe in allen ihren Abstufungen und Nuancen, nicht bloß in Schauspielen und Romanen, sondern auch in der wirklichen Welt spielt, wo sie, nächst der Liebe zum Leben, sich als die stärkste und thätigste aller Triebfedern erweist, die Hälfte der Kräfte und Gedanken des jüngern Theiles der Menschheit fortwährend in Anspruch nimmt, das letzte Ziel fast jedes menschlichen Bestrebens ist, auf die wichtigsten Angelegenheiten nachtheiligen Einfluß erlangt, die ernsthaftesten Beschäftigungen zu jeder Stunde unterbricht, bisweilen selbst die größten Köpfe auf eine Weile in Verwirrung setzt, sich nicht scheut, zwischen die Verhandlungen der Staatsmänner und die Forschungen der Gelehrten, störend, mit ihrem Plunder einzutreten, ihre Liebesbriefchen und Haarlöckchen sogar in ministerielle Portefeuilles und philosophische Manuskripte einzuschieben versteht, nicht minder täglich die verworrensten und schlimmsten Händel anzettelt, die werthvollsten Verhältnisse auflöst, die festesten Bande zerreißt, bisweilen Leben, oder Gesundheit, bisweilen Reichthum, Rang und Glück zu ihrem Opfer nimmt, ja, den sonst Redlichen gewissenlos, den bisher Treuen zum Verräther macht, demnach im Ganzen auftritt als ein feindsäliger Dämon, der Alles zu verkehren, zu verwirren und umzuwerfen bemüht ist; – da wird man veranlaßt auszurufen: Wozu der Lerm? Wozu das Drängen, Toben, die Angst und die Noth? Es handelt sich ja bloß darum, daß jeder Hans seine Grethe finde: weshalb sollte eine solche Kleinigkeit eine so wichtige Rolle spielen und unaufhörlich Störung und Verwirrung in das wohlgeregelte Menschenleben bringen? – Aber dem ernsten Forscher enthüllt allmälig der Geist der Wahrheit die Antwort: Es ist keine Kleinigkeit, worum es sich hier handelt; vielmehr ist die Wichtigkeit der Sache dem Ernst und Eifer des Treibens vollkommen angemessen. Der Endzweck aller Liebeshändel, sie mögen auf dem Sockus, oder dem Kothurn gespielt werden, ist wirklich wichtiger, als alle andern Zwecke im Menschenleben, und daher des tiefen Ernstes, womit Jeder ihn verfolgt, völlig werth. Das nämlich, was dadurch entschieden wird, ist nichts Geringeres, als die Zusammensetzung der nächsten Generation. Die dramatis personae, welche auftreten werden, wann wir abgetreten sind, werden hier, ihrem Daseyn und ihrer Beschaffenheit nach, bestimmt, durch diese so frivolen Liebeshändel. Wie das Seyn, die Existentia, jener künftigen Personen durch unsern Geschlechtstrieb überhaupt, so ist das Wesen, die Essentia derselben durch die individuelle Auswahl bei seiner Befriedigung, d.i. die Geschlechtsliebe, durchweg bedingt, und wird dadurch, in jeder Rücksicht, unwiderruflich festgestellt. Dies ist der Schlüssel des Problems: wir werden ihn, bei der Anwendung, genauer kennen lernen, wann wir die Grade der Verliebtheit, von der flüchtigsten Neigung bis zur heftigsten Leidenschaft, durchgehn, wobei wir erkennen werden, daß die Verschiedenheit derselben aus dem Grade der Individualisation der Wahl entspringt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1043-1044).

„Die sämmtlichen Liebeshändel der gegenwärtigen Generation zusammengenommen sind demnach des ganzen Menschengeschlechts ernstliche meditatio compositionis generationis futurae, e qua iterum pendent innumerae generationes. Diese hohe Wichtigkeit der Angelegenheit, als in welcher es sich nicht, wie in allen übrigen, um individuelles Wohl und Wehe, sondern um das Daseyn und die specielle Beschaffenheit des Menschengeschlechts in künftigen Zeiten handelt und daher der Wille des Einzelnen in erhöhter Potenz, als Wille der Gattung, auftritt, diese ist es, worauf das Pathetische und Erhabene der Liebesangelegenheiten, das Transscendente ihrer Entzückungen und Schmerzen beruht, welches in zahllosen Beispielen darzustellen die Dichter seit Jahrtausenden nicht müde werden; weil kein Thema es an Interesse diesem gleich thun kann, als welches, indem es das Wohl und Wehe der Gattung betrifft, zu allen übrigen, die nur das Wohl der Einzelnen betreffen, sich verhält wie Körper zu Fläche. Daher eben ist es so schwer, einem Drama ohne Liebeshändel Interesse zu ertheilen, und wird andererseits, selbst durch den täglichen Gebrauch, dies Thema niemals abgenutzt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1044-1045).

„Was im individuellen Bewußtseyn sich kund giebt als Geschlechtstrieb überhaupt und ohne die Richtung auf ein bestimmtes Individuum des andern Geschlechts, das ist an sich selbst und außer der Erscheinung der Wille zum Leben schlechthin. Was aber im Bewußtseyn erscheint als auf ein bestimmtes Individuum gerichteter Geschlechtstrieb, das ist an sich selbst der Wille, als ein genau bestimmtes Individuum zu leben. In diesem Falle nun weiß der Geschlechtstrieb, obwohl an sich ein subjektives Bedürfniß, sehr geschickt die Maske einer objektiven Bewunderung anzunehmen und so das Bewußtseyn zu täuschen: denn die Natur bedarf dieses Stratagems zu ihren Zwecken. Daß es aber, so objektiv und von erhabenem Anstrich jene Bewunderung auch erscheinen mag, bei jedem Verliebtseyn doch allein abgesehn ist auf die Erzeugung eines Individuums von bestimmter Beschaffenheit, wird zunächst dadurch bestätigt, daß nicht etwan die Gegenliebe, sondern der Besitz, d.h. der physische Genuß, das Wesentliche ist. Die Gewißheit jener kann daher über den Mangel dieses keineswegs trösten: vielmehr hat in solcher Lage schon Mancher sich erschossen. Hingegen nehmen stark Verliebte, wenn sie keine Gegenliebe erlangen können, mit dem Besitz, d.i. dem physischen Genuß, vorlieb. Dies belegen alle gezwungenen Heirathen, imgleichen die so oft, ihrer Abneigung zum Trotz, mit großen Geschenken, oder sonstigen Opfern, erkaufte Gunst eines Weibes, ja auch die Fälle der Nothzucht. Daß dieses bestimmte Kind erzeugt werde, ist der wahre, wenn gleich den Theilnehmern unbewußte Zweck des ganzen Liebesromans: die Art und Weise, wie er erreicht wird, ist Nebensache. – Wie laut auch hier die hohen und empfindsamen, zumal aber die verliebten Seelen aufschreien mögen, über den derben Realismus meiner Ansicht; so sind sie doch im Irrthum. Denn, ist nicht die genaue Bestimmung der Individualitäten der nächsten Generation ein viel höherer und würdigerer Zweck, als Jener ihre überschwänglichen Gefühle und übersinnlichen Seifenblasen? Ja, kann es, unter Irdischen Zwecken, einen wichtigeren und größeren geben? Er allein entspricht der Tiefe, mit welcher die leidenschaftliche Liebe gefühlt wird, dem Ernst, mit welchem sie auftritt, und der Wichtigkeit, die sie sogar den Kleinigkeiten ihres Bereiches und ihres Anlasses beilegt. Nur sofern man diesen Zweck als den wahren unterlegt, erscheinen die Weitläuftigkeiten, die endlosen Bemühungen und Plagen zur Erlangung des geliebten Gegenstandes, der Sache angemessen. Denn die künftige Generation, in ihrer ganzen individuellen Bestimmtheit, ist es, die sich mittelst jenes Treibens und Mühens ins Daseyn drängt. Ja, sie selbst regt sich schon in der so umsichtigen, bestimmten und eigensinnigen Auswahl zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, die man Liebe nennt. Die wachsende Zuneigung zweier Liebenden ist eigentlich schon der Lebenswille des neuen Individuums, welches sie zeugen können und möchten; ja, schon im Zusammentreffen ihrer sehnsuchtsvollen Blicke entzündet sich sein neues Leben, und giebt sich kund als eine künftig harmonische, wohl zusammengesetzte Individualität. Sie fühlen die Sehnsucht nach einer wirklichen Vereinigung und Verschmelzung zu einem einzigen Wesen, um alsdann nur noch als dieses fortzuleben; und diese erhält ihre Erfüllung in dem von ihnen Erzeugten, als in welchem die sich vererbenden Eigenschaften Beider, zu Einem Wesen verschmolzen und vereinigt, fortleben. Umgekehrt, ist die gegenseitige, entschiedene und beharrliche Abneigung zwischen einem Mann und einem Mädchen die Anzeige, daß was sie zeugen könnten nur ein übel organisirtes, in sich disharmonisches, unglückliches Wesen seyn würde. Deshalb liegt ein tiefer Sinn darin, daß Calderon die entsetzliche Semiramis zwar die Tochter der Luft benennt, sie jedoch als die Tochter der Nothzucht, auf welche der Gattenmord folgte, einführt.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1045-1046).

„Was nun aber zuletzt zwei Individuen verschiedenen Geschlechts mit solcher Gewalt ausschließlich zu einander zieht, ist der in der ganzen Gattung sich darstellende Wille zum Leben, der hier eine seinen Zwecken entsprechende Objektivation seines Wesens anticipirt in dem Individuo, welches jene Beiden zeugen können. Dieses nämlich wird vom Vater den Willen, oder Charakter, von der Mutter den Intellekt haben, die Korporisation von Beiden: jedoch wird meistens die Gestalt sich mehr nach dem Vater, die Größe mehr nach der Mutter richten, – dem Gesetze gemäß, welches in den Bastarderzeugungen der Thiere an den Tag tritt und hauptsächlich darauf beruht, daß die Größe des Fötus sich nach der Größe des Uterus richten muß. So unerklärlich die ganz besondere und ihm ausschließlich eigenthümliche Individualität eines jeden Menschen ist; so ist es eben auch die ganz besondere und individuelle Leidenschaft zweier Liebenden; – ja, im tiefsten Grunde ist Beides Eines und das Selbe: die Erstere ist explicite was die Letztere implicite war. Als die allererste Entstehung eines neuen Individuums und das wahre punctum saliens seines Lebens ist wirklich der Augenblick zu betrachten, da die Eltern anfangen einander zu lieben, – to fancy each other nennt es ein sehr treffender Englischer Ausdruck, – und, wie gesagt, im Begegnen und Heften ihrer sehnsüchtigen Blicke entsteht der erste Keim des neuen Wesens, der freilich, wie alle Keime, meistens zertreten wird. Dies neue Individuum ist gewissermaaßen eine neue (Platonische) Idee: wie nun alle Ideen mit der größten Heftigkeit in die Erscheinung zu treten streben, mit Gier die Materie hiezu ergreifend, welche das Gesetz der Kausalität unter sie alle austheilt; so strebt eben auch diese besondere Idee einer menschlichen Individualität mit der größten Gier und Heftigkeit nach ihrer Realisation in der Erscheinung. Diese Gier und Heftigkeit eben ist die Leidenschaft der beiden künftigen Eltern zu einander. Sie hat unzählige Grade, deren beide Extreme man immerhin als Aphroditê pandêmos und ourania bezeichnen mag: – dem Wesen nach ist sie jedoch überall die selbe. Hingegen dem Grade nach wird sie um so mächtiger seyn, je individualisirter sie ist, d.h. je mehr das geliebte Individuum, vermöge aller seiner Theile und Eigenschaften, ausschließlich geeignet ist, den Wunsch und das durch seine eigene Individualität festgestellte Bedürfniß des liebenden zu befriedigen. Worauf es nun aber hiebei ankommt, wird uns im weiteren Verfolge deutlich werden. Zunächst und wesentlich ist die verliebte Neigung gerichtet auf Gesundheit, Kraft und Schönheit, folglich auch auf Jugend; weil der Wille zuvörderst den Gattungscharakter der Menschenspecies, als die Basis aller Individualität, darzustellen verlangt: die alltägliche Liebelei (Aphroditê pandêmos) geht nicht viel weiter. Daran knüpfen sich sodann speciellere Anforderungen, die wir weiterhin im Einzelnen untersuchen werden, und mit denen, wo sie Befriedigung vor sich sehn, die Leidenschaft steigt. Die höchsten Grade dieser aber entspringen aus derjenigen Angemessenheit beider Individualitäten zu einander, vermöge welcher der Wille, d.i. der Charakter, des Vaters und der Intellekt der Mutter, in ihrer Verbindung, gerade dasjenige Individuum vollenden, nach welchem der Wille zum Leben überhaupt, welcher in der ganzen Gattung sich darstellt, eine dieser seiner Größe angemessene, daher das Maaß eines sterblichen Herzens übersteigende Sehnsucht empfindet, deren Motive eben so über den Bereich des individuellen Intellekts hinausliegen. Dies also ist die Seele einer eigentlichen, großen Leidenschaft. – Je vollkommener nun die gegenseitige Angemessenheit zweier Individuen zu einander, in jeder der so mannigfachen, weiterhin zu betrachtenden Rücksichten ist, desto stärker wird ihre gegenseitige Leidenschaft ausfallen. Da es nicht zwei ganz gleiche Individuen giebt, muß jedem bestimmten Mann ein bestimmtes Weib, – stets in Hinsicht auf das zu Erzeugende, – am vollkommensten entsprechen. So selten, wie der Zufall ihres Zusammentreffens, ist die eigentlich leidenschaftliche Liebe. Weil inzwischen die Möglichkeit einer solchen in Jedem vorhanden ist, sind uns die Darstellungen derselben in den Dichterwerken verständlich. – Eben weil die verliebte Leidenschaft sich eigentlich um das zu Erzeugende und dessen Eigenschaften dreht und hier ihr Kern liegt, kann zwischen zwei jungen und wohlgebildeten Leuten verschiedenen Geschlechts, vermöge der Uebereinstimmung ihrer Gesinnung, ihres Charakters, ihrer Geistesrichtung, Freundschaft bestehn, ohne daß Geschlechtsliebe sich einmischte; ja sogar kann in dieser Hinsicht eine gewisse Abneigung zwischen ihnen vorhanden seyn. Der Grund hievon ist darin zu suchen, daß ein von ihnen erzeugtes Kind körperlich oder geistig disharmonirende Eigenschaften haben, kurz, seine Existenz und Beschaffenheit den Zwecken des Willens zum Leben, wie er sich in der Gattung darstellt, nicht entsprechen würde. Im entgegengesetzten Fall kann, bei Heterogeneität der Gesinnung, des Charakters und der Geistesrichtung, und bei der daraus hervorgehenden Abneigung, ja Feindsäligkeit, doch die Geschlechtsliebe aufkommen und bestehn; wo sie dann über jenes Alles verblendet: verleitet sie hier zur Ehe, so wird es eine sehr unglückliche. –“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1046-1048).

„Jetzt zur gründlicheren Untersuchung der Sache. – Der Egoismus ist eine so tief wurzelnde Eigenschaft aller Individualität überhaupt, daß, um die Thätigkeit eines individuellen Wesens zu erregen, egoistische Zwecke die einzigen sind, auf welche man mit Sicherheit rechnen kann. Zwar hat die Gattung auf das Individuum ein früheres, näheres und größeres Recht, als die hinfällige Individualität selbst: jedoch kann, wann das Individuum für den Bestand und die Beschaffenheit der Gattung thätig seyn und sogar Opfer bringen soll, seinem Intellekt, als welcher bloß auf individuelle Zwecke berechnet ist, die Wichtigkeit der Angelegenheit nicht so faßlich gemacht werden, daß sie derselben gemäß wirkte. Daher kann, in solchem Fall, die Natur ihren Zweck nur dadurch erreichen, daß sie dem Individuo einen gewissen Wahn einpflanzt, vermöge dessen ihm als ein Gut für sich selbst erscheint, was in Wahrheit bloß eines für die Gattung ist, so daß dasselbe dieser dient, während es sich selber zu dienen wähnt; bei welchem Hergang eine bloße, gleich darauf verschwindende Chimäre ihm vorschwebt und als Motiv die Stelle einer Wirklichkeit vertritt. Dieser Wahn ist der Instinkt. Derselbe ist, in den allermeisten Fällen, anzusehn als der Sinn der Gattung, welcher das ihr Frommende dem Willen darstellt. Weil aber der Wille hier individuell geworden; so muß er dergestalt getäuscht werden, daß er Das, was der Sinn der Gattung ihm vorhält, durch den Sinn des Individui wahrnimmt, also individuellen Zwecken nachzugehn wähnt, während er in Wahrheit bloß generelle (dies Wort hier im eigentlichsten Sinn genommen) verfolgt. Die äußere Erscheinung des Instinkts beobachten wir am besten an den Thieren, als wo seine Rolle am bedeutendesten ist; aber den innern Hergang dabei können wir, wie alles Innere, allein an uns selbst kennen lernen. Nun meint man zwar, der Mensch habe fast gar keinen Instinkt, allenfalls bloß den, daß das Neugeborene die Mutterbrust sucht und ergreift. Aber in der That haben wir einen sehr bestimmten, deutlichen, ja komplicirten Instinkt, nämlich den der so feinen, ernstlichen und eigensinnigen Auswahl des andern Individuums zur Geschlechtsbefriedigung. Mit dieser Befriedigung an sich selbst, d.h. sofern sie ein auf dringendem Bedürfniß des Individuums beruhender sinnlicher Genuß ist, hat die Schönheit oder Häßlichkeit des andern Individuums gar nichts zu schaffen. Die dennoch so eifrig verfolgte Rücksicht auf diese, nebst der daraus entspringenden sorgsamen Auswahl, bezieht sich also offenbar nicht auf den Wählenden selbst, obschon er es wähnt, sondern auf den wahren Zweck, auf das zu Erzeugende, als in welchem der Typus der Gattung möglichst rein und richtig erhalten werden soll. Nämlich durch tausend physische Zufälle und moralische Widerwärtigkeiten entstehn gar vielerlei Ausartungen der menschlichen Gestalt: dennoch wird der ächte Typus derselben, in allen seinen Theilen, immer wieder hergestellt; welches geschieht unter der Leitung des Schönheitssinnes, der durchgängig dem Geschlechtstriebe vorsteht, und ohne welchen dieser zum ekelhaften Bedürfniß herabsinkt. Demgemäß wird Jeder, erstlich, die schönsten Individuen, d.h. solche, in welchen der Gattungscharakter am reinsten ausgeprägt ist, entschieden vorziehn und heftig begehren; zweitens aber wird er am andern Individuo besonders die Vollkommenheiten verlangen, welche ihm selbst abgehn, ja sogar die Unvollkommenheiten, welche das Gegentheil seiner eigenen sind, schön finden: daher suchen z.B. kleine Männer große Frauen, die Blonden lieben die Schwarzen u.s.w. – Das schwindelnde Entzücken, welches den Mann beim Anblick eines Weibes von ihm angemessener Schönheit ergreift und ihm die Vereinigung mit ihr als das höchste Gut vorspiegelt, ist eben der Sinn der Gattung, welcher den deutlich ausgedrückten Stämpel derselben erkennend, sie mit diesem perpetuiren möchte. Auf diesem entschiedenen Hange zur Schönheit beruht die Erhaltung des Typus der Gattung: daher wirkt derselbe mit so großer Macht. Wir werden die Rücksichten, welche er befolgt, weiter unten speciell betrachten. Was also den Menschen hiebei leitet, ist wirklich ein Instinkt, der auf das Beste der Gattung gerichtet ist, während der Mensch selbst bloß den erhöhten eigenen Genuß zu suchen wähnt. – In der That haben wir hieran einen lehrreichen Aufschluß über das innere Wesen alles Instinkts, als welcher fast durchgängig, wie hier, das Individuum für das Wohl der Gattung in Bewegung setzt. Denn offenbar ist die Sorgfalt, mit der ein Insekt eine bestimmte Blume, oder Frucht, oder Mist, oder Fleisch, oder, wie die Ichneumonien, eine fremde Insektenlarve aufsucht, um seine Eier nur dort zu legen, und um dieses zu erreichen weder Mühe noch Gefahr scheut, derjenigen sehr analog, mit welcher ein Mann zur Geschlechtsbefriedigung ein Weib von bestimmter, ihm individuell zusagender Beschaffenheit sorgsam auswählt und so eifrig nach ihr strebt, daß er oft, um diesen Zweck zu erreichen, aller Vernunft zum Trotz, sein eigenes Lebensglück opfert, durch thörichte Heirath, durch Liebeshändel, die ihm Vermögen, Ehre und Leben kosten, selbst durch Verbrechen, wie Ehebruch, oder Nothzucht; Alles nur, um, dem überall souveränen Willen der Natur gemäß, der Gattung auf das Zweckmäßigste zu dienen, wenn gleich auf Kosten des Individuums. Ueberall nämlich ist der Instinkt ein Wirken wie nach einem Zweckbegriff, und doch ganz ohne denselben. Die Natur pflanzt ihn da ein, wo das handelnde Individuum den Zweck zu verstehn unfähig, oder ihn zu verfolgen unwillig seyn würde: daher ist er, in der Regel, nur den Thieren, und zwar vorzüglich den untersten, als welche den wenigsten Verstand haben, beigegeben, aber fast allein in dem hier betrachteten Fall auch dem Menschen, als welcher den Zweck zwar verstehn könnte, ihn aber nicht mit dem nöthigen Eifer, nämlich sogar auf Kosten seines individuellen Wohls, verfolgen würde. Also nimmt hier, wie bei allem Instinkt, die Wahrheit die Gestalt des Wahnes an, um auf den Willen zu wirken. Ein wollüstiger Wahn ist es, der dem Manne vorgaukelt, er werde in den Armen eines Weibes von der ihm zusagenden Schönheit einen größern Genuß finden, als in denen eines jeden andern; oder der gar, ausschließlich auf ein einziges Individuum gerichtet, ihn fest überzeugt, daß dessen Besitz ihm ein überschwängliches Glück gewähren werde. Demnach wähnt er, für seinen eigenen Genuß Mühe und Opfer zu verwenden, während es bloß für die Erhaltung des regelrechten Typus der Gattung geschieht, oder gar eine ganz bestimmte Individualität, die nur von diesen Eltern kommen kann, zum Daseyn gelangen soll. So völlig ist hier der Charakter des Instinkts, also ein Handeln wie nach einem Zweckbegriff und doch ganz ohne denselben, vorhanden, daß der von jenem Wahn Getriebene den Zweck, welcher allein ihn leitet, die Zeugung, oft sogar verabscheut und verhindern möchte: nämlich bei fast allen unehelichen Liebschaften. Dem dargelegten Charakter der Sache gemäß wird, nach dem endlich erlangten Genuß, jeder Verliebte eine wundersame Enttäuschung erfahren, und darüber erstaunen, daß das so sehnsuchtsvoll Begehrte nichts mehr leistet, als jede andere Geschlechtsbefriedigung; so daß er sich nicht sehr dadurch gefördert sieht. Jener Wunsch nämlich verhielt sich zu allen seinen übrigen Wünschen, wie sich die Gattung verhält zum Individuo, also wie ein Unendliches zu einem Endlichen. Die Befriedigung hingegen kommt eigentlich nur der Gattung zu Gute und fällt deshalb nicht in das Bewußtseyn des Individuums, welches hier, vom Willen der Gattung beseelt, mit jeglicher Aufopferung, einem Zwecke diente, der gar nicht sein eigener war. Daher also findet jeder Verliebte, nach endlicher Vollbringung des großen Werkes, sich angeführt: denn der Wahn ist verschwunden, mittelst dessen hier das Individuum der Betrogene der Gattung war. Demgemäß sagt Plato sehr treffend: hêdonê hapantôn alazonestaton (voluptas omnium maxime vaniloqua). Phileb 319.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1048-1051).

„Dies Alles aber wirft seinerseits wieder Licht zurück auf die Instinkte und Kunsttriebe der Thiere. Ohne Zweifel sind auch diese von einer Art Wahn, der ihnen den eigenen Genuß vorgaukelt, befangen, während sie so emsig und mit Selbstverleugnung für die Gattung arbeiten, der Vogel sein Nest baut, das Insekt den allein passenden Ort für die Eier sucht, oder gar Jagd auf Raub macht, der, ihm selber ungenießbar, als Futter für die künftigen Larven neben die Eier gelegt werden muß, die Biene, die Wespe, die Ameise ihrem künstlichen Bau und ihrer höchst komplicirten Oekonomie obliegen. Sie Alle leitet sicherlich ein Wahn, welcher dem Dienste der Gattung die Maske eines egoistischen Zweckes vorsteckt. Um uns den innern oder subjektiven Vorgang, der den Aeußerungen des Instinkts zum Grunde liegt, faßlich zu machen, ist dies wahrscheinlich der einzige Weg. Aeußerlich aber, oder objektiv, stellt sich uns, bei den vom Instinkt stark beherrschten Thieren, namentlich den Insekten, ein Ueberwiegen des Ganglien- d.i. des subjektiven Nervensystems über das objektive oder Cerebral-System dar; woraus zu schließen ist, daß sie nicht sowohl von der objektiven, richtigen Auffassung, als von subjektiven, Wunsch erregenden Vorstellungen, welche durch die Einwirkung des Gangliensystems auf das Gehirn entstehn, und demzufolge von einem gewissen Wahn getrieben werden: und dies wird der physiologische Hergang bei allem Instinkt seyn. – Zur Erläuterung erwähne ich noch, als ein anderes, wiewohl schwächeres Beispiel vom Instinkt im Menschen, den kapriziösen Appetit der Schwangeren: er scheint daraus zu entspringen, daß die Ernährung des Embryo bisweilen eine besondere oder bestimmte Modifikation des ihm zufließenden Blutes verlangt; worauf die solche bewirkende Speise sich sofort der Schwangeren als Gegenstand heißer Sehnsucht darstellt, also auch hier ein Wahn entsteht. Demnach hat das Weib einen Instinkt mehr als der Mann: auch ist das Gangliensystem beim Weibe viel entwickelter. – Aus dem großen Uebergewicht des Gehirns beim Menschen erklärt sich, daß er wenigere Instinkte hat, als die Thiere, und daß selbst diese wenigen leicht irre geleitet werden können. Nämlich der die Auswahl zur Geschlechtsbefriedigung instinktiv leitende Schönheitssinn wird irre geführt, wenn er in Hang zur Päderastie ausartet; Dem analog, wie die Schmeißfliege (Musca vomitoria), statt ihre Eier, ihrem Instinkt gemäß, in faulendes Fleisch zu legen, sie in die Blüthe des Arum dracunculus legt, verleitet durch den kadaverosen Geruch dieser Pflanze.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1051-1052).

„Daß nun aller Geschlechtsliebe ein durchaus auf das zu Erzeugende gerichteter Instinkt zum Grunde liegt, wird seine volle Gewißheit durch genauere Zergliederung desselben erhalten, der wir uns deshalb nicht entziehn können. – Zuvörderst gehört hieher, daß der Mann von Natur zur Unbeständigkeit in der Liebe, das Weib zur Beständigkeit geneigt ist. Die Liebe des Mannes sinkt merklich, von dem Augenblick an, wo sie Befriedigung erhalten hat: fast jedes andere Weib reizt ihn mehr als das, welches er schon besitzt: er sehnt sich nach Abwechselung. Die Liebe des Weibes hingegen steigt von eben jenem Augenblick an. Dies ist eine Folge des Zwecks der Natur, welche auf Erhaltung und daher auf möglichst starke Vermehrung der Gattung gerichtet ist. Der Mann nämlich kann, bequem, über hundert Kinder im Jahre zeugen, wenn ihm eben so viele Weiber zu Gebote stehn; das Weib hingegen könnte, mit noch so vielen Männern, doch nur ein Kind im Jahr (von Zwillingsgeburten abgesehn) zur Welt bringen. Daher sieht er sich stets nach andern Weibern um; sie hingegen hängt fest dem Einen an: denn die Natur treibt sie, instinktmäßig und ohne Reflexion, sich den Ernährer und Beschützer der künftigen Brut zu erhalten. Demzufolge ist die eheliche Treue dem Manne künstlich, dem Weibe natürlich, und also Ehebruch des Weibes, wie objektiv, wegen der Folgen, so auch subjektiv, wegen der Naturwidrigkeit, viel unverzeihlicher als der des Mannes.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1052).

„Aber um gründlich zu seyn und die volle Ueberzeugung zu gewinnen, daß das Wohlgefallen am andern Geschlecht, so objektiv es uns dünken mag, doch bloß verlarvter Instinkt, d.i. Sinn der Gattung, welche ihren Typus zu erhalten strebt, ist, müssen wir sogar die bei diesem Wohlgefallen uns leitenden Rücksichten näher untersuchen und auf das Specielle derselben eingehn, so seltsam auch die hier zu erwähnenden Specialitäten in einem philosophischen Werke figuriren mögen. Diese Rücksichten zerfallen in solche, welche unmittelbar den Typus der Gattung, d.i. die Schönheit, betreffen, in solche, welche auf psychische Eigenschaften gerichtet sind, und endlich in bloß relative, welche aus der erforderten Korrektion oder Neutralisation der Einseitigkeiten und Abnormitäten der beiden Individuen durch einander hervorgehn. Wir wollen sie einzeln durchgehn.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1052-1053).

„Die oberste, unsere Wahl und Neigung leitende Rücksicht ist das Alter. Im Ganzen lassen wir es gelten von den Jahren der eintretenden bis zu denen der aufhörenden Menstruation, geben jedoch der Periode vom achtzehnten bis achtundzwanzigsten Jahre entschieden den Vorzug. Außerhalb jener Jahre hingegen kann kein Weib uns reizen: ein altes, d.h. nicht mehr menstruirtes Weib erregt unsern Abscheu, Jugend ohne Schönheit hat immer noch Reiz; Schönheit ohne Jugend keinen. – Offenbar ist die hiebei uns unbewußt leitende Absicht die Möglichkeit der Zeugung überhaupt: daher verliert jedes Individuum an Reiz für das andere Geschlecht in dem Maaße, als es sich von der zur Zeugung oder zur Empfängniß tauglichsten Periode entfernt. – Die zweite Rücksicht ist die der Gesundheit: akute Krankheiten stören nur vorübergehend, chronische, oder gar Kachexien, schrecken ab; – weil sie auf das Kind übergehn. – Die dritte Rücksicht ist das Skelett: weil es die Grundlage des Typus der Gattung ist. Nächst Alter und Krankheit stößt nichts uns so sehr ab, wie eine verwachsene Gestalt: sogar das schönste Gesicht kann nicht dafür entschädigen; vielmehr wird selbst das häßlichste, bei geradem Wüchse, unbedingt vorgezogen. Ferner empfinden wir jedes Mißverhältniß des Skeletts am stärksten, z.B. eine verkürzte, gestauchte, kurzbeinige Figur u. dgl. m., auch hinkenden Gang, wo er nicht Folge eines äußern Zufalls ist. Hingegen kann ein auffallend schöner Wuchs alle Mängel ersetzen: er bezaubert uns. Hieher gehört auch der hohe Werth, den Alle auf die Kleinheit der Füße legen: er beruht darauf, daß diese ein wesentlicher Charakter der Gattung sind, indem kein Thier Tarsus und Metatarsus zusammengenommen so klein hat, wie der Mensch, welches mit dem aufrechten Gange zusammenhängt: er ist ein Plantigrade. Demgemäß sagt auch Jesus Sirach (26, 23: nach der verbesserten Uebersetzung von Kraus): »Ein Weib, das gerade gebaut ist und schöne Füße hat, ist wie die goldenen Säulen auf den silbernen Stühlen.« Auch die Zähne sind uns wichtig; weil sie für die Ernährung wesentlich und ganz besonders erblich sind. – Die vierte Rücksicht ist eine gewisse Fülle des Fleisches, also ein Vorherrschen der vegetativen Funktion, der Plasticität; weil diese dem Fötus reichliche Nahrung verspricht: daher stößt große Magerkeit uns auffallend ab. Ein voller weiblicher Busen übt einen ungemeinen Reiz auf das männliche Geschlecht aus: weil er, mit den Propagationsfunktionen des Weibes in direktem Zusammenhange stehend, dem Neugeborenen reichliche Nahrung verspricht. Hingegen erregen übermäßig fette Weiber unsern Widerwillen: die Ursache ist, daß diese Beschaffenheit auf Atrophie des Uterus, also auf Unfruchtbarkeit deutet; welches nicht der Kopf, aber der Instinkt weiß. – Erst die letzte Rücksicht ist die auf die Schönheit des Gesichts. Auch hier kommen vor Allem die Knochentheile in Betracht; daher hauptsächlich auf eine schöne Nase gesehn wird, und eine kurze, aufgestülpte Nase Alles verdirbt. Ueber das Lebensglück unzähliger Mädchen hat eine kleine Biegung der Nase, nach unten oder nach oben, entschieden, und mit Recht: denn es gilt den Typus der Gattung. Ein kleiner Mund, mittelst kleiner Maxillen, ist sehr wesentlich, als specifischer Charakter des Menschenantlitzes, im Gegensatz der Thiermäuler. Ein zurückliegendes, gleichsam weggeschnittenes Kinn ist besonders widerlich; weil mentum prominulum ein ausschließlicher Charakterzug unserer Species ist. Endlich kommt die Rücksicht auf schöne Augen und Stirn: sie hängt mit den psychischen Eigenschaften zusammen, zumal mit den intellektuellen, welche von der Mutter erben.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1053-1054).

„Die unbewußten Rücksichten, welche andererseits die Neigung der Weiber befolgt, können wir natürlich nicht so genau angeben. Im Ganzen läßt sich Folgendes behaupten. Sie geben dem Alter von 30 bis 35 Jahren den Vorzug, namentlich auch vor dem der Jünglinge, die doch eigentlich die höchste menschliche Schönheit darbieten. Der Grund ist, daß sie nicht vom Geschmack, sondern vom Instinkt geleitet werden, welcher im besagten Alter die Akme der Zeugungskraft erkennt. Ueberhaupt sehn sie wenig auf Schönheit, namentlich des Gesichts: es ist als ob sie diese dem Kinde zu geben allein auf sich nähmen. Hauptsächlich gewinnt sie die Kraft und der damit zusammenhängende Muth des Mannes: denn diese versprechen die Zeugung kräftiger Kinder und zugleich einen tapfern Beschützer derselben. Jeden körperlichen Fehler des Mannes, jede Abweichung vom Typus, kann, in Hinsicht auf das Kind, das Weib bei der Zeugung aufheben, dadurch daß sie selbst in den nämlichen Stücken untadelhaft ist, oder gar auf der entgegengesetzten Seite excedirt. Hievon ausgenommen sind allein die Eigenschaften des Mannes, welche seinem Geschlecht eigenthümlich sind und welche daher die Mutter dem Kinde nicht geben kann: dahin gehört der männliche Bau des Skeletts, breite Schultern, schmale Hüften, gerade Beine, Muskelkraft, Muth, Bart u.s.w. Daher kommt es, daß Weiber oft häßliche Männer lieben, aber nie einen unmännlichen Mann: weil sie dessen Mängel nicht neutralisiren können.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1054).

„Die zweite Art der Rücksichten, welche der Geschlechtsliebe zum Grunde liegen, ist die auf die psychischen Eigenschaften. Hier werden wir finden, daß das Weib durchgängig von den Eigenschaften des Herzens oder Charakters im Manne angezogen wird, – als welche vom Vater erben. Vorzüglich ist es Festigkeit des Willens, Entschlossenheit und Muth, vielleicht auch Redlichkeit und Herzensgüte, wodurch das Weib gewonnen wird. Hingegen üben intellektuelle Vorzüge keine direkte und instinktmäßige Gewalt über sie aus; eben weil sie nicht vom Vater erben. Unverstand schadet bei Weibern nicht: eher noch könnte überwiegende Geisteskraft, oder gar Genie, als eine Abnormität, ungünstig wirken. Daher sieht man oft einen häßlichen, dummen und rohen Menschen einen wohlgebildeten, geistreichen und liebenswürdigen Mann bei Weibern ausstechen. Auch werden Ehen aus Liebe bisweilen geschlossen zwischen geistig höchst heterogenen Wesen: z.B. er roh, kräftig und beschränkt, sie zartempfindend, fein denkend, gebildet, ästhetisch u.s.w.; oder er gar genial und gelehrt, sie eine Gans: Sic visum Veneri; cui placet impares // Formas atque animos sub juga aënea // Saevo mittere cum joco. Der Grund ist, daß hier ganz andere Rücksichten vorwalten, als die intellektuellen: – die des Instinkts. Bei der Ehe ist es nicht auf geistreiche Unterhaltung, sondern auf die Erzeugung der Kinder abgesehn: sie ist ein Bund der Herzen, nicht der Köpfe. Es ist ein eiteles und lächerliches Vorgeben, wenn Weiber behaupten, in den Geist eines Mannes sich verliebt zu haben, oder es ist die Ueberspannung eines entarteten Wesens. – Männer hingegen werden in der instinktiven Liebe nicht durch die Charakter-Eigenschaften des Weibes bestimmt; daher so viele Sokratesse ihre Xanthippen gefunden haben, z.B. Shakespeare, Albrecht Dürer, Byron u. s. w. Wohl aber wirken hier die intellektuellen Eigenschaften ein; weil sie von der Mutter erben: jedoch wird ihr Einfluß von dem der körperlichen Schönheit, als welche, wesentlichere Punkte betreffend, unmittelbarer wirkt, leicht überwogen. Inzwischen geschieht es, im Gefühl oder nach der Erfahrung jenes Einflusses, daß Mütter ihre Töchter schöne Künste, Sprachen u. dgl. erlernen lassen, um sie für Männer anziehend zu machen; wobei sie dem Intellekt durch künstliche Mittel nachhelfen wollen, eben wie vorkommenden Falls den Hüften und Busen. – Wohl zu merken, daß hier überall die Rede allein ist von der ganz unmittelbaren, instinktartigen Anziehung, aus welcher allein die eigentliche Verliebtheit erwächst. Daß ein verständiges und gebildetes Weib, Verstand und Geist an einem Manne schätzt, daß ein Mann, aus vernünftiger Ueberlegung, den Charakter seiner Braut prüft und berücksichtigt, thut nichts zu der Sache, wovon es sich hier handelt: dergleichen begründet eine vernünftige Wahl bei der Ehe, aber nicht die leidenschaftliche Liebe, welche unser Thema ist.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1054-1056).

„Bis hieher habe ich bloß die absoluten Rücksichten, d.h. solche, die für Jeden gelten, in Betracht genommen: ich komme jetzt zu den relativen, welche individuell sind; weil bei ihnen es darauf abgesehn ist, den bereits sich mangelhaft darstellenden Typus der Gattung zu rektificiren, die Abweichungen von demselben, welche die eigene Person des Wählenden schon an sich trägt, zu korrigiren und so zur reinen Darstellung des Typus zurückzuführen. Hier liebt daher Jeder, was ihm abgeht. Von der individuellen Beschaffenheit ausgehend und auf die individuelle Beschaffenheit gerichtet, ist die auf solchen relativen Rücksichten beruhende Wahl viel bestimmter, entschiedener und exklusiver, als die bloß von den absoluten ausgehende; daher der Ursprung der eigentlich leidenschaftlichen Liebe, in der Regel, in diesen relativen Rücksichten liegen wird, und nur der der gewöhnlichen, leichteren Neigung in den absoluten. Demgemäß pflegen es nicht gerade die regelmäßigen, vollkommenen Schönheiten zu seyn, welche die großen Leidenschaften entzünden. Damit eine solche wirklich leidenschaftliche Neigung entstehe, ist etwas erfordert, welches sich nur durch eine chemische Metapher ausdrücken läßt: beide Personen müssen einander neutralisiren, wie Säure und Alkali zu einem Mittelsalz. Die hiezu erforderlichen Bestimmungen sind im Wesentlichen folgende. Erstlich: alle Geschlechtlichkeit ist Einseitigkeit. Diese Einseitigkeit ist in Einem Individuo entschiedener ausgesprochen und in höherm Grade vorhanden, als im Andern: daher kann sie in jedem Individuo besser durch Eines als das Andere vom andern Geschlecht ergänzt und neutralisirt werden, indem es einer der seinigen individuell entgegengesetzten Einseitigkeit bedarf, zur Ergänzung des Typus der Menschheit im neu zu erzeugenden Individuo, als auf dessen Beschaffenheit immer Alles hinausläuft. Die Physiologen wissen, daß Mannheit und Weiblichkeit unzählige Grade zulassen, durch welche jene bis zum widerlichen Gynander und Hypospad(i)äus sinkt, diese bis zur anmuthigen Androgyne steigt: von beiden Seiten aus kann der vollkommene Hermaphroditismus erreicht werden, auf welchem Individuen stehn, welche, die gerade Mitte zwischen beiden Geschlechtern haltend, keinem beizuzählen, folglich zur Fortpflanzung untauglich sind. Zur in Rede stehenden Neutralisation zweier Individualitäten durch einander ist dem zu Folge erfordert, daß der bestimmte Grad seiner Mannheit dem bestimmten Grad ihrer Weiblichkeit genau entspreche; damit beide Einseitigkeiten einander gerade aufheben. Demnach wird der männlichste Mann das weiblichste Weib suchen und vice versa, und eben so jedes Individuum das ihm im Grade der Geschlechtlichkeit entsprechende. Inwiefern nun hierin zwischen Zweien das erforderliche Verhältniß Statt habe, wird instinktmäßig von ihnen gefühlt, und liegt, nebst den andern relativen Rücksichten, den höhern Graden der Verliebtheit zum Grunde. Während daher die Liebenden pathetisch von der Harmonie ihrer Seelen reden, ist meistens die hier nachgewiesene, das zu erzeugende Wesen und seine Vollkommenheit betreffende Zusammenstimmung der Kern der Sache, und an derselben auch offenbar viel mehr gelegen, als an der Harmonie ihrer Seelen, – welche oft, nicht lange nach der Hochzeit, sich in eine schreiende Disharmonie auflöst. Hieran schließen sich nun die ferneren relativen Rücksichten, welche darauf beruhen, daß Jedes seine Schwächen, Mängel und Abweichungen vom Typus durch das Andere aufzuheben trachtet, damit sie nicht im zu erzeugenden Kinde sich perpetuiren, oder gar zu völligen Abnormitäten anwachsen. Je schwächer in Hinsicht auf Muskelkraft ein Mann ist, desto mehr wird erkräftige Weiber suchen: eben so das Weib ihrerseits. Da nun aber dem Weibe eine schwächere Muskelkraft naturgemäß und in der Regel ist; so werden auch in der Regel die Weiber den kräftigeren Männern den Vorzug geben. – Ferner ist eine wichtige Rücksicht die Größe. Kleine Männer haben einen entschiedenen Hang zu großen Weibern, und vice versa: und zwar wird in einem kleinen Manne die Vorliebe für große Weiber um so leidenschaftlicher seyn, als er selbst von einem großen Vater gezeugt und nur durch den Einfluß der Mutter klein geblieben ist; weil er vom Vater das Gefäßsystem und die Energie desselben, die einen großen Körper mit Blut zu versehn vermag, überkommen hat: waren hingegen sein Vater und Großvater schon klein; so wird jener Hang sich weniger fühlbar machen. Der Abneigung eines großen Weibes gegen große Männer liegt die Absicht der Natur zum Grunde, eine zu große Rasse zu vermeiden, wenn sie, mit den von diesem Weibe zu ertheilenden Kräften, zu schwach ausfallen würde, um lange zu leben. Wählt dennoch ein solches Weib einen großen Gatten, etwan um sich in der Gesellschaft besser zu präsentiren; so wird, in der Regel, die Nachkommenschaft die Thorheit büßen. – Sehr entschieden ist ferner die Rücksicht auf die Komplexion. Blonde verlangen durchaus Schwarze oder Braune; aber nur selten diese jene. Der Grund hievon ist, daß blondes Haar und blaue Augen schon eine Spielart, fast eine Abnormität ausmachen: den weißen Mäusen, oder wenigstens den Schimmeln analog. In keinem andern Welttheil sind sie, selbst nicht in der Nähe der Pole, einheimisch, sondern allein in Europa, und offenbar von Skandinavien ausgegangen. Beiläufig sei hier meine Meinung ausgesprochen, daß dem Menschen die weiße Hautfarbe nicht natürlich ist, sondern er von Natur schwarze, oder braune Haut hat, wie unsere Stammväter die Hindu; daß folglich nie ein weißer Mensch ursprünglich aus dem Schooße der Natur hervorgegangen ist, und es also keine weiße Rasse giebt, so viel auch von ihr geredet wird, sondern jeder weiße Mensch ein abgeblichener ist. In den ihm fremden Norden gedrängt, wo er nur so besteht, wie die exotischen Pflanzen, und, wie diese, im Winter des Treibhauses bedarf, wurde der Mensch, im Laufe der Jahrtausende, weiß. Die Zigeuner, ein Indischer, erst seit ungefähr vier Jahrhunderten eingewanderter Stamm, zeigen den Uebergang von der Komplexion der Hindu zur unserigen64. In der Geschlechtsliebe strebt daher die Natur zum dunkeln Haar und braunen Auge, als zum Urtypus, zurück: die weiße Hautfarbe aber ist zur zweiten Natur geworden; wiewohl nicht so, daß die braune der Hindu uns abstieße. – Endlich sucht auch in den einzelnen Körpertheilen Jedes das Korrektiv seiner Mängel und Abweichungen, und um so entschiedener, je wichtiger der Theil ist. Daher haben stumpfnäsige Individuen ein unaussprechliches Wohlgefallen an Habichtsnasen, an Papagaiengesichtern: eben so ist es rücksichtlich aller übrigen Theile. Menschen von übermäßig schlankem, lang gestreckten Körper- und Gliederbau können sogar einen über die Gebühr gedrungenen und verkürzten schön finden. – Analog walten die Rücksichten auf das Temperament: Jeder wird das entgegengesetzte vorziehn; jedoch nur in dem Maaß als das seinige ein entschiedenes ist. – Wer selbst, in irgend einer Rücksicht, sehr vollkommen ist, sucht und liebt zwar nicht die Unvollkommenheit in eben dieser Rücksicht, söhnt sich aber leichter als Andere damit aus; weil er selbst die Kinder vor großer Unvollkommenheit in diesem Stücke sichert. Z.B. wer selbst sehr weiß ist, wird sich an einer gelblichen Gesichtsfarbe nicht stoßen: wer aber diese hat, wird die blendende Weiße göttlich schön finden. – Der seltene Fall, daß ein Mann sich in ein entschieden häßliches Weib verliebt, tritt ein, wann, bei der oben erörterten genauen Harmonie des Grades der Geschlechtlichkeit, ihre sämmtlichen Abnormitäten gerade die entgegengesetzten, also das Korrektiv, der seinigen sind. Die Verliebtheit pflegt alsdann einen hohen Grad zu erreichen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1056-1058).

„Der tiefe Ernst, mit welchem wir jeden Körpertheil des Weibes prüfend betrachten, und sie ihrerseits das Selbe thut, die kritische Skrupulosität, mit der wir ein Weib, das uns zu gefallen anfängt, mustern, der Eigensinn unserer Wahl, die gespannte Aufmerksamkeit, womit der Bräutigam die Braut beobachtet, seine Behutsamkeit, um in keinem Theile getäuscht zu werden, und der große Werth, den er auf jedes Mehr oder Weniger, in den wesentlichen Theilen, legt, – Alles dieses ist der Wichtigkeit des Zweckes ganz angemessen. Denn das Neuzuerzeugende wird, ein ganzes Leben hindurch, einen ähnlichen Theil zu tragen haben: ist z.B. das Weib nur ein wenig schief; so kann dies leicht ihrem Sohn einen Puckel aufladen, und so in allem Uebrigen. – Bewußtseyn von dem Allen ist freilich nicht vorhanden; vielmehr wähnt Jeder nur im Interesse seiner eigenen Wollust (die im Grunde gar nicht dabei betheiligt seyn kann) jene schwierige Wahl zu treffen; aber er trifft sie genau so, wie es, unter Voraussetzung seiner eigenen Korporisation, dem Interesse der Gattung gemäß ist, deren Typus möglichst rein zu erhalten die geheime Aufgabe ist. Das Individuum handelt hier, ohne es zu wissen, im Auftrage eines Höheren, der Gattung: daher die Wichtigkeit, welche es Dingen beilegt, die ihm, als solchem, gleichgültig seyn könnten, ja müßten. – Es liegt etwas ganz Eigenes in dem tiefen, unbewußten Ernst, mit welchem zwei junge Leute verschiedenen Geschlechts, die sich zum ersten Male sehn, einander betrachten; dem forschenden und durchdringenden Blick, den sie auf einander werfen; der sorgfältigen Musterung, die alle Züge und Theile ihrer beiderseitigen Personen zu erleiden haben. Dieses Forschen und Prüfen nämlich ist die Meditation des Genius der Gattung über das durch sie Beide mögliche Individuum und die Kombination seiner Eigenschaften. Nach dem Resultat derselben fällt der Grad ihres Wohlgefallens an einander und ihres Begehrens nach einander aus. Dieses kann, nachdem es schon einen bedeutenden Grad erreicht hatte, plötzlich wieder erlöschen, durch die Entdeckung von Etwas, das vorhin unbemerkt geblieben war. – Dergestalt also meditirt in Allen, die zeugungsfähig sind, der Genius der Gattung das kommende Geschlecht. Die Beschaffenheit desselben ist das große Werk, womit Kupido, unablässig thätig, spekulirend und sinnend, beschäftigt ist. Gegen die Wichtigkeit seiner großen Angelegenheit, als welche die Gattung und alle kommenden Geschlechter betrifft, sind die Angelegenheiten der Individuen, in ihrer ganzen ephemeren Gesammtheit, sehr geringfügig: daher ist er stets bereit, diese rücksichtslos zu opfern. Denn er verhält sich zu ihnen wie ein Unsterblicher zu Sterblichen, und seine Interessen zu den ihren wie unendliche zu endlichen. Im Bewußtsein also, Angelegenheiten höherer Art, als alle solche, welche nur individuelles Wohl und Wehe betreffen, zu verwalten, betreibt er dieselben, mit erhabener Ungestörtheit, mitten im Getümmel des Krieges, oder im Gewühl des Geschäftslebens, oder zwischen dem Wüthen einer Pest, und geht ihnen nach bis in die Abgeschiedenheit des Klosters.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1058-1059).

„Wir haben im Obigen gesehn, daß die Intensität der Verliebtheit mit ihrer Individualisirung wächst, indem wir nachwiesen, wie die körperliche Beschaffenheit zweier Individuen eine solche seyn kann, daß, zum Behuf möglichster Herstellung des Typus der Gattung, das eine die ganz specielle und vollkommene Ergänzung des andern ist, welches daher seiner ausschließlich begehrt. In diesem Fall tritt schon eine bedeutende Leidenschaft ein, welche eben dadurch, daß sie auf einen einzigen Gegenstand und nur auf diesen gerichtet ist, also gleichsam im speciellen Auftrag der Gattung auftritt, sogleich einen edleren und erhabeneren Anstrich gewinnt. Aus dem entgegengesetzten Grunde ist der bloße Geschlechtstrieb, weil er, ohne Individualisirung, auf Alle gerichtet ist und die Gattung bloß der Quantität nach, mit wenig Rücksicht auf die Qualität, zu erhalten strebt, gemein. Nun aber kann die Individualisirung, und mit ihr die Intensität der Verliebtheit, einen so hohen Grad erreichen, daß, ohne ihre Befriedigung, alle Güter der Welt, ja, das Leben selbst seinen Werth verliert. Sie ist alsdann ein Wunsch, welcher zu einer Heftigkeit anwächst, wie durchaus kein anderer, daher zu jedem Opfer bereit macht und, im Fall die Erfüllung unabänderlich versagt bleibt, zum Wahnsinn, oder zum Selbstmord führen kann. Die einer solchen überschwänglichen Leidenschaft zum Grunde liegenden unbewußten Rücksichten müssen, außer den oben nachgewiesenen, noch andere seyn, welche wir nicht so vor Augen haben. Wir müssen daher annehmen, daß hier nicht nur die Korporisation, sondern auch der Wille des Mannes und der Intellekt des Weibes eine specielle Angemessenheit zu einander haben, in Folge welcher von ihnen allein ein ganz bestimmtes Individuum erzeugt werden kann, dessen Existenz der Genius der Gattung hier beabsichtigt, aus Gründen, die, als im Wesen des Dinges an sich liegend, uns unzugänglich sind. Oder, eigentlich zu reden: der Wille zum Leben verlangt hier, sich in einem genau bestimmten Individuo zu objektiviren, welches nur von diesem Vater mit dieser Mutter gezeugt werden kann. Dieses metaphysische Begehr des Willens an sich hat zunächst keine andere Wirkungssphäre in der Reihe der Wesen, als die Herzen der künftigen Eltern, welche demnach von diesem Drange ergriffen werden und nun ihrer selbst wegen zu wünschen wähnen, was bloß einen für jetzt noch rein metaphysischen, d.h. außerhalb der Reihe wirklich vorhandener Dinge liegenden Zweck hat. Also der aus der Urquelle aller Wesen hervorgehende Drang des künftigen, hier erst möglich gewordenen Individuums, ins Daseyn zu treten, ist es, was sich in der Erscheinung darstellt als die hohe, Alles außer sich gering achtende Leidenschaft der künftigen Eltern für einander, in der That als ein Wahn ohne Gleichen, vermöge dessen ein solcher Verliebter alle Güter der Welt hingeben würde, für den Beischlaf mit diesem Weibe, – der ihm doch in Wahrheit nicht mehr leistet, als jeder andere. Daß es dennoch bloß hierauf abgesehn sei, geht daraus hervor, daß auch diese hohe Leidenschaft, so gut wie jede andere, im Genuß erlischt, – zur großen Verwunderung der Theilnehmer. Sie erlischt auch dann, wann, durch etwanige Unfruchtbarkeit des Weibes (welche, nach Hufeland, aus 19 zufälligen Konstitutionsfehlern entspringen kann), der eigentliche metaphysische Zweck vereitelt wird; eben so, wie er es täglich wird in Millionen zertretener Keime, in denen doch auch das selbe metaphysische Lebensprincip zum Daseyn strebt; wobei kein anderer Trost ist, als daß dem Willen zum Leben eine Unendlichkeit von Raum, Zeit, Materie und folglich unerschöpfliche Gelegenheit zur Wiederkehr offen steht.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1059-1061).

„Dem Theophrastus Paracelsus, der dieses Thema nicht behandelt hat und dem mein ganzer Gedankengang fremd ist, muß doch ein Mal die hier dargelegte Einsicht, wenn auch nur flüchtig, vorgeschwebt haben, indem er, in ganz anderm Kontext und in seiner desultorischen Manier, folgende merkwürdige Aeußerung hinschrieb: Hi sunt, quos Deus copulavit, ut eam, quae fuit Uriae et David; quamvis ex diametro (sic enim sibi humana mens persuadebat) cum justo et legitimo matrimonio pugnaret hoc. – – – sed propter Salomonem, qui aliunde nasci non potuit, nisi ex Bathsebea, conjuncto David semine, quamvis meretrice, conjunxit eos Deus (De vita longa, I, 5).“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1061).

„Die Sehnsucht der Liebe, der himeros, welchen in zahllosen Wendungen auszudrücken die Dichter aller Zeiten unablässig beschäftigt sind und den Gegenstand nicht erschöpfen, ja, ihm nicht genug thun können, diese Sehnsucht, welche an den Besitz eines bestimmten Weibes die Vorstellung einer unendlichen Säligkeit knüpft und einen unaussprechlichen Schmerz an den Gedanken, daß er nicht zu erlangen sei, – diese Sehnsucht und dieser Schmerz der Liebe können nicht ihren Stoff entnehmen aus den Bedürfnissen eines ephemeren Individuums; sondern sie sind der Seufzer des Geistes der Gattung, welcher hier ein unersetzliches Mittel zu seinen Zwecken zu gewinnen, oder zu verlieren sieht und daher tief aufstöhnt. Die Gattung allein hat unendliches Leben und ist daher unendlicher Wünsche, unendlicher Befriedigung und unendlicher Schmerzen fähig. Diese aber sind hier in der engen Brust eines Sterblichen eingekerkert: kein Wunder daher, wenn eine solche bersten zu wollen scheint und keinen Ausdruck finden kann für die sie erfüllende Ahndung unendlicher Wonne oder unendlichen Wehes. Dies also giebt den Stoff zu aller erotischen Poesie erhabener Gattung, die sich demgemäß in transscendente, alles Irdische überfliegende Metaphern versteigt. Dies ist das Thema des Petrarka, der Stoff zu den St. Preuxs, Werthern und Jacopo Ortis, die außerdem nicht zu verstehn, noch zu erklären seyn würden. Denn auf etwanigen geistigen, überhaupt auf objektiven, realen Vorzügen der Geliebten kann jene unendliche Werthschätzung derselben nicht beruhen; schon weil sie dazu dem Liebenden oft nicht genau genug bekannt ist; wie dies Petrarka's Fall war. Der Geist der Gattung allein vermag mit Einem Blicke zu sehn, welchen Werth sie für ihn, zu seinen Zwecken hat. Auch entstehn die großen Leidenschaften in der Regel beim ersten Anblick: Whoever lov'd, that lov'd not at first sight? (Shakespeare, As you like it, III, 5).“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1061-1062).

„Merkwürdig ist in dieser Hinsicht eine Stelle in dem seit 250 Jahren berühmten Roman Guzman de Alfarache, von Mateo Aleman: No es necessario, para que uno ame, que pase distancia de tiempo, que siga discurso, ni haga eleccion, sino que con aquella primera y sola vista, concurran juntamente cierta correspondencia ó consonancia, ó lo que acá solemos vulgarmente decir, una confrontacion de sangre, à que por particular influxo suelen mover las estrellas. (Damit Einer liebe, ist es nicht nöthig, daß viel Zeit verstreiche, daß er Ueberlegung anstelle und eine Wahl treffe; sondern nur, daß bei jenem ersten und alleinigen Anblick eine gewisse Angemessenheit und Uebereinstimmung gegenseitig zusammentreffe, oder Das, was wir hier im gemeinen Leben eine Sympathie des Blutes zu nennen pflegen, und wozu ein besonderer Einfluß der Gestirne anzutreiben pflegt.) P. II, L. III, c. 5. Demgemäß ist auch der Verlust der Geliebten, durch einen Nebenbuhler, oder durch den Tod, für den leidenschaftlich Liebenden ein Schmerz, der jeden andern übersteigt; eben weil er transscendenter Art ist, indem er ihn nicht bloß als Individuum trifft, sondern ihn in seiner essentia aeterna, im Leben der Gattung angreift, in deren speciellem Willen und Auftrage er hier berufen war. Daher ist Eifersucht so quaalvoll und so grimmig, und ist die Abtretung der Geliebten das größte aller Opfer. – Ein Held schämt sich aller Klagen, nur nicht der Liebesklagen; weil in diesen nicht er, sondern die Gattung winselt. – In der »großen Zenobia« des Calderon ist im zweiten Akt eine Scene zwischen der Zenobia und dem Decius, wo dieser sagt: Cielos, luego tu me quieres? // Perdiera cien mil victorias, // Volviérame, etc. (Himmel! also Du liebst mich?! Dafür würde ich hunderttausend Siege aufgeben, würde umkehren, u.s.w.).“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1062).

„Hier wird die Ehre, welche bisher jedes Interesse überwog, aus dem Felde geschlagen, sobald die Geschlechtsliebe, d.i. das Interesse der Gattung, ins Spiel kommt und einen entschiedenen Vortheil vor sich sieht: denn dieses ist gegen jedes, auch noch so wichtige Interesse bloßer Individuen unendlich überwiegend. Ihm allein weichen daher Ehre, Pflicht und Treue, nachdem sie jeder andern Versuchung, selbst der Drohung des Todes, widerstanden haben. – Eben so finden wir im Privatleben, daß in keinem Punkte Gewissenhaftigkeit so selten ist, wie in diesem: sie wird hier bisweilen sogar von sonst redlichen und gerechten Leuten bei Seite gesetzt, und der Ehebruch rücksichtslos begangen, wann die leidenschaftliche Liebe, d.h. das Interesse der Gattung, sich ihrer bemächtigt hat. Es scheint sogar, als ob sie dabei einer höheren Berechtigung sich bewußt zu seyn glaubten, als die Interessen der Individuen je verleihen können; eben weil sie im Interesse der Gattung handeln. Merkwürdig ist in dieser Hinsicht Chamfort's Aeußerung: Quand un homme et une femme ont l'un pour l'autre une passion violente, il me semble toujours que, quelque(s) soient les obstacles qui les séparent, un mari, des parens etc., les deux amans sont l'un à l'autre, de par la Nature, qu'ils s'appartiennent de droit divin, malgré les lois et les conventions humaines.. Wer sich hierüber ereifern wollte, wäre auf die auffallende Nachsicht zu verweisen, welche der Heiland im Evangelio der Ehebrecherin widerfahren läßt, indem er zugleich die selbe Schuld bei allen Anwesenden voraussetzt. – Der größte Theil des Dekameron erscheint, von diesem Gesichtspunkt aus, als bloßer Spott und Hohn des Genius der Gattung über die von ihm mit Füßen getretenen Rechte und Interessen der Individuen, – Mit gleicher Leichtigkeit werden Standesunterschiede und alle ähnlichen Verhältnisse, wann sie der Verbindung leidenschaftlich Liebender entgegenstehn, beseitigt und für nichtig erklärt vom Genius der Gattung, der seine, endlosen Generationen angehörenden Zwecke verfolgend solche Menschensatzungen und Bedenken wie Spreu wegbläst. Aus dem selben tief liegenden Grunde wird, wo es die Zwecke verliebter Leidenschaft gilt, jede Gefahr willig übernommen und selbst der sonst Zaghafte wird hier muthig. – Auch im Schauspiele und im Roman sehn wir, mit freudigem Antheil, die jungen Leute, welche ihre Liebeshändel, d.i. das Interesse der Gattung, verfechten, den Sieg davontragen über die Alten, welche nur auf das Wohl der Individuen bedacht sind. Denn das Streben der Liebenden scheint uns um so viel wichtiger, erhabener und deshalb gerechter, als jedes ihm etwan entgegenstehende, wie die Gattung bedeutender ist, als das Individuum. Demgemäß ist das Grundthema fast aller Komödien das Auftreten des Genius der Gattung mit seinen Zwecken, welche dem persönlichen Interesse der dargestellten Individuen zuwiderlaufen und daher das Glück derselben zu untergraben drohen. In der Regel setzt er es durch, welches, als der poetischen Gerechtigkeit gemäß, den Zuschauer befriedigt; weil dieser fühlt, daß die Zwecke der Gattung denen der Individuen weit vorgehn. Daher verläßt er, am Schluß, die sieggekrönten Liebenden ganz getrost, indem er mit ihnen den Wahn theilt, sie hätten ihr eigenes Glück gegründet, welches sie vielmehr dem Wohl der Gattung zum Opfer gebracht haben, dem Willen der vorsorglichen Alten entgegen. In einzelnen, abnormen Lustspielen hat man versucht, die Sache umzukehren und das Glück der Individuen, auf Kosten der Zwecke der Gattung, durchzusetzen: allein da empfindet der Zuschauer den Schmerz, den der Genius der Gattung erleidet, und wird durch die dadurch gesicherten Vortheile der Individuen nicht getröstet. Als Beispiele dieser Art fallen mir ein Paar sehr bekannte kleine Stücke bei: La reine de 16 ans, und Le mariage de raison. In Trauerspielen mit Liebeshändeln gehn meistens, indem die Zwecke der Gattung vereitelt werden, die Liebenden, welche deren Werkzeug waren, zugleich unter: z.B. in Romeo und Julia, Tankred, Don Karlos, Wallenstein, Braut von Messina u.a.m.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1063-1064).

„Das Verliebtseyn eines Menschen liefert oft komische, mitunter auch tragische Phänomene; Beides, weil er, vom Geiste der Gattung in Besitz genommen, jetzt von diesem beherrscht wird und nicht mehr sich selber angehört: dadurch wird sein Handeln dem Individuo unangemessen. Was, bei den höhern Graden des Verliebtseyns, seinen Gedanken einen so poetischen und erhabenen Anstrich, sogar eine transscendente und hyperphysische Richtung giebt, vermöge welcher er seinen eigentlichen, sehr physischen Zweck ganz aus den Augen zu verlieren scheint, ist im Grunde Dieses, daß er jetzt vom Geiste der Gattung, dessen Angelegenheiten unendlich wichtiger, als alle, bloße Individuen betreffenden sind, beseelt ist, um, in dessen speciellem Auftrag, die ganze Existenz einer indefinit langen Nachkommenschaft, von dieser individuell und genau bestimmten Beschaffenheit, welche sie ganz allein von ihm als Vater und seiner Geliebten als Mutter erhalten kann, zu begründen, und die außerdem, als eine solche, nie zum Daseyn gelangt, während die Objektivation des Willens zum Leben dieses Daseyn ausdrücklich erfordert. Das Gefühl, in Angelegenheiten von so transscendenter Wichtigkeit zu handeln, ist es, was den Verliebten so hoch über alles Irdische, ja über sich selbst emporhebt und seinen sehr physischen Wünschen eine so hyperphysische Einkleidung giebt, daß die Liebe eine poetische Episode sogar im Leben des prosaischesten Menschen wird; in welchem letzteren Fall die Sache bisweilen einen komischen Anstrich gewinnt. – Jener Auftrag des in der Gattung sich objektivirenden Willens stellt, im Bewußtseyn des Verliebten, sich dar unter der Maske der Anticipation einer unendlichen Säligkeit, welche für ihn in der Vereinigung mit diesem weiblichen Individuo zu finden wäre. In den höchsten Graden der Verliebtheit wird nun diese Chimäre so strahlend, daß, wenn sie nicht erlangt werden kann, das Leben selbst allen Reiz verliert und nunmehr so freudenleer, schaal und ungenießbar erscheint, daß der Ekel davor sogar die Schrecken des Todes überwindet; daher es dann bisweilen freiwillig abgekürzt wird. Der Wille eines solchen Menschen ist in den Strudel des Willens der Gattung gerathen, oder dieser hat so sehr das Uebergewicht über den individuellen Willen erhalten, daß, wenn solcher in ersterer Eigenschaft nicht wirksam seyn kann, er verschmäht, es in letzterer zu seyn. Das Individuum ist hier ein zu schwaches Gefäß, als daß es die, auf ein bestimmtes Objekt koncentrirte, unendliche Sehnsucht des Willens der Gattung ertragen könnte. In diesem Fall ist daher der Ausgang Selbstmord, bisweilen doppelter Selbstmord beider Liebenden; es sei denn, daß die Natur, zur Rettung des Lebens, Wahnsinn eintreten ließe, welcher dann mit seinem Schleier das Bewußtseyn jenes hoffnungslosen Zustandes umhüllt. – Kein Jahr geht hin, ohne durch mehrere Fälle aller dieser Arten die Realität des Dargestellten zu belegen.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1064-1065).

„Aber nicht allein hat die unbefriedigte verliebte Leidenschaft bisweilen einen tragischen Ausgang, sondern auch die befriedigte führt öfter zum Unglück, als zum Glück. Denn ihre Anforderungen kollidiren oft so sehr mit der persönlichen Wohlfahrt des Betheiligten, daß sie solche untergraben, indem sie mit seinen übrigen Verhältnissen unvereinbar sind und den darauf gebauten Lebensplan zerstören. Ja, nicht allein mit den äußern Verhältnissen ist die Liebe oft im Widerspruch, sondern sogar mit der eigenen Individualität, indem sie sich auf Personen wirft, welche, abgesehn vom Geschlechtsverhältniß, dem Liebenden verhaßt, verächtlich, ja zum Abscheu seyn würden. Aber so sehr viel mächtiger ist der Wille der Gattung als der des Individuums, daß der Liebende über alle jene ihm widerlichen Eigenschaften die Augen schließt. Alles übersieht, Alles verkennt und sich mit dem Gegenstande seiner Leidenschaft auf immer verbindet: so gänzlich verblendet ihn jener Wahn, welcher, sobald der Wille der Gattung erfüllt ist, verschwindet und eine verhaßte Lebensgefährtin übrig läßt. Nur hieraus ist es erklärlich, daß wir oft sehr vernünftige, ja ausgezeichnete Männer mit Drachen und Eheteufeln verbunden sehn, und nicht begreifen, wie sie eine solche Wahl haben treffen können. Dieserhalb stellten die Alten den Amor blind dar. Ja, ein Verliebter kann sogar die unerträglichen Temperaments- und Charakterfehler seiner Braut, welche ihm ein gequältes Leben verheißen, deutlich erkennen und bitter empfinden, und doch nicht abgeschreckt werden: I ask not, I care not, // If guilt's in thy heart; // I know that I love thee, // Whatever thou art. (Ich frag' nicht, ich sorg' nicht, //Ob Schuld in dir ist: // Ich lieb' dich, das weiß ich, // Was immer du bist.).“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1065-1066).

„Denn im Grunde sucht er nicht seine Sache, sondern die eines Dritten, der erst entstehn soll; wiewohl ihn der Wahn umfängt, als wäre was er sucht seine Sache. Aber gerade dieses Nicht seine-Sache-suchen, welches überall der Stämpel der Größe ist, giebt auch der leidenschaftlichen Liebe den Anstrich des Erhabenen und macht sie zum würdigen Gegenstande der Dichtung. – Endlich verträgt sich die Geschlechtsliebe sogar mit dem äußersten Haß gegen ihren Gegenstand; daher schon Plato sie der Liebe der Wölfe zu den Schaafen verglichen hat. Dieser Fall tritt nämlich ein, wann ein leidenschaftlich Liebender, trotz allem Bemühen und Flehen, unter keiner Bedingung Erhörung finden kann: I love and hate her (Ich liebe und hasse sie.). (Shakespeare, Cymb., III, 5.).“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1066).

„Der Haß gegen die Geliebte, welcher sich dann entzündet, geht bisweilen so weit, daß er sie ermordet und darauf sich selbst. Ein Paar Beispiele dieser Art pflegen sich jährlich zu ereignen: man wird sie in den Englischen und Französischen Zeitungen finden. Ganz richtig ist daher der Goethe'sche Vers: Bei aller verschmähten Liebe! beim höllischen Elemente! // Ich wollt', ich wüßt' was ärger's, daß ich's fluchen könnte! Es ist wirklich keine Hyperbel, wenn ein Liebender die Kälte der Geliebten und die Freude ihrer Eitelkeit, die sich an seinem Leiden weidet, als Grausamkeit bezeichnet. Denn er steht unter dem Einfluß eines Triebes, der, dem Instinkt der Insekten verwandt, ihn zwingt, allen Gründen der Vernunft zum Trotz, seinen Zweck unbedingt zu verfolgen, und alles Andere hintanzusetzen: er kann nicht davon lassen. Nicht Einen, sondern schon manchen Petrarka hat es gegeben, der unerfüllten Liebesdrang, wie eine Fessel, wie einen Eisenblock am Fuß, sein Leben hindurch schleppen mußte und in einsamen Wäldern seine Seufzer aushauchte; aber nur dem einen Petrarka wohnte zugleich die Dichtergabe ein; so daß von ihm Goethes schöner Vers gilt: Und wenn der Mensch in seiner Quaal verstummt, // Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1066-1067).

„In der That führt der Genius der Gattung durchgängig Krieg mit den schützenden Genien der Individuen, ist ihr Verfolger und Feind, stets bereit das persönliche Glück schonungslos zu zerstören, um seine Zwecke durchzusetzen; ja, das Wohl ganzer Nationen ist bisweilen das Opfer seiner Launen geworden: ein Beispiel dieser Art führt uns Shakespeare vor in Heinrich VI., Th. 3, A. 3, Sc. 2 und 3. Dies Alles beruht darauf, daß die Gattung, als in welcher die Wurzel unsers Wesens liegt, ein näheres und früheres Recht auf uns hat, als das Individuum; daher ihre Angelegenheiten vorgehn. Im Gefühl hievon haben die Alten den Genius der Gattung im Kupido personificirt, einem, seines kindischen Aussehns ungeachtet, feindsäligen, grausamen und daher verschrienen Gott, einem kapriziösen, despotischen Dämon, aber dennoch Herrn der Götter und Menschen: sy d'ô theôn tyranne k'anthrôpôn, Erôs! (Tu, deorum hominumque tyranne, Amor!)“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1067).

„Mörderisches Geschoß, Blindheit und Flügel sind seine Attribute. Die letzteren deuten auf den Unbestand: dieser tritt, in der Regel, erst mit der Enttäuschung ein, welche die Folge der Befriedigung ist.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1067).

„Weil nämlich die Leidenschaft auf einem Wahn beruhte, der Das, was nur für die Gattung Werth hat, vorspiegelte als für das Individuum werthvoll, muß, nach erlangtem Zwecke der Gattung, die Täuschung verschwinden. Der Geist der Gattung, welcher das Individuum in Besitz genommen hatte, läßt es wieder frei. Von ihm verlassen fällt es zurück in seine ursprüngliche Beschränkung und Armuth, und sieht mit Verwunderung, daß nach so hohem, heroischen und unendlichen Streben, für seinen Genuß nichts abgefallen ist, als was jede Geschlechtsbefriedigung leistet: es findet sich, wider Erwarten, nicht glücklicher als zuvor. Es merkt, daß es der Betrogene des Willens der Gattung gewesen ist. Daher wird, in der Regel, ein beglückter Theseus seine Ariadne verlassen. Wäre Petrarka's Leidenschaft befriedigt worden; so wäre, von Dem an, sein Gesang verstummt, wie der des Vogels, sobald die Eier gelegt sind.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1067).

„Hier sei es beiläufig bemerkt, daß, so sehr auch meine Metaphysik der Liebe gerade den in dieser Leidenschaft Verstrickten mißfallen wird, dennoch, wenn gegen dieselbe Vernunftbetrachtungen überhaupt etwas vermöchten, die von mir aufgedeckte Grundwahrheit, vor allem Andern, zur Ueberwältigung derselben befähigen müßte. Allein es wird wohl beim Ausspruch des alten Komikers bleiben: Quae res in se neque consilium, neque modum habet ullum, eam consilio regere non potes.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1068).

„Ehen aus Liebe werden im Interesse der Gattung, nicht der Individuen, geschlossen. Zwar wähnen die Betheiligten ihr eigenes Glück zu fördern: allein ihr wirklicher Zweck ist ein ihnen selbst fremder, indem er in der Hervorbringung eines nur durch sie möglichen Individuums liegt. Durch diesen Zweck zusammengeführt sollen sie fortan suchen, so gut als möglich mit einander auszukommen. Aber sehr oft wird das durch jenen instinktiven Wahn, welcher das Wesen der leidenschaftlichen Liebe ist, zusammengebrachte Paar im Uebrigen von der heterogensten Beschaffenheit seyn. Dies kommt an den Tag, wann der Wahn, wie er nothwendig muß, verschwindet. Demgemäß fallen die aus Liebe geschlossenen Ehen in der Regel unglücklich aus: denn durch sie wird für die kommende Generation auf Kosten der gegenwärtigen gesorgt. Quien se casa por amores, ha de vivir con dolores (Wer aus Liebe heirathet, hat unter Schmerzen zu leben) sagt das Spanische Sprichwort. – Umgekehrt verhält es sich mit den aus Konvenienz meistens nach Wahl der Eltern, geschlossenen Ehen. Die hier waltenden Rücksichten, welcher Art sie auch seyn mögen, sind wenigstens reale, die nicht von selbst verschwinden können. Durch sie wird für das Glück der Vorhandenen, aber freilich zum Nachtheil der Kommenden, gesorgt; und jenes bleibt doch problematisch. Der Mann, welcher, bei seiner Verheirathung, auf Geld, statt auf Befriedigung seiner Neigung sieht, lebt mehr im Individuo, als in der Gattung; welches der Wahrheit gerade entgegengesetzt ist, daher es sich als naturwidrig darstellt und eine gewisse Verachtung erregt. Ein Mädchen, welches, dem Rath seiner Eltern entgegen, den Antrag eines reichen und nicht alten Mannes ausschlägt, um, mit Hintansetzung aller Konvenienzrücksichten, allein nach seinem instinktiven Hange zu wählen, bringt sein individuelles Wohl dem der Gattung zum Opfer. Aber eben deswegen kann man ihm einen gewissen Beifall nicht versagen: denn es hat das Wichtigere vorgezogen und im Sinne der Natur (näher, der Gattung) gehandelt; während die Eltern im Sinne des individuellen Egoismus riechen. – Dem Allen zufolge gewinnt es den Anschein, als müßte, bei Abschließung einer Ehe, entweder das Individuum oder das Interesse der Gattung zu kurz kommen. Meistens steht es auch so: denn daß Konvenienz und leidenschaftliche Liebe Hand in Hand giengen, ist der seltenste Glücksfall. Die physisch, moralisch, oder intellektuell elende Beschaffenheit der meisten Menschen mag zum Theil ihren Grund darin haben, daß die Ehen gewöhnlich nicht aus reiner Wahl und Neigung, sondern aus allerlei äußern Rücksichten und nach zufälligen Umständen geschlossen werden. Wird jedoch neben der Konvenienz auch die Neigung in gewissem Grade berücksichtigt; so ist dies gleichsam eine Abfindung mit dem Genius der Gattung. Glückliche Ehen sind bekanntlich selten; eben weil es im Wesen der Ehe liegt, daß ihr Hauptzweck: nicht die gegenwärtige, sondern die kommende Generation ist. Indessen sei zum Tröste zarter und liebender Gemüther noch hinzugefügt, daß bisweilen der leidenschaftlichen Geschlechtsliebe sich ein Gefühl ganz andern Ursprungs zugesellt, nämlich wirkliche, auf Uebereinstimmung der Gesinnung gegründete Freundschaft, welche jedoch meistens erst dann hervortritt, wann die eigentliche Geschlechtsliebe in der Befriedigung erloschen ist. Jene wird alsdann meistens daraus entspringen, daß die einander ergänzenden und entsprechenden physischen, moralischen und intellektuellen Eigenschaften beider Individuen, aus welchen, in Rücksicht auf das zu Erzeugende, die Geschlechtsliebe entstand, eben auch in Beziehung auf die Individuen selbst, als entgegengesetzte Temperamentseigenschaften und geistige Vorzüge sich zu einander ergänzend verhalten und dadurch eine Harmonie der Gemüther begründen. –“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1068-1069).

„Die ganze hier abgehandelte Metaphysik der Liebe steht mit meiner Metaphysik überhaupt in genauer Verbindung, und das Licht, welches sie auf diese zurückwirft, läßt sich in Folgendem resumiren.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1069).

„Es hat sich ergeben, daß die sorgfältige und durch unzählige Stufen bis zur leidenschaftlichen Liebe steigende Auswahl bei der Befriedigung des Geschlechtstriebes auf dem höchst ernsten Antheil beruht, welchen der Mensch an der speciellen persönlichen Beschaffenheit des kommenden Geschlechts nimmt. Dieser überaus merkwürdige Antheil nun bestätigt zwei in den vorhergegangenen Kapiteln dargethane Wahrheiten: 1) Die Unzerstörbarkeit des Wesens an sich des Menschen, als welches in jenem kommenden Geschlechte fortlebt. Denn jener so lebhafte und eifrige, nicht aus Reflexion und Vorsatz, sondern aus dem Innersten Zuge und Triebe unsers Wesens entspringende Antheil könnte nicht so unvertilgbar vorhanden seyn und so große Macht über den Menschen ausüben, wenn dieser absolut vergänglich wäre und ein von ihm wirklich und durchaus verschiedenes Geschlecht bloß der Zeit nach auf ihn folgte. 2) Daß sein Wesen an sich mehr in der Gattung als im Individuo liegt. Denn jenes Interesse an der speciellen Beschaffenheit der Gattung, welches die Wurzel aller Liebeshändel, von der flüchtigsten Neigung bis zur ernstlichsten Leidenschaft, ausmacht, ist Jedem eigentlich die höchste Angelegenheit, nämlich die, deren Gelingen oder Mißlingen ihn am empfindlichsten berührt; daher sie vorzugsweise die Herzensangelegenheit genannt wird: auch wird diesem Interesse, wann es sich stark und entschieden ausgesprochen hat, jedes bloß die eigene Person betreffende nachgesetzt und nöthigenfalls aufgeopfert. Dadurch also bezeugt der Mensch, daß ihm die Gattung näher liegt, als das Individuum, und er unmittelbarer in Jener, als in Diesem lebt. – Warum demnach hängt der Verliebte, mit gänzlicher Hingebung, an den Augen seiner Auserkorenen und ist bereit, ihr jedes Opfer zu bringen? – Weil sein unsterblicher Theil es ist, der nach ihr verlangt; nach allem Sonstigen immer nur der sterbliche. – Jenes lebhafte, oder gar inbrünstige, auf ein bestimmtes Weib gerichtete Verlangen ist sonach ein unmittelbares Unterpfand der Unzerstörbarkeit des Kerns unsers Wesens und seines Fortbestandes in der Gattung. Diesen Fortbestand nun aber für etwas Geringfügiges und Ungenügendes zu halten, ist ein Irrthum, der daraus entspringt, daß man unter dem Fortleben der Gattung sich nichts weiter denkt, als das künftige Daseyn uns ähnlicher, jedoch in keinem Betracht mit uns identischer Wesen, und dies wieder, weil man, von der nach außen gerichteten Erkenntniß ausgehend, nur die äußere Gestalt der Gattung, wie wir diese anschaulich auffassen, und nicht ihr inneres Wesen in Betracht zieht. Dieses innere Wesen aber gerade ist es, was unserm eigenen Bewußtseyn, als dessen Kern, zum Grunde liegt, daher sogar unmittelbarer, als dieses selbst ist und, als Ding an sich, frei vom principio individuationis, eigentlich das Selbe und Identische ist in allen Individuen, sie mögen neben, oder nach einander daseyn. Dieses nun ist der Wille zum Leben, also gerade Das, was Leben und Fortdauer so dringend verlangt. Dies eben bleibt demnach vom Tode verschont und unangefochten. Aber auch: es kann es zu keinem bessern Zustande bringen, als sein gegenwärtiger ist: mithin ist ihm, mit dem Leben, das beständige Leiden und Sterben der Individuen gewiß. Von diesem es zu befreien, ist der Verneinung des Willens zum Leben vorbehalten, als durch welche der individuelle Wille sich vom Stamm der Gattung losreißt und jenes Daseyn in derselben aufgiebt. Für Das, was er sodann ist, fehlt es uns an Begriffen, ja, an allen Datis zu solchen. Wir können es nur bezeichnen als Dasjenige, welches die Freiheit hat, Wille zum Leben zu seyn, oder nicht. Für den letztern Fall bezeichnet der Buddhaismus es mit dem Worte Nirwana, dessen Etymologie in der Anmerkung zum Schlusse des 41. Kapitels gegeben worden. Es ist der Punkt, welcher aller menschlichen Erkenntniß, eben als solcher, auf immer unzugänglich bleibt. –“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1069-1070).

„Wenn wir nun, vom Standpunkte dieser letzten Betrachtung aus, in das Gewühl des Lebens hineinschauen, erblicken wir Alle mit der Noth und Plage desselben beschäftigt, alle Kräfte anstrengend, die endlosen Bedürfnisse zu befriedigen und das vielgestaltete Leiden abzuwehren, ohne jedoch etwas Anderes dafür hoffen zu dürfen, als eben die Erhaltung dieses geplagten, individuellen Daseyns, eine kurze Spanne Zeit hindurch. Dazwischen aber, mitten in dem Getümmel, sehn wir die Blicke zweier Liebenden sich sehnsüchtig begegnen; – jedoch warum so heimlich, furchtsam und verstohlen? – Weil diese Liebenden die Verräther sind, welche heimlich danach trachten, die ganze Noth und Plackerei zu perpetuiren, die sonst ein baldiges Ende erreichen würde, welches sie vereiteln wollen, wie ihres Gleichen es früher vereitelt haben. – Diese Betrachtung greift nun schon in das folgende Kapitel hinüber.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1071).

Houtôs anaidôs exekinêsas tode
to rhêma; kai pou touto pheuxesthai dokeis;
Pepheuga; t' alêthes gar ischyron trephô.

( »So schamlos hast du auszusprechen dich erkühnt
Ein solches Wort und glaubst der Strafe zu entgehn?«
– »Entgangen bin ich; denn die Wahrheit zeugt für mich.«)

Sophokles.

Anhang zum vorstehenden Kapitel.

„Auf Seite 1052 habe ich der Päderastie beiläufig erwähnt und sie als einen irre geleiteten Instinkt bezeichnet. Dies schien mir, als ich die zweite Auflage bearbeitete, genügend. Seitdem hat weiteres Nachdenken über diese Verirrung mich in derselben ein merkwürdiges Problem, jedoch auch dessen Lösung entdecken lassen. Diese setzt das vorstehende Kapitel voraus, wirft aber auch wieder Licht auf dasselbe zurück, gehört also zur Vervollständigung, wie zum Beleg der dort dargelegten Grundansicht.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1071).

„An sich selbst betrachtet nämlich stellt die Päderastie sich dar als eine nicht bloß widernatürliche, sondern auch im höchsten Grade widerwärtige und Abscheu erregende Monstrosität, eine Handlung, auf welche allein eine völlig perverse, verschrobene und entartete Menschennatur irgend ein Mal hätte gerathen können, und die sich höchstens in ganz vereinzelten Fällen wiederholt hätte. Wenden wir nun aber uns an die Erfahrung; so finden wir das Gegentheil hievon: wir sehn nämlich dieses Laster, trotz seiner Abscheulichkeit, zu allen Zeiten und in allen Ländern der Welt, völlig im Schwange und in häufiger Ausübung. Allbekannt ist, daß dasselbe bei Griechen und Römern allgemein verbreitet war, und ohne Scheu und Schaam öffentlich eingestanden und getrieben wurde. Hievon zeugen alle alten Schriftsteller, mehr als zur Genüge. Zumal sind die Dichter sammt und sonders voll davon: nicht ein Mal der keusche Vergil ist auszunehmen (Ecl. 2). Sogar den Dichtern der Urzeit, dem Orpheus (den deshalb die Mänaden zerrissen) und dem Thamyris, ja, den Göttern selbst, wird es angedichtet. Ebenfalls reden die Philosophen viel mehr von dieser, als von der Weiberliebe: besonders scheint Plato fast keine andere zu kennen, und eben so die Stoiker, welche sie als des Weisen würdig erwähnen (Stob. ecl. eth., L. II, c. 7). Sogar dem Sokrates rühmt Plato, im Symposion, es als eine beispiellose Heldenthat nach, daß er den, sich ihm dazu anbietenden Alkibiades verschmäht habe. In Xenophons Memorabilien spricht Sokrates von der Päderastie als einer untadelhaften, sogar lobenswerthen Sache. (Stob. Flor., Vol. 1, p. 57.) Eben so in den Memorabilien (Lib. I, cap. 3, § 8), woselbst Sokrates vor den Gefahren der Liebe warnt, spricht er so ausschließlich von der Knabenliebe, daß man denken sollte, es gäbe gar keine Weiber. Auch Aristoteles (Pol. II, 9) spricht von der Päderastie als etwas Gewöhnlichem, ohne sie zu tadeln, führt an, daß sie bei den Kelten in öffentlichen Ehren gestanden habe, und bei den Kretern die Gesetze sie begünstigt hätten, als Mittel gegen Uebervölkerung, erzählt (c. 10) die Männerliebschaft des Gesetzgebers Philolaos u.s.w. Cicero sagt sogar: Apud Graecos opprobrio fuit adolescentibus, si amatores non haberent. Für gelehrte Leser bedarf es hier überhaupt keiner Belege: sie erinnern sich deren zu Hunderten: denn bei den Alten ist Alles voll davon. Aber selbst bei den roheren Völkern, namentlich bei den Galliern, war das Laster sehr im Schwange. Wenden wir uns nach Asien, so sehn wir alle Länder dieses Welttheils, und zwar von den frühesten Zeiten an, bis zur gegenwärtigen herab, von dem Laster erfüllt, und zwar ebenfalls ohne es sonderlich zu verhehlen: Hindu und Chinesen nicht weniger, als die Islamitischen Völker, deren Dichter wir ebenfalls viel mehr mit der Knaben-, als mit der Weiberliebe beschäftigt finden; wie denn z.B. im Gulistan des Sadi das Buch »von der Liebe« ausschließlich von jener redet. Auch den Hebräern war dies Laster nicht unbekannt; da Altes und Neues Testament desselben als strafbar erwähnen. Im Christlichen Europa endlich hat Religion, Gesetzgebung und öffentliche Meinung ihm mit aller Macht entgegenarbeiten müssen: im Mittelalter stand überall Todesstrafe darauf, in Frankreich noch im 16. Jahrhundert der Feuertod, und in England wurde noch während des ersten Drittels dieses Jahrhunderts die Todesstrafe dafür unnachläßlich vollzogen; jetzt ist es Deportation auf Lebenszeit. So gewaltiger Maaßregeln also bedurfte es, um dem Laster Einhalt zu thun; was denn zwar in bedeutendem Maaße gelungen ist, jedoch keineswegs bis zur Ausrottung desselben; sondern es schleicht, unter dem Schleier des tiefsten Geheimnisses, allezeit und überall umher, in allen Ländern und unter allen Ständen, und kommt, oft wo man es am wenigsten erwartet, plötzlich zu Tage. Auch ist es in den früheren Jahrhunderten, trotz allen Todesstrafen, nicht anders damit gewesen: dies bezeugen die Erwähnungen desselben und Anspielungen darauf in den Schriften aus allen jenen Zeiten. – Wenn wir nun alles Dieses uns vergegenwärtigen und wohl erwägen; so sehn wir die Päderastie zu allen Zeiten und in allen Ländern auf eine Weise auftreten, die gar weit entfernt ist von der, welche wir zuerst, als wir sie bloß an sich selbst betrachteten, also a priori, vorausgesetzt hatten. Nämlich die gänzliche Allgemeinheit und beharrliche Unausrottbarkeit der Sache beweist, daß sie irgendwie aus der menschlichen Natur selbst hervorgeht; da sie nur aus diesem Grunde jederzeit und überall unausbleiblich auftreten kann als ein Beleg zu dem Naturam expellas furca, tamen usque recurret.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1071-1073).

„Dieser Folgerung können wir daher uns schlechterdings nicht entziehn, wenn wir redlich verfahren wollen. Ueber diesen Thatbestand aber hinwegzugehn und es beim Schelten und Schimpfen auf das Laster bewenden zu lassen, wäre freilich leicht, ist jedoch nicht meine Art mit den Problemen fertig zu werden; sondern, meinem angeborenen Beruf, überall der Wahrheit nachzuforschen und den Dingen auf den Grund zu kommen, auch hier getreu, erkenne ich zunächst das sich darstellende und zu erklärende Phänomen, nebst der unvermeidlichen Folgerung daraus, an. Daß nun aber etwas so von Grund aus Naturwidriges, ja, der Natur gerade in ihrem wichtigsten und angelegensten Zweck Entgegentretendes aus der Natur selbst hervorgehn sollte, ist ein so unerhörtes Paradoxon, daß dessen Erklärung sich als ein schweres Problem darstellt, welches ich jedoch jetzt, durch Aufdeckung des ihm zum Grunde liegenden Naturgeheimnisses lösen werde.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1073).

„Zum Ausgangspunkt diene mir eine Stelle des Aristoteles in Polit., VII, 16. – Daselbst setzt er auseinander, erstlich: daß zu junge Leute schlechte, schwache, mangelhafte und klein bleibende Kinder zeugen; und weiterhin, daß das Selbe von den Erzeugnissen der zu alten gilt: ta gar tôn presbyterôn ekgona, kathaper ta tôn neôterôn, atelê gignetai, kai tois sômasi, kai tais dianoiais, ta de tôn gegêrakotôn asthenê (nam, ut juniorum, ita et grandiorum natu foetus inchoatis atque imperfectis corporibus mentibusque nascuntur: eorum vero, qui senio confecti sunt, suboles infirma et imbecilla est). Was nun dieserhalb Aristoteles als Regel für den Einzelnen, das stellt Stobäos als Gesetz für die Gemeinschaft auf, am Schlusse seiner Darlegung der peripatetischen Philosophie (Ecl. eth., L. II, c. 7 in fine): pros tên rômên tôn sômatôn kai teleiotêta dein mête neôterôn agan, mête presbyterôn tous gamous poieisthai, atelê gar gignesthai, kat' amphoteras tas hêlikias, kai teleiôs asthenê ta ekgona (oportet, corporum roboris et perfectionis causa, nec juniores justo, nec seniores matrimonio jungi, quia circa utramque aetatem proles fieret imbecillis et imperfecta). Aristoteles schreibt daher vor, daß, wer 54 Jahre alt ist, keine Kinder mehr in die Welt setzen soll; wiewohl er den Beischlaf noch immer, seiner Gesundheit, oder sonst einer Ursache halber, ausüben mag. Wie Dies zu bewerkstelligen sei, sagt er nicht: seine Meinung geht aber offenbar dahin, daß die in solchem Alter erzeugten Kinder durch Abortus wegzuschaffen sind; da er diesen, wenige Zeilen vorher, anempfohlen hat. – Die Natur nun ihrerseits kann die der Vorschrift des Aristoteles zum Grunde liegende Thatsache nicht leugnen, aber auch nicht aufheben. Denn, ihrem Grundsatz natura non facit saltus zufolge, konnte sie die Saamenabsonderung des Mannes nicht plötzlich einstellen; sondern auch hier, wie bei jedem Absterben, mußte eine allmälige Deterioration vorhergehn. Die Zeugung während dieser nun aber würde schwache, stumpfe, sieche, elende und kurzlebende Menschen in die Welt setzen. Ja, sie thut es nur zu oft: die in späterm Alter gezeugten Kinder sterben meistens früh weg, erreichen wenigstens nie das hohe Alter, sind, mehr oder weniger, hinfällig, kränklich, schwach, und die von ihnen Erzeugten sind von ähnlicher Beschaffenheit. Was hier von der Zeugung im deklinirenden Alter gesagt ist, gilt eben so von der im unreifen. Nun aber liegt der Natur nichts so sehr am Herzen, wie die Erhaltung der Species und ihres ächten Typus; wozu wohlbeschaffene, tüchtige, kräftige Individuen das Mittel sind: nur solche will sie. Ja, sie betrachtet und behandelt (wie Kapitel 41 [**] gezeigt worden) im Grunde die Individuen nur als Mittel; als Zweck bloß die Species. Demnach sehn wir hier die Natur, in Folge ihrer eigenen Gesetze und Zwecke, auf einen mißlichen Punkt gerathen und wirklich in der Bedrängniß. Auf gewaltsame und von fremder Willkür abhängige Auskunftsmittel, wie das von Aristoteles angedeutete, konnte sie, ihrem Wesen zufolge, unmöglich rechnen, und eben so wenig darauf, daß die Menschen, durch Erfahrung belehrt, die Nachtheile zu früher und zu später Zeugung erkennen und demgemäß ihre Gelüste zügeln würden, in Folge vernünftiger, kalter Ueberlegung. Auf Beides also konnte, in einer so wichtigen Sache, die Natur es nicht ankommen lassen. Jetzt blieb ihr nichts Anderes übrig, als von zwei Uebeln das kleinere zu wählen. Zu diesem Zweck nun aber mußte sie ihr beliebtes Werkzeug, den Instinkt, welcher, wie in vorstehendem Kapitel gezeigt, das so wichtige Geschäft der Zeugung überall leitet und dabei so seltsame Illusionen schafft, auch hier in ihr Interesse ziehn; welches nun aber hier nur dadurch geschehn konnte, daß sie ihn irre leitete (lui donna le change). Die Natur kennt nämlich nur das Physische, nicht das Moralische: sogar ist zwischen ihr und der Moral entschiedener Antagonismus. Erhaltung des Individui, besonders aber der Species, in möglichster Vollkommenheit, ist ihr alleiniger Zweck. Zwar ist nun auch physisch die Päderastie den dazu verführten Jünglingen nachtheilig; jedoch nicht in so hohem Grade, daß es nicht von zweien Uebeln das kleinere wäre, welches sie demnach wählt, um dem sehr viel größern, der Depravation der Species, schon von Weitem auszuweichen und so das bleibende und zunehmende Unglück zu verhüten.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1073-1075).

„Dieser Vorsicht der Natur zufolge stellt, ungefähr in dem von Aristoteles angegebenen Alter, in der Regel, eine päderastische Neigung sich leise und allmälig ein, wird immer deutlicher und entschiedener, in dem Maaße, wie die Fähigkeit, starke und gesunde Kinder zu zeugen, abnimmt. So veranstaltet es die Natur. Wohl zu merken jedoch, daß von diesem eintretenden Hange bis zum Laster selbst noch ein sehr weiter Weg ist. Zwar wenn, wie im alten Griechenland und Rom, oder zu allen Zeiten in Asien, ihm kein Damm entgegengesetzt ist, kann er, vom Beispiel ermuthigt, leicht zum Laster führen, welches dann, in Folge hievon, große Verbreitung erhält. In Europa hingegen stehn demselben so überaus mächtige Motive der Religion, der Moral, der Gesetze und der Ehre entgegen, daß fast Jeder schon vor dem bloßen Gedanken zurückbebt, und wir demgemäß annehmen dürfen, daß unter etwan drei Hundert, welche jenen Hang spüren, höchstens Einer so schwach und hirnlos seyn wird, ihm nachzugeben; um so gewisser, als dieser Hang erst in dem Alter eintritt, wo das Blut abgekühlt und der Geschlechtstrieb überhaupt gesunken ist, und er andererseits an der gereiften Vernunft, an der durch Erfahrung erlangten Umsicht und der vielfach geübten Festigkeit so starke Gegner findet, daß nur eine von Haus aus schlechte Natur ihm unterliegen wird.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1075).

„Inzwischen wird der Zweck, den die Natur dabei hat, dadurch erreicht, daß jene Neigung Gleichgültigkeit gegen die Weiber mit sich führt, welche mehr und mehr zunimmt, zur Abneigung wird und endlich bis zum Widerwillen anwächst. Hierin erreicht die Natur ihren eigentlichen Zweck um so sicherer, als, je mehr im Manne die Zeugungskraft abnimmt, desto entschiedener ihre widernatürliche Richtung wird. – Diesem entsprechend finden wir die Päderastie durchgängig als ein Laster alter Männer. Nur solche sind es, welche dann und wann, zum öffentlichen Skandal, darauf betroffen werden. Dem eigentlich männlichen Alter ist sie fremd, ja, unbegreiflich. Wenn ein Mal eine Ausnahme hievon vorkommt; so glaube ich, daß es nur in Folge einer zufälligen und vorzeitigen Depravation der Zeugungskraft seyn kann, welche nur schlechte Zeugungen liefern könnte, denen vorzubeugen, die Natur sie ablenkt. Daher auch richten die in großen Städten leider nicht seltenen Kinäden ihre Winke und Anträge stets an ältere Herren, niemals an die im Alter der Kraft stehenden, oder gar an junge Leute. Auch bei den Griechen, wo Beispiel und Gewohnheit hin und wieder eine Ausnahme von dieser Regel herbeigeführt haben mag, finden wir von den Schriftstellern, zumal den Philosophen, namentlich Plato und Aristoteles, in der Regel, den Liebhaber ausdrücklich als ältlich dargestellt. Insbesondere ist in dieser Hinsicht eine Stelle des Plutarch bemerkenswerth im Liber amatorius, c. 5: Ho paidikos erôs, opse gegonôs, kai par' hôran tô biô, nothos kai skotios, exelaunei ton gnêsion erôta kai presbyteron. (Puerorum amor, qui, quum tarde in vita et intempestive, quasi spurius et occultus, exstitisset, germanum et natu majorem amorem expellit.) Sogar unter den Göttern finden wir nur die ältlichen, den Zeus und den Herakles, mit männlichen Geliebten versehn, nicht den Mars, Apollo, Bakchus, Merkur. – Inzwischen kann im Orient der in Folge der Polygamie entstehende Mangel an Weibern hin und wieder gezwungene Ausnahmen zu dieser Regel veranlassen: eben so in noch neuen und daher weiberlosen Kolonien, wie Kalifornien u.s.w. – Dem entsprechend nun ferner, daß das unreife Sperma, eben so wohl wie das durch Alter depravirte, nur schwache, schlechte und unglückliche Zeugungen liefern kann, ist, wie im Alter, so auch in der Jugend eine erotische Neigung solcher Art zwischen Jünglingen oft vorhanden, führt aber wohl nur höchst selten zum wirklichen Laster, indem ihr, außer den oben genannten Motiven, die Unschuld, Reinheit, Gewissenhaftigkeit und Verschämtheit des jugendlichen Alters entgegensteht.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1075-1076).

„Aus dieser Darstellung ergiebt sich, daß, während das in Betracht genommene Laster den Zwecken der Natur, und zwar im Allerwichtigsten und ihr Angelegensten, gerade entgegenzuarbeiten scheint, es in Wahrheit eben diesen Zwecken, wiewohl nur mittelbar, dienen muß, als Abwendungsmittel größerer Uebel. Es ist nämlich ein Phänomen der absterbenden und dann wieder der unreifen Zeugungskraft, welche der Species Gefahr drohen: und wiewohl sie alle Beide aus moralischen Gründen pausiren sollten; so war hierauf doch nicht zu rechnen; da überhaupt die Natur das eigentlich Moralische bei ihrem Treiben nicht in Anschlag bringt. Demnach griff die, in Folge ihrer eigenen Gesetze, in die Enge getriebene Natur, mittelst Verkehrung des Instinkts, zu einem Nothbehelf, einem Stratagem, ja, man möchte sagen, sie bauete sich eine Eselsbrücke, um, wie oben dargelegt, von zweien Uebeln dem größern zu entgehn. Sie hat nämlich den wichtigen Zweck im Auge, unglücklichen Zeugungen vorzubeugen, welche allmälig die ganze Species depraviren könnten, und da ist sie, wie wir gesehn haben, nicht skrupulös in der Wahl der Mittel. Der Geist, in welchem sie hier verfährt, ist der selbe, in welchem sie, wie oben, Kapitel 27 (**) a, angeführt, die Wespen antreibt, ihre Jungen zu erstechen: denn in beiden Fällen greift sie zum Schlimmen, um Schlimmerem zu entgehn: sie führt den Geschlechtstrieb irre, um seine verderblichsten Folgen zu vereiteln.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1076-1077).

„Meine Absicht bei dieser Darstellung ist zunächst die Lösung des oben dargelegten auffallenden Problems gewesen; sodann aber auch die Bestätigung meiner, im vorstehenden Kapitel ausgeführten Lehre, daß bei aller Geschlechtsliebe der Instinkt die Zügel führt und Illusionen schafft, weil der Natur das Interesse der Gattung allen andern vorgeht, und daß Dies sogar bei der hier in Rede stehenden, widerwärtigen Verirrung und Ausartung des Geschlechtstriebes gültig bleibt; indem auch hier, als letzter Grund, die Zwecke der Gattung sich ergeben, wiewohl sie, in diesem Fall, bloß negativer Art sind, indem die Natur dabei prophylaktisch verfährt. Diese Betrachtung wirft daher auf meine gesammte Metaphysik der Geschlechtsliebe Licht zurück. Ueberhaupt aber ist durch diese Darstellung eine bisher verborgene Wahrheit zu Tage gebracht, welche, bei aller ihrer Seltsamkeit, doch neues Licht auf das innere Wesen, den Geist und das Treiben der Natur wirft. Demgemäß hat es sich dabei nicht um moralische Verwarnung gegen das Laster, sondern um das Verständniß des Wesens der Sache gehandelt. Uebrigens ist der wahre, letzte, tief metaphysische Grund der Verwerflichkeit der Päderastie dieser, daß, während der Wille zum Leben sich darin bejaht, die Folge solcher Bejahung, welche den Weg zur Erlösung offen hält, also die Erneuerung des Lebens, gänzlich abgeschnitten ist. – Endlich habe ich auch, durch Darlegung dieser paradoxen Gedanken, den durch das immer weitere Bekanntwerden meiner von ihnen so sorgfältig verhehlten Philosophie jetzt sehr deconcertirten Philosophieprofessoren eine kleine Wohlthat zufließen lassen wollen, indem ich ihnen Gelegenheit eröffnete zu der Verläumdung, daß ich die Päderastie in Schutz genommen und anempfohlen hätte.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 1077).

 

 

 

NACH OBEN

WWW.HUBERT-BRUNE.DE