 |
Der
Zeitpunkt dieser jetzigen Veröffentlichung war dadurch bestimmt, daß
der erste Band in ursprünglicher Fassung nahezu vier Jahre der Kritik vorlag
ein insofern abgeschlossener Zeitraum, als er nunmehr, nach
Erscheinen auch des zweiten Bandes, in veränderter, endgültiger Gestalt
nachfolgen soll und damit einer späteren Kritik auch eine veränderte
Basis bieten wird. Für diese kommende kritische Leistung soll die hier vorliegende
Durchmusterung der Kritiken des ursprünglichen ersten Bandes eine Vorarbeit
und eine Forderung bedeuten. Vollständigkeit des Materials (im Sinne der
Spenglerbiographie) ist nirgends angestrebt. Im Gegenteil schien uns unser Versuch
nur dann berechtigt, wenn es ihm gelingen sollte, aus dem Chaos der bsiherigen
Kritiken für seine bestimmten Zwecke eine prinzipiell fortschreitende Auswahl
zu treffen, deren Wert auch nicht in der Erschöpfung einer einzelnen Kritik,
sondern nur in der möglichst übersichtlichen Vertiefung der kritischen
Frage selbst zu liegen hätte. Demgemäß versuchen die drei Teile
dieser Schrift schon eine Stufenfolge aufzustellen je nach Sachinhalt und Herkunft
der Kritik, so daß zugleich sich das Interesse der verschiedenen Leserkreise
seinem eigentümlichen Gebiet zuwenden kann: dem Literarisch-Kritischen, dem
Einzelwissenschaftlichen oder dem Philosophisch-religiösen; bezw. dem geschichtsphilosophischen
Inhalt und der Antwort der Kulturschiftsteller (I. Teil), der kulturphilosophischen
Formfrage der einzelwissenschaftlichen Fachkritiker (II. Teil) oder
dem kulturmetaphysischen tieferen Hintergrund und seiner Kritik
durch die Philosophen und die Theologen (III. Teil).
Manfred Schröter,
Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (Vorwort), 1922,
S. V-VI | Das geschichtsphilosophische
Gebiet im weiteren Sinn, zu dem das Werk SPENGLERS, zu rechnen ist, hat sich von
je als Kreuzungsstelle und Gestaltungsort der Haupttendenzen des geschichtlichen
Werdens erwiesen, insofern diese von den Mitlebenden als Forderung oder als kritische
Erkenntnis ausgesprochen worden sind. Diese Bewußtwerdung des Zeitinhalts
kann in verschiedener Formung vor sich gehen: vom Werk des großen Genius,
das als reife Frucht, voll Tradition gesättigt, die Summe ganzer Generationsreihen
zieht, (wie die Hochgipfel des philosophiegeschichtlichen Prozesses PLATO-ARISTOTELES,
KANT-HEGEL oder die ganz andere und doch ähnlich bedeutsame Erscheinung AUGUSTINS)
bis zu dem anderen Extrem der einzelnen Kulturpfadfinder und Spürgeister,
wie sie die Bruchzonen der kritischen Wendezeiten ahnungsvoll und isoliert begleiten.
ROUSSEAU oder NIETZSCHE sind hier überragende Beispiele eines Typus, der
sich in Abstufungen bis zur täglichen Gegenwartskritik feinfühliger,
doch nicht mehr eigentlich philosophischer Schriftsteller verliert. Inmitten beider
steht die eigentliche Wissenschaft in ihren verschiedenen Gruppen und Schulen,
in ihrer systematischen, fachlichen Arbeit unersetzlich wertvoll, mit den beiden
anderen Formen mannigfach verbunden und doch prinzipiell von ihnen immer wieder
scharf geschieden. Auch hierin spiegelt sich die dreistufige Unterscheidung unseres
Vorwortes entsprechend wider. Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (I. Teil
[Inhaltsfrage]; Einleitung [Geschichtsphilosophisch-inhaltliche
Einstellung]), 1922, S. 1 | Robert MUSILS
»Geist und Erfahrung« (im Neuen Merkur) und Alfred BAEUMLERS »Metaphysik
und Geschichte« (in der Neuen Rundschau). Unter sich freilich noch sehr
verschieden, haben sie ihren besonderen Wert in der scharf formulierten prinzipiellen
Klarheit, mit der sie die außerwissenschaftliche, intuitive, künstlerische
Deutung und Bedeutung Spenglers in ihrer begrenzten Eigenart hervorheben. Insonderheit
die zweiten Hälften dieser beiden Aufsätze sind wiederholten Studiums
wert. Der Unterschied von rationalem, hauptsächlich begriffiichem Erkennen
und weit allgemeinerem, anschaulichem Erleben, der als Lieblingsthema alle Spenglerschen
Darlegungen durchzieht, wird hier sehr fruchtbar untersucht und in seinen Bedingungen
beleuchtet. Von R. MUSIL mehr impressionistisch, geistvoll (manchmal überspitzt
entgleisend), von A. BAEUMLER strenger wissenschaftlich, in geschichtsphilosophischer
Tiefe, gegen mystische Metaphysik eine heroische »regulative Idee«
unseres historischen Bewußtseins fordernd. »Schopenhauerscher Metaphysik
zum Trotz hat selbst Spengler die Welt als Geschichte gesehen. Es ist etwas
Großes in dem Blick, den er auf das historische Geschehen richtet. Auch
auf dem Gesamtaspekt seines Buches ruht trotz allem ein Schimmer dessen, was Pflicht
unseres Denkens ist: von der Aufgabe einer Erkenntnis des Sinnes der Geschichte.
.... Aber um die geschichtliche Welt als ,Leben im Licht des Gedankens
betrachten zu können, bedarf es nicht einer Metaphysik, sondern einer Logik
des geschichtlichen Seins« (N. Rundschau, S. 1128). Spenglers Widerspruch:
Sätze mit wissenschaftlichem Geltungscharakter aufzustellen, die betontermaßen
nicht auf wissenschaftlichem Wege gefunden sind, oder »die Wissenschaft
als ästhetisch-historisches Phänomen von der Wissenschaft selber
aus zu betrachten«, was von BAEUMLER als die »trübe Mischung«
einer unklaren Einstellung nachgewiesen wird, verzerrt und übersteigert Musil
bis zu dem »klinischen Bild des durch übermäßigen, fortgesetzten
Intuitionsgenuß erweichten Geistes, Schöngeistes unserer Zeit«.
Aber auch er betont klar jenen prinzipiellen Unterschied, ob »je nach dem
Gegenstand entweder die Begriffiichkeit oder der fluktuierende Charakter des Erlebnisses
die Hauptsache am Gedanken ist«, und weiß, daß hier im zweiten
Fall jene »um den belanglosen Begriffskern gelagerte Wolke von Gedanke und
Gefühl« ein stärkstes geistiges Erlebnis unerkennbar und nur intellektuell
umschrieben übermitteln kann, »das man sich menschlich aneignen, aber
nur in intellektuellen Umschreibungen wieder ausdrücken kann« und das
»man nur soweit versteht, ls man sich ähnlicher Erlebnisse erinnert«.
»Den Philosophen liegt die Erforschung der Methodik eines Gebiets nicht
recht, dessen Tatsachen in Erlebnissen bestehen, die den meisten von ihnen nicht
in der nötigen Mannigfaltigkeit bekannt sind. .... Ich bewundere den leidenschaftlichen
Vorsatz, der die ganze Weltgeschichte in neue Denkformen pressen will. Daß
es nicht gelingt, ist nicht nur Spenglers Schuld, sondern liegt auch an dem Mangel
jeder Vorarbeit.« (N. Merkur, S. 850).
Manfred Schröter,
Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (I. Teil [Inhaltsfrage];
2. Kapitel [Weiterdeutende Allgemeinkritiken]), 1922, S. 21-22 |
Nur ein Schritt noch scheint es hier
zu sein zu der umfassenden geistestheoretischen Stellung, die die Widersprüche
Spenglers von ihrem Niveau aus überschauen und auflösen könnte,
um so seinen Schwächen wie auch seinen Stärken gleichermaßen verstehend
gerecht zu werden. Aber dieser Schritt der zugleich den Zusammenhang
einer Metaphysik und Logik der Geschichte andeutend erschließen würde
wird hier noch nicht getan. Vor allem deshalb, weil der Blick
einseitig auf den Schwächen Spenglers haftet, statt zum Ziel des von ihm
angestrebten Ganzen vorzudringen. Darum gleiten auch diese bedeutend einsetzenden
und verheißungsvollen kritischen Versuche alsbald wieder ab, um sich in
negative Zwischenbemerkungen zu verlieren. Freilich ist hier auch das Fundament
der einzelwissenschaftlichen Beurteilung noch nicht gelegt und von den Kritikern
auch gar nicht angestrebt: Doch der erforderliche, philosophisch weite Horizont
öffnet sich hier bei ihnen, vor allem in dem tiefdringenden Aufsatz BAEUMLERs
und erweckt darum die Sehnsucht nach Vertiefung und Erfüllung dieser Tiefe
von dem Ganzen aus. Hier ist gewissermaßen schon zum erstenmal die Aussicht
frei auf Art und Anstiegsroute des noch zu ersteigenden kritischen Gipfels, der
vor unsliegt und zu dem wir freilich erst noch über rauhe Grate und Täler
der Wissenschaften uns den Weg zu bahnen haben werden. Aber
diese einleitende Übersicht hat schon gezeigt, worauf es hier ankommen wird:
Auf das Verständnis der spezifischen geistigen Eigenart des Spenglerschen
Versuchs, dessen Bedeutung hinsichtlich seines Gesamtzieles durch »Einzelirrtümer
noch nicht erschüttert wird. Zur Überwindung dieser letzteren ist die
Beherschung auch der Wissenschaften notwendig, doch sie allein reicht zur Beurteilung
des Zieles ihrerseits nicht aus. Hier muß die philosophische Kritik einstehen,
wie sie SCHOLZ und SCHÜCK gefordert haben. Doch sie müßte, wie
gesagt, im idealen Fall imstande sein, den inneren Zusammenhang von Form und Inhalt
der Spenglerschen Kulturlehre zu begreifen vielleicht klarer
zu begreifen als er selbst; das bedeutet keine Paradoxie fur die Kritik. Damit
würde auch die inhaltliche Rückanwendung seiner Kulturschau auf die
Gegenwart (von uns das »geschichtsphilosophische« Problem genannt
und äußerlich in die Untergangsprophezeiung eingekleidet) eben aus
ihrem formalen Wesen und ihrer Struktur heraus endgültig zu erklären
sein. Davon ist, wie gezeigt, bis jetzt noch keine Rede. Vielmehr zerfallen auch
die besten der bisherigen Versuche darum nach diesen zwei Seiten wieder getrennt
auseinander. Auch die methodisch gerichtete Kritik von BAUMLER oder MUSIL enthält
jene beiden Seiten nur getrennt (und darum negativ) nebeneinander: die
Einsicht in die zunächst noch außerwissenschaftlich scheinende Betrachtungsart
und die demgegenüber selbständige Ablehnung der Zukunftsprophetie, die
ethisch und logisch verworfen, doch in ihrer wahren Herkunft und ihrem Zusammenhang
noch nicht ergründet wird. Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (I. Teil
[Inhaltsfrage]; 2. Kapitel [Weiterdeutende Allgemeinkritiken]), 1922, S.
22-23 | Jenes Nebeneinanderstehen des (kultur-)philosophischen
und des prophetischen Momentes prägt sich noch einmal förmlich vorbildlich
in den vier Absätzen der ausgezeichneten Kritik von Erich FRANZ (Die
Hilfe 1920) aus: Spenglers Prophetentum, Spengler als Philosoph; und die
Kritik des Untergangspropheten und des Kulturphilosophen. Fast jeder Satz hiervon
vielleicht das Beste, was je über Spengler gesagt wurde
kann nur unterschrieben werden, und doch bleibt auch hier das
Letzte, Wichtigste und Eiegentlichste (des begründeten Zusammenhangs)
noch ungesagt. Und ganz dieselbe Erfahrung machen wir bei dem wertvollen Gegenstück,
der inhaltlich gerichteten Kritik von Gräntz (»Spengler und Goethe«,
Westerm. Monatsh. 1921), die »in dem metaphysischen Charakter des Spenglerschen
Buches seine eigentliche Bedeutung« sieht und seiner »Metaphysik des
Organismus« nachzugehen versucht. Die wesentlichen Gedankengänge dieser
letzteren werden wir noch ausführlich kennen lernen, ebenso wie auch die
Mißverständnisse (*), die ihre biologistische
Auffassung nach sich zieht. (* Am lehrreichsten H. KLINKENBERG,
»Zur Kritik der ,organischen Geschichtsauffassung O. Spenglers«,
Köln. Volkszeitung, 19.01.1922, Charakteristisch der Verdammungsspruch des
Biologen REINKE, der (im »Roten Tag«, Nr. 18, 1922) nach Anrufung
Benedetto CROCEs den Erfolg Spenglers »ein beschämendes Zeugnis für
unseres Volkes Urteilskraft« nennt. Vgl. Teil II, 3. Kap. Schlußanm.Verdammungsspruch
des Biologen REINKE, der (im »Roten Tag«, Nr. 18, 1922) nach Anrufung
Benedetto CROCEs den Erfolg Spenglers »ein beschämendes Zeugnis für
unseres Volkes Urteilskraft« nennt. Vgl. Teil II, 3. Kap. Schlußanm.)
Hier dient uns GRÄNTZ nur als das letzte und weitestgehende Beispiel einer
Allgemeinkritik, die ausdrücklich nun auf das Zentrum der Spenglerschen Einstellung
gerichtet ist und doch diesen zentralen Inhalt nicht derartig tief erfassen kann,
daß aus ihm seine notwendige Form (der Kulturanschauung) ersichtlich würde
das Widerspiel zu BAEUMLER und R. MUSIL, die von der Formfrage
auszugehen versuchen. GRÄNTZ sieht sehr wohl den prinzipiellen Unterschied,
der Spenglers Tiefe im historischen Schicksalsbegriff z. B. von der Flachheit
der naturalistischen Gesetze LAMPRECHTs oder BREYSIGs trennt, aber sein Schlußurteil
nennt doch Spenglers Buch einen »seltsamen Zwitter von künstlerisch
intuitivem und von rationalistischem Geist da beide in dieser
Mischung sich nicht miteinander vertragen, trotz tiefer Einblicke in Natur, Kunst
und geschichtliches Leben, zu einem sich selbst zerstöremden Relativismus
verurteilt. .... Es ist eine halbe, eine steckengebliebene Metaphysik«,
oder eine »seltsame, apokryphe«, wie sie Erich FRANz nennt. Die »innere
Unendlichkeit des Organismus«, die (wie Polarität und Steigerung) GRÄNTZ
in Spenglers Metaphysik vermißt, könnte jedoch sehr wohl in ihr, trotz
Spenglers anfechtbarer Darstellung, verborgen sein und (fern jeder biologistischen
Mißdeutung) eben die Erlüllungsform des reifenden Kulturgedankens innerlich
bestimmen. Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (I. Teil
[Inhaltsfrage]; 2. Kapitel [Weiterdeutende Allgemeinkritiken]), 1922, S.
23 | Aber damit greifen wir freilich schon
den Problemen unseres III. Teiles vor, und hier ist ja die Absicht, eben auf die
Schranken und auf die Begrenztheit hinzuweisen, die den Allgemeinkritiken selbst
noch anhaftet. Es sind bedeutende, beachtenswerte Leistungen darunter, deren beide
Gruppen uns gezeigt haben, daß trotz der durchgängigen Ablehnung ein
mannigfach gestaltetes Bewußtsein von der eigentümlichen Bedeutung
Spenglers für und in der Zeit besteht, wenn auch noch ohne endgültige
Klarheit. Es lehnt die äiußerliche Folgerung seiner Kulturlehre, den
Abstiegs- oder Untergangscharakter unserer abendländischen Kulturperiode
ab, doch noch nicht aus dem Quellpunkt dieser Lehre selbst heraus. Darum bleibt
Spengler der bisherigen Kritik noch überlegen, die sein inneres Verhältnis
zu der Zeit noch unterschätzt. Wie problematisch und fragwürdig seine
Lehre sein mag, ihr Erfolg hat andere Gründe als den Zufall äußerer
Zeitumstände und Modeströmungen. Nicht die naive Frage, ob Spengler
»Recht hat« oder nicht, sondern seine Erscheinung selbst und ihre
Wirkung auf die Zeit verlangen nach noch tieferer Erklärung, als sie die
Kritik bisher geliefert hat. Sie hat ihn als den Ausdruck ihrer Problematik hingestellt,
ohne den Grund hievon erschöpfend anzugeben. Charakteristisch dafür
ist, daß die lehrreichste und bedeutsamste Vergleichung
die Spenglers und NIETZSCHEs, als repräsentierendes Zeitphänomen
bisher noch ausgeblieben ist (Wenn auch das Thema selbst
natlürlich mannigfach kurz berührt worden ist. So von A. HORNEFFER (a.
a. O.), K. BREYSIG (vgl. III. Teil); jüngst auch polemisch vou A. DIETRICH
(»Wissenschaftskrisis« in der »Neuen Front«, Paetel Verlag,
wobei die Zusammenstellung Marx, Spengler und ~Steiner schon genug sagt.) Endlich
auch von Erich FRANZ (a. a. O.: »Die Hilfe« 1920, S. 363) »Spengler
ist ein Bruder Nietzsches, übergeistreich, unruhig und von einem Selbstgefllhl,
das weit über Sterbliches hinaussteigt. Die flutende Lava seiner leidenschaftlichen
Empfindung aber ist umgeben von harter, fester Schale, gebändigt von der
unheimlichen Ruhe einer lastenden Schwermut und kühlen Resignation. Das echte
Werk einer müden zerissenen Zeit«. Analog ein kurzer
Hinweis in der »Paideuma«-besprechung Jakob SCHAFFNERS, Neue Rundschau,
Dez. 21.) Denn Martin HAVENSTEIN, dessen Buch »Nietzsche als Erzieher«
(S. Mittler, Berlin 1922) auf dieses Vergleichsthema
in einem längeren Kapitel eingeht, kennt eigentlich nur erst den jungen NIETZSCHE
der »Unzeitgemäßen Betrachtungen«. (**)
So bleibt es bei z. T. treffenden Einzelbemerkungen (**)
und Gegenüberstellungen des »Jasagers« und Überwinders und
des fatalistischen Verneiners und tyrannischen Relativisten, ohne doch auch nur
entfernt der Weite dieser Aufgabe gewachsen zu sein. (**
"Nietzsche ist als Kritiker der Gegenwart Spenglers Vorläufer. ....
Spengler ist der gefährlichste Kritiker, den Nietzsche bisher gefunden hat.
Er hat, so scheint es, als Betrachter des Weltlaufs eine Höhe erstiegen,
der Nietzssche wohl nahe gekommen war, ohne sie indes zu erreichen.« S.
166. »Sein ganzes Buch ist ein sich als Geschichte gebendes Bekenntnis der
Verzweiflung an der europäischen Kultur der Gegenwart. Es ist ein Ausdruck
der großartigste Ausdruck jener alexandrinischen Glaubenslosigkeit
und Unfruchtbarkeit, die Nietzsche bekämpfte und die Spengler selbst als
unser Schicksal, als das Schicksal einer hinsterbenden Kultur hinstellt. ....
Sein Auge ist rückwärts gewandt, nicht freilich romantisch träumend
und schwärmend, sondern ruhig und klar blickend, aber doch mit jener tiefen
Versenkung, Liebe und vergoldenden Kraft, die ihm der Gegenwart und Zukunft gegenüber
so gänzlich fehlt. .... Seine echte Liebe gilt der Vorzeit. Ihr gehören
seine schaffenden, bauenden Kräfte, an ihrem geistigen Wiederaufbau betätigt
und befriedigt er das tiefste Verlangen des lebendigen Geistes, das der Nichtalexandriner
in der gläubigen Mitarbeit am Bau der Zukunft befriedigt. Für diese
aber hat er nichts übrig, da er sich der Vergangenheit gegenüber ausgegeben
hat.« S.168.) BAEUMLER hingegen, der dazu imstande wäre, deutet
sie in seinem besprochenen Aufsatz (Neue Rundschau, 1920,
S. 1120. ) nur flüchtig an. Er bezeichnet Spenglers Versuch »als
die historische Vollendung der Kritik der Dekadenz Nietzsches .... ,Untergang
des Abendlandes ist nur eine emphatische Umschreibung für den europäischen
Nihilismus, von dem der letzte Nietzsehe sprach«, und er zitiert den letzteren
selbst: »Mein Werk soll enthalten ein Gesamturteil über unser
Jahrhundert, über die ganze Modernität, über die erreichte
Zivilisation. .... Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten
zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann:
die Heraufkunft des Nihilismus.« Schon die Vorrede zum »Willen zur
Macht«, der diese Stelle entnommen ist, enthält auch NIETZSCHEs Selbstbezeugung
seiner Philosophie als der »Gegenbewegung« , die »in irgendeiner
Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird; welche ihn aber voraussetzt,
logisch und psychologisch; welche schlechterdings nur auf ihn und aus ihm
kommen kann.« In diesem Nihilismus sieht NIETZSCHE »die zu Ende gedachte
Logik unserer großen Werte und Ideale« und bezeichnet sich als einen
»Wahrsagevogelgeist, der zurückblickt , wenn er erzählt,
was kommen wird ..., der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt
hat, der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat«.
(Vgl, hierzu vor allem das ganze erste Buch des »Willens
zur Macht«: »Der europiiische Nihilismus«; und das berühmte
achte Hauptstück (»Völker und Vaterländer«, samt Nachlaß)
von »Jenseits von Gut und Böse«, vielleicht NIETZSCHES genialstes
Kapitel. Hier z. B. Aph, 242, 245, 250 förmlich »Spenglersche«
Bezeichnungen (... »Civilisation ..., die demokratische Bewegung, ... die
langsame Heraufkunft einer nomadischen Art Mensch«.
»Jener große Zwischenakt, jener Uebergang Europas von Rousseau zu
Napoleon und zur Heraufunft der Demokratie« »...
in deren Nachschimmer heute der Himmel unserer europäischen Cultur, ihr Abendhimmel
glüht vielleicht verglüht.«) Berührung
und polarer Gegensatz zu Spengler tritt hier klar hervor. Doch das Verhältnis
ihrer Aufeinanderfolge erschöpft sich nicht in diesen Gegensätzen. Um
es aus der Tiefe ihrer Zeitbedingtheit zu bestimmen, dazu reichen die bisherigen
kritischen Mittel noch nicht aus. Wir stellen daher zunächst Spengler auch
noch außerhalb dieser Vergleichung, als Erscheinung eigener Art und eigener
Kraft, von eigenem Wert und eigener Fragwürdigkeit. In einer Zeit weitgehender
Formauflösung und Um- und Neubildung steht dieser mächtige, gewaltsame
und eigenwillige Versuch einer vielfältigen Kultur-Formordnung im Geschichtlichen,
Politischen, Ästhetischen und Religiösen. Seine Gewaltsamkeit und Eigenart
wächst aus dem Wurzelgrund der Zeit, und nur durch Aufgraben der untersten
Gedankenschicht kann ihr Zusammenhang verstanden oder überwunden werden,
nicht durch bloße Entgegensetzung irgendeiner anderen Meinung über
unsere Zeit und Zukunft. Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (I. Teil
[Inhaltsfrage]; 2. Kapitel [Weiterdeutende Allgemeinkritiken]), 1922, S.
23-26 | Ist es verwunderlich, daß
nun auch Spengler seinerseits vom Leder zog und in den Preußischen Jahrbüchern
antikritisch nach der andern Seite ordentlich daneben hieb? Sein polternder Artikel
»Pessimismus?«, dem inzwischen eine ganze Presseflut kritischer Antworten
gefolgt ist, zerschneidet ingrimmig das Tischtuch zwischen sich und aller Professorenwissenschaft.
Nun liegt gewißlich Spenglers Stärke weder hier noch in »Preußentum
und Sozialismus«, sondern in den beiden Bänden »Untergang«,
und es war zu erwarten, daß der Witz der Kritiker sich keine schwache Stelle
dieser Pessimismusschrift entgehen lassen würde für
den Kenner oft ein ergötzliches Schauspiel.
Manfred Schröter,
Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (II. Teil [Formfragen];
Einleitung: [Kulturphilosophisch-wissenschaftliche Einstellung]),
1922, S. 30-31 | J. J. BACHOFENs
mythengeschichtliche Werke (insonderheit sein »Versuch über die Gräbersymbolik
der Alten«, Basel 1859, und »Das Mutterrecht«, Basel 1861),
wissenschaftliche kaum genannt, in manchen Kreisen wie ein Heiligtum gehütet
und verehrt, in neuerer Zeit auch von verschiedenen Seiten in ihrer Bedeutung
steigend anerkannt, sind typisch für die Wirkung von solchen, selbst zwar
nicht unwissenschaftlich, doch der Wissenschaft fremd bleibenden, wertvollen Kulturanschauungsgemälden.
BACHOFEN hatte das Vermögen, durch die alten, von den Griechen überlieferten
Mythen hindurch in eine graue Vorzeit der Kultur zu schauen, deren mythische und
religiöse Inhalte er zu erleben fähig war. Dieser Erlebniswert durchleuchtet
seine Schriften, unabhängig von der wissenschaftlichen Bestätigung.
Sie scheint nun in der Tat nachträglich zuzunehmen. Doch auch wenn das Gegenteil
wahr wäre, ja selbst wenn alle Resultate BACHOFENs als philologisch-wissenschaftlich
falsch erwiesen würden, wäre sein einziger Wert darum doch nicht geringer.
Er beruht auf dem ausnehmend seltenen Glücksfall, daß einem Menschen
unserer späten Gegenwart die unvorstellbare Gewalt so früher Zeiten
überhaupt zugänglich ist. Fremde Kulturinhalte in ihrer ganzen religiösen
oder künstlerischen Wucht nicht zu verstehen, sondern zu erleben, ist etwas
grundsätzlich anderes als ihre wissenschaftliche Erforschung. Je älter
diese Inhalte sind, um so kostbarer und wertvoller wird eine derartige Gabe der
Einfühlung in das abgründig Menschliche. Dazu gehört eine Ursprünglichkeit
und Tiefe des Empfindens, die wiederum mit dem gleichfalls notwendigen Niveau
der wissenschaftlichen Beherrschung und Umfassung jener Stoffe nirgends sonst
zusammentrifft. Darum sind diese seherhaften Blicke und Ahnungen BACHOFENs seltsamen
Erz- und Kristallfunden aus dem Bergschacht zu vergleichen, dessen Tiefe seither
niemand mehr erreicht hat. Mag die Wissenschaft in der Erforschung der Kristallgesetze
vielleicht weit über die ersten Deutungen des Finders selbst hinausgewachsen
sein um dieses Stück heraufzuholen, war eine ahnungsvoller
Mut und eine gesitige, geheime innere Verwandtschaft nötig, die vielleicht
nie wiederkehrt, da kaum je wieder eine Seele diesen mythischen Mächten der
frühen Menschheit offen steht. »Die höchste Dichtung«, bekennt
BACHOFEN, »schwungreicher und erschütternder als alle Phantasie, ist
die Wirklichkeit der Geschichte. Größere Schicksale sind über
das Menschengeschlecht hinweggegangen, als unsere Einbildungskraft zu ersinnen
vermag. Das gynaikokratische Weltalter mit seinen Gestalten, Thesen, Erschütterungen
ist der Dichtung gebildeter, aber schwächlicher Zeiten unerreichbar ....
Noch mehr als bisher fühle ich den gewaltigen Gegensatz, der meine Betrachtungsweise
des Altertums von den Ideen der heutigen Zeit und der durch sie geleiteten modernen
Geschichtsforschung scheidet.« (Das Mutterercht, S. XIII).
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (II. Teil
[Formfragen]; 1. Kapitel [RationalitätIrrationalität]),
1922, S. 45-46 | Um ein charakteristisches
Beispiel herauszugreifen, so findet sich der von NELSON (S, 189) aus Spengler
zitierte (und von NELSON als Spenglerscher Unsinn hingestellte Satz, »daß
die Entropie im Weltganzen beständig zunimmt«, wortwörtlcih bei
niemand anderem als eben bei R. CLAUSIUS, der von NELSON selbst an dieser Stelle,
zu Spenglers Belehrung, als der Schöpfer der Entropielehre mit Recht angeführt
wird. .... Wir wenden uns hier nur gegen die Darstellung NELSONs, als sei dieser
Satz das bloße Mißverständnis oder die Erfindung der Spenglerschen
Ignoranz, wärend er doch in Wirklichkeit ein die Forschung antreibender,
gefühlsbeladener Gedanke der ursprünglichen exakten Forscher und Gelehrten
selber war. (Vgl. hierzu CLAUSIUS: »Abhandlungen über
die mechanische Wärmelehre«, 1850, Band I u. II. Abhandlung VIII ...,
S. 323: »In diesen Sätzen ... drückt sich eine allgemein in der
Natur obwaltende Tendenz zur Veränderungen in einem bestimmten Sinne aus.
Wendet man dieses auf das Weltall im Ganzen an, so gelangt man zu einer
eigentümlichen Schlußfolgerung .... Wenn nämlich im Weltall fortwährend
Fälle der Art vorkommen ..., so muß sich das Weltall allmählich
mehr und mehr dem Zustande nähern, wo die Kräfte keine neuen Bewegungen
mehr hervorbringen können und keine Temperaturdifferenzen mehr existieren
..., daß, obwohl nach dem, was man von der bekannten Welt sehen kann, sie
einem solchen Endzustande zuzustreben scheint, wo alle physische Energie in der
Form von strahlender Wärme gleichmäßig zerstreut, die Sterne erloschen
sind, und alle Naturerscheinungen aufgehört haben, dennoch die Welt, wie
sie geschaffen ist, möglicherweise in sich selbst die Mittel besitzen kann,
ihre physischen Energien wieder zu konzentrieren« und
zwar, um diese Behauptung zu entkräften. Seine Abhandlung IX, Band II, S.
43, schließt mit dem Resultat, »daß, wenn man sich dieselbe
Größe, welche ich in bezug auf einen einzelnen Körper seine Entropie
genannt habe, in konsequenter Weise unter Berücksichtigung aller Umstände
für das ganze Weltall gebildet denkt, und wenn man daneben zugleich den anderen,
seiner Bedeutung nach einfacheren Begriff der Energie anwendet, man die den beiden
Hauptsätzen der mechanischen Wärmetheorie entsprechenden Grundgesetze
des Weltalls in folgender einfacher Form aussprechen kann: 1. Die Energie der
Welt ist konstant. 2. Die Entropie der Welt strebt einem Maximum zu.«.)
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (II. Teil
[Formfragen]; 3. Kapitel [Naturwissenschaftliche Kritiken]), 1922,
S. 65-66 | Mit Recht ist einmal gesagt worden,
daß in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis nur eine
Erscheinung unerklärt bleibe: diese Erkenntnis selbst als geschichtliches
und geisteswissenschaftliches Phänomen. Die Tatsache der Naturwissenschaft
und Mathematik in ihrer Entwicklung ist ein geschichts- und kulturphilosophisches
Problem. Eben von dieser Tatsache geht auch Spengler aus, nur daß er nicht
methodisch klar in ihr verharrt, sondern sie ungenügend abgegrenzt auch in
die Einzelinhalte der mathematisch-physikalischen Begriffsbildung hereinträgt,
wo gerade die Besonderung und Übereinanderlagerung der sytematischen und
»physiognomischen« Bedeutung die äußerste Vorsicht erfordert.
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (II. Teil
[Formfragen]; 3. Kapitel [Naturwissenschaftliche Kritiken]), 1922,
S. 67-68 | Die beiden
Eckpfeiler des Buches (Band I; HB), das I. und IV.
Kapitel, Mathematik und Physik, sind, wie gezeigt, fast unbeantwortet gebliebens
(von Spenglers Kritikern; HB). Die mittleren vier,
mit dem Einleitungskapitel, gehören der geisteswissenschaftlichen Welt an
.... Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (II. Teil
[Formfragen]; 3. Kapitel [Naturwissenschaftliche Kritiken]), 1922,
S. 70 | Zugeich ist aber
dieser geistes- und naturwissenschaftliche, methodische Widerstreit ein durchgängies
Thema Spenglers, dessen Variation seinen Gedankenaufbau großenteils bestimmt
und darum auch den übrigen Kritiken noch zugrunde liegt.
Manfred Schröter,
Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (II. Teil [Formfragen];
3. Kapitel [Naturwissenschaftliche Kritiken]), 1922, S. 71 |
Der »geistes- und naturwissenschaftliche«
Gegensatz (um eine abgekürzte Formel für ein vielverflochtenes Problemgewirr
zu brauchen), der in der Gegenwart zumeist zu einer bloß methodischen Streitfrage
abgeblaßt ist, deutet doch in Wirklichkeit auf eine so grundsätzliche
Polarität zurück, daß alle einzelnen, sich wandelnden und wechselnden
Gebiete seiner kulturellen Durcharbeitung der Betrachtung immer wieder nur verschiedene
Seiten einer tieferen, gemeinschaftlichen Grundstruktur zu öffnen scheinen.
.... Die Berührungen, Durchkreuzungen und Überschneidungen,
das Ineinanderlaufen und die Vertauschung der verschiedenen Wege möglichst
klar zu durchschauen, ist eine Hauptforderung der kritischen Durchforschung und
und Beurteilung der geistigen Kulturinhalte und ihrer Entwicklung.
Manfred Schröter,
Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil [Form-Inhaltsfrage];
Einleitung: [Kulturmetaphysisch-religiöse Einstellung]), 1922, S.
72 | Auch Spengler
geht von einer methodologischen Gegenüberstellung aus (zusammengedrängt
etwa in seinem Satz: »Die Morphologie des Mechanischen und Ausgedehnten,
eine Wissenschaft, die Naturgesetze und Kausalbeziehungen entdeckt und ordnet,
heißt Systematik. Die Morphologie des Organischen, der Geschichte und des
Lebens, alles dessen, was Richtung und Schicksal in sich trägt, heißt
Physiognomik.« (S. 135).
Manfred Schröter,
Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil [Form-Inhaltsfrage];
Einleitung [Kulturmetaphysisch-religiöse Einstellung]), 1922, S. 74-75 |
Otto BRAUN: »Spenglers Buch ...
ist das entscheidende Werk der Geschichtsphilosophie seit Heges Gemälde.«.
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 2. Kapitel [Philosophische Kritiken]), 1922,
S. 96 | Erst der wissenschaftliche
Geist läßt die Bilder zu dem Ausdruck fester Gesetzmäßigkeit
erstarren, die, hypostasiert, sich in ihrem jeweiligen Bereich als eine Welt für
sich abkapselt, ohne Zugang zu den übrigen und zu dem Mutterboden, dem sie
doch entstammt. Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 2. Kapitel [Philosophische Kritiken]), 1922,
S. 101 | Um zu beurteilen, wieweit der letzte
hier erreichte Ausblick richtig ist, fügen wir nun als Schlußinstanz
der Spenglerkritiken und als Schlußstein unseres Gewölbebogens, den
Ertrag der Untersuchung von Karl HEIM an, die die Fragestellung GRÜTZMACHERs
noch um einen bedeutenden Grad verinnerlicht und präzisiert hat und uns damit
dann Gelegenheit gibt, die hier aufgezeigten Linien kritisch zu vereinigen.
Auch HEIM beginnt, wie GRÜTZMACHER (und wie schon GIRGENSOHN) mit der Unausgeglichenheit
»in Spenglers Gesamtposition. Spenglers Gedankenwelt bewegt sich um zwei
Pole, die im Gegensatz zueinander stehen. Der negative Pol ist die kopernikanische
Tat, auf deren Bedeutung Spengler immer wieder zurückkommt, die Befreiung
der Geschichtswissenschaft von der perspektivischen Schranke, vom zufälligen
Standort des menschlichen Betrachters.« Es ist der skeptische, relativistische
Historizismus. »Der positive Pol ist der Schicksalsgedanke,
die Entdeckung eines neuen, dem kausalmechanischen, mathematisch-physikalischen
Weltbild völlig entgegengesetzten Aspekts der Wirklichkeit; der Versuch,
dieses lebendige, organische, dichterisch-künstlerische Innenbild der Wirklichkeit
dem kausalmechanischen Weltbild nicht nur als gleichberechtigt gegenüberzustellen,
sondern es ihm überzuordnen. In diesem schicksalshaften Ureindruck vom Weltgeschehen,
wie ihn ,der frühe Mensch noch hat ,und unter den späten alle
wahrhaft bedeutenden, der Gläubige, der Liebende, der Künstler, der
Dichter, liegen die verborgenen Quellen, aus denen Spengler die ethischen
Kräfte schöpft, um die erschlaffenden Wirkungen seines geschichtsphilosophischen
Relativismus zu überwinden. Wenn wir zu Spengler Stellung
nehmen wollen, müssen wir den beiden Gedanken, die bei ihm miteinander ringen,
bis in ihre letzten Wurzeln nachgehen und dann versuchen, die Spannung zu lösen,
die zwischen ihnen besteht. Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 3. Kapitel [Theologische Kritiken]), 1922,
S. 128-129 | Heim geht nun in der Tat am
weitesten zurück in der Verfolgung dieser zwei grundsätzlichen Gedankenschichten,
wenngleich seine Stärke sich nur in der einen Schicht wirklich entfalten
kann. Die erste, der geschichtsphilosophische und historische Relativismus Spenglers
wird von HEIM als »späte Frucht der Hegelschen Geschichtsbetrachtung«
zwar in weitere Zusammenhänge eingeordnet, deren Deutung uns bei aller Tiefe
doch nicht durchweg richtig scheint. Zu »dem großen Glauben Hegels:
es ist der Geist, der sich den Körper baut« führt wohl der Spenglersche
Kulturseelenbegriff zurück, dessen Verwirklichung »ein tiefinnerlicher
Kampf um die Behauptung der Idee gegen die Mächte des Chaos nach außen,
gegen das Unbewußte nach innen« ist; doch der historische Relativismus
Spenglers kann in diesem Sinn nicht als »letzte Konsequenz der geschichtsphilosophischen
Methode Hegels« oder als Vollendung und Durchführung von Hegelschen
Ansätzen bezeichnet werden. (HEIM-GRÜTZMACHER,
»Osw. Spengler u. d. Christentum«, S. 19: »Spenglers Buch ...
als relativistische Vollendung der Hegelschen Geschichtsphilosophie, als konsequente
Durchführung der biologlschen und morphologischen Auffassung der Kulturgeschichte,
die im Keim schon bei Hegel vorhanden war«, enthält eine u. E. zu unzulängliche
und einseitige Formulierung der Bedeutung HEGELs, ebenso einseitig wie ihr Gegenspiel,
der jüngste programmatische Versuch, »Hegel ins Transzendentalphilosophische
umzuschreiben« in der äußerst problematischen, doch
sehr bedeutenden Studie H. GLOCKNERS : »Die ethisch-politische Persönlichkeit
des Philosophen. Eine prinzip. Untersuch. z. Umgestalt. d. Hegelschen Geisteswelt«
[Tüb. 1922. Ein Richtiges treffender, doch sehr mißverständlicher
Titel). Wir können hier dieser Gedankennebenlinie nicht
weiter nachgehen. Manche Ergänzung bringt das soeben erscheinende Buch K.
LEESES, »Die Geschichtsphilosophie Hegels« (Furche Verl. Berlin 1922),
seit F. ROSENZWEIGS schönem zweibändigem Werk »Hegel und der Staat"
(München 1920) wohl die wertvollste und wichtigste Neuerscheinung der aufstrebenden
deutschen Hegelliteratur, da es bereits die neue Lassonsche Ausgabe der »Geschichtsphilosophie«
benützen konnte. In seiner Parallele Hegel-Spengler freilich (S. 92-105)
bleibt er hinter HEIM zurück. Er sieht in Hegels Geschichtsphilosophie die
teilweise Erfüllung der Spenglerschen Postulate (und sieht andrerseits sehr
richtig »die pluralistische Denkart Spenglers im Gegensatz zur monistischen
Hegels«. Treffend erklärt er: »Die ,Seele Spenglers ist
nicht der ,Geist Hegels«, um schließlich aber doch in das hier
schon mehrfach erörterte biologische Mißverständnis einzumünden
(S. 104): »Spengler fühlt das Menschenschicksal als Pflanzenschicksal.
Spengler fühlt naturalistisch, um nicht zu sagen materialistisch,
während Hegels Denken in religiösen Tiefen verwurzelt ist.«
Andererseits S. 100: »Spenglers Programm einer allumfassenden Phänomenologie
und Physiognomik der Kulturen, seine Forderung, ... die morphologischen Verwandtschaften
zu erforschen, hätte Hegel nicht nur gebilligt, er hat sie selber erhoben
und, so gut er bei dem damaligen Quellenmaterial vermochte, auch durchgeführt.
Daß nach einem Jahrhundert historischer Forschung Spengler diese Aufgabe
in noch umfassenderem Sinne als Hegel aufgerollt ..., vermag Hegels Verdienst
nicht in den Schatten zu stellen, sowenig Spenglers Verdienst durch den Hinweis
auf Hegel bestritten werden kann.) Doch HEIM selber legt auf diese
Seite des gedanklichen Gegensatzes kein sonderliches Gewicht. Sein eigenstes Gebiet
ist erst die andere Seite, die des metaphysischen, prophetischen Schicksalsgedankens,
des »Ureindrucks der Wirklichkeit«, der auch »uns Menschen eines
späten, von naturwissenschaftlicher Weltbetrachtung gesättigten Zeitalters
wieder jenes ehrfürchtige und gläubige Verhältnis« möglich
machen müßte, in bezug auf welches HEIM sogar sagen zu dürfen
glaubt: »Spenglers große Bedeutung liegt darin, daß er uns in
dieser tiefsten Not der Gegenwart etwas zu sagen hat. .... Er hat einen Gedanken
ausgesprochen, der unendlich weit über Kant und Hegel und den ganzen deutschen
Idealismus hinausgeht, einen Gedanken, der uns in der Tat, sobald wir ihn in seiner
Tiefe erlassen, über den toten Punkt des Relativismus hinwegbringt, bei dem
wir jetzt auf allen Gebieten angelangt sind.« (A. a. O. S. 21).
Manfred Schröter,
Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil [Form-Inhaltsfrage];
3. Kapitel [Theologische Kritiken]), 1922, S. 129-131 |
Es ist das Grundproblem seines eigenen kampfzerwühlten
Denkens von dem Jugendwerk (*) bis zu den großen
Schlußkapiteln seiner »Glaubensgewißheit« (**)
-, das er hier bei Spengler in dem Versuch wiederfindet, dem äußeren
Weltaspekt »des Erstarrungszustandes des Gewordenen« das aus der »Weltsehnsucht«
geborene, schicksalshafte Innenbild der Wirklichkeit »im feuerflüssigen
Zustand des Werdens« überzuordnen. (*
»Das Weltbild der Zukunft«, S, 297: »Jene relativistische Betrachtung
der Dinge, in der sich das unentschiedene Stadium des Uebergangs zur Entscheidung
spiegelt, und diese absolute Position, in der die Entscheidung selbst ihre Allmacht
dekretiert, stehen miteinander in Spannung. Diese Spannung ist normal. Denn sie
ist das Leben. Sie wird um so prachtvoller, je mehr in einer Persönlichkeit
die volle Glut des Glaubens und die volle Leidenschaft des Gedankens sich die
Wage halten.«) (** »Glaubensgewißheit«,
S. 183-189: »Die Schicksalsfrage ist nicht erst durch menschliche Bedürfnisse
erzeugt. Die Spannung zwischen Schicksal und Reflexion ist in den fundamentalen
Voraussetzungen der Wirklichkeit selbst begründet. Niemand kann darum dem
Problem aus dem Wege geben, das in dieser Spannung enthalten ist. Es ist ein kosmisches
Problem.« »Die erste Gesamtauffassung ist der Standpunkt der Reflexion,
die von der irrationalen Wirklichkeit abstrahiert. .... Die zweite Gesamtauffassung
ist der Standpunkt des Schicksals, der von den Möglichkeiten absieht, die
,an sich vorhanden wären, und sich auf den Boden der irrationalen Tatsächlichkeit
stellt. .... In diesem Ringen zwischen zwei Gesamtanschauungen, die, theoretisch
betrachtet, beide gleich möglich sind, sind alle Probleme der Weltanschauung
zusammengefaßt. Von der Entscheidung dieses Kampfes hängt die Antwort
ab auf die Frage nach dem Sinn des Daseins. Solange ich mein Schicksal reflektierend
von außen betrachte, erscheint es mir wie ein sinnlos berausgegriffenes
Glied aus einer Reihe von Möglichkeiten. Sobald ich es aber von innen sehe,
geht mir seine innere Notwendigkeit auf ....« »Das
Weltgeheimnis schließt sich uns nur dann auf, wenn wir diese verborgene
Innenseite der Wirklichkeit ins Auge fassen, die majestätischen Ursetzungen
und unverrückbaren Grundsteine, die die Erfahrungswelt tragen. .... ,Nach
innen führt der geheimnisvolle Weg. Wir müssen in das Zentrum
des Erfahrungsbildes eindringen, uns in den überkausalen Schöpfungsakt
versenken, dem unser eigenes Ich in seiner bestimmten raumzeitlichen Stellung
sein Dasein verdankt. Dann tut sich uns der Schacht auf, der in die Herzkammer
der Welt führt. Aus dieser Wertung der Schicksalssetzungen ergibt sich aber
eine neue Auffassung des gesamten Weltgeschehens. .... Das innerste Wesen des
Weltprozesses ist nicht Natur, sondern Geschichte. .... Für die geschichtliche
Betrachtung sind diese energetischen Aequivalenzverhältnisse, die die exakte
Naturwissenschaft untersucht, etwas Nebensächliches. Sie sind nur die äußere
Erscheinungsform des Weltgeschehens. Der innere Kern des Gesamtgeschehens liegt
in jenen Schicksalsgebilden beschlossen. In diese können wir nicht durch
Berechnung und exakte Beschreibung des wechselnden energetischen Kleides eindringen,
in dem sie durch die Zeiten gehen, sondern nur durch Intuition und kongeniale
Vertiefung in den eigenartigen Gehalt jener Ursetzungen.«
Vgl. hierzu auch die [von ganz anderer Seite her] tiefdringenden Kapitel Vll und
X von Ludwig KLAGES Studie »Vom Wesen des Bewußtseins«
[Leipzig 1921. S, 49 u. 84. »Was er webt, das weiß kein Weber«],
sowie vor allem TROELTSCHS bedeutsames Schlußwort in seiner Ausführung
zu SCHELER über die zu fordernde Intuitionsmetaphysik des inneren Werdestroms
[Schluß unserer Anm. S. 121].) Was er (Heim;
HB) dabei an ihm (Spengler; HB) aussetzt,
ist die kontemplative Zurückbiegung dieses letzteren in den Aspekt des bloß
Zuschauenden (statt des gläubigen Handelnden). »Wie finden wir die
Kraft, zu unserem Schicksal Ja zu sagen, die Last einer erdrückenden weltgeschichtlichen
Bestimmung zu tragen und auch dem Untergang einer ganzen Kultur mit erhobenem
Haupt und starkem Herzen entgegenzugehen? Das ist offenbar nur möglich, wenn
wir das Wort ernst nehmen, das Spengler als höchsten Ausdruck für die
bildgewordene Idee der Notwendigkeit des Schicksals bezeichnet, nämlich das
Wort Gott. Die Vorstellung von Gott entsteht nach Spengler ebenso notwendig wie
die Zahl. .... Der Gottesglaube ist der reine Ausdruck jedes kraftvollen Seelentums
von seiner Jugend an bis zu seiner Mittagshöhe. Die Weltangst und die Weltsehnsucht
nehmen im Urstadium immer den religiösen Ausdruck an: Gott fürchten
und lieben. .... Neben diesen religiösen Ausdruck des Lebensgefühls
tritt das kausal-mechanische Weltbild als zweiter Niederschlag derselben Kulturseele.
Solange der Höhepunkt der Kultur noch nicht überschritten ist, bestehen
beide Weltaspekte in gleicher Stärke nebeneinander. Die Seele hat noch die
Kraft, die beiden ,Formensprachen, die sich ,niemals zur Einheit verbinden
lassen, die Spannung zwischen beiden Weltbildern, die nicht miteinander verwirrt
werden dürfen, zu ertragen, ja beide in ihrem Gegensatz zu einer Einheit
zusammenzuschauen. .... Erst wenn sich der Zerfall einer Kultur ankündigt,
beginnt als Alterserscheinung der Zweifel an Gott, d. h. das Überlagert-
und Erdrücktwerden des ,astrologischen Weltaspekts durch den mathematisch-physikalischen.
.... Sobald aber die greisenhaft gewordene Kulturseele ins Grab gesunken ist,
um einer neuen Offenbarung des Urseelentums Platz zu machen, erlebt auch der Gottesglaube
wieder einen neuen Frühling. Spengler schildert dieses
periodische Aufblühen und Verwelken des Gottesglaubens als neutraler geschichtsphilosophischer
Zuschauer. .... Allein hier ist der Punkt, wo diese göttlich uninteressierte
Geschichtsbetrachtung an der Grenze ihrer Durchführbarkeit steht. Denn praktische
Neutralität gegenüber Gott bedeutet Verneinung Gottes. .... Dann ist
offenbar die eigentümliche Stellung unhaltbar, die Spengler der ,gläubigen
Intuition gegenüber einnimmt, wenn er sie als Blüte des zur höchsten
Entfaltung gekommenen Seelentums wertet. Er muß entweder hinter diese Wertung
wieder zurückgehen auf die von ihm überwundene Stufe des sensualistischen
Illusionismus, oder er muß noch um einen Schritt darüber hinausgehen.«
(A. a. O. S. 29, 30). Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 3. Kapitel [Theologische Kritiken]), 1922,
S. 131-133 | Diesen Schritt über jede
(Hegelsche oder Spenglersche) Geschichtsphilosophie hinaus macht nach HEIM erst
S. KIERKEGAARD mit seiner letzten, innersten Vergeistigung des Gegensatzes zur
Dualität des Weltbildes der »Objektiven«, »die das Weltgeschehen
so sehen, wie es losgelöst von ihrer eigenen Existenz aussieht« und
jenes Innenbildes eines Kierkegaardschen »Glaubens«
»Innewerden des Weltgeheimnisses durch eine uneudlich um ihr ewiges Schicksal
bekümmerte Subjektivität. Spengler sieht das Schicksal nur in
der Nichtumkehrbarkeit der Zeit. Diese schicksalshafte Setzung des Jetzt läßt
sich aber gar nicht loslösen vom Bewußtsein der eigenen Existenz, die
ebenso unerbittlich und unwiderruflich gesetzt ist, wie das Jetzt. Die Nichtumkehrbarkeit
der Zeitrichtung steht in engem Zusammenhang mit der Nichtumtauschbarkeit des
Ich, d. h. mit der Unmöglichkeit, das eigene Ich mit dem Ich irgendeines
anderen zu vertauschen. Spengler erwähnt an einer bedeutsamen Stelle das
Zeitgefühl Augustins. .... Aber dieses mystische Zeitgefühl Augustins
hängt eng zusammen mit seiner Ehrfurcht vor dem unerklärlichen Empfang
der eigenen Seele. In te anime meus, tempora metior. (In
dir, mein Geist [meine Seele], messe ich die Zeiten; HB]). Beides läßt
sich nicht voneinander loslösen, die Unmöglichkeit, den Jetztpunkt nach
rückwärts zu verschieben und die Unmöglichkeit, sich selbst loszuwerden.
.... Deum et animam scire cupio. Nihilne plus? Nihil omnino. [Gott
und die Seele begehre ich zu erkennen. Nichts anderes? Überhaupt nichts;
HB].« (A. a. O., S. 36. Unwillkürlich
schweift hier die Erinnerung zu einem quälend grüblerischen, echten
religiösen Metaphysiker unserer Zeit: O. WEININGER. Zu
dem hier berührten Geheimnis der Individuation vgl. auch die tiefsiunigen
Variationen der Seite 178 von HEIMS »Glaubensgewißheit« über
das Thema: »Die Ursetzung des Schicksals liegt außer der Zeit. Sie
ist in jedem Punkt der zeitlichen Entwicklung gleich gegenwärtig. [An einer
überzeitlichen Setzung, die auf den Zeitstrom projiziert ist, haben alle
Elemente des Zeitstroms gleichen Anteil.] Die Urentscheidung fällt in
jedem Augenblick. An dieser überzeitlichen Setzung habe ich aber selbst
unmittelbaren Anteil. Denn auch mein Ich und der jetzige Augenblick, in welchem
ich meine Entscheidung treffen muß, stammt aus derselben überzeitlichen
Quelle. .... In jedem Wollen nehm ich teil an dem überkausalen Schöpfungsakt,
in welchem eine Ordnung der Dinge aus einer Flille anderer Möglichkeiten
auserkoren wird.«) Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 3. Kapitel [Theologische Kritiken]), 1922,
S. 133-134 | Von hier aus fordert nun HEIM
auch für die Spenglersche Kulturbetrachtung die letzte Synthese: Auch für
sie muß »zum Außenbild das Innenbild hinzutreten. Dieses schließt
sich nur dann auf, wenn die Zeitrichtung des Weltgeschehens nicht nur in ihrer
tragischen Nichtumkehrbarkeit gefühlt, sondern auch auf die ebenso unverrückbar
gegebene eigene Existenz bezogen, also als persönliches Innenschicksal in
seinem tiefen Sinn visionär erfaßt wird. Für diesen Aspekt schließt
sich dann das, was die Morphologie der Weltgeschichte in einzelne voneinander
unabhängige Kulturperioden zerlegt, wieder zu einem Organismus zusammen,
dessen Seele Gott ist, in dem darum jedes Glied im Lebenszusammenhang des Ganzen
seinen notwendigen Sinn hat. Von diesem Standpunkt aus gesehen hat also Hegel
gegen Spengler wieder Recht, wenn er glaubt, im Geist könne nichts verloren
gehen; auch das Untergegangene bleibe ewig in ihm aufgehoben. .... In einem wachsenden
Organismus gibt es keinen absoluten Untergang. .... Erst wenn wir diese letzte
Konsequenz ziehen, ist die lähmende Wirkung überwunden, die der Gedanke
an den Untergang des Abendlandes ausübt. Was von außen wie eine sinnlose
Aufeinanderfolge aufblühender und verwelkender Vegetationen erscheint, das
ist dann von innen gesehen eine zusammenhängende Kette von Schöpfungsakten
Gottes.« (A. a. 0. S. 37, 38).
Manfred Schröter,
Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil [Form-Inhaltsfrage];
3. Kapitel [Theologische Kritiken]), 1922, S. 134 | An
dieser höchsten von der bisherigen Spenglerkritik erreichten Stelle ist sehr
lehrreich eine Korrektur des Spenglerschen Gedankenbaues zu beobachten, mit der
sein eigentlichster Sinn der Kritik wieder zu entgleiten droht. Dies wird an dem
jüngsten Aufsatz HEIMS (*), vielleicht seinem
bedeutendsten, noch klarer, weil hier jene Korrektur (das ins Metaphysische überhöhte
Gleichgewicht der beiden Weltaspekte durch die Überordnung eines von
ihnen zu ersetzen) fast vermieden ist, bezw. doch die Möglichkeit ihrer Vermeidung
wenigstens aufleuchtet. (* »Gedanken eines Theologen
zu Einsteins Relativitätslehre«. Zeitschr. f. Theol. u. Kirche XXIX,.
S. 330. Hier ist die merkwürdige Tatsache zu buchen, daß der geisteswissenschaftlich
bedeutendste Beitrag zu der allgemeinen (nur mit dieser haben
wir uns hier selbstredend zu beschäftigen) Einsteinliteratur
von einem Theologen stammt. EINSTEIN, der wohl am richtigsten nicht eigentlich
als Mathematiker, sondern als einer der genialsten schöpferischen (die mathematischen
Hilfsmittel ebenso genial beherrschender) Erschauer und Neuordner mathematisch-physikalischer
Prinzipien- und Theorienbildung zu bezeichnen ist, ist selber philosophisch ganz
uninteressiert, woraus er nie ein Hehl gemacht hat. Andrerseits wuchert bekanntermaßen
in der allgemeineren Einsteinliteratur der philosophische Dilettantismus grauenhaft.
Wie Leuchttürme über der Flut stehen hier überragend die philosophischen
Meisterschriften von M. GEIGER (Halle 1921) und vor allem E. CASSIRER (Berlin
1921). Wenn wir ihnen hier ergänzend HEIMS Aufsatz zur Seite stellen, so
geschieht es wegen seiner tiefen Auffassung der geisteswissenschaftlichen Bedeutung
und Auswirkung jener Theorie. Die Eigenart seiner theologischen Einstellung ...
beeinträchtigt weder Richtigkeit noch Schärfe seines Urteils, so fremdartig
es für die Naturwissenschaft auch klingen mag. Diese so
schwer übersteigbare Mauer der verschiedenen Begabung zeigte sich als prinzipieller
Uebelstand schon bei der wissenschaftlichen und philosophischen Spenglerkritik,
wenn immer erst das Urteil des »Kollegen von der anderen Fakultät«
noch abzuwarten blieb. Erklärt sich doch selbst TROELTSCH für mathematisch
urteilslos, indes die meisten Mathematiker und Physiker sich geisteswissenschaftlichen
Inhalten gegenüber infantil erweisen. Dieses Verhältnis, mit der steigenden
Differenzierung der Kultur entschuldigt, ist jedoch nur in dem persönlichen
Mangel der Veranlagung- begründet. Die Gesamteinstellung NEWTONS,
PASCALS, LEIBNIZ ist im prinzipiellen Sinn jedem universal Begabten
auch noch heute möglich, wenn ihm nur auf seinem schweren Weg zu systematischer
Ganzheit ähnlich gerichtete, bedeutende Vertreter jeder Wissenschaft entgegenkämen.
Das Fehlen dieser letzteren erklärt die Forderung der Jugend nach »Revolution
der Wissenschaft« (KRIECK, E. v. KAHLER), die den Fakultätskastengeist
zu verachten gelernt hat. Sie erklärt Auswüchse der Spenglerkritik wie
der Spenglerschen Wirkung, ohne doch schon Korrektur herbeizuführen.)
HEIM richtet hier seine naturphilosophischen, erkenntnistheoretischen und logischen
Erwägungen, die schon in seinem Jugendwerk wurzeln und dann in einzelnen
Kapiteln der »Glaubensgewißheit« durch die Einbeziehung der
Einsteinschen Relativitätslehre vertieft wurden, nun noch einmal auf EINSTEINS
allgemeine Relativitätstheorie und zugleich auch in sehr eigenartiger, geistreicher
Weise die mit falscher Analogisierung nicht das mindeste zu
tun hat auf Spenglers Kulturlehre. Er setzt Spenglers »kopernikanisches
Programm« (der »Befreiung der Geschichtsbetrachtung vom perspektivischen
Punkt, vom zufälligen Standort des menschlichen Betrachters«) in Parallele
zu der (galileischen) »Neuorientierung der Astronomie und Physik, die zum
klassischen, Relativitätsprinzip geführt hat«. In Anbetracht der
»Relativität aller kulturellen Wertzentren« löst die neue
Geschichtsauffassung »darum die Geschichte in eine Reihe gleichberechtigter
Kulturperioden auf, deren jede ihr eigenes Wertzentrum und darum auch ihr eigenes
Seelenbild und Weltbild hat.« (A.
a. 0. S. 335: »Was uns in diesem Zusammenhang interessiert, ist aber nicht
die allbekannte, vielumstrittene Durchführung dieses Programms der Geschichtsphilosophie,
die Spengler versucht hat, sondern die Tatsache, daß er diese geschichtsphilosophische
Neuorientierung in Zusammenhang mit Kopernikus bringt, also mit dem ersten Stadium
des physikalischen Relativierungsprozesses, mit dem Uebergang von Ptolemäus
zu Kopernikus, Galilei und Newton. Obwohl Spengler die Einsteinsche Theorie natürlich
kennt und erwähnt, zieht er doch keine Verbindungslinie zwischen dem Einsteinschen
Relativitätsprinzip und seiner Morphologie der Weltgeschichte [in der die
Verschiebung des Geschichtsbildes zu einem gewissen Abschluß gekommen ist],
sondern greift, wo er eine Parallele sucht, auf die kopernikanische Umwälzung
zurück. Damit hat Spengler, natürlich ohne es zu beabsichtigen, die
Grenze angedeutet, die sein geschichtsphilosophischer Relativismus nie überschreitet.)
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 3. Kapitel [Theologische Kritiken]), 1922,
S. 134-136 | Damit aber ist (um im Vergleich
zu bleiben) Spengler nur bis an die Grenze von Newtons, nicht bis an die
von Einsteins Relativitätsprinzip gegangen. »Die Relativierung
der Grundbegriffe ist auch bei Spengler noch nicht zu Ende geführt. Es sind
noch einige absolute Maßstäbe stehen geblieben, die es möglich
machen, trotz der Verschiebbarkeit des Orientierungspunkts doch noch ein objektives
und allgemeingfütiges Gesamtbild des Weltlaufs zu gewinnen: Zunächst
liegt die Zeitstrecke objektiv fest, der unerbittlich immer im gleichen Tempo
in einer Richtung vorwärtsdrängende Gang der Zeit. Diese Zeitstrecke
trägt die Kulturen, die nacheinander auftreten. Jede derselben hat ihre Dauer,
die ihr zugemessene Zeit. Die Kulturen haben ihr Kindheitsstadium, ihre Lebenshöhe
und ihre winterliche Erstarrungsperiode. Alle diese Aussagen sind unabhängig
vom zufälligen Standort des Beobachters, von der ,Wahl des Koordinatensystems.
.... Daß das Seelenerlebnis der jeweiligen Kultur auf einem gewissen Höhepunkt
jung, stark und von höchster Intensität ist, daß es dann im späteren
Stadium der Zivilisation schwach, herbstlich und greisenhaft wird, auch das sind
absolute Aussagen, die von der Wahl des Standorts unabhängig sind. Dadurch
wird es möglich, losgelöst von aller Perspektive die Aufeinanderlolge
der aufblühenden und verwelkenden Kulturen als objektives Schaupiel zu genießen
und absolute Werturteile zu fällen über die Stärke und Reinheit,
mit der der Lebensstil einer Kultur in irgendeiner wissenschaftlichen, politischen
oder künstlerischen Kraftleistung zum Ausdruck kommt.« (S. 336).
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 3. Kapitel [Theologische Kritiken]), 1922,
S. 136 | Wie aber nun, wenn die Relativierung
»in das zweite Stadium eintritt und auch dieser konsequentere Relativismus
auf die zentralere Forschungsgebiete übertragen wird?« (Ebenda,
S. 341: »Schauen wir von Einstein aus rückwärts, so haben wir
den Eindruck, daß hier ein Ziel erreicht ist, dem die Naturwissenschaft
seit dem Zusammenbruch des ptolemäischen Weltbildes in stetigem Fortschritt
zustrebte. Bei Ptolemäus war der ruhende Weltmittelpunkt und mit ihm alle
räumlichen und zeitlichen Urmaßstäbe absolut gegeben. Bei Newton
liegen nur noch diese Urmaßstäbe und damit die Grundlagen der Geschwindigkeits-
und Kraftberechnung objektiv fest. Der ruhende Mittelpunkt ist vom Standpunkt
des Beobachters abhängig geworden. Bei Einstein sind auch die raumzeitlichen
Urmaße, diese letzten Geberreste des ptolemäischen Weltbildes, zu Funktionen
des Bezugskörpers geworden. Als objektiver, vom Beobachter unabhängigen
Rest sind nur noch mathematische Formeln zurückleblieben, die das gegenseitige
Verhältnis der unendlich vielen möglichen Orientierungssysteme ausdrücken
und es möglich machen, diese ineinander umzurechnen.)
»Die ganze Wirklichkeit verwandelt sich in ein Kontinuum von Aspekten, die
von stetig wechselnden Beobachtungsposten aus gewonnen werden. Damit aber gerät
das ist die philosophische Bedeutung dieser physikalischen
Erkenntnis der ganze bisherige Begriff des objektiven Gegenstandes
ins Schwanken. .... Dieser der perspektivischen Einstellung gegenüber neutrale
Gegenstand existiert jetzt nicht mehr. Er besteht nur noch in einer abstrakten
Formel, in einem Inbegriff von möglichen Gesamtbildern, deren jedes einer
bestimmten perspektivischen Einstellung entspricht, in einem mathematisch formulierbaren
Verhältnis zwischen verschiedenen möglichen Aspekten. .... Sobald mit
dem Zeitmaß vollends die letzten Maßstäbe der Wirklichkeitsbeschreibung
ihre Konstanz verloren haben, ist überhaupt kein anschauliches Bild des Weltprozesses
mehr denkbar, das dem perspektivischen Standpunkt gegenüber neutral wäre.«
Damit aber taucht bedeutungsvoll wieder der andere Pol auf:
»Das erkennende Ich, das die Wirklichkeit von einem bestimmten Standorl
aus betrachtet, gehört als zweiter konstituierender Faktor notwendig mit
zur Wirklichkeit.« Und »hinter dem erkennenden Beobachter steht ja
immer das wollende und wertende Ich. Dieses läßt sich vom erkennenden
Subjekt immer nur durch eine Abstraktion loslösen.« Mit dem erkennenden
Subjekt ist also »auch die wollende und wertende Persönlichkeit, also
die Seele, in ihre weltkonstituierende Stellung eingesetzt. .... Der perspektivische
Standpunkt des Bewußtseins ist nicht ein trübendes Medium, das als
Fehlerquelle ausgeschaltet werden müßte, sondern ein Koeffizient der
Wirklichkeit, der die Grundlage aller Berechnungen bilden muß. Schalten
wir diesen Koeffizienten aus, so ist überhaupt keine Wirklichkeit mehr vorhanden.
Seelentum und Naturbild gehören unzertrennlich zusammen. Nur solange
uns noch das Phantom eines neutralen, der Perspektive entrückten Gegenstandes
irreführt, erscheint uns ein von der Subjektivität mitbedingtes Weltbild
wissenschaftlich minderwertig. Wenn dieser falsche Begriff der Objektivität
überwunden ist, ist der vom Seelenturn getragene Kosmos die letzte
Realität, die uns gegeben ist, in die wir mit unserer Forschung immer tiefer
eindringen müssen.« (S. 345).
Manfred Schröter,
Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil [Form-Inhaltsfrage];
3. Kapitel [Theologische Kritiken]), 1922, S. 136-137 |
Die Anwendung dieser tiefsinnigen Rückschau
und Selbsterkenntnis des wechselbedingten Subjekt-Objekts auf die Lehre Spenglers
folgt unmittelbar: »Damit hat sich herausgestellt, daß die Spenglersche
Idee eines von jeder perspektivischen Einstellung unabhängigen Gesamtbildes
der Geschichte, von dem aus dann eine an einem absoluten Weltziel orientierte
Geschichtsauffassung als befangen entwertet wird, eine Unmöglichkeit ist.
Sobald der anschauende Geist mit seiner perspektivischen Orientierung ausgeschaltet
ist, verschwindet auch der Gegenstand. Es kommt kein anschauliches Bild der Weltentwicklung
mehr zustande. Ohne Perspektive ist es unmöglich, Kulturen als aufeinanderfolgende
Zeitabschnitte zu betrachten und kulturelle Kraftentfaltungen festzustellen, die
wie eine Kurve anwachsen, ihren Höhepunkt erreichen und dann wieder abnehmen.
Der betrachtende Geist mit seinen raumzeitlichen Maßstäben und seiner
Wertorientierung ist eine notwendige Bedingung für das Zustandekommen irgendeines
Geschichtsbilds.« Und wie kommt es zu der »Wahl
des Standorts, der für die Gestaltung des Gesamtbilds von entscheidender
Bedeutung ist? Solange wir noch in der alten Vorstellung eines perspektivisch
neutralen Erkenntnisgegenstandes befangen sind, erscheint die Bestimmung des Standorts
als willkürliche Auswahl aus einer unendlichen Reihe von Möglichkeiten.
Sobald aber jener falsche Begriff der Objektivität überwunden ist, wird
uns sofort deutlich: einen solchen neutralen Standpunkt, von dem aus wir wählen
könnten, gibt es ja gar nicht. Um wählen zu können, um im Geist
eine ,Transformation, eine Verschiebung des Ruhepunktes vornehmen zu können,
muß uns immer schon ein ganz bestimmter Standort als Ausgangspunkt der Standpunktsveränderung
gegeben sein. .... Dieses Vorfinden eines ,primären Koordinatensystems
als Grundlage der Weltorientierung ist ein Urerlebnis, das das letzte Welträtsel
in sich birgt.« (Ebenda, S. 347; »Die Physik
kann nur die Irrationalität des Urdatums feststellen. Und doch kann unser
Denken mit seiner Warumfrage bei diesem Urdatum nicht haltmachen. So führt
das Nachdenken über die letzten Voraussetzungen der Physik auf einen Weltgrund,
der das geschlossene raumzeitliche Kontinuum trägt, in dem die Ursetzungen
wurzeln, die alles andere erst möglich machen. Die Relativierung der naturwissenschaftlichen
Grundbegriffe schließt uns also ein neues Verständnis auf für
Empfänge aus der Sphäre des Absoluten, für die schlechthinige
Abhängigkeit der ganzen Bewußtseinswirklichkeit von Gott. Man könnte
darum vom naturwissenschaftlichen Relativismus, der in einer langen Entwicklung
von Ptolemäus bis Einstein die absoluten Fundamente des alten Weltbilds stückweise
abgetragen hat, dasselbe sagen, was der Naturforscher Bacon von der Philosophie
überhaupt gesagt hat; Philosophia obiter delibata deducit a Deo, penitus
exhausta reducit ad Deum.)
Manfred Schröter,
Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil [Form-Inhaltsfrage];
3. Kapitel [Theologische Kritiken]), 1922, S. 137-138 |
Jetzt endlich, nach der letzten harten Probe, auf die wir
die Geduld des geneigten Lesers stellen mußten, haben wir die nötigen
Prämissen alle in der Hand für unsere kritische Konklusion. Wir brauchen
nur die letzten Argumente rückwärts zu durchlaufen, um im ihrer Anwendung
auf Spengler auch die Lösung unserer Frage vor Augen zu haben. Der Gedankengang
HEIMs mündete ein zweites Mal ins Religiöse und erinnerte mit diesem
Ausgang unwillkürlich auch an das Schlußresultat der Einsteinstudien
von GEIGER udn CASSIRER, die ihrerseits aus der vollendeten Relativierung des
naturwissenschaftlichen Weltbildes nur desto tiefere formale Bindungen zurückgewannen:
das reine Gesetz (GEIGER, S. 46) und die »echte Systemform
der Natur und ihrer Gesetze« (CASSIRER, S. 73) als den (unbewußten)
letzten Zielpunkt auch jenes relativierenden Versuches. Und doch wäre es
ganz falsch, das Resultat dieser erkenntnistheoretischen und logischen Fundamentierung
der Einsteinschen Theorie mit jener religiösen Ausdeutung aus der »Sphäre
des Absoluten« durch HEIM gleichzusetzen! Dieser letzteren ist erst die
metaphysische Auswertung parallel; aber für diese ist das naturwissenschaftliche
(mathematisch-physikalische) Weltbild doch nur die künstliche und einseitige
Konstruktion einer Erkenntnisform allein. Neben ihr stehen die ganz andersartigen
»organischen« und »geschichtlichen« Formungen, und erst
auf der Korrelation von ihnen allein ruht das wirklich metaphysische Substrat
»Natur« auf, das dann, als in gleicher Höhe, mit dem religiösen
selbst vergleichbar wird. Der Fehler oder die Gefahr HEIMs ist, daß er nur
dieses Stückwerk des bloß physikalischen Weltbildes kennt und diesem
die religiös-metaphysische Überhöhung der Geschichtsformung (durch
die Schicksalskategorie) entgegenstellt. In Wirklichkeit ist der letzte metaphysische
Halt, der dem religiösen durchaus ebenbürtig, ja nur eine andere Form
desselben ist, aus dem lebendigen Substrat der Gesamtnaturformung gleichfalls
zu gewinnen. Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 3. Kapitel [Theologische Kritiken]), 1922,
S. 138-139 | Diese »Kompetenzverschiebung«
tritt nun bei der Heimschen Beurteilung Spenglers eigentümlich klar hervor:
Er setzt (in der Broschüre) Spenglers Geschichtsbetrachtung, als dem »objektiven«
Bild, die religiöse »Innenansicht« gegenüber, die, subjektiv
orientiert, in Gott das Schicksalszentrum selbst als unerschütterlichen Halt
erfaßt. Andererseits jedoch sieht er (in seinem Zeitschriftenaufsatz) in
Spenglers Geschichtsbild sehr richtig die absoluten Grenzen der Relativierung
die ihn zu dem treffenden Vergleich veranlassen, daß
Spengler nur bis Newtons, nicht bis Einsteins Relativitätsgrenze
gegangen sei. Es sind dies die »vom Standort unabhängigen Maße
des Kulturverlaufs: Tempo und Dauer des Kulturaufstiegs und -untergangs,
Stärke und Reinheit der in diesem reifenden Prozeß zunehmenden, gipfelnden
und wieder vergehenden Kulturintensität. Mit einem untrüglichen Feingefühl
hat HEIM hier in der Tat genau den Punkt getroffen, an dem Spengler dem Programm
der »perspektivelosen« Geschichtsansicht untreu wird, das er selbst
aufgestellt hat (»... wie die Gipfelreihe eines Gebirges am Horizont, als
ob man selbst gar nicht zu ihr gehörte ...«). Das Extrem
dieses Programms ist, wie HEIM nachweist (und wie auch schon HAERING seinerseits
betont hat), erkenntnistheoretisch unmöglich. Der wertorientiert betrachtete
Geist ist notwendige Voraussetzung der Kulturerfassung überhaupt.
Aber ist denn Spenglers Werk dieser Unmöglichkeit verfallen? Hat nicht
HEIM (vgl. unsere Anm. S. 136 [am unteren Ende des Absatzes
von S. 134-136; HB]) gerade selbst »die Grenze angedeutet, die sein
geschichtsphilosophischer Relativismus nie überschreitet«? Warum ist
denn Spengler nur »bis Newton« und nicht bis Einstein« gegangen
und hat (vielleicht unbewußt) doch »absolute Kulturmaße«
aufgestellt und angewendet? Ist seine extrem relativistische Theorie von HEIM
exakt verstanden, so muß diese ihre Darstellung unrichtig oder unzulänglich
sein und Spenglers Leistung selbst aus viel gesicherteren und lebenswahreren Tiefen
unbewußt emporgestiegen sein ein Fall, der jedem geistesgeschichtlich
Bewanderten von den verschiedensten Beispielen her vertraut sein wird.
Manfred Schröter,
Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil [Form-Inhaltsfrage];
3. Kapitel [Theologische Kritiken]), 1922, S. 139-140 |
Auch Spengler würde so zu jenem Typus zählen,
dessen Leistung tiefer ist als seine eigene Theorie, da er nachtwandlerisch bei
jener »Newtonschen« Grenze schon innehielt und
zwar nicht im Bewußtsein, hier bei einem vorläufigen Stadium der Theorienbildung
notgedrungen zu verharren, das ein künftiger geschichtsphilosophischer »Einstein«
noch zu überschreiten hätte, sondern in der Empfindung von der hier
drohenden Sinnwidrigkeit des jenem analogen Standpunkts. Gerade HEIMs letzte Erkenntnisse
(von der Unzertrennlichkeit von »Seelentum und Naturbild«, von dem
»vom Seelentum getragenen Kosmos« als letzter gegebener Realität,
»in die wir mit unserer Forschung immer tiefer eindringen müssen«)
hat Spengler nicht nur ausgesprochen, sondern, was viel mehr ist, nicht mit seiner
Theorie, sondern mit seiner schöpferischen Leistung selbst bestätigt,
deren Wesen und innerste Kraft, wie nachzuweisen ist, eben in jener von HEIM formulierten
Wechselwirkung und Wechselbedingtheit wurzelt und aus ihren tiefgeheimen Quellen
sich ernährt. Mit anderen Worten, Spenglers Werk in seinem besten Kern erwächst,
jenseits der Widersprüche seiner Theorien, letzten Grundes aus einer Metaphysik,
die HEIM niemals bezweifelt, doch in ihrer Tragweite noch unterschätzt hat.
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 3. Kapitel [Theologische Kritiken]), 1922,
S. 140-141 | Zum viertenmal stehen
wir so vor jener Frage, vor der jedesmal der Umkreis unserer Wanderung auf höherem
Niveau wieder geendigt hat, und der wir auf der wissenschaftlichen, der philosophischen,
der theologischen Stufe unseres Läuterungsberges nacheinander immer schärfer
und kritischer nachgegangen sind. Der letzte Rest der Geduld unserer Leser wird
erschöpft sein, wenn sich nicht endlich die Antwort findet.
Doch sie ist auch schon bereit; sie folgt aus der Beantwortung der Einwände
HEIMs gegen Spengler selbst. Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 141 | Es wird hier darauf ankommen,
die Absolutheit, die HEIM unter der relativistischen Geschichtseinstellung aufgespürt
hat, richtig und in ihrer ganze Tiefe zu bestimmen. Was HEIM auf dem Umweg über
die Sinnwidrigkeit des extremen Geschichtsrelativismus aus der religiösen
Sphäre neu zurückgewinnt: den schicksalshaft-göttlichen Halt als
Urerlebnis der tatsächlichen Irrationalität, dies ruht gerade auf dem
Grunde der Spenglerschen Konzeption des Kulturablaufs (und wird hier von
Heim als »absoluter Maßstab« mitempfunden); eben dies ruht in
der zeitlichen Weltlebensauffassung selbst mitten inne als das tragende, beharrende
göttliche Zentrum, das hier seine Kraft nicht religiöserseits zu Leben
trägt, sondern geschlossen in der absoluten Sphäre des Abstrakten in
sich kreist als Sinn und Inhalt der Bewegung. Eine Metaphysik der Zeit scheint
damit aufzudämmern, die aus der Flucht des Werdens und Vergehens selbst den
Klang der Ewigkeit heraushört und so die Notwendigkeit des Werdens und Vergehens
gleichmäßig begreift, ja eben im Gesetz der Reife und ihres
Vorüberwandelns den geheimsten Sinn des Seins rechtfertigend erlebt. (Als
»Ruhe auf der Flucht« quies in fuga, um ein schönes
musikalisches Wortspiel A. SCHAEFFERs aufzugreifen freilich
in dem tieferen Sinn, der die erlösende und heiligende Ruhe auf der Flucht
schon im Gesetz des Flüchtens und Vorüberreifens selbst unmittelbar
erfüllt erlebt und diese Flucht des Seins darum bejahen und ertragen kann,
versöhnt auch mit der äußerlich unmöglichen, doch innerlich
zurückgewonnenen Erfüllbarkeit der tiefsten, wehmütigsten Bitte
aller Kreatur: »Verweile doch, du bist so schön. ...«).
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 141 | Gerade die zwei Seiten,
die HEIM unterscheidet und tiefsinnig auseinanderhält, um ihre Spannung durch
die Überordnung seines religiösen »Innenbildes« auszugleichen,
gerade diese beiden Seiten wären hier (wie in jeder wirklich bedeutenden
Metaphysik) in ihrer Wechselbedingtheit unlöslich eng verknüpft und
so das Absolute eben in die Spannung ihres Mit- und Ineinanderseins hereingenommen,
um hier den Halt aufzurichten, den die religiöse Formung aus dem Reich
des Göttlichen empfängt. Das ist der letzte Untergrund der »absoluten
Maßstäbe« der Spenglerschen Kulturbetrachtung, die HEIM der Spenglerschen
Relativität als Widerspruch entgegenhält, und die vielmehr die Widersprüche
aufzulösen helfen können, die jede nicht tief genug reichende Auffasssung
in diesem metaphysischen Geschichtsbild wahrzunehmen glaubt. Als schicksalsgläubig
sucht HEIM Spengler zu begreifen, doch selbst er sieht von dem religiösen
Standpunkt aus die metaphysische Gestalt dieses Schicksalsgedankens nicht in ihrer
reinen Eigenform. So tritt er aus dem Gleichgewicht und Mittelpunkt der Wechselbedingtheit
(der eigentlichen metaphysischen Heimat) wieder heraus: Das Schicksalszentrum
liegt für jede Religion in Gott, indes diese Metaphysik das Zentrum im Schicksalsgeschehen
faßt und hier die Relativität selbst in das Absolute (in den Sinn dieses
Geschehens) aufhebt. Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 141-142 | Eigentümlich
wiederholt sich hier jene Verschiedenheit der Aufstiegswege, die wir früher
schon im Grenzbezirk des Wissenschaftlichen und Metaphysischen zu beobachten hatten
und die nun gesteigert zu dem Gegensatz der religiösen und der metaphysischen
Einstellung abermals hervortritt. Die Schicksalskategorie, die dauernd als immanente
Erfüllungsform nur auf dem zentral ansteigenden Weg der Metaphysik zu behaupten
ist, wird so bei HEIM zu einer freilich unendlich vergeistigten Analogie jenes
»biologischen« Mißverständnisses. Er sieht im Metaphysischen
notwendig die Einseitigkeit des »Objektiven«, dem er darum eine Kierkegaardsche
»Subjektivität« ergänzend überordnen will, indes gerade
doch der eigentlichste Wert des metaphysischen Erlebens (und sein Weg zum
Absoluten) die vollkommene, gleichmäßige Verflochtenheit von Objektivität
und Subjektivität voraussetzt im Weltbild des notwendig
vorüberwandelnden Daseins, des »vom Seelentum getragenen Kosmos«,
wie im Schicksalserlebnis seines in der Flucht sich ewig erfüllenden, ewig
beharrenden Sinnes. Und ganz dieselbe Ursache führt auch zu dem echt religiösen
Vorwurf HEIMs gegen Spenglers geschichtsphilosophische »Neutralität
Gott gegenüber«, die praktisch der Verneinung Gottes gleichkomme. Religiös
gesehen ist diese Stellung in der Tat unhaltbar; metaphysisch unterbaut bleibt
sie widerspruchslos und unangreifbar: Die Umsetzung der allgemeinen höchsten
Kulturformen ineinander macht den Wandel, den Aufstieg und das Verblühen
jeder einzelnen (einschließlich auch der Religion) verständlich, ohne
daß der Inhalt dieser Formen irgend preisgegeben werden müßte
.... Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 142-143 | Der Inhaltsfrage ...
erwächst ... aus dem Zentrum des Formalen selbst die Antwort
als dessen eigener Ertrag. Auch die Kultur, als heiligstes Geschehen: als Lebensprozeß
verstanden, schließt in ihrer Form den höchsten Inhalt ein; nicht in
dem biologisch flachen Sinn der sich vollendenden Persönlichkeit, die noch
im Greis und in der Heiligkeit des Greisentums, dem Tode nahe, die Vollendung
ihrer Möglichkeiten als Erfüllung segnen und bejahen kann.
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 146 | Diesen Daseinsaspekt nicht
nur intuitiv, anschaulich, als Empfindung des Geschichtlichen auf die Kulturen
übertragen, sondern vielmehr seinen eigenen Gehalt in seiner eigenen Form
verfestigt zu haben nicht in ausgebauter Systematik, doch in
unbeirrbarem Instinkt , darin scheint uns die innere Überlegenheit
Spenglers wenigstens über die bisherige Kritik begründet. Weil der Inhalt
seiner Lehre, der Sinn des geschichtlichen Geschehens, sich in der Form dieses
(reifenden) Geschehens selbst erfüllt, ist er in der Spenglerschen Fassung
vor den oberflächlichen Angriffen jeder Optimismusforderung geschützt.
Jener dämonisch durchdringende Blick auf das Vergehen der Kulturen ist, jenseits
von Optimismus oder Pessimismus, als Verkünder des Geheimnisses der Zeit
von unbezwinglicher, elementarer Kraft.
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 146 | Der Vorwurf der »Selbstaufhebung«,
der Spenglers Buch gemacht wird, ist die entsprechende Steigerung und Fortsetzung
jenes bekannten Vorwurfs gegen HEGEL, daß nach seiner Lehre kein Fortgang
des philosophischen Prozesses, ja der Weltgeschichte selbst mehr möglich
sei. Daß die Absurdität dieser wörtlichen Folgerung doch auch
dem Philosophen selbst wohl gegenwärtig gewesen sein dürfte und eben
darum, als Mißverständnis der Kritik, noch eine andere Erklärung
fordere, müßte doch selbstverständlich sein. Der Widerspruch erklärt
sich auch bei HEGEL aus der Selbsteinordnung in die Zeit, aus seinem Selbstbewußtsein,
auf dem Scheitelbogen eines einheitlich gereiften Entwicklungszusamenhanges zu
stehen, dessen Ziel »der in der Fülle seiner historischen Erscheinung
sich selber wissende Mensch« ist (*),
während in Spenglers Problem das prinzipielle Selbstbewußtsein einer
späteren Zeit des »absteigenden Bogens« intuitiv zum entsprechenden
Durchbruch kommt. (* Alfred BAEUMLER .... »Hegels
Geschichte der Philosophie« .... Vgl. S. 33 sowie den Schluß der ausgezeichneten
Einleitung BAEUMLERs: »Es ist ein ungeheures Verdienst Hegels, dem Gedanken
vom Ende der Kunst ohne Scheu ins Auge gesehen und ihn ohne Pessimismus ausgesprochen
zu haben. Die Kunst löst sich nicht in Nichts auf. Der lange Weg ins Innere,
den die aesthetische Entwicklung seit den Griechen zurückgelegt hat, endet
bei einem tieferen Begriff des Menschen. Die klassische Skulptur stellt das Bild
des Menschen auf. Die gotische Kunst entwickelte in unruhigen, dem unendlichen
Gehalt nie völlig angemessenen Produkten die Seele, die endlich frei
für sich, als der zum unendlichen historischen Selbstbewußtsein erwachte
Mensch hervortritt.«) Grenzen und Art dieses Entwicklungsbogens zu
bestimmen, ist die Aufgabe der gegenwärtigen und zukünftigen Wissenschaft.
Wir sind hier weit entfernt, ihn mit dem Ablauf der »abendländischen
Kultur« oder ähnlichen, verfrühten Synthesen gleichzusetzen, sondern
weisen nur auf den Zusammenhang und die innere Folgerichtigkeit eines sich hier
durchsetzenden Prozesses hin, dessen Fortschreiten gleichsam an der Skala eines
sich steigernden Relativitätsbewußtseins abgelesen werden kann.
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 147-148 | Der wertvolle Beitrag,
der sich aus dem Unterschied der Hegelschen und Spenglerschen Einstellung hier
ergibt gewissermaßen ihre »Phasendifferenz«
ist von der Kritik noch nicht eigentlich beleuchtet worden,
so bedeutsam er doch für die Beurteilung Spenglers ist. Kurt LEESE (*),
dessen Werk wir schon erwähnten, sieht einmal (a. a. O., S. 105) mit tiefem
Recht in dem ethisch-religiösen Moment, »das Hegel mit dem logisch-dialektischen
und biologisch-organischen zu einer untrennbaren Einheit verknüpft«
habe, zugleich den Wurzelboden Hegelschen Denkens ohne doch
hinzuzufügen, daß das philosophische (aus dieser Dreiheit erwachsene)
System dauernd der Religion die Metaphysik herrschend überbaue. (*
»Die Geschichtsphilosophie Hegels«, Berlin 1922. Eine Kritik der Leeseschen
darstellung [S. 92] einer »eigentümlichen Verschlungenheit einer biologisch-organischen
und einer logisch-dialektischen Gedankenreihe« im Geistbegriff HEGELs [deren
erstern Spengler ausschließlich fortgefürht habe], wie überhaupt
der Leeseschen Deutung der Dialektik HEGELs [S. 89] ist in unseren früheren
Ausführungen anläßlich HEIMs mitenthalten. Vgl. hierzu BAEUNLERs
Formulierung [a. a. O., S. 33]: »Ziel der Menschheit ist immer nur der konkrete
Mensch, der all diese Momente [das religiöse, ästhetische, wissenschaftliche]
in sich vereinigt«; ferner die schon erwähnte auch hier wichtige Studie
H. GLOCKNERs, sowie unsere Aufsätze: »Hegels Gegenwartsbedeutung«
[Münch. N. Nachr. 1922, Nr. 9] und »Hegels Kulturgedanke«, Juliheft
1917 des »Unsichtbaren Tempels«.) Bei Spengler ist
soweit man die prinzipielle Einstellung mit dem systematischen Ausbau überhaupt
vergleichen darf von dieser Herrscherrolle der Philosophie
sowenig wie von der Religion die Rede. Die Entthronung dieser letzteren (die HEIM
als Irreligiosität empfunden hat und der wir den Ausgleich des Metaphysischen
auch bei Spengler entgegenzuhalten versuchten) wiederholt sich hier in der Methodik
seines Werks also bewußt auch für den philosophischen Bereich und droht
so noch einmal von hier aus auch den letzen Halt ins Relativistische zu verflüchtigen.
HEGEL behauptet sich, trotz jenes Paradoxes der Geschichtsphilosophie, unangreifbar
im Philosophischen. Doch wo befinden wir uns hier, wenn bei der paradoxen Selbstaufhebung
der relativistisch-skeptischen Philosophie auch der geheime Halt, den uns die
Selbsteinordnung in die Zeit noch darzubieten schien, auch philosophisch nicht
mehr faßbar begründbar wird? Auch die letzte und
abschließende Antwort hierauf ist wenigstens in Spuren angedeutet. Spengler
unterscheidet: »Das Geheimnis der Welt erscheint nacheinander als Erkenntnisproblem,
Wertproblem, Formproblem« und fühlt das letztere selbst als sein eigenes,
entsprechend der vielsagenden Betonung der »Morphologie«. Die Dreiheit
dieser Problemgrundformen wirkt aber nicht nur in der Aufeinanderfolge, sondern
ebenso gleichzeitig in der gegenseitigen Verflechtung, in der nochmals die berührte
Strukturtrilogie zum Ausdruck kommt. Dadurch, daß sich Spenglers Instinkt
bedeutsam für das mittlere Gebiet, das Formproblem, entschieden hat, hat
er sich auch vor dem methodologischen Forum wenigstens dem Prinzip nach auf ein
letztes, in sich ruhendes Bezugssystem zurückgezogen, das in der Auflösung
und Relativierung der einzelnen Kulturformen selbst beharrt: Die Kultursystematik
mit ihrem Zusammenhang der Formen unter sich vermag trotz der Relativierung der
Kulturformen eine gesetzmäßig bindende Ordnung aufzurichten, deren
Erkenntniserträge, insofern sie begrifflich gefaßt sind, freilich »geschichtsphilosophisch«
im weitesten Sinn zu nennen wären, doch der eigentlichen Philosophie nicht
angehörten. In ihnen vollendete sich die hier früher schon angedeutete
»Struktur«form der Daseinserfassung, und ihre höchstmögliche
Erweiterung umschlösse dann das Menschliche in der Totalität seiner
formalen Bildungen. Eine derartige Prinzipien- und Erscheinungslehre der Kultur
würde das systematische, haltbare Fundament abgeben für die Spenglersche
Forderung einer »Morphologie des Werdens aller Menschlichkeit, die
auf ihrem Wege bis zu den letzten und höchsten Ideen vordringt; die Aufgabe,
das Weltgefühl nicht nur der eigenen, sondern das aller Seelen zu
durchdringen, in denen große Möglichkeiten überhaupt bisher erschienen
und deren Verkörperung im Bereiche des Wirklichen die einzelnen Kulturen
sind« einer »Physiognomik des Weltgeschehens«
als »letzter, faustischer Philosophie«.
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 148-150 | Wir sagen nicht, daß
Spengler dieses Fundament schon irgend gelegt habe. Wohl aber, daß seine
metaphysisch konzipierte Problemstellung ihm unbewußt entgegenkomme, wie
daß umgekehrt diese Problemstellung von der Systematik einer solchen Kulturlehre
entscheidendes Licht empfangen würde. Die Strukturlehre der kulturellen Mannigfaltigkeit
(der Abfolge, wie des Gegeneinanderwirkens der Momente (näheres
in unserer Studie »Die Kulturmöglichkeit der Technik«, Berlin
1920) steht in ihren systematischen Einsichten, die nach DILTHEYS tiefem
Wort Entwicklung »als Struktur in Tätigkeit gedacht« begreifen,
ihrerseits vor dem Geheimnis des Aufblühen- und Verwelkenmüssens, der
Notwendigkeit der Reife als Grundform der Daseinswirklichkeit jedes Strukturzusummenhangs,
und d. h. des Lebendigen, des Lebens selbst in seiner ganzen, unerschöpflich
reichen Tiefe und furchtbaren Majestät. Die Unerbittlichkeit des »Vorbeiwandelns«,
des Vorübergehens und Vergehens auch der reichsten Daseinsform, der Kulturordnung
höchsten Grades eben als Lebendiges und also als
Lebensprozeß begriffen ist hier nur ein anderer
Ausdruck für das innere Vollendungs- und Erfallungsgesetz des sich verwirklichenden,
strukturbedingten Formzusammenhangs. Hier würde die Kulturgeschichte in ihren
hinangetürmten und wieder versinkenden großen Bergzügen gleichsam
wie ein ungeheures Trümmerfeld erscheinen, von einzelnen Gipfeln aus nur
wie durch Blitze bis in ihre Abgründe hinein plötzlich erhellt. Denn
auch die Notwendigkeit des Werdens bricht sich an der Unvollkommenheit und Gegensätzlichkeit
der ihr gegebenen Bedingungen und läßt die übergreifenden, ihren
Zielen zudrängenden Kulturprozesse allzufrüh fragmentarisch erstarren
und zerfallen. »Nur wie aus Bruchstücken und Ahnungen ist jene höchste
wirkliche Geschichte der Menschheit erkennbar, die in den verrauschenden Epochen
der historisch faßbaren Welt nur als ein dumpfes, unvonendetes Ringen aufzuckt,
und gleichwohl das heiligste Geschehen und Gesetz des Daseins ist.«
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 150-151 | Von einer ganz anderen Seite
fällt hier Licht auf dunkle Deutungen und Fassungen der Spenglerschen Gedankenwelt,
auf ihre Tiefe wie auf ihre Überlegenheit als Lehre von den Kulturuntergängen,
deren fatalistische Schwermut hier von einem allgemeineren und prinzipiellen Standort
aus verständlich wird. Sie reift als eine notwendige, späte Frucht des
kulturenen Werdens und des alternden Kulturbewußtseins selbst
reif fällt die Frucht vom Baum, zu deren Bildung die Wachstumsgesetze und
organischen Prozesse allenthalben drängen: die herbstliche Einsicht in die
Kulturabstiegsmöglichkeiten, in die kühlen abendlichen Schatten, die
der ferndämmernden Nacht entgegenstreichen. Was die Kultursystematik
dem hinzuzufügen haben wird, ist einerseits das ergänzende Verständnis
der Auflösungsvorgänge eben infolge des Strukturgefüges, andrerseits
die vorsichtigere Kritik und Wahl unter den Formen in dem vielfach möglichen
Zusammenspiel der »sich entmischenden und mischenden« Kulturgestaltungen,
die nicht durch allzu einfache Hauptlinien endgültig zu ordnen sind. Es bleiben
hier die Aufstiegs- und Abstiegsbedingungen der einzelnen Komplexe, ihre wechselseitige
Korrelation und ihr Zusammenwirken ungeklärt. Auf eine wichtigste Erscheinung
strukturell begreifbarer Zersplitterung haben wir verschiedentlich hier hingewiesen
in den Andeutungen über die dreifache Möglichkeit, die sich im philosophischen
Verhalten, aber auch in der Philosophie und in der Religion selber bemerkbar machte.
(Vgl. die Anmerkungen über RICKERT, HEILER, SÖDERBLOM u. a..) Gerade
die Verselbständigung und »Selbstreinigung« der einzelnen Kulturfunktionen,
die sich in der Gegenwart bedeutsam anbahnt denn genau der
gleiche Vorgang wie in der Philosophie und Religion ist auch in der Kunst zu beobachten
(*) läßt aus dem wieder
angestrebten schöpferischen funktionellen Eigenzentrum selbst die ursprüngliche,
gegensätzliche Differenzierung neu hervorgehen, die dann letzten Endes in
der großen prinzipiellen Dreiheit von Philosophie - Kunst - Religion nur
abermals die ungelöste Frage der Kulturtotalität zum Ausdruck
bringt. (* Auf das ganze für jede Kulturkritik zentrale
Gebiet der Kunstproblematik von dem aus die gleichen Fragen
wie von der Philosophie und Religion aus aufzurollen wären können
wir hier nicht mehr eingehen, da es von der Spenglerkritik selbst noch kaum berührt
ist. Nur CURTIUS zeigt bedeutsame Ansätze [vgl. unseren II. Teil, S. 51],
die in der Gedankenrichtung FIEDLERs, WÖLFFLINs, STRICHs, aber auch H. NOHLs
und WORRINGERs [mit ihrer ganz verschiedenen Typenlehre] weiter zu verfolgen wären,
um dann mit der Spenglerschen Einstellung kritisch verglichen zu werden. Zum Prinzipiellen
vgl. auch das Vorwort u. S. 148 unserer Studie über Michelangelo, Leipzig
1913.) Die tiefe strukturelle Kulturproblematik, die sich in diesem Verhalten
ausspricht, kämpft mit dem weitdeutenden Gedanken der Einzelautonomie jedes
Kultursystems, dessen »schöpferische geistige Energien in sich das
Bewußtsein ihres Grundgesetzes finden«, um eben hierauf den »neuen
geistigen Zusammenhang« synthetischer Kultur erst »wahrhaft zu begründen«.
(Vgl. Ernst CASSIRER: »Freiheit und Form, Studien
zur deutschen Geistesgeschichte«, Berlin 1916, S, 30. Fortgesetzt in der
Aufsatzsammlung »Idee und Gestalt«, Berlin 1921; zusammen mit dem
Vortrag »Goethe und Platon« v. Nov. 1920 (jetzt in der Zeitschr. »Sokrates«
XLVIII, 1) sechs kostbare Aufsätze, die den großen, systematisch-philosophischen
Geschichtsdarsteller der Marburger Schule auch vor allgemeineren kulturkritischen
Fragen zeigen und uns einen übergreifenden und wertvollsten Ersatz der von
COHEN nicht mehr geschriebenen systematischen »Kulturpsychologie«
erhoffen lassen.) Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 151-152 | Dies erst ist die letzte, abstrakteste
Spiegelung und Fassung der Kulturantinomie der Gegenwart ihrer
sich kreuzenden Formreihen und Formmöglichkeiten des »Aufgangs«
und »Untergangs«. Erst ihrer systematischen Beherrschung wäre
die endgültige Beantwortung der Frage Spenglers möglich, die über
das einfltche Ja und Nein hinausgeht , und von diesem systematischen
Standort aus wäre es erst möglich, auch die mannigfaltigen Gedankenfäden,
die hier ausgebreitet wurden, mit dem einheitlichen »Einschlag« einer
zusammenfassenden Antwort zu durchschießen. Dieses haltbare Gewebe einer
Gesamtbeurteilung ist hier, nur von den bisherigen Kritiken aus und von der Kraft
eines einzelnen, noch nicht anzuknüpfen. Wir begnügen uns statt dessen
hier zum Schluß, nur noch einige Querfäden zu ziehen, die (um im Vergleich
zu bleiben) ein vorläufiges Netz spannen, um den relativistischen »Proteus
der Geschichtsphilosophie« nicht zwar zu fangen wozu
stärkere Künste notwendig werden , aber doch in den
gewonnenen Zusammenhang hier für den Augenblick anschaulich einzuordnen.
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 152 |
Zu diesem Zweck ziehen wir drei schematische Verbindungslinien, deren Konvergenz
im Schnittpunkt S den Spenglerschen Problemstandort bezeichne. Wir besetzen sie
im ungefähren Abstand von je fünfzig Jahren
mit herausgegriffenen Namen, deren Träger ungefähr um diese Zeit die
Höhe ihres Lebens oder ihrer ersten Produktion durchschritten haben. (Ein
Jahrzehnt Spielraum muß zugestanden werden, wie überhaupt das Schema,
fern aller Zahlenspielerei, natürlich nur eine ganz ungefähre zeitliche
Orientierung geben soll. Rousseau wäre ein wenig früher anzusetzen;
die Romantikergeneration, einschließlich des frühgestorbenen NOVALlS,
wäre um 1820 etwa in dem Scheitelbogen ihres Lebens; gegen 1870 DlLTHEYS
erstes großes Werk, das »Leben Schleiermachers«, NlETZSCHES
Erstlingswerk, BURCKHARDTs Vorlesungen: »Weltgeschichtliche Betrachtungen«.)
Dabei überlassen wir die »Vertikalbeziehung« einer jeden Gruppe
der Betrachtung des hierzu geneigten Lesers die Beziehungen
dieses sehr lehrreichen Tableaus würden zu den verschiedensten Exkursen Anlaß
bieten und verfolgen unserseits hier nur die ganz verschiedenartigen
Diagonalen KANT-HEGEL-DlLTHEY, HERDER-SCHLEGEL-BURCKHARDT, ROUSSEAU-SCHOPENHAUER-NlETZSCHE
bis zu ihrem Treffpunkt SPENGLER, um wenigstens in kurzen Thesen die Beurteilung
Spenglers aus diesen Sehrichtungen anzudeuten, die zusammenfassende systematische
Resultate vorwegnehmen sollen. Ersichtlich ist, daß Spengler
der obersten Linie, die, von LEIBNIZ kommend, Höhepunkte des geschichtlichen
Verlaufs der systematisch-philosophischen Arbeit in ihren Wandlungen verbindet,
selber nicht unmittelbar mehr angehört. Er selbst zwar glaubt in seiner Pessimismusschrift
(*) LElBNIZ und HEGEL als Vorväter seiner Denkungsart
beanspruchen zu können. (Inwiefern mit Recht, wird sich auch noch von unserem
Gesichtspunkt aus ergeben.) (*
Preußische Jahrbücher, April 1921, S. 74: »Es geht ein mächtiger
Strom deutschen Denkens von Leibniz über Goethe und Hegel der Zukunft zu.
Wie alles Deutsche hatte er das Schicksal, gleichsam unterirdisch und unbeachtet
durch die Jahrhunderte fließen zu müssen, während fremde Denkweisen
an der Oberfläche des Denkens selbst bei diesen Männern die Herrschaft
führten. .... Der gewaltige Hegel war der letzte, dessen Denken, von politischen
Wirklichkeiten ausgehend, noch nicht ganz durch Abstraktionen erstickt wurde.
Dann kam Nietzsche, der dem Darwinismus verfiel und trotzdem weit über das
englisch-darwinistische Zeitalter hinausgreifend, uns allen den Blick verlieh,
mit dem wir heute dieser lebendigen Richtung des Denkens den Sieg verschaffen
können. So sehe ich heute die geheimen Voraussetzungen,
die meiner Denkweise unbewußt zugrunde lagen. Hier findet sich nirgends
ein Gebäude von Allgemeinheiten. Das Einmalig-Wirkliche mit seiner ganzen
Psychologie, das bei Kant und Schopenhauer keine Rolle spielt, beherrscht die
historischen Sammlungen von Leibniz ebenso vollständig, wie die Naturbetrachtung
Goethes und die Vorlesungen Hegels über Weltgeschichte. Deshalb steht hier
das Tatsächliche in einem ganz anderen Verhältnis zum Gedanken, wie
bei allen Systematikern. Bei diesen bildet es ein totes Material, aus dem Gesetze
gezogen werden. Bei mir sind es Beispiele, die einen erlebten Gedanken beleuchten,
der nur in dieser Form eigentlich mitteilbar ist.«) Zunächst
ist er von jeder Systematik weit entfernt, und auch zu DILTHEY, dessen skeptischen
Relativismus wir hier mit Bedacht gerade zwischen Hegel und Spengler einsetzen,
besteht gar keine Beziehung, Die zentrale Veranlagung Spenglers sehen wir vielmehr
ganz auf der Mittellinie unseres Schemas, die von HERDER über die Romantik
(**) weiterführt: hier ist die Heimat seiner
eigenen kulturanschauenden, nachfühlenden Genialität und unvergleichbar
weit umspannenden Auffassungs- und Spürkraft für alle menschlichen Erscheinungsformen.
(** Friedrich SCHLEGELS kulturkritische Gedanken (»cyklische
Philosophie«, wie er sie gern genannt hat) sind so gut wie unbekannt, trotz
der schönen zweibändigen Neuausgabe seiner prosaischen Jugendschriften
von J. MINOR (Wien 1906). Das Bedeutendste was über ihn und überhaupt
wohl über die Romantik neuerdings gesagt ist, in dem wundervollen Nachlaßband
des frühverstorbenen Erwin KIRCHER: »Philosophie der Romantik«
(Jena 1906). Ein ähnlich früh dahingeraffter feinsinnigster Kenner der
romantischen Gedankenbewegung ist Siegbert ELKUSS (»Zur Beurteilung d. Romantik
u. z. Kritik ihrer Forschung«, Bd. 39 der »Historischen Bibliothek«,
Oldenbourg Verl. Münch. 1918). Vgl. auch Fritz STRICH, »Die Mythologie
i. d. deutschen Literaturgesch.«, Halle 1910, und »Deutsche Klassik
u- Romantik«, München 1922, sowie die beiden früher schon genannten
Studien von Carl DYRSSEN. Auf der Linie, die von CREUZER über BACHOFEN bis
zur Gegenwart führt und sich, nach einer Abspaltung in den Gedankenstrom
NIETZSCHES, merkwürdigerweise bis in die an sich ganz andersartigen Kreise
Stefan GEORGES fortsetzt, steht die eigentümliche, einsame Gestalt Ludwig
KLAGES (hierhergehörig seine Aufsätze »Menschheit u. Erde«,
München 1919, und »Der kosmogonische Eros«, München 1922).
Ueber dessen Berührung mit Spenglerschen Gedanken vgl S. 132 Anm.)
Diese Linie steigt in Spengler zu dem Maximum an, das wohl überhaupt jemals
an Kulturanschauungsgewalt und -fülle von einem einzelnen erreicht worden
ist. Die Tatsache dieses Phänomens allein ganz abgesehen
noch von der Beurteilung seiner ordnenden Kräfte hätte
unseres Erachtens die Kritik, bei aller Ablehnung, zu einem Niveau des Respekts
verpflichten müssen, unter das sie bedauerlich oft hinabgesunken ist.
Doch Spenglers Stellung wird auch noch von einer anderen Sehrichtung aus deutlich,
die die eingangs schon erwähnten »Spürgeister der Kulturwendezeit«
verbindet und deren spezifisches, sich steigerndes Bewußtsein von der Problematik
ihrer Zeit und von dem inneren Stand des Kulturablaufs, kenntlich macht, ROUSSEAU
als erster Sturmvogel verkündet den inneren Bruch der (in »Zivilisationserstarrung«
übergehenden) Kultur; in SCHOPENHAUER (***)
kommt die Ruhelosigkeit des heimatlos gewordenen, entwerteten Kulturgefühls
in der geschichtlichen Zweck- und Sinnwidrigkeit zu metaphysischem, grandiosem
Ausdruck. (*** Es bedarf für jeden Einsichtigen nicht
erst der Erwähnung, daß hiermit für unsere Zwecke nur eine Seite
an SCHOPENHAUER herausgegriffen ist und daß wir ihn im übrigen hier
nicht beurteilen. Gleichwohl scheint uns mit eben dieser Seite letzten Grundes
auch seine zentrale Bedeutung getroffen, die nicht in der Linie der großen
philosophischen Tradition liegt. Die Einschätzung SCHOPENHAUERs [den O. LIEBKANN
»einen Schriftsteller ersten und Philosophen zweiten Ranges« genannt
hat] wird stets ein feiner Gradmesser sein, wie weit der Urteilende die eigentliche,
klassische Philosophie wirklich beherrscht. [Treffende Bemerkungen hierzu auch
in H. KEYSERLINGs geistvollem Büchlein: »Schopenhauer als Verbilder«,
Leipzig 1910.] Aehnlich ist hier Jacob BURCKHARDT, der natürlich in gewaltigen
Bezirken seiner Arbeit der strengen Wissenschaft angehört, nur in dem Kernpunkt
seines Wesens hierher zu beziehen. Dieser scheint uns allerdings durchaus im künstlerisch-anschauendem
Bereich zu liegen, so mächtig die Reflexion auch ausgebildet war. [»Was
einst Jubel und Jammer war, muß nun Erkenntnis werden.«] Ungemein
lehrreich wäre ein prinzipiell umfassender Vergleich zwischen BURCKHABDT
und DILTHEY, den zwei tiefsten und geheimnisreichsten Geistern dieses ganzen Zeitalters.
Die an sich wertvolle Studie Karl JOELS (»J. Burckhardt als Geschichtsphilosoph«,
Festschr., Basel 1910) bleibt noch im Material selbst stecken.
GOETHE ist in unser Schema absichtlich nicht eingesetzt. Zeitlich und sachlich
müßte er zwischen HERDER und SCHLEGEL auf der Mittellinie stehen; doch
kann ihn die Geschichtsphilosophie eigentlich kaum in Anspruch nehmen; die Gesamtheit
seines Wesens übergreift und sprengt naturgemäß das ganze Schema.)
NIETZSCHE gibt dem sich aufwärts entwickelnden Leben zwar leidenschaftlich
seinen Sinn zurück, doch seine Ewigkeitsbejahung (im Mysterium der Wiederkunft)
ist gleichsam nur ein krampfhafter Halt über den Abgrund hinweg, in den dieser
durchaus ethisch gerichtete Denker mit seiner aburteilenden Kulturkritik hineinblickt.
Spengler ist in einem tiefen Sinn der Fortsetzer und Vollender
auch dieser Linie (jener »Seismographen« des Kulturprozesses). Hier
verstehen wir erst jene (im I. Teil berührte) übermächtige Gewalt,
die seiner Kulturschau gegenüber der NIETZSCHEs innewohnt: Sie stammt nicht
nur aus der um abermals einhalbjahrhundert älteren, kühleren Reife des
Kulturbewußtseins, dessen skeptische, eisige Klarheit bis zur Selbsteinordnung
in die abermals gealterte, absteigende Zeitphase vorgeschritten ist, sondern sie
strömt aus dem noch tieferen, unmittelbareren Ewigkeitsblick, den Spengler
auf das Dasein richtet. Wir haben hier (durch unseren Hinweis auf seine Metaphysik
der Reife) diese wichtige Übergangsstelle aufgezeigt, wo der »Prophet
des Unterganges« sich in den Anschauenden der Ewigkeitsform der Kultur verwandelt;
wo die Blickrichtung auf die Zerfallsnotwendigkeit und -bereitschaft der Gegenwartskultur
sich weitet zur Umspannung und Erfassung des Kulturwerdens, -entstehens und -vergehens
als der höchsten Allgemeinform des lebenden Daseins überhaupt; wo also
die beiden unterschiedenen Linien die der zeitlichen Kulturkritik,
von ROUSSEAU her, und die der allgemeinen Kulturschau und -auffassung, von HERDER
her , in einem Geist zusammentreffen. Wir haben diesen Vorgang
bisher nur, vor allem anläßlich der letzten theologischen Kritiken,
mehr abstrakt verfolgt und ihn nur an dem Paradox der Relativität und ihrer
Überwindung mehrfach anschaulich gemacht. Hier sehen wir nun in eine ganz
andere, ergänzende Bedeutung dieses Vorgangs, die zugleich den prinzipiellen
Fortschritt auf der Linie SCHOPENHAUER-NIETZSCHE noch einmal beleuchtet. SIMMEL
hat in seiner hellsichtigen Art gerade den Gedanken und die »Bedingung der
Ewigkeit« als Mittelglied wie auch als Unterscheidungsmerkmal der zeitphilosophischen
Einstellung SCHOPENHAUERs und NIETZSCHEs bezeichnet. (»Sie muß mindestens
als Ideal und als symbolischer Ausdruck der Vernunftform des Daseins zur Verfügung
stehen, wie ein Rahmen, in den sich allein der Erlösungs- und Zweckprozeß
der Welt fassen kann. Sie ist die Brücke, über die hin Nietzsche
von seinem pessimistischen Ausgangspunkt zu einem Optimismus gelangt.« ....
Der Ewigkeitsgedanke ist die Wasserscheide, an der die aus dem gleichen Urquell
entsprungenen Ströme des Schopenhauerschen und Nietzscheschen Denkens die
Entgegengesetztheit ihres Laufes offenbaren.«) (Georg
SIMMEL, »Schopenhauer und Nietzsche«. Leipzig 1907, S. 14: »Denn
sie gibt die ins Absolute gesteigerte Möglichkeit, das Nein gegenüber
jedem Gegebenen, für jetzt Wirklichen, mit dem Ja gegenüber dem Dasein
überhaupt zu verbinden.« Ebda, S. 15 die tiefgreifenden Worte über
SCHOPENHAUER, die unseres Erachtens auch genau für den Unterschied [des als
Metaphysiker verstandenen] SPENGLERs gegenüber NIETZSCHE gelten: »...
mit Nietzsche verglichen ist er unzweifelhaft der größere Philosoph.
Er besitzt die geheimnisvolle Beziehung zum Absoluten der Dinge, die der große
Philosoph nur noch mit dem großen Künstler teilt, so daß er,
in die Tiefen der eigenen Seele hineinhörend, den tiefsten Grund des Seins
in sich zum Klingen bringt. Auch dieser Ton mag subjektiv gefärbt sein und
nur in den von vornherein ebenso gestimmten Seelen weitertönen; das Entscheidende
ist das Tiefenmaß des Hinunterreichens überhaupt, die Leidenschaft
für das Ganze der Welt, während der nicht metaphysische Mensch an ihren
Teilen hängen bleibt. Eben dieses Sichstrecken des subjektiven Lebens bis
zum Boden des Daseins überhaupt geht Nietzsche ab. Ihn bewegt nicht der metaphysische
Trieb, sondern der moralistische, er sieht nicht nach dem Wesen des Seins hin,
sondern nach dem Sein der menschlichen Seele und ihrem Sollen. .... Aber mit allem
Adel seines Wollens und aller funkelnden Beweglichkeit seines Geistes fehlt ihm
der große Stil Schopenhauers, der aus seinem Gerichtetsein auf den absoluten
Grund der Dinge nicht nur des Menschen und seines Wertes
hervorgeht und der gerade den Menschen der äußersten psychologischen
Verfeinerung versagt zu sein scheint.«) In der Einstellung Spenglers
nun sind diese beiden Momente in einer förmlich Hegelschen Synthese »aufgehoben«,
insofern sein pessimistisch klarer Blick auf das Kulturvergehen eben dort, eben
in ihm keine Sinnlosigkeit, sondern die heilige, daseinsbejahende Ewigkeitsform
erschaut und (wenigstens der Möglichkeit nach) diese zu der vertiefungs-
und wandlungsfähigsten Kulturerfassung ausgestaltet hat, die je menschliche
Wirklichkeiten überspannt hat. Aber diese innere Verbindung
jener beiden Linien, die wir hier in Spenglers Stellung nachzuweisen suchten,
ergibt noch ein anderes, merkwürdiges Schlußresultat, in dem wir nun
die ausgespannten Fäden noch ein letztes Mal zusammenziehen. (Dem nachdenklichen
Leser wird es ohnedies vielleicht schon aufgefallen sein, daß die drei unterschiedenen
Linien zugleich der Dreiteilung unserer Arbeit selbst entsprechen: der »geschichtsphilosophisch«
zeitkritischen Beurteilung, der »kulturphilosophisch« anschaulichen
Gesamtauffassung und der »kulturmetaphysisch« systematischen Synthese
höchster Art. Wir wiederholen so im Schema konzentriert den prinzipiellen
Aufbau unserer Studie, behufs rascher Orientierung und einheitlicher Zusammenordnung
der Ergebnisse.) Dadurch daß sich in Spengler die beiden ersten Richtungslinien
vereinigen, wird er nämlich auch zu der dritten Linie unbewußt in eine
tiefere, organischere Beziehung gesetzt, als seine eigene methodische Veranlagung
vermuten ließe. Um zu sehen, daß die letztere an sich von der Wissenschaft
wegweist, dazu bedarf es nicht erst seiner Selbstzeugnisse. Der Traditionszusammenhang
der systematisch-philosophischen Arbeit reicht in seine bewußten, reflexiv
ordnenden Aufstellungen nicht hinein. Und gleichwohl hat doch, wie sich zeigte,
eben die Verbindung des geschichts- und kulturphilosophischen Moments in Spengler
ein echt metaphysisches Verhalten aufgewiesen, das aus der zentralen Tiefe seines
ganzen Wesens steigt. Diese Tatsache ließ sich aus der Übersicht über
die bisherige Kritik schon feststellen. Was übrig bleibt, ist die Aufgabe,
das gewissermaßen unterirdische Verhältnis dieser Spenglerschen Metaphysik
zu jener dritten Linie, der Verlaufsrichtung des großen philosophischen
Prozesses selber zu bestimmen und sie auch aus diesem weitesten Zusammenhang heraus
endgültig zu begreifen. Diese Aufgabe einer zukünftigen Kritik, in welche
wir auch unsere eigene systematisch-kritische Studie einzureihen haben werden,
setzt naturgemäß die Kenntnis dieser nur erst angedeuteten Metaphysik
und das Verständnis ihrer Bedeutung voraus, was bisher durch ihren Charakter
gefühlsmäßiger Intuition hintangehalten worden ist. Es wird sich
aber zeigen, daß sie einer systematischen und begrifflichen Analyse sehr
wohl zugänglich und einer solchen, wegen ihrer wertvollen Ergebnisse, auch
sehr wohl würdig ist. Wie wir hier, vom äußeren Umkreis beginnend,
in immer engeren Zirkeln zu dem eigentlichen Höhepunkt des metaphysischen
(Korrelations-)Problems hinangestiegen sind, so müßte diese Analyse
in kritischer Untersuchung eben dort einsetzen, um in dem allmählichen Abstieg
über die konsequenten, ihrerseits erklärten Fehler Spenglers wieder
bei seinen, dann erst verstandenen Voraussetzungen und Anwendungen zu endigen,
die damit in die gegenwärtige Entwicklung kritisch eingeordnet wären.
In unserem graphischen Schema ließe sich dieser zukünftige
Verlauf durch die über den Kreuzungspunkt hinaus verlängerten Richtlinien
abermals verbildlichen. Der Raum zwischen der »systematischen« und
der »kulturkritischen« Linie stellt den Ort der sich durchdringenden
gesamtkritischen Forderungen dar. Wie schon zu Ende unseres zweiten Teiles angedeutet,
zeigt unseres Erachtens dieses Zukunftsbild der systematisch-philosophischen Entwicklung
als unzweifelhafte Tatsache die prinzipielle »Wiederholung« des Problemfortgangs
der deutschen klassischen Philosophie. (****) Nicht
in der kindischen Mißdeutung als einer bloßen Reproduktion vergangener
Geistesbewegungen, die an sich und historisch uns belanglos bleiben könnten,
sondern aufgefaßt als die allmähliche Bewußtwerdung und schöpferische
Aneignung des größten metaphysisch-philosophischen Kosmos unserer (vielleicht
aller bisherigen) Kultur, der sich, aufruhend auf der Riesenarbeit des LEIBNIZschen
Geistes, in der Geniusfolge von KANT-FICHTE-SCHELLING-HEGEL als einen einheitlichen
Prozeß der höchsten, umfassendsten geistigen Totalität offenbart
hat. (**** Diese Auffassung ist keine Neuentdeckung. Ihre
erste Andeutung liegt schon in der bekannten Forderung R. HAYMs, Hegels Metaphyjik
»ins Transzendentale umzuschreiben«. [Vorlesungen über »Hegel
und seine Zeit«, Berlin 1857, S. 13 u. 468: »Es ist das Zurücksteigen
in die Tiefen des menschlichen Geistes, die erneute Sammlung im Innern, das Sichfinden
des Menschen im Menschlichen, wodurch allezeit dem geistigen Leben neue Impulse
geworden sind. Die größte Tat der neueren Philosophie ist von dieser
Art gewesen. .... Schon recht, wenn man nicht müde wird, auf den ehrlichen
Weg Kants zurückzuweisen, und gleich Recht, wenn man fordert, daß nichts
von den tiefen Intentionen, nichts von dem konkreteren Charakter der Hegelschen
Philosophie verloren gehen dürfe. Die Wahrheit der absoluten
Idee ist der lebendige Mensch in der ganzen Konkretion seiner Innerlichkeit
und in der Totalität seiner historischen Erscheinung und Entwicklung. Deutlich
genug sind die ferneren Schicksale der Philosophie durch den bisherigen Gang dieser
Wissenschaft angedeutet. .... Von der Metaphysik des konkreten Begriffs wird eine
kritische Untersuchung zu dem Quellpunkt derselben, zu ihren innermenschlichen
Fundamenten zurückzusteigen haben. Der Mench in der Totalität seines
Wesens ist das Objekt dieser Kritik. Es zu ergreifen wird auf keinem anderen Wege
möglich sein, als auf dem von Kant und Fichte vorgezeichneten. .... An den
lebendigen Akten, in denen der Mensch in der Totalität seines Wesens energirt
und sich mit sich und der realen Welt zusammenschließt, wird die neue Kritik
die konkreten Gesetze des menschlichen Geistes zu entdecken haben.«
Noch immer liegt die Lösung dieser Aufgabe erst in der Zukunft. EWALD hat
seit etwa 1910 in seinen periodischen Uebersichten in den Kantstudien auf den
sich vorbereitenden Prozeß der Wiederholung hingewiesen. Ein wichtiger Markstein
weiter auf denWeg ist die bedeutsame Rektoratsrede JOELS {»Die philosophische
Krisis der Gegenwart«, Leipzig 1914} mit ihrer lehrreichen Kennzeichnung
der drei großen transzendentalphilosophischen Schulen der Gegenwart und
ihres Verhältnisses; mit ihrer Hervorhebung des »Organismus«
als der Einheit von Kants Kategorien; mit ihrer Forderung nach dem Durchbruch
vom Kritizismus zur Realität und zur synthetischen Metaphysik des Objektiven,
gemäß dem Hinausgehen von Kants Nachfolgern über Kant selbst.
Die gleiche Einsicht in die innerlich forttreibende Notwendigkeit dieses Prozesses,
aber nun zur systematischen Geschlossenheit gesteigert, zeigt ein Lustrum später
LIEBERTs merkwürdige Schrift »Wie ist kritische Philosophie überhaupt
moglich?« {Leipzig 1919}, deren Mängel wir schon erwähnt haben,
deren positiver, prinzipieller Kern aber von äußerster Fruchtbarkeit
ist. Das jüngste Heft endlich der Kantstudien {das eben beim Abschluß
unserer Drucklegung erscheint} erweist noch einmal unsere obigen Ausführungen
durch den bedeutenden Eingangsaufsatz Georg LASSONS »Kritischer und spekulativer
Idealismus« {Kantstudien XXVII, S. 1}: »Für den gegenwärtigen
Stand der philosophischen Arbeit in Deutschland ist nichts so bezeichnend wie
das immer stärker hervortretende Verlangen nach irgendeiner Art von metaphysischer
Systematik. .... In gewissem Sinne wiederholt sich damit die Bewegung, die vor
nunmehr fünf Vierteljahrhunderten stattgefunden hat, der Fortschritt vom
kritischen zum spekulativen Idealismus, der Weg von Kant zu Hegel. .... Damals
machte der denkende Geist in wenigen Jahren eine Entwicklung durch, die ein Programm
für Jahrhunderte in sich birgt. Wenn jetzt der Weg wieder sollte zurückgelegt
werden, so wäre das eine Wiederholung gleichsam in zweiter Potenz, mit dem
Bewußtsein, daß, und mit der Einsicht, warum und wieweit es eine Wiederholung
ist und sein muß.« Ungemein charakteristisch ist dabei der unseren
oben ausgesprochenen Gedanken bestätigende Hinweis auf die zunächst
ausschließlich hervortretende Polarität von KANT- HEGEL. Denn in dieser
fruchtbaren Spannung der beiden Pole {nicht an ihren Mittelgliedern FICHTE-SCHELLING}
entzündet sich die geschichtlich-systematische Arbeit dieses philosophischen
Erkenntnisfortgangs unserer Zeit. {Von den Studien von MARCK, NOHL, SCHOLZ, HAMMACHER,
BRUNSTÄD, J. EBBINGHAUS, H. GLOCKNER, BAEUMLER, LEESE, LASSON, ROSENZWEIG
und EHRENBERG bis zu den großen Geschichtswerken E. CASSIRERs {»Erkenntnisproblem«,
lII. Bd.} und R. KRONERs {»Von Kant bis Hegel«, 1. Bd..} Befriedigt
konnte jüngst R. HAMANN {»Kunst und Kultur d. Gegenwart«, 1922}
konstatieren, daß sich das Schlußwort seines »Impressionismus«-Werkes
{1907} »Mehr Hegel!« in der Tat zu erfüllen beginne.]
Auch KRONERS Werk will »dartun, daß gerade derjenige, der sich bemüht,
die kritische Philosophie aus ihr selbst heraus zu verstehen, über sie hinaus-
und fortgetrieben wird zu den Spekulationen der Nachfolger«. Es »will
den Kantianern die Augen dafür öffnen, daß die großen Nachfolger
Kants über ihn hinausgegangen sind, weil sie ihn verstanden
weil sie ihn besser verstanden haben, als er sich selbst verstand. Es gibt keinen
kürzeren Weg, zu einer gerechten Würdigung der spekulativen Systeme«
zu gelangen, als den, die kritische Philosophie ihren eigenen, tiefsten Motiven
nach durchzudenken; der Weg, den die Geschichte gegangen ist, muß heute
noch einmal in historisch-systematischer Absicht zurückgelegt werden«.
[S. 27]. Dies beleuchtet jenen anderen von uns hervorgehobenen Prozeß der
selbständigen Eigenproduktion der gegenwärtigen Philosophie,
die nicht von KANT zu HEGEL, sondern ihrerseits auf der Linie KANT-FICHTE-SCHELLING
folgerichtig schöpferisch fortschreiten wird. Im Grunde
ist dies wenigstens den prinzipiellen Einstellungen nach betrachtet
der gestaffelte Vormarsch der drei transzendentalphilosophischen
Schulen, der Marburger, Badener und Phänomenologen, unbeschadet ihres gegenseitigen
und gleichzeitigen systematischen Zusammenhanges. Die Marburger Schule,
auch CASSIRER, bleibt auf kantischem Boden. [NATORPS neuere Annäherung an
HEGEL widerspricht der obigen Darlegung nicht.] Die Badische Schulrichtung
[in der Steigerung WINDELBAND-RICKERT-LASK] ist der Position FICHTES prinzipiell
verwandt und zeigt wie diese einen über sich selbst hinausdrängenden
Charakterzug, der die Probleme der »Geltungs« - und Wertphilosophie
zu stetiger Umbildung zwingen wird. Am meisten würden wohl die Phänomenologen
erstaunt sein, entsprechend als ihren Schutzpatron SCHELLING ansehen zu sollen.
Tritt doch neuerdings statt dessen [auch bei HUSSERL selbst] vielmehr das Bewußtsein
einer Verwandschaft mit LEIBNIZ Metaphysik hervor, fiir deren Wiedererwachen
nach den Vorarbeiten von KABITZ, HEIMSOETH, PICHLER, MAHNKE jetzt das neue große
Werk R. SCHMALENBACHs [»Leibniz«, München 1922 trotz betonter
Einseitigkeit doch eine wertvolle Ergänzung der Darstellung CASSIRERS] sehr
bedeutsam ist, indes zugleich von gänzlich anderer Seite her, in N. HARTMANNS
erkenntnistheoretisch-logischem Fundamentalwerk »Metaphysik der Erkenntnis«,
1921, auch auf systematischem Gebiet sich wichtiges und hilfreiches Verstehen
vorbereitet. Daß dieße Hindeutungen auf LEIBNIZ
und SCHELLING sich übrigens nicht zu widersprechen brauchen, zeigt das Wort
des jugendlichen SCHELLING, »daß die Zeit, Leibnizen zu verstehen,
gekommen ist«, ja die Zeit, »da man Leibnizens Philosophie wiederherstellen
kann. .... Er gehörte zu den wenigen, die auch die Wissenschaft als freies
Werk behandeln. Er hatte in sich den allgemeinen Geist der Welt, der in den mannigfaltigsten
Formen sich selbst offenbart und, wo er hinkommt, Leben verbreitet.« Wie
die Grundlage der prinzipiellen Stellung SCHELLINGS [nur um diese handelt
es sich !] rückwärts bis zu LEIBNIZ führt, so reichen die Endstadien
seiner philosophischen Entwicklung der umfassendsten und der
recht eigentlich zentralsten der gesamten Klassik auch noch
über HEGEL weit hinaus, ja in den letzten religionsphilosophischen Konzeptionen
des alternden SCHELLING in eine Zukunft hinein, die in Jahrhunderten späterer
Reife erst das dort ahnend Vorweggenommene in der geistigen Wirklichkeit nachholen
wird und damit dann zugleich erst das vollständige Verständnis der von
LEIBNIZ bis zu HEGEL reichenden Gesamtheit sich errungen haben wird. Unsere Gegenwart
vermag zunächst nur erste, zaghafte und tastende Schritte zu tun. Die mächtige
Erscheinung SCHELLINGS in ihrem wirklichen Wert [der nicht auf seiner, uns gleichgültigen,
historischen Persönlichkeit beruht, sondern auf der Gewalt der durch ihn
repritsentierten typischen metaphysischen Einstellung] ist dabei unserer Zeit
noch vlillig unsichtbar oder höchstens als seltsame Karikatur bekannt
ähnlich wie es bei HEGEL noch vor zwei Jahrzehnten stand. Die volle kritische
Bewältigung SCHELLINGS wird auch unserem Jahrhundert noch nicht mliglich
sein, wenngleich sich hier noch manche Ueberraschungen ergeben könnten. Auch
unabhängig hiervon aber kann seine Einordnung als letzter Hintergrund bestimmter
Strömungen der Gegenwart erfolgen, die verschiedenartig und zumeist noch
falsch klassifiziert [wie »Neuromantik« und »Lebensphilosophie«]
als unklare Vorläufer einer wichtigen, durchaus zentralen geistigen Bewegung
unserer Zukunft zu betrachten sind und die sich mit bestimmten Bildungen der wissenschaftlichen
Philosophie und der Aesthetik noch zusammenschließen werden. [Beispielsweise
erinnern wir noch einmal an TROELTSCHS Schlußanmerkung über SCHELER.]
Aus diesem Zusammenhang, ergibt ach auch die endgültige
Einordnung der von Spengler versuchten Metaphysik in all ihren Verzweigungen und
[unbewußten] Beziehungen, in ihren fortwirkenden Möglichkeiten wie
auch in der Feindschaft, die sie von bestimmter Seite her notwendig finden mußte.
[Ein Beispiel solcher noch unrichtigen Klassifizierung bietet das Vorwort von
HEINEMANNs jüngstem Plotinwerk, Leipzig 1921: »Die Philosophie unserer
Tage vollzieht den Uebergang, den die romantische Philosophie gegenüber Kant,
den die Neuplatoniker gegenüber Plato durchgeführt haben«. Diese
Parallele wird dem oben erwähnten Gesamtprozeß KANT-HEGEL nicht gerecht,
so wertvoll und begrüßenswert im übrigen das ausgezeichnete Werk
der Zeitforderung entgegenkommt.) Seine »metaphysisch stammelnde
Abbreviatur »der innerlich erschauten Fülle deutet auf die Forderung
der späteren, kritischen, gereiften Verwirklichung dieser Inhalte
erst voraus, wie sie der kulturwissenschaftlich-philosophischen Arbeit der Zukunft
(und vielleicht ganzer Jahrhunderte) obliegen wird. In diesem Sinne ist, die heute
nahezu überwundene Kantorthodoxie des abgelaufenen Jahrhunderts erst das
Eingangsstadium eines weiterreichenden Prozesses, in dem sich zunächst ein
sich ähnlich vertiefendes Verständnis HEGELS vorbereitet. Aber erst
auf Grund der einst noch erarbeiteten gleichmäßigen Klarheit über
die »Eckpfeiler« KANT-HEGEL wird sich dann das spätere reife
Verstehen der schwierigeren (weil im schöpferischen Fluß ständig
verharrenden) Mittelgestalten FICHTE-SCHELLING endgültig ausbilden können,
das sich in Jahrzehnten erst wirklich anbahnen wird, so ungeduldig auch vielleicht
die Zeit schon vorher danach drängt. Denn unbewußt spürt sie den
inneren Zusammenhang dieser Totalität von LEIBNIZ her als die Bedingtheit
ihrer eigenen schöpferischen Forderung und Aufgabe auf diesem Feld. Je mehr
die letztere, selbstherrlich und doch ihrer inneren Notwendigkeit nach, sich entfaltet
(nach den strukturellen Möglichkeiten und Verknüpfungsfolgen,die gegeben
sind), um so deutlicher wird sie das gesetzmäßige Formenganze und die
schließliche Identität der menschlichen und kulturellen Grundstruktur
erkennen lassen und damit zugleich auch das Verständnis der klassischen Höhe
der (deutschen) Philosophie bewußt erfüllen, in deren symbolischem
Begriffszusammenhang diese Identität ahnend vorweggenommen und gedeutet ist.
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 153-161 | Eine derartig aufgefaßte
Verlaufsrichtung unserer philosophischen Bewegung scheint mit all der jungen Schöpferkraft
der überall neu aufsteigenden Arbeit der Spenglerschen Verfallsthese nur
zu widersprechen, und sie scheint sie doch wieder mit der bedingten Wiederholung
zu bestätigen, die nach der Erkenntnis des klassischen Höhepunktes nur
mehr möglich ist und so doch letzten Endes einen Abstieg darstellt, analog
dem von Spengler gebrauchten Schema. Andererseits kreuzt sich die erstere, lebendig
auseinanderstrebende und zukunftsfroh vorwärts gerichtete Bewegung auf das
schärfste mit jener kulturkritisch und selbstbewußt die Zeit beurteilenden,
als deren Endpunkt Spengler verstanden werden konnte und doch
kommt der letzteren auch jene erste schon dadurch entgegen, daß sich ihre
Arbeit mehr und mehr als kulturphilosophisch orientiert empfindet, seitdem WINDELBAND
in seiner letzten Darstellung (»Kult. d. Gegenw.«, I, V) selbst KANTs
Gesamtwerk als »das reife Selbstbewußtsein einer hochentwickelten
Kultur« kulturkritisch zentriert und auf HEGELs Entwicklung hin bezogen
hat. Auch diese sich in Spenglers Stellung kreuzende doppelte
Antinomik wird die systematisch-kritische Erkenntnis aufzulösen haben und
dabei dabei die Entdeckung machen, daß die Wurzel der metaphysischen Konzeptionen
Spenglers eben in jenes zentrale Bildungsreich hinabreicht, das wir als das der
»Strukur«-erkenntnisform mehrfach zu kennzeichnen versuchten (und
dessen geschichtlichen Zusammenhang in der Vergangenheit und Gegenwart die Anmerkung
näher beleuchtet). Eben darum ist die Möglichkeit einer fruchtbaren
Korrektur gegeben, dessen, was von Spenglers eigener Veranlagung aus noch keine
zureichende Gestaltung fand und dessen unschätzbarer Anregung die wissenschaftlich-philosophische
Entwicklung ihrerseits in immer tieferer Ergänzung doch entgegenkommen wird.
Dies ist die Aufgabe zukünftiger Kritik und zwar ihrer vereinigten Gesamtarbeit,
nicht die Aufgabe eines Einzelnen. Der letztere vermöchte lediglich, eben
durch die Verfolgung der zentralen, metaphysischen Hauptlinie, jene Arbeitsordnung
vorzuzeichnen ähnlich wie es den bisherigen Kritiken gegenüber
möglich war, nicht ihre Resultate umzustoßen, sondern durch die einheitliche
Anordnung ihrer Ergebnisse allein schon ein fruchtbar durchleuchtetes Gesamtbild
von der Aufgabe der gegenwärtigen Kulturkritik an diesem Einzelpunkte zu
enwerfen. Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 162 | Ist dieses Bild nur unerfreulich
und die Lösung einer großen Aufgabe bisher nur unzulänglich in
Angriff genommen? Wir glauben nicht, Zwar hat QUESADA, der seine akademische Lebensarbeit
mit der großen Spenglervorlesung an der südamerikanischen Hauptuniversität
geschlossen hat, sich erstaunt über das Niveau sehr vieler deutscher Spenglerkritiken
geäußert, und gewiß bedeutet z. B. L. NELSONs »Spuk«
kein Ehrendenkmal für seinen Verfasser. Aber diesem berechtigten und begreiflichen
Unmut gegen hämische deutsche Krittelei ist andererseits die Mächtigkeit
und Tiefe des Klärungsbedürfnisses und der Spannweite eben dieses deutschen
Geistes entgegenzuhalten, Er hat Raum und Verständnis für die beiden
Extreme, die er selbst hervorgebracht hat: das intuitiv vorwegnehmende Ahnen weitester
Umfassung und die nüchterne, gewissenhafte Akribie der förmlich haßerfüllt
jede vorschnelle Ungenauigkeit verfolgenden peinlichsten Redlichkeit. Gerade die
gewaltige Weite und Tiefe der »faustischen«, fessellos schweifenden
deutschen Sehnsucht braucht auch den kritisch verneinenden Mephisto, und sie kann
die ganze Schärfe seiner bloßen Negativität ertragen, die für
andere zerstörend wär. An sich freilich ist die letztere unfruchtbar.
Sie bleibt ein dienendes Moment, ein wichtiger Reiz zur verschärften Selbstkontrolle
für das Positive, Schöpferische, das aus der zersetzendsten Kritik noch
Kraft für sich gewinnen kann. Die positive Macht der gedanklichen Werte Spenglers
scheint uns stark genug, um es auch noch mit einer weiteren Welt von Feinden aufzunehmen,
denn je tiefer, je bedeutender der Blick ist, der die Spenglerschen Gedankenmassen
überschaut, desto bedeutendere Schätze wird er aus und an ihnen aufzeigen
können. Die Kritik spiegelt in hohem Maß den Geist des Kritisierenden,
wie die Nachahmung den des Nachahmers und nicht den Geist des Originals. Insofern
scheint uns auch der öfters wiederholte Einwand nichtig, daß die Problematik
Spenglers nur Verwirrung und Schaden unter der Wissenschaft und ihrem jüngeren
Nachwuchs verbreiten müsse. Seine Fehler sind gehalten und getragen von der
einmaligen, einzigartigen Genialität dieses widerspruchsvollen Individuums
und können nicht für sich allein bestehen. Spenglersche Behauptungen
aus anderem Munde als dem seinigen, ohne den Hintergrund seiner elementaren Kraft,
würden lächerlich und unwirksam bleiben, Der »Spenglerianer«
ist in keiner Wissenschaft auch überhaupt nur möglich und ist auch nirgends
hervorgetreten. (Wer übrigens durch Bücher derartig beeinfiußbar
ist, daß er daraufhin seine Lebensentscheidung trifft und etwa »von
der Lyrik zu der Technik übergeht« oder sich pessimistisch schon narkotisiert
fühlt, für den steht ja auf dem reichbesetzten Tisch der Antispenglerschriften
jede nur gewünschte Dosis Optimismus zur hilfreichen Gegeneinnahme bereit.)
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 162-163 | Wir unsererseits haben hier
Spenglers Werk noch nicht beurteilt, sondern es im Spiegel seiner Kritiker und
als den Kreuzungsort bedeutsamster Tendenzen und Entwicklungsrichtungen der gegenwärtigen
Kultur betrachtet. Ihre innere Beziehung zum Gehalt des Werkes, auf deren Steigerungsmöglichkeiten
unser Vorwort hinwies, hat sich auch noch ohne Analyse dieses Werkes selbst, schon
aus seinen Auswirkungen kennzeichnen lassen. Wir bleiben hier bei der Feststellung
dieser tieferen, repräsentativen Zeitbedeutung Spenglers stehen, und begnügen
uns hier mit ihrer Zurückführung auf den verschlungenen Werderhythmus
dieser reifenden Entscheidung unserer Zeit. Denn wieder steht das deutsche Volk
und deutscher Geist an einem Wendepunkt der Zeiten und im Angelpunkt seines Entschlusses
das Schicksalsgeflecht der Welt schürzt sich in seinem
eigenen Tun und Leiden. Der sinkende Westen und der aufdämmernde Osten kreuzen
und durchdringen sich im Land der Mitte und des Ausgleichskampfes von Aufgang
und Untergang im Land auch der sinnbildlichen Begegnung Faustens, des ewig Vollendenden,
und Ahasvers, des ruhelosen Geistes der Vergänglichkeit. Welche Weissagung
vermöchte schon das schöpferische Dunkel dieses schwerverhängten,
rätselvollsten Völkerschicksals zu durchleuchten? Noch scheint das alte
Tiefenfeuer nicht erloschen. Während sich von außen und von innen die
Vernichtungsmächte immer drohender erheben, arbeitet zugleich doch mit dem
wirtschaftlichen auch der systematische Geist folgerichtig an dem tausendfältig
sich erweiternden Gewebe, und die Einpressung und Abschnürung ringsum treibt
ihn zugleich zu umso weltumspannenderem Vogelflug, der über alle Erdbezirke
und Jahrtausende dahinstreicht, ihren Sinn und ihre Bürgschaft für ihn
selbst sehnsuchtsvoll witternd und enträtselnd. Auch in Spenglers Schau über
die Zeiten spüren wir diesen mächtigen, spähenden, durchdringenden
und umfassenden Adlerblick als Ausdruck deutscher Geisteskraft und deutscher Geistesweite,
würdig der Vergangenheit wie der Größe und Wucht des Augenblicks
und seiner sich zusammenballenden Entscheidung; deutsch in seinen Fehlern wie
in seiner Stärke und insofern typisch für den von ihm selbst gekennzeichneten
»faustischen« Charakter, den er einma, wundervoll vergleichend, dem
griechischen gegenüberstellt wie das leise Erzittern der
homerischen Verszeile (»eines Blattes in der Mittagssonne«) gegenüber
dem unendlichen Rhythmus der nordisch einsamen, weltweiten Sehnsucht: »verhaltene
Spannung im Leeren, Grenzenlosen, ferne Gewitter in Nächten über den
höchsten Gipfeln«. Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 164 | Ist dies zuviel gesagt? Wirft seine
Prophezeiung nicht gleichsam Gewitterschein auf das zerrissene, mitternächtlich
umwölkte Land der Zeit? Wir glauben weder an die Macht noch an die Richtigkeit
derartig weitgespannter Prophezeiungen. Wohl aber sehen wir in seinem Werk, bezw.
in den in ihm angesammelten Gedankenmassen eine ferne Gipfelreihe feierlich aufragen
und wir weisen die Meinung der Kritiker zurück, die diese nur als Wolkenbilder
oder gar nur als Theaterhintergründe auffassen zu können glaubt. Wir
möchten zeigen, daß diese gedanklichen Berggipfel wirklich sind, betretbarer
Granitgrund, in natfirlichem Zusammenhang mit dem Gebirgszug deutschen Geistes,
ja menschlicher »Urgedanken«. Goethe weist, anläßlich eines
geologischen Aufsatzes den Vorwurf zurück, »daß es ein Geist
des Widerspruches sein müsse«, der ihn »von der Betrachtung und
Schilderung des menschlichen Herzens, des jüngsten, mannigfaltigsten, beweglichsten,
veränderlichsten, erschütterlichsten, Teiles der Schöpfung zu der
Beobachtung des ältesten, festesten, tiefsten, unerschütterlichsten
Sohnes der Natur geführt hat«. Ähnlich dünkt es uns nur ein
scheinbarer Widerspruch, wenn wir an den Gedanken dieses Geistes, der so leidenschaftlich
wie kein anderer von dem unendlich vielfältigen Wogengang der menschlichen
Kulturen, dieses rätselvollsten, letzten, höchsten, geistigsten Gebildes
der flutenden Schöpfung, bewegt und ergriffen worden ist, zuinnerst doch
das ruhende und unerschütterliche Felsgestein aufzeigen wollen, um das die
verwirrende Gestaltenfolge schäumt und brandet. Diese metaphysische Kritik
ist bewußt einseitig und sie verfolgt nur eine unter vielen Möglichkeiten.
Doch sie scheint uns, um mit unserem alten Gleichnis abzuschließen, eben
der zentrale Aufstieg zu jener fraglichen Gipfelkette, deren Höhe wir noch
zu erweisen haben werden, selbst wenn uns dort oben auf der Wanderung noch manches
kräftige kritische Schlossenwetter überraschen sollte.
Manfred
Schröter, Der Streit um Spengler - Kritik seiner Kritiker (III. Teil
[Form-Inhaltsfrage]; 4. Kapitel [Metaphysische Beurteilung]), 1922,
S. 165 | |