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Norbert Bolz (*1953)
- Geschichtsphilosophie des Ästhetischen (1979) -
- Goethes Wahlverwandschaften (1981) -
- Wer hat Angst vor der Philosophie? (1982) -
- Spiegel und Gleichnis (1983) -
- Auszug aus der entzauberten Welt (1989) -
- Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen (1989) -
- Theorie der neuen Medien (1990) -
- Chaos und Simulation (1992) -
- Am Ende der Gutenberg-Galaxis (1993) -
- Das kontrollierte Chaos (1994) -
- Die Sinngesellschaft (1997) -
- Die Wirtschaft des Unsichtbaren (1999) -
- Die Konformisten des Andersseins (1999) -
- Weltbürgertum und Globalisierung (2000) -
- Weltkommunikation (2001) -
- Das konsumistische Manifest (2002) -
- Produktion und Reproduktion (2003) -
- Was ist der Mensch?  (2003) -
- Blindflug mit Zuschauer (2005) -
- Die Helden der Familie (2006) -
- Mehr Steuern für Kinderlose! (2006) -
- Verstaatlichung der Kinder (2006) -
- Das ABC der Medien (2007) -
- Das Wissen der Religion (2008) -
- Geistiger Selbstmord (2008) -
- Die Angstindustrie hat eine Religion erfunde (2009) -
- Diskurs über die Ungleichheit (2009) -
- Profit für alle (2009) -
- Wer hat Angst vor der Freiheit? (2009) -
- Die ungeliebte Freiheit (2010) -
- Die politische Rechte steht für Bürgerlichkeit (2010) -
- Die neuen Jakobiner (2010) -
- Das Gestell (2012) -
- Wer hat Angst vor der Philosophie? (2012) -
Bolz-Zitate. Da ich Norbert Bolz für einen couragierten Wissenschaftler halte, möchte ich ihm eine
separate Seite widmen und aus folgenden seiner Werke zitieren:
- Das konsumistische Manifest (2002) -
- Produktion und Reproduktion (2003) -
- Die Helden der Familie (2006) -
- Das Wissen der Religion (2008) -
- Geistiger Selbstmord (2008) -
- Diskurs über die Ungleichheit (2009) -
- Die politische Rechte steht für Bürgerlichkeit (2010) -
- Die neuen Jakobiner (2010) -

- Die fröhlichen Sklaven (2012) -

 

 

 

Diskurs über die Ungleichheit. Ein Anti-Rousseau (2009)

„Die Linke hat wieder Konjunktur. Sie spricht nicht mehr von Klassengesellschaft, sondern von der Neuen Ungleichheit und verweist auf die Pornographie des exzessiven Reichtums ... einerseits, die stillen Leiden der Kinderarbeit und der Hartz-IV-Existenz andererseits. Mehr Gleichheit durch Umverteilung scheint deshalb die selbstverständlichste politische Forderung zu sein. Und in der Tat hat sich die moderne Gesellschaft durch die Mächte der guten Gleichheit entfaltet: Wissenschaft und Technik, gleiches Recht und Bildung für alle, städtisches Leben und staatliche Organisation.
Nüchtern betrachtet, kann Gleichheit unter modernen Lebensbedingungen aber nur heißen: Inklusion, die Möglichkeit der Teilnahme an den sozialen Systemen. Und wer alle integrieren will, muß auf die Gleichheit aller verzichten. Egalitarismus ist eine Anleitung zum Unglücklichsein. Wir können das gute Leben, das uns die moderne Gesellschaft ermöglicht, nicht leben, solange wir noch an Rousseau glauben. Die größte Gefahr für die moderne Welt geht nicht von denen aus, die asozial sind, sondern von denen, die zu sozial sind. Es gibt keine gerechte Gesellschaft (**).“
(Ebd., Klappentext).

- Die These (S. 7-20)
- Tocquevilles unheimliche Aktualität (S. 21-35)
- Der Skandal der natürlichen Ungleichheit (S. 36-46)
- Das unstillbare Geschlechterverhältnis (S. 47-66)
- Der Egalitarismus der Medien (S. 67-81)
- Die Sakralisierung der Gerechtigkeit (S. 82-104)
- Der böse und der gute Neid (S. 105-125)
- Rangordnung und Diskriminierung (S. 126-142)
- Absolut knappe Güter (S. 143-151)
- Vom nehmenden zum sorgenden Kapitalismus (S. 152-169)
- Eine mögliche Gerechtigkeit (S. 170-182)

Die These

„Das liberale Erfolgsgeheimnis des Kapitalismus bestht bis zum heutigen tag darin, die Frage nach dem Glück nicht mit Umverteilung, sondern mit der Steigerung der Produktion zu beantworten, Produktion und Kreativität sind Resultate des Wettbewerbs, der natürliche Ungleichheiten nutzt und materielle Ungleichheiten schafft. Talent, Lebensenergie und Glück produzieren in einer freien Marktwirtschaft notwendigerweise Ungleichheit. Spezifisch liberal ist dabei der Trick, durch die Frage nach der Wirtschaftlichkeit von der Frage nach der Gerechtigkeit abzulenken.“ (Ebd., S. 7).

„Wirtschaftlicher Erfolg ist ein Identitätsangebot, das den Erfolgreichen rasch in eine gewisse Distanz zur Gesellschaft bringt. Denn der wirtschaftlich Erfolgreiche bemißt die Gerechtigkeit der Gesellschaft an der Sicherheit des Eigentums. Der Eigentümer ist deshalb der natürliche Feind jeder politisch hergestellten Gleichheit. Der Respekt für das Individuum drückt sich - radikal marktliberal betrachtet - in der Differenz von mehr oder weniger Geld, letztlich: von Arm und Reich aus. Jeder hat andere Talente. Aber einige Talente sind weit verbreitet, andere sind selten. Und man muß sich damit abfinden, daß nicht die Anstrengung oder das Talent an sich belohnt wird, sondern das Resultat auf dem Markt. Weder Geschäftserfolg noch Prestige lassen sich aus Verdiensten ableiten. Nicht das, was man gut macht, sondern das, was andere gut finden, zählt.“ (Ebd., S. 7).

„Die Wirtschaft der modernen Gesellschaft ist also sehr komplex und abstrakt; es fehlt ihr die Gefühlsstütze, und deshalb kann man sie nicht lieben. Friedrich von Hayeks berühmte These, der freie Markt sei die größte Entdeckung in der Geschichte der Menschheit, läßt eigentlich jeden kalt. Hier gibt es also einen akuten Gefühlsbedarf, die Notwendigkeit einer emotionalen Gestaltung der modernen Gesellschaft. Das leisten die Massenmedien, indem sie ständig soziale Ungleichheiten zeigen. So bedienen sie die rousseauistische Nostalgie nach einer von archaischen Gefühlen geleiteten Gesellschaft, in der ein autoritärer Staat sichtbar »soziale Gerechtigkeit« (**) schafft.“ (Ebd., S. 7).

„Der Begriff der »sozialen Gerechtigkeit« (**) markiert den Abschied von der liberalen Gesellschaft. Und es gibt heute kaum noch Politiker, die nicht im Namen der »soziale Gerechtigkeit« agieren. Niemand kann den Begriff definieren, aber gerade deshalb funktioniert er so gut als Flagge des »Gutmenschen«, als Chiffre für die richtigen moralischen Gefühle. In dieser Frage erlaubt sich unsere restlos aufgeklärte Gesellschaft eine letzte große Mystifikation, den Appell an ein unkommunizierbares Gefühl. »Soziale Gerechtigkeit« ersetzt das Heilige. Fast jeder erkennt ja Ungerechtigkeit, wenn er sie sieht oder erlebt, aber fast niemand kann sagen, was Gerechtigkeit ist. Die Theorie der Gerechtigkeit ist die negative Theologie des Rechts; auch die Jurisprudenz hat also ihren verborgenen Gott. Jede Gesellschaft sakralisiert ihre Gerechtigkeitsprinzipien - und wehrt sich deshalb gegen ihre Analyse.“ (Ebd., S. 8).

„Seit der großen Bankenkrise 2008 (**) ruft alle Welt nach dem starken Staat und nach Regulierung der Finanzmärkte. Der Sozialismus ist wieder salonfähig geworden. .... In der Zeitung kann man lesen, daß das Durchschnittseinkommen der reichsten Länder 50mal so groß ist wie das der ärmsten. Topmanager verdienen bis zu 400mal so viel wie der druchschnittliche Angestellte.“ (Ebd., S. 8).

„Mehr Gleichheit durch Umverteilung scheint deshalb die selbstverständlichste politische Forderung zu sein, und tagtäglich findet sie in den Massenmedien Resonanz. Sie reduzieren uns Zuschauer, Hörer und Leser auf das bloße Erleben: Wir müssen zusehen, wie andere entscheiden, genießen und leiden. Und wenn andere entscheiden, werden wir zu Betroffenen. Wenn andere genießen, halten wir uns für benachteiligt. Wenn andere leiden, ist uns das unerträglich.“ (Ebd., S. 8).

„Die Massenmedien zeigen täglich nicht nur den Armen den Reichtum des Westens, sondern auch uns Wohlstandsbürgern den Reichtum der Superreichen. Rasch zeigt sich da unsere Toleranz gegenüber dem Reichtum anderer überfordert. Bei der Wahrnehmung der Ungleichheit ist ja der Filter der Stände und Kasten weggefallen - jeder ist ein Mensch wie du und ich. Und das macht jede Ungleichheit tendenziell zum Skandal. Der soziale Vergleich erzeugt Neid und läßt die Erwartungen explodieren.“ (Ebd., S. 8).

„Das wunderbare Ansteigen des Lebensstandards in der westlichen Welt hat die Menschen wohlhabender, gesünder und freier werden lassen - aber nicht glücklicher. Weil sie sich vergleichen, ist die Ungleichheit ihr Unglück. Man kann das eigene schöne Haus nicht mehr genießen, weil das der Nachbarn noch schöner ist. Und meist sind es nur die Menschen, denen noch die Schrecken und Entbehrungen eines Krieges ins Gedächtnis gebrannt sind, die dankbar bemerken, wie herrlich weit sie es gebracht haben. Doch nicht nur Haus, Auto und Ehefrau des Nachbarn verführen zum Vergleich, sondern mehr noch die Massenmedien, die uns ständig mit dem Glitzerleben der Reichen und Mächtigen konfrontieren. Sie führen uns einen Lebensstil vor, den wir nie erreichen werden.“ (Ebd., S. 8-9).

„Um so wichtiger ist des deshalb für uns, in den Medien zu sehen, daß Gerechtigkeit geschieht; das ruft eine Art Soziallust hervor. Und nicht nur im Unterhaltungsprogramm bietet das Fernsehen die soziale Lust der Moralität. In der fiktiven Realität des Krimis wird der Verbrecher seiner gerechten Strafe zugeführt. In der realen Realität der Öffentlichkeit wird der korrupte Politiker oder Wirtschaftsführer an den Medienpranger gestellt. Die Medien inszenieren den Skandal als demokratischen Schauprozeß, den die Zuschauer lustvoll konsumieren. Der dort zumeist erhobene Ton ist nicht der Ton der Kritik, sondern der modischen Wut. Das erspart die Überzeugungsarbeit. Entrüstung gilt als Echtheitsbeweis. Wer früher kritisch war, ist heute wutschnaubend. Das funktioniert natürlich nur, weil es von der Mediendemokratie prämiert wird. Wut ist so demokratisch wie Angst - jeder kann sie ausdrücken.“ (Ebd., S. 9).

„Die meisten Menschen können nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, aber sie haben ein sehr genaues Empfinden für Ungerechtigkeiten. Offenbar genügt uns aber der Kampf gegen evidente Ungerechtigkeiten nicht. Ein Grund dafür liegt sicher auch im medialen Trommelfeuer der Gerechtigkeitsrhetorik. »Soziale Gerechtigkeit« (**) durch »mehr Gleichheit« ist heute ein Wert, dem man nicht nicht zustimmen kann - der Konsensbegriff Nr .1. Hier gibt es keinen Diskussionsbedarf mehr. Wie konnte es dazu kommen?“  (Ebd., S. 9).

„Es gibt eine berechtigte Leidenschaft für die Gleichheit, die die Menschen anspornt, sich um die Anerkennung und Achtung von ihresgleichen zu bemühen - man könnte sagen: eine Leidenschaft für die Gleichheit aus Stärke. Aber es gibt auch eine Leidenschaft für die Gleichheit aus Schwäche, wo die Schwachen versuchen, die Starken auf ihr Niveau herabzuziehen. Und in dieser Gleichheitssucht steckt die größte Gefahr der modernen Demokratie, nämlich die Verlockung, einer Ungleichheit in Freiheit die Gleichheit in der Knechtschaft vorzuziehen.“ (Ebd., S. 9).

„Beide, Freiheit wie Gleichheit, kosten etwas. Der Preis der Freiheit ist sofort spürbar, der Preis der Gleichheit macht sich erst allmählich bemerkbar. Der Preis der Freiheit ist sofort spürbar, der Preis der Gleichheit macht sich erst allmählich bemerkbar. Und umgekehrt gilt: Die Wohltaten der Freiheit zeigen sich erst allmählich, aber die Wohltaten der Gleichheit spürt man sofort. Es kann deshalb nicht überraschen, daß die Leidenschaft für die Gleichheit sehr groß, die Liebe zur Freiheit aber nur sehr mäßig temperiert ist; und daß man im Zweifel die Freiheit der Gleichheit opfert. Historisch betrachtet kämpfen Freiheit und Gleichheit zunächst gemeinsam, aber sie trennen sich nach dem Sieg. D.h. nur solange die Gleichheit die Freiheit politisch benutzen kann, verbünden sich Gleichheit und Freiheit. Nur im Kampf gegen autokratische Machthaber stehen Freiheit und Gleichheit auf derselben Seite der Barrikade. Der Kult der siegreichen Gleichheit forden dann aber rasch das Opfer der Freiheit.“ (Ebd., S. 9-10).

„Es ist eine traurige Ironie der Weltgeschichte, daß das Ideal der Gleichheit den Haß verewigt, den die Realität der Ungleichheit erzeugt hat. Massendemokratisch leben heißt nämlich, im vergleichenden Blick auf die anderen leben. Und je gleicher die Lebensverhältnisse sind, um so hannäckiger fixiert sich der neidische Blick auf das Überragende, die Exzellenz, den Besseren. Der Haß auf die Ungleichheit ist die demokratische Leidenschaft par excellence. Und je weniger Ungleichheiten es gibt, desto größer wird der Haß auf sie. Das Prinzip Gleichheit wirkt also paradox: Je mehr Gleichheit praktisch durchgesetzt wird, desto unenräglicher wird jede noch vorhandene Ungleichheit. Je größer die Gleichheit, desto unerbittlicher das Verlangen nach noch mehr Gleichheit. Die statistisch erwiesene Ungleichheit wird als Ungerechtigkeit interpretiert und dann als zentrales Beweismittel im ideologiekritischen Prozeß gegen die bürgerliche Freiheit eingesetzt.“ (Ebd., S. 10).

„Die Gleichheit des Menschen ist aber eine Abstraktion. Sobald man betrachtet, wie sie in Geschichten und Kausalitäten verstrickt sind, drängen sich die Ungleichheiten auf; so wie Bauern im Schachspiel abstrakt betrachtet gleich stark sind, im Spielverlauf aber höchst unterschiedliche Wichtigkeit bekommen. Menschen respektvoll zu behandeln, heißt deshalb nicht, sie gleich zu behandeln. Der Wunsch nach mehr Gleichheit führt gerade nicht zur Erfahrung der Anerkennung.“ (Ebd., S. 10).

„Die Behandlung des Ungleichen als Gleiches wird heute als Wert konzipiert - die Farbigen und die Weißen, die Kinder und die Erwachsenen, die Frauen und Männer, die Armen und Reichen, die Kleinen und die Großen, die Dummen und die Klugen. Der Geist der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) läßt sich deshalb auf eine ganz einfache Formel bringen: Wahrheit ist relativ. Er kämpft nicht gegen die Unwahrheit, sondern gegen die Intoleranz. Nichts und niemand soll verachtenswert sein. Der gesunde Menschenverstand sagt einem aber: Man kann nicht das Gute finden und bewundern, ohne das Schlechte mit zu entdecken - und zu verachten.“ (Ebd., S. 10-11).

„Es gibt Dinge, die besser sind als andere. Es gibt Kulturen, die fortschrittlicher und humaner sind als andere. Und es gibt Menschen, die anderen überlegen sind - die Aristoi, die Elite, die Seltenen, die Besten, die Stars, die Reichen, die Mächtigen, die Berühmten. Dieses Besser- und Überlegensein artikuliert sich traditionell als Vornehmheit, Größe, Stil und Wille zur Distinktion. Für die Massendemokratie ist das ein Skandal, auf den sie mit einem scharfen Ressentiment zunächst gegen Meisterschaft und Autorität, dann gegen Kanon und Elite und schließlich gegen Erfolg und Leistung reagiert. Die ersten Opfer dieser Rhetorik der Gleichheit sind die Schönheit, die Wahrheit, die Tugend und die Größe.“ (Ebd., S. 11).

„Man kann sich Kultur aber nur als ein System der Unterschiede und Humanität nur als Differenziertheit denken. Das zeigt gerade unsere eigene Erfolgsgeschichte: Europa war und ist das Leben der Differenz. Und jeder, der Lebenserfahrung hat, weiß, daß es kein Glück gibt ohne die Erfahrung des Unterschieds. Wir sind erwachsen, wenn wir gelernt haben, mit der Ungleichheit zu leben. Wir verwechseln dann nicht mehr Ungerechtigkeit mit Ungleichheit. Ungerecht ist nämlich nicht die Ungleichheit, sondern das, was motivierte Menschen am Aufstieg hindert. Um das einzusehen, braucht man keine Theorie der Gesellschaft, sondern nur gesunden Menschenverstand.“ (Ebd., S. 11).

„Alle revolutionären Kämpfe im Namen der Freiheit zielten auf Gleichheit vor dem Gesetz. Die Leute sollen rechtlich gleich behandelt werden, obwohl sie tatsächlich unterschiedlich sind. Daß alle Menschen gleich geboren sind, ist also keine Tatsachenaussage. Die Übertragung dieser rechtlichen Gleichheit auf die moralischen und sozialen Beziehungen der Menschen untereinander macht den Geist der Demokratie aus. Dazu gehört aber auch, daß man materielle Ungleichheiten hinnimmt und ohne Murren erträgt.“ (Ebd., S. 11).

„Der Prozeß der Zivilisation hängt daran, daß jeder Einzelne aus allem, was ihm widerfährt, den größten Nutzen schlagen darf. Jeder soll die besonderen Gelegenheiten nutzen, die der Zufall von Herkunft und Umwelt gerade ihm auf den Lebensweg geworfen hat. Daß wir in einer Gesellschaft von Individuen leben, heißt eben, daß wir nicht in einer Gesellschaft von Gleichen leben. Diese Individuen werden vom Staat und vor dem Gesetz gleich behandelt. Aber man darf von der Gleichbehandlung - und dem berechtigten Anspruch darauf - nicht auf Gleichheit schließen. Die Gleichheit vor dem Gesetz schließt nicht Ungleichheit aus, sondern Willkür.“ (Ebd., S. 11-12).

„Weil die Menschen unterschiedlich sind, folgt gerade aus ihrer Gleichbehandlung die materielle Ungleichheit ihrer Lebenslagen. Erfolg ist in hohem Maße eine Sache des Zufalls. Jeder hat Eltern und deshalb gibt es eine unvermeidliche Chancenungleichheit. Wer eine glückliche Kindheit hatte und von liebevollen Eltern gut erzogen wurde, hat Möglichkeiten der Lebensfreude und des Kulturgenusses, die durch keine Umverteilungspolitik kompensiert werden können.“ (Ebd., S. 12).

„Armut und Unglück sind in der Regel keine Ungerechtigkeiten sondern Übel. Materielle Ungleichheiten sind aber nur dann ungerecht, wenn sie das Resultat bewußter Verteilung sind. Und daraus folgt: Nicht der Zufall des Marktes, sondern die Politik der Umverteilung produziert Ungerechtigkeiten (**). Jeder staatliche Eingriff zur Reduzierung von Ungleichheit schafft unzählige neue. Es gibt nämlich immer Leute, die durch Chancengleichheit begünstigt werden, Kriegsgewinnler der Gleichstellung. Und es ist kein Heraktes in Sicht, der die sich selbst reproduzierenden Ungleichheiten ausbrennen würde. So erzeugt der Egalitarismus selbst beständig Frustration.“ (Ebd., S. 12).

„Weder Natur noch Kultur sprechen für Gerechtigkeit. Die Natur nicht, denn nicht alle Frauen sind gleich schön; nicht alle Männer sind gleich kompetent. Aber auch die Kultur nicht, denn sie hat sich immer nur unter Bedingungen ungerechter Besitzverteilung entfaltet. All das klingt deprimierend, und die moderne Gesellschaft neigt dazu, weiteres Nachfragen zu verbieten. Gene, Intelligenz und Rasse sind die Tabus unserer Zeit - wie Sex im Viktorianischen England. Mit anderen Worten, archaisches Erbe, genetische Determination, angeborenes Verhalten und Geschlechtsrolle sind die Skandale der egalitären Gesellschaft. Geist, Schönheit, Stärke, Geschicklichkeit, Talent, Fleiß - all das ist ungleich verteilt und läßt sich nicht umverteilen.“ (Ebd., S. 12).

„Menschen sind unterschiedlich. Und wenn man sie zwingt, gleich zu sein, bleibt ihnen nur noch eine Möglichkeit, anders zu sein als die anderen - nämlich die anderen zu überwältigen. Ohne Rangordnung kann man diese Aggressivität nicht neutralisieren. Sie ist heute zur sozialen Gereiztheit atomisiert und auf Dauer gestellt. Hinzu kommt, daß die Abfuhr von Aggressivität immer schwieriger wird, je moderner, d.h. bequemer und von körperlicher Arbeit entlasteter das Leben ist. Unter massendemokratischen Bedingungen richtet sich dann die angestaute Aggressivität gegen alle Formen von Rangordnung.“ (Ebd., S. 12).

„Wenn man die Menschen dagegen unterschiedlich sein läßt, ja ihre heterogene Individualität sogar fördert, entsteht ein Klima kreativer Interaktivität. Wir können also resümieren: Gleichheit erzeugt Konflikt, Ungleichheit ermöglicht Kooperation. Bürgerliche Gleichheit besagt deshalb, daß jeder die gleiche Chance hat, ungleiche Beträge zu akkumulieren. In der Aristokratie gab es ungleiche Chancen, ungleich zu werden. In einer Demokratie gibt es gleiche Chancen, ungleich zu werden. Und jeder soll die gleichen Chancen haben, ungleich zu werden.“ (Ebd., S. 13).

„In der modernen Welt symbolisiert der zur Schau gestellte Reichtum nicht mehr besondere Fähigkeiten und Leistungen. Man kann vom Lebensstil nicht mehr auf die Person schließen. Der Konsumstil hat die Lebensführung ersetzt, und das gute Leben ist zum Rechtsanspruch geworden. Deshalb hat der Lebensstandard heute Suchtcharakter angenommen; er befriedigt zwar nicht, aber jede Minderung erscheint unerträglich. Daß Menschen unzufriedener werden, obwohl sich ihre objektiven Lebensumstände verbessert haben, liegt daran, daß ihre Vergleichsstandards noch schneller wachsen als ihr Lebensstandard.“ (Ebd., S. 13).

„Für fast alle wird fast alles besser. Aber das zählt nicht. Denn zwar geht es allen besser, aber zugleich verstärkt sich die Polarisierung. Den Armen geht es besser, aber relativ zu den Reichen werden sie ärmer. Der Vergleich macht unglücklich. Und wenn es nicht zynisch klingen würde, könnte man sogar sagen: Der Vergleich macht arm. Aber wir können gar nicht anders. Jeder lebt unter dem Zwang, sich mit anderen zu vergleichen. Und Demokratie heißt in diesem Zusammenhang eben: Jeder darf sich mit jedem vergleichen, auch wenn er sich nicht mit jedem vergleichen kann.“ (Ebd., S. 13).

„Weil aus der Wahrnehmung von Differenzen Neid entsteht, muß der Egalitarismus eine Schaufensterpolitik betreiben, also sichtbar machen, daß Gerechtigkeit geschieht. Weil nicht die sozialen Unterschiede, sondern die Wahrnehmung dieser Unterschiede den Zusammenhalt der Gesellschaft bedrohen, inszeniert die Politik egalitaristische Maßnahmen. Dabei geht es also nicht darum, daß wirklich Gerechtigkeit geschieht, sondern darum, daß die Leute sehen, daß Gerechtigkeit geschieht. Das kann man dadurch erreichen, daß man Bedürftigen etwas gibt, aber genau so gut auch dadurch, daß man Erfolgreichen etwas nimmt.“ (Ebd., S. 13).

„Es geht mir besser als früher, aber nicht so viel besser als den anderen - und deshalb geht es mir schlechter. Schon eine Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums erzeugt typisch Unzufriedenheit. Und Wachstum selbst ist keineswegs der Weg zur allgemeinen Zufriedenheit, denn wenn es allen gleichmäßig besser geht, geht es niemanden besser. Die Verschiedenheiten vermindern sich, aber die Gleichheitserwartungen wachsen. Das liegt ganz einfach daran, daß Menschen sich vergleichen. Aber mit wem vergleicht man sich? Mit den relevanten Anderen. Und in diesem Vergleich können auch kleinste Differenzen als schreiend ungerecht empfunden werden. Je geringer die Unterschiede, desto größer die Gleichheitserwartungen und desto größer das Ressentiment. Der neiderfüllte Vergleich steigert sich in einer Spirale positiver Rückkopplungen. Und je größer die Erwartungen, desto größer der Neid.“ (Ebd., S. 13-14).

„So wird die moderne Kultur von einem Jammern auf hohem Niveau begleitet; die Klagelieder erklingen aus dem Herzen des Wohlstands. Hier zeigt unsere Kultur deutlich tragische Züge, denn gerade in einer ihrer wichtigsten Errungenschaften, dem fundamentalen demokratischen Prinzip der Rechtsgleichheit, steckt ein Potential für Fanatismus: die neidische Gleichstellung auch derer, die durch Bildung, Erziehung und Einsicht besser, erfolgreicher sind.“ (Ebd., S. 14).

„Ressentiment ist der Haß auf den Erfolg. Was der Neidische am Erfolg haßt, ist nicht nur der Reichtum der Anderen, sondern die Anforderungen von Disziplin und harter Arbeit, die Erfolg überhaupt erst möglich machen. Dieses Ressentiment ist in der Kultur der Boheme schöpferisch geworden - als Wille zum Unglück. Die subkulturelle Verklärung der Erfolglosigkeit hat fast zwei Jahrhunderte intellektueller Antibürgerlichkeit getragen, deren Rhetorik vom »Philister« Hölderlins bis zum »Establishment« der 68er reicht.“ (Ebd., S. 14).

„Sobald der Neid keine soziale Ausdrucksform mehr findet, schlägt er um in Wut und schafft sich Luft in der Attacke auf Symbole des sozialen Unterschieds. Die wachsende ökonomische Entbehrlichkeit vieler Menschen macht diesen Umschlag heute immer wahrscheinlicher. Die Überflüssigen werden ausgeschlossen, und die intellektuellen Fanatiker nehmen sich nun dieser Menschen an, die die Weltgesellschaft aus sich ausgeschlossen hat. Wer in der Gesellschaft keine Anerkennung findet, sucht sie gegen sie. Aus Neid wird Fanatismus.“ (Ebd., S. 14).

„Im Neid droht die Leidenschaft der Gleichheit die Freiheit zu zerstören. Nun ist die Demokratie ja der Idee der Gleichheit verpflichtet; sie garantiert gleiche Rechte und formale soziale Chancengleichheit. Aber gerade dadurch werden die faktischen Ungleichheiten in Macht, Reichtum und Prestige um so auffälliger. Demokratie impliziert normative Gleichheit, und daraus folgt, daß alle ständig mit der Vermessung von Diskrepanzen beschäftigt sind. So entsteht Ressentiment. Die Verschiedenheiten vermindern sich, aber die Gleichheitserwartungen wachsen.“ (Ebd., S. 14-15).

„Das Paradoxon, daß gerade im wachsenden wirtschaftlichen Wohlstand die kulturelle Frustration wächst, stößt uns auf das Problem der sozialen Knappheit (**). Wir können uns immer mehr leisten, aber es befriedigt immer weniger. Warum? Es geht hier nicht um die natürlichen Grenzen, sondern um die sozialen Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums. Soziale Knappheit bedeutet, daß sich eine Kluft auftut zwischen den Möglichkeiten jedes Einzelnen und dem, was gesellschaftlich möglich ist.“ (Ebd., S. 15).

„Hier muß man sich noch einmal an die Grundidee der Konservativen und Liberalen erinnern, die ja darin besteht, die Frage der Umverteilung des Reichtums durch das Angebot der Teilhabe am Wachstum der Wirtschaft zu verdecken. Durch robustes wirtschaftliches Wachstum wird die Lage jedes Einzelnen positiver verändert, als das durch Umverteilung in Stagnation möglich wäre. Und dieses wirtschaftliche Wachstum wird gerade durch die Beobachtung von Konsummöglichkeiten angetrieben, die zunächst einmal nur den Erfolgreichen an der Spitze offenstehen. Die so entstehenden neuen Wünsche werden erfüllt - im Lauf der Zeit. D.h. der Luxus dieser Generation wird zum Standard der nächsten und zur selbstverständlichen Grundausstattung der übernächsten. Die Erfolgreichen bilden die Avantgarde des Konsums, und es ist gerade die Ungleichheit, die die anderen antreibt, es ihnen gleichzutun. So breiten sich die guten Dinge des Lebens allmählich von oben nach unten aus.“ (Ebd., S. 15).

„Diese erzliberale Strategie scheitert aber am Wettbewerb um die besten Plätze. Hier gilt: Wenn es einigen besser gegen soll, muß es anderen schlechter gehen. Software kann man ohne Mehrkosten millionenfach verteilen. Mein Haus dagegen, das auch mein Nachbar kaufen wollte, gibt es nur einmal. Kommunikation ist nicht knapp, wohl aber das Recht, die Umwelt zu verschmutzen. Fernsehunterhaltung ist nicht knapp, wohl aber die Chance, ungestört und angenehm zu reisen. Information ist nicht knapp, wohl aber Mobilität. Die Nachfrage nach Gesundheit und Bildung wird in Zukunft das Angebot weit übersteigen. Das liegt daran, daß es sich im Kern um persönliche Dienstleistungen handelt, deren Produktivität kaum erhöht werden kann. Auch hier ist wachsende Ungleichheit programmiert. Genau so dramatisch ist die Situation im Erziehungssystem. Im Wettkampf um die guten Plätze spielt die Bildung eine Schlüsselrolle.“ (Ebd., S. 15).

„Der Wettbewerb um die besten Plätze ist ein Nullsummenspiel. Jeder kann heute CEO werde, denn die soziale Herkunft spielt formal keine Rolle mehr, aber nicht jeder kann es sein, denn die Spitzenpositionen sind knapp. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie Gleichheit Ungleichheit erzeugt. Es läßt sich nie im voraus sagen, wer was zu sagen haben wird. Die Herkunft ist unwichtig, die Zukunft unklar - das ist die moderne Gleichheit, die ständig systemspezifische Ungleichheiten erzeugt.“ (Ebd., S. 15-16).

„Wer ein absolut knappes Gut besitzt, genießt nicht nur das Gut sondern auch seine Knappheit. Es ist immer auch ein Statussymbol, mit dem ich markieren kann, daß ich im Rennen um die besten Plätze ganz vorne liege. Wer etwas Seltenes besitzt, genießt den Neid der anderen. Daß der Nachbar entbehrt, was ich besirze, macht den eigentlichen Reiz der Sache aus. Es geht hier also um Produkte, deren Qualität sich dadurch vermindert, daß immer mehr Menschen sie wollen. Der Tourismus ist hierfür ein gutes Beispiel. Venedig wäre eine Zauberwelt - wenn die anderen nicht wären. Der Tourist sucht das Unvergleichliche und zerstört es, indem er es findet.“ (Ebd., S. 16).

„Das meiste von dem schönen Leben, das uns die bunten Zeitschriften und Boulevard-Magazine zeigen, ist für die meisten von uns unerreichbar. Und das, was die vielen dann doch erreichen können, verliert genau deshalb an Wert. Soziale Knappheit (**) heißt also: Was der Einzelne sich wünscht und als Einzelner auch bekommen kann, kann die Gesellschaft niemals erreichen.“ (Ebd., S. 16).

„Nicht Armut sondern soziale Knappheit (**) und erlernte Hilflosigkeit sind die zentralen Probleme der westlichen Welt. Deshalb erwarten die Bürger ihre Lösung auch nicht von der Wirtschaft, sondern vom Staat. In der Demokratie sind alle Bürger unabhängig und schwach. Zunehmend mischt sich der Staat auch in die geringfügigsten Angelegenheiten der Bürger ein. Er sorgt für die Gesundheit, die Arbeit, die Erziehung und Bildung seiner Bürger. Aber er sorgt auch für unsere geistige Gesundheit und flößt uns die korrekten Gefühle und Ideen ein. In den modernen Massendemokratien sind die Regierenden keine Tyrannen mehr, sondern Vormünder. Und die Regierten bewegen sich im Hamsterrad der kleinen Lüste und Vergnügungen gleich, einförmig und rastlos.“ (Ebd., S. 16).

„Wohlfahrtsstaatspolitik erzeugt Unmündigkeit, also jenen Geisteszustand, gegen den jede Aufklärung kämpft. Und so wie es des Mutes bedarf, um sich des eigenen Verstandes zu bedienen, so bedarf es des Stolzes, um das eigene Leben selbständig zu leben. Wie für das Mittelalter ist deshalb auch für den Wohlfahrtsstaat der persönliche Stolz die größte Sünde. Vater Staat will nämlich nicht, daß seine Kinder erwachsen werden. Der Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates wird den Menschen aber nicht nur aufgezwungen - sie begehren ihn, denn er entlastet sie von der Bürde der Freiheit. Die verwaltete Welt ist für viele eine Wunscherfüllung.“ (Ebd., S. 16-17).

„Die umfassend Betreuten brauchen gar keinen freien Willen mehr und empfinden die totale Vorsorge als Wohltat. Der demokratische Despotismus entlastet - vom Ärger des Nachdenkens genauso wie von der Mühe des Lebens. Ein Netz präziser, kleiner Vorschriften liegt über der Existenz eines jeden und macht ihn auch in den einfachsten Angelegenheiten des Lebens abhängig vom vorsorgenden Sozialstaat. Die Betreuer verstehen sich als die guten Hirten einer fleißigen Herde. Und die wenigen Widerstrebenden werden nicht gezwungen, sondern entmutigt; sie werden nicht tyrannisiert, sondern zermürbt.“ (Ebd., S. 17).

„Der vorsorgende Sozialstaat operiert mit drei Kurzfehlschlüssen: er schließt von Ungleichheit auf Benachteiligung, von Benachteiligung auf soziale Ursachen und von sozialen Ursachen auf paternalistische Maßnahmen. Damit übernimmt er die Gesamtverantwortung für die moderne Gesellschaft. Auch als er noch nicht so hieß, hat der vorsorgende Sozialstaat die neuen Untertanen gezüchtet - die betreuten Menschen. Sicherheit verdanken die meisten heute nicht mehr dem Gesetz, sondern der staatlichen Fürsorge. Im vorsorgenden Sozialstaat wird diese Daseinsfürsorge präventiv: Es wird geholfen, obwohl es noch gar keinen Bedarf gibt. Konkret funktioniert das so, daß die Betreuer den Fürsorgebedarf durch die Erfindung von Defiziten erzeugen. Der Wohlfahrtsstaat fördert also nicht die Bedürftigen, sondern die Sozialarbeiter.“ (Ebd., S. 17).

„»Soziale Gerechtigkeit« (**) als Umverteilung sorgt für die politische Stabilisierung der Unmündigkeit; sie bringt den Menschen bei, sich hilflos zu fühlen. Bei wohlfahrtsstaatlichen Leistungen muß man nämlich damit rechnen, daß der Versuch, den Opfern zu helfen, das Verhalten reproduziert, das solche Opfer produziert. Wer lange wohlfahrtsstaatliche Leistungen bezieht, läuft Gefahr, eine Wohlfahrtsstaatsmentalität zu entwickeln; von Kindesbeinen an gewöhnt man sich daran, von staatlicher Unterstützung abzuhängen. Und je länger man von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen abhängig ist, desto unfähiger wird man, für sich selbst zu sorgen.“ (Ebd., S. 17).

„Umverteilungspolitik reduziert also nicht die Armut, sondern die Kosten der Armut. Jede Transferleistung reduziert nämlich den Anreiz, die Armut durch eigene Produktivität zu überwinden. Mit anderen Worten: Die meisten politischen Hilfsprogramme ermutigen eine Lebensführung, die zur Armut führt. Die Massenmedien besorgen dann den Rest: Man lernt, sich hilflos zu fühlen, wenn man andere beobachtet, die unkontrollierbaren Ereignissen ausgesetzt sind. Und so sehnt man sich nach dem schützenden Vater, der in der vaterlosen Gesellschaft natürlich nur noch der Staat sein kann.“ (Ebd., S. 17-18).

„Die totale Daseinsvorsorge nimmt den Selbständigen das Geld und den Betreuten die Würde. Was die Würde des Menschen also wirklich antastet, ist gerade die Wohltat des Staates, die ihn abhängig macht. So produziert die Politik des Wohlfahrtsstaates, also typisch Umverteilung und Reichensteuer, paradoxe Effekte. Die Wohlfahrtsempfänger verlieren ihre Würde, weil sie sich das, was sie bekommen, nicht verdienen können. Die Produktiven folgen der Logik des ökonomischen Darwinismus und werden noch produktiver, um tatsächlich die »starken Schultern« zu entwickeln, auf denen die Lasten der »sozialen Gerechtigkeit« (**) ruhen.“ (Ebd., S. 18).

„Alle Sozialleistungen, an die wir uns gewöhnt haben, nehmen die Form von Rechtsansprüchen an. Dadurch verwandeln sich alle Unfälle in Sozialfälle. Eine Politik, die davon lebt, kann dauerhaft natürlich nur betrieben werden, wenn die Gesellschaft ständig Ungleichheit produziert bzw. die Empfindlichkeit für Unterschiede steigert. Diese wachsende Abweichungsempfindlichkeit hat ihren Preis. An die Stelle von Freiheit und Verantwortung treten Gleichheit und Fürsorge.“ (Ebd., S. 18).

„Vor allem in Fragen des Geschlechterverhältnisses, der Gesundheit und der Bildung erwartet die moderne Gesellschaft ganz selbstverständlich gleiche Behandlung für alle, die durch immer neue »Rechte« gewährleistet werden soll. Da diese Erwartung aber so unrealistisch wie selbstverständlich ist, erzeugt sie bei den Begünstigten eine permanente Unzufriedenheit. Um diese Unzufriedenheit von sich abzulenken, verspricht die Regierung dann regelmäßig »mehr Gleichheit«. So können die Bürger Begünstigungen von Anrechten kaum mehr unterscheiden.“ (Ebd., S. 18).

„Nach dem Grundgesetz leben wir in einem sozialen Rechtsstaat, doch Rechtsstaat und Sozialstaat stehen nicht in prästabilierter Harmonie. Der Rechtsstaat gewährleistet, der Sozialstaat gewährt. Gegen die Abhängigkeit vom leistenden, gewährenden Staat bietet die Rechtsstaatlichkeit heute keinen rechten Schutz mehr. Deshalb droht uns ständig, durch Betreuung beherrscht zu werden - erst betreut, dann abhängig, dann gebeugt.“ (Ebd., S. 18).

„Doch Betreuung ist in der modernen Gesellschaft nicht mehr das einfache Gegenteil der Selbständigkeit. Modernes Leben steht nämlich unter dem Motto: je freier, desto abhängiger. Um selber mehr leisten zu können, macht man sich von fremden Leistungen abhängig. Man verzichtet auf Herrschaft, um besser steuern zu können. Abhängigkeit von staatlichen Leistungen und Spielräume der Existenz wachsen miteinander. Deshalb kann die Lösung des Problems nicht darin bestehen, einfach »weniger Staat« zu wagen. Vielmehr geht es um das rechte Verständnis des sozialen Rechtsstaats.“ (Ebd., S. 18-19).

„Wir müßten begreifen, daß das Wort »sozial« selbst keinen juristischen Sinn hat, sondern ein rein politischer Zielbegriff ist, der vor allem auf die Güterverteilung bezogen ist. Der Kern des Rechtsstaats ist die Verfassung, die gewährleistet, der Kern des Sozialstaats ist die Verwaltung, die gewährt. Diese Spannung kann man nicht abbauen, sondern nur institutionalisieren. Und aus all dem folgt für unser Thema: Man sollte die Entzweiung von Rechtsstaat und Sozialstaat positivieren, statt sie durch den Tabubegriff der »sozialen Gerechtigkeit« (**) zu verdecken. An der Gerechtigkeit muß man arbeiten wie an einem Mythos. Und hier ist der Bürger der Held.“ (Ebd., S. 19).

„Soziologisch betrachtet, gilt: Es gibt keine gerechte Gesellschaft (**). Aber politisch betrachtet, scheint es unerträglich, daß Gerechtigkeit zu einem formalen Sonderwert des modernen Rechtssystems kondensiert werden soll. Um die Grenzen der möglichen Gerechtigkeit zu erkennen, braucht man die Tapferkeit der Bürgerlichkeit. Sie besteht darin, auf ein Konzept von Glück als Wunscherfüllung zu verzichten. Die Tapferkeit des Bürgers bewährt sich darin, daß er seine Identität in der rituellen Aufrechterhaltung der sozialen Situation sucht, seine Würde im Konsumiertwerden durch die Institutionen findet und in der Funktionsfähigkeit der sozialen Systeme das moderne Äquivalent für Gerechtigkeit anerkennt. Modernisierung erscheint hier als ein Prozeß, der die Menschen zwingt, vom alten Perfektionsideal der Gerechtigkeit Abschied zu nehmen und sich zunächst mit der Rechtssicherheit, schließlich aber nur noch mit der Funktionsfähigkeit der sozialen Systeme zu begnügen. Modern setzen wir also nicht auf eine gerechte Gesellschaft, sondern auf eine funktionsfähige.“ (Ebd., S. 19).

„Wir sollten zufrieden sein mit dem, was gut genug ist, statt mit absurdem Aufwand nach der optimalen Lösung zu suchen. Also genug statt gleich viel. Das hat nichts mit Bescheidenheit, sondern lediglich mit der Einsicht in den sinkenden Grenznutzen aller Gleichstellungsbemühungen zu tun. Nüchtern betrachtet, kann Gleichheit unter modernen Lebensbedingungen nur heißen: Inklusion, die Möglichkeit der Teilnahme aller an den sozialen Systemen. Und wer alle integrieren will, muß auf die Gleichheit aller verzichten.“ (Ebd., S. 19).

„Die sozialen Unterschiede sind der Preis, den wir für die Freiheit in der modernen Gesellschaft bezahlen müssen. Sie sind erträglich, solange jedem die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs offen steht; solange die Konflikte zwischen den sozialen Klassen nicht in Feindschaft sondern in »Partnerschaft« ausgetragen werden; und solange der Staat die Rahmenbedingungen des Daseins garantiert. Egalitarismus dagegen ist eine Anleitung zum Unglücklichsein.“ (Ebd., S. 19-20).

„Die Schwierigkeit einer möglichen Gerechtigkeit liegt allerdings darin, daß sich »gleich viel« vielleichter berechnen läßt als »genug«. Und genug heißt heute: genug für ein gutes Leben. Wir müssen unterscheiden lernen zwischen der vernünftigen Forderung, daß jeder genug haben soll, und der utopischen Forderung, daß jeder gleich viel haben soll. Daß es einem schlechter geht als anderen, kann immer noch heißen, daß es einem gut genug geht. Wer dagegen auf Gleichheit fixiert ist, bemißt seine Lebenszufriedenheit nicht an dem, was ihm selbst zur Verfügung steht, sondern an dem, was anderen zur Verfügung steht. Die Sorge um die Gleichheit lenkt ihn ab von der Sorge um sich, also von der Frage, was wirklich wichtig ist.“ (Ebd., S. 20).

Tocquevilles unheimliche Aktualität

„Das Thema dieses Buches ist das alte Thema des Aristokraten Alexis de Tocqueville: die Gefährdung der Freiheit durch die Gleichheit. Ich halte dieses Thema für aktueller denn je. Man ist hier natürlich sehr leicht versucht, Partei zu ergreifen: Partei für die Gleichheit gegen die Freiheit, Partei für die Freiheit gegen die Gleichheit. Von Tocqueville können wir aber lernen, wie man es besser macht. Er hat das Problem gleichsam »stereoskopisch« betrachtet, vom Blickpunkt Gottes aus, wie er selbst gesagt hat. Tocqueville beläßt es nicht bei einer Kulturkritik der Massendemokratie, ihrer Glanzlosigkeit, Einförmigkeit, Mittelmäßigkeit und bequemen Friedlichkeit. Er sieht auch die neue Größe der Gerechtigkeit, die die demokratische Leidenschaft für die Gleichheit gebracht hat; er will das neue Gute retten. Darin ist er bis heute unübertroffen.“ (Ebd., S. 21).

„Es gibt keinen Text des 19. Jahrhunderts, der für unser Thema eine größere Bedeutung und Aktualität hat als Alexis de Toquevilles Betrachtungen über die Demokratie in Amerika (**). Seine entscheidende Ausgangsbeobachtung ist die, daß moderne demokratische Gesellschaften zwar die Freiheit lieben, daß Freiheit aber nicht das wesentliche Ziel ihrer Wünsche ist. Die ewige Liebe der Demokraten gilt der Gleichheit. Und hier trifft Toqueville nun eine bedeutsame Unterscheidung. Es gibt eine berechtigte Leidenschaft für die Gleichheit, die die Menschen anspornt, sich um die Anerkennung und Achtung von ihresgleichen zu bemühen - man könnte sagen: eine Leidenschaft für die Gleichheit aus Stärke. Aber es gibt auch eine entartete Gleichheitssucht, wo die Schwachen versuchen, die Starken auf ihr Niveau herabzuziehen - also eine Leidenschaft für die Gleichheit aus Schwäche. Und in dieser Gleichheitssucht steckt die größte Gefahr der modernen Demokratie, nämlich die Verlockung, einer Ungleichheit in der Freiheit die Gleichheit in der Knechtschaft vorzuziehen.“ (Ebd., S. 21).

„Freiheit und Gleichheit erweisen sich im Zeitalter der Demokratie als ungleiche Dinge. Der Preis der Freiheit ist sofort spürbar; der Preis der Gleichheit macht sich erst allmählich bemerkbar. Und umgekehrt: Die Wohltaten der Freiheit zeigen sich erst allmählich, aber die Wohltaten der Gleichheit spürt man sofort. Es kann deshalb nicht überraschen, daß die Leidenschaft für die Gleichheit sehr groß, die Liebe zur Freiheit aber nur sehr mäßig temperiert ist. Und daß man im Zweifel die Freiheit der Gleichheit opfert - lieber Barbarei als Aristokratie.“ (Ebd., S. 21-22).

„Zu den großen, aktuellen Themen Tocquevilles gehört die Versklavung des demokratischen Lebens durch die Tyrannei der öffentlichen Meinung. Und auch heute gilt ja noch: Nichts fürchtet die Regierung mehr als einen selbständig denkenden Menschen. Nietzsche hat einmal gesagt, der große Mensch sei »ohne Furcht vor der ›Meinung‹« (Friedrich Nietzsche, Werke, Band III, S. 846). Und das heißt eben auch umgekehrt, daß massendemokratische Gesellschaften, die große Menschen ja nicht mehr kennen, durch die Furcht vor der Meinung der anderen zusammengehalten werden. Je weniger sich die Meinungen der Einzelnen in der massendemokratischen Öffentlichkeit zur Geltung bringen können, desto stärker wird der Druck der öffentlichen Meinung auf den Enzelnen und sein Meinen. Man könnte auch sagen: Die öffentliche Meinung zähmt das Meinen.“ (Ebd., S. 22).

„Die in der modernen Welt unabweisbare Forderung der Gleichheit führt zu einem Autoritätsverlust, den jeder Einzelne als Orientierungslosigkeit erfährt; und deshalb ergibt sich der Massendemokrat widerstandslos der Tyrannei der öffentlichen Meinung. Ich verstehe nicht, was los ist, nehme aber an, daß alle anderen verstehen, was los ist. Es gibt aber die Möglichkeit, daß sich die meisten Menschen in ihrem Urteil über die Meinung der meisten Menschen irren. Dieser Irrtum potenziert sich dann in der öffentlichen Meinung über die öffentliche Meinung. Wenn sich aber die Mehrheit über die Mehrheit täuscht, muß dem eine Angstdynamik zugrunde liegen, die so alt ist wie die Demokratie: die Angst, von der Mehrheit geächtet zu werden. Man glaubt, was andere glauben, weil sie es glauben. Und wer zu einem Thema bisher eine andere Meinung hatte, kann sie ohne Gesichtsverlust ändern, wenn und solange er anonym bleibt, also schweigt. Aus Angst vor Isolation beobachtet man ständig die öffentliche Meinung. Und öffentlich heißt eben genau die Meinung, die man ohne Isolationsangst aussprechen kann: Was man so sagt.“ (Ebd., S. 22).

„Doch was man sagt, ist in Demokratien zumeist die Meinung gut artikulierter Minderheiten. In der Mediendemokratie der Gegenwart werden die Menschen durch eine Sprache versklavt, die als die unwiderrufliche der Mehrheit auftritt. Deshalb kann man vermuten, daß die öffentliche Meinung nicht der Majorität, sondern der Orthodoxie, die heute Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**) heißt, zum Ausdruck verhilft. Und da es auf Dauer zu anstrengend ist, anders zu denken als man redet, denken die meisten auch schon politisch korrekt. Heute dürfen die meisten Menschen sagen und schreiben, was sie wollen, weil sie ohnehin dasselbe denken.“ (Ebd., S. 22-23).

„All das hat Tocqeville schon genau gesehen. Doch auch hier bestechen die Beobachtungen des Aristokraten durch ihre besonnenen Unterscheidungen. Zunächst einmal hält Tocqueville fest, daß keine Gesellschaft ohne dogmatische Überzeug leben kann, die der Einzelne ungeprüft, auf Treu' und Glauben übernimmt. Die Kürze des Lebens und die Grenzen des Verstandes machen es unmöglich, alle Lebensumstände selbst zu erforschen. Auch demokratische Gesellschaften brauchen geistige Autorität, und es gibt keine vernünftige Alternative dazu, sich bestimmte Meinungen im Vertrauen auf andere zu eigen zu machen. Sehr schön spricht Tocqueville hier von einer »heilsamen Unterwerfung« (Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1831-1832, S. 584), denn sie macht überhaupt erst einen sinnvollen Gebrauch von Freiheit möglich.“ (Ebd., S. 23).

„Doch die strikte demokratische Orientierung am Ideal der Gleichheit verwandelt diese heilsame Unterwerfung in eine neue Form von Tyrannei. Denn je größer die Gleichheit zwischen den Bürgern ist, desto geringer wird die Bereitschaft des Enzelnen, einem bestimmten anderen zu glauben oder gar zu gehorchen. Gerade weil die Menschen sich als gleichartig verstehen, glauben sie nicht aneinander. Gleichzeitig aber wächst die Bereitschaft, an die größte Zahl, an die Masse zu glauben. Man mißtraut dem Nächsten und hat gleichzeitig ein unbegrenztes Vertrauen in die öffentliche Meinung. Ich glaube nicht dir, sondern der Statistik.“ (Ebd., S. 23).

„Tocqueville sieht also schon sehr klar, daß es in modernen Demokratien nicht um Argumente und Überzeugung geht, sondern daß die öffentliche Meinung einen geistigen Druck ausübt, dem sich niemand entziehen kann. Das ist aber nicht mehr jene heilsame Knechtschaft einer freiwilligen Unterwerfung unter die geistige Autorität der Gesellschaft, sondern ein neues Gesicht der Knechtschaft. Dieses Gesicht hat 170 Jahre nach Tocqueville noch deutlichere Konturen bekommen. Wir beschreiben es gleich unter dem Titel »Politische Korrektheit« (**|**|**|**|**|**|**|**|**).“ (Ebd., S. 23).

„In der Demokratie sind alle Bürger unabhängig und schwach. Sie erwarten deshalb nichts vom Nächsten, aber alles vom Staat. Tocqueville hat dieses Grundproblem der Demokratie in aller Schärfe gesehen und war deshalb in der Lage, unseren heutigen »vorsorgenden Sozialstaat« vorauszusehen. Zunehmend mischt sich der Staat auch in die geringfügigsten Angelegenheiten der Bürger ein. Er sorgt für die Gesundheit, die Arbeit, die Erziehung und Bildung seiner Bürger und präsentiert sich so als Helfer in allen Nöten. Aber er sorgt auch für unsere geistige Gesundheit und flößt uns die korrekten Gefühle und Ideen ein.“ (Ebd., S. 23-24).

„Diese Beobachtungen Tocquevilles münden in ein grandioses Kapitel über demokratischen Despotismus, in dem er eine welthistorisch neue Form von Unterdrückung beschreibt. Tocqueville bemerkt sofort, daß traditionelle Begriffe wie Tyrannei und Despotie eigentlich nicht mehr zur Beschreibung taugen, ohne daß er doch einen neuen Begriff anbieten könnte. Was ist also mit demokratischem Despotismus gemeint? In den modernen Massendemokratien sind die Regierenden keine Tyrannen mehr, sondern Vormünder. Und die Regierten bewegen sich im Hamsterrad der kleinen Lüste und Vergnügungen - gleich, einförmig und rastlos. Es ist faszinierend zu sehen, wie genau sich Tocquevilles Beschreibung des massendemokratischen Alltags mit der Figur des »letzten Menschen« trifft, der wenige Jahre später in »Also sprach Zarathustra« die Bühne betreten wird.“ (Ebd., S. 23-24).

„Der demokratische Despotismus ist die Herrschaft der Betreuer, eine gewaltige, bevormundende Macht, die das Leben der Vielen überwacht, sichert und vergnüglich gestaltet. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild. Sie wäre der väterlichen Gewalt gleich, wenn sie wie diese das Ziel verfolgte, die Menschen auf das reife Alter vorzubereiten; statt dessen aber suchen sie bloß, sie unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten.“ (Ebd., S. 24).

„Die umfassend Betreuten brauchen gar keinen freien Willen mehr und empfinden die totale Vorsorge als Wohltat. Der demokratische Despotismus entlastet - vom Ärger des Nachdenkens genauso wie von der Mühe des Lebens. Ein Netz präziser, kleiner Vorschriften liegt über der Existenz eines jeden und macht ihn auch in den einfachsten Angelegenheiten des Lebens abhängig vom vorsorgenden Sozialstaat. Die Betreuer verstehen sich als die guten Hirten einer fleißigen Herde. Die Widerstrebenden werden nicht gezwungen, sondern entmutigt; sie werden nicht tyrannisiert, sondern zermürbt. So entsteht eine Art von geregelter, milder und friedsamer Knechtschaft. Und niemand scheint sich an der Bevormundung, der Herrschaft der Betreuer zu stören, weil man sich ja einreden kann, die Vormünder selbst gewählt zu haben.“ (Ebd., S. 24).

„Der Staatsrechtler Carl Schmitt hat immer wieder betont, daß nur Gott aus nichts etwas schaffen kann. Aber die Aufklärung über den Vorrang der Nahme verändert nichts an dem Bedürfnissen der Menschen, den Götzen Sozialstaat und sein Ritual der Umvert, hat Dostojewskiis Großinquisitor unüberbietbar formuliert: »Wenn sie aus unseren Händen die Brote empfangen, werden sie natürlich sehen, daß wir diese Brote, das Werk ihrer eigenen Hände, ihnen nehmen, um sie unter ihnen zu verteilen, daß von einem Wunder nicht die Rede sein kann; sie werden sehen, daß wir mitnichten Steine in Brot verwandeln, aber sie werden wahr und wahrhaftig, mehr noch als über das Brot, sich darüber freuen, daß sie es aus unseren Händen erhalten!«  (Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Die Brüder Karasamov, 1879-1880, S. 417).“ (Ebd., S. 24-25).

„»Tragisch« ist ein Adjektiv, das man sparsam verwenden sollte. Aber es drängt sich doch unwiderstehlich auf, wenn man das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit in der modernrn Gesellschaft charakterisieren soll. Gerhard Leibholz, Jurist und Richter am Bundesverfassungsgericht, hat das schon vor einem halben Jahrhundert formuliert. Das Grundprinzip der Demokratie, Gleichheit, »widerstreitet in ihrer grundsätzlichen Tendenz ebenso der Freiheit, wie diese der Gleichheit entgegengesetzt ist. Die Gleichheit bedarf der Freiheit nur insofern, als und soweit sie mit ihrer Hilfe ein höheres Maß von Gleichheit sichern kann.« (Gerhard Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1958, S. 66). Schon die Jakobiner haben die Freiheit auf dem Altar der Gleichheit geopfert. Und man kann die berühmte Parole der französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (**) - eben so verstehen, daß man das Phantom der Brüderlichkeit braucht, um den Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit zu verdecken.“ (Ebd., S. 25).

„Seit der französischen Revolution ist die Gleichheit aller Menschen eine institutionalisierte Vorstellung, oder um es mit dem Sozialanthropologen Arnold Gehlen zu sagen: eine »obligatorisch gewordene Fiktion« (Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 1956, S. 210), die die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit prägt. Und schon damals trat die Freiheit hinter die Politik der Verminderung des Elends zurück. Seither ist Mitleid die zentrale politische Tugend. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit miteinander zu verknüpfen war der große semantische Coup der französischen Revolution (**). Die Betreuer dieser Werte stehen heute aber in feindlichen Lagern: Liberale (**), Sozialisten (**) und Humanitaristen (**).“ (Ebd., S. 25). **

„Da ist, erstens, der Liberalismus, der den Spitzenwert der Freiheit betreut. Wer fragt »Freiheit wozu?«  ist für den echten Liberalen ein Knecht. Und allein das macht schon deutlich, daß wir es hier mit einer Minderheitenposition zu tun haben. Die erhabene Lust, frei zu sein, ist dem Geist der Massendemokratie fremd. Zwar wollen auch die Menschen in modernen Massendemokratien auf: dem Bedürfnis, geführt zu werden. Auch das ist eine Freiheit. Aber das Freiheitsverlangen tritt immer gemeinsam mit einer ihm feindlichen Leidenschaft Einsicht Tocquevilles.“ (Ebd., S. 26).

„Was der Liberale in der Frage nach dem Wozu der Freiheit spürt, ist die Angst vor der Freiheit, der es eben an einer Autorität mangelt, der man sich unterwerfen könnte. Und tatsächlich hat Freiheit ihren Preis. Mehr Optionen verbessern nämlich nicht unbedingt die Situation. Manchmal wäre man froh, weniger Wahlmöglichkeiten zu haben. Hinzu kommt die höhere Riskanz des freien Lebens. Das war ja schon die Lektion der alten Griechen: Auf der Spitze der Freiheit beginnen die Menschen zu spielen, und zwar Nullsummenspiele, in denen der eine gewinnt, was der andere verliert - in genauem Gegensatz zum Tausch auf dem Markt. Es geht um Rivalität und Wettbewerb; und deshalb hatten vormoderne Kulturen ein positives Verhältnis zum Krieg.“ (Ebd., S. 26).

„All das macht verständlich, warum es für die meisten Menschen Wichtigeres gibt als die Freiheit. Sie ist eine unwahrscheinliche evolutionäre Errungenschaft der westlichen Welt, die weder in anderen Kulturen noch in der Natur des Menschen verankert ist. Für den Liberalen ist Freiheit der einzig gangbare Weg zur Gleichheit. Für den Sozialisten ist Gleichheit die Bedingung konkreter Freiheit. Insofern war der viel kritisierte Wahlkampfslogan »Freiheit oder Sozialismus« (**) - wir werden allerdings später noch einen wichtigen Vorbehalt anbringen! -  sachlicher als alles, was uns seither von den Parteizentralen angeboten worden ist. (Ebd., S. 26).

„Und damit sind wir, zweitens, beim Sozialismus, der einen Kult der Gleichheit zelebriert. In liberaler Betrachtung ist der Sachverhalt klar: Mit der aggressiven Forderung der Gleichheit bedroht die Gesellschaft die Freiheit des Einzelnen. Die Gemeinnützigkeit frißt das Privatrecht auf; der Kampf gegen die Privilegien schlägt in einen Haß gegen Verschiedenheit überhaupt um. Was als Freiheitsliebe erschien, war nur die Wut auf den Herrn. Auch das zeigt die Geschichte der französischen Revolution. Freiheit und Gleichheit kämpfen zunächst gemeinsam, aber sie trennen sich nach dem Sieg. Nur solange die Gleichheit die Freiheit politisch benutzen kann, stehen Gleichheit und Freiheit im Bündnis. Nur im Kampf gegen autokratische Machthaber sind Freiheit und Gleichheit Verbündete. Der Kult der siegreichen Gleichheit fordert dann aber rasch das Opfer der Freiheit. Er wird so fanatisch, daß er die Knechtschaft in Kauf nimmt.“ (Ebd., S. 26).

„Die zweihundert Jahre von der Französischen bis zur feministischen Revolution bieten uns eine Fülle von Beispielen dafür, daß bei jeder Emanzipation Freiheit nur die Maske der Gleichmacherei ist. Und wenn man bedenkt, daß Emanzipation wörtlich heißt: aus der Hand des Herrn entlassen, dann macht jede Verheißung der Emanzipation aus den Angesprochenen Sklaven. So vollendet sich heute - trotz anhaltenden Widerstands einiger »unvernünftiger« Völker - in Brüssel die europäische Demokratie in einer neuen, sublimen Sklaverei. Luther predigte spirituelle Freiheit in (zum Teil) politischer Knechtschaft; wir haben heute spirituelle Knechtschaft in (zum Teil) politischer Freiheit.“ (Ebd., S. 26-27).

„Sozialismus ist der Fetischismus der Gleichheit. Man tut so, als wäre Gleichheit ein Wert an sich - und daraus folgt dann zwingend, daß Ungleichheit an sich ein ethisches Problem ist. Daß es sich hier um reine Wortpolitik handelt, ist für jeden Beobachter der modernen Gesellschaft evident. Aber die sozialistische Rhetorik verfängt gerade, weil sie »kontrafaktisch« ist. Wie der Soziologe Niklas Luhmann im Rückblick auf die Heldenzeit des Republikanismus formuliert: »Die Gesellschaft konnte Freiheit und Gleichheit für alle proklamieren, da ihre Funktionssysteme den umgekehrten Zustand generierten.« (Niklas Luhmann, Aufsätze und Reden, S. 289). Realistischerweise kann Gleichheit heute aber nur heißen: Inklusion, die freigestellte Teilnahme aller an allen sozialen Systemen. Und aus der Perspektive eines funktionierenden Staates gibt es Gleichheit nur als Gleichgültigkeit. (Ebd., S. 27).

„Bleibt schließlich, drittens, die Übersetzung der Brüderlichkeit in die Ideologie des Humanitarismus. Auch diese Sehnsucht nach Einheit richtet sich gegen die Freiheit. Freigesetzt wird man nämlich durch Trennungen. Und nur das völlig Unterschiedene kann man dann auch lieben. Leben ist Stückwerk, nicht die große Kette der Wesen - so zumindest müßte ein Christ es sehen. Doch der Humanitarismus der christlichen Kirchen dreht sich heute um den Gottesdienst der Gleichstellung.“ (Ebd., S. 27).

„Wir werden von der Sprache leicht dazu verführt, Humanitarismus mit Humanität zu assoziieren. Das ist aber irrig. Man könnte eher sagen: Humanitarismus ist der Kampf gegen die Humanität, sofern es darum geht, alle Unterschiede zwischen den Menschen und dem anderen Lebendigen zu nivellieren. Die Emanzipation hört bei Sklaven, Frauen und Kindern nicht auf. Jetzt fordert man Rechte und Gerechtigkeit für Menschenaffen. Da kann auch die »biosphärische Gleichheit« der radikalen Ökologie nicht mehr überraschen, die Menschen auf die gleiche Stufe mit allem anderen Leben stellt.“ (Ebd., S. 27).

„Die Umweltaktivisten sind Schüler des Monisten Ernst Haeckel. Er hat nicht nur den Begriff Ökologie geprägt, sondern auch erstmals Rechte für Tiere gefordert und vorgeschlagen, den christlichen Gottesdienst durch die Verehrung der Großen Mutter Natur zu ersetzen. Dem entspricht heute ein biozentrischer Gleichheitsbegriff, der allen Organismen der Erde den gleichen inneren Wert zuschreibt. Tiere haben aber keine Rechte. Wir verbieten uns nur, sie zu quälen. Und wir gebieten uns, sie zu schützen. Es ist einfach ein logischer Fehlschluß, aus Gesetzen gegen Tierquälerei ein Recht der Tiere abzuleiten. Menschen und Tiere sind nicht gleich.“ (Ebd., S. 27-28).

„Aber am Ende wird man wohl auch das Lebensrecht der Pflanzen auf die humanitaristische Agenda setzen. Und bereits heute gibt es Leute, die nur Früchte essen, die schon vom Baum gefallen sind. Hier wird die Evolutionstheorie zur kosmischen Religion umfunktioniert: Die Natur ist unsere Mutter! Jeder Christ sollte aber wissen, daß das falsch ist. G. K. Chesterton sagte einmal, daß jeder, der die Natur als seine Mutter verehrt, herausfinden wird, daß sie nur seine Stiefmutter ist.“ (Ebd., S. 28).

„Kein Phänomen unserer Zeit bestätigt die unheimliche Aktualität Tocquevilles eindringlicher als die Sprachpolitik der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**). Sie sabotiert die Meinungsfreiheit. Das hat der Wirtschaftswissenschaftler Carl Christian von Weizsäcker sehr gut erkannt: »Wenn zwar formal Meinungsfreiheit besteht, jedoch in Wirklichkeit die Äußerung abweichender Meinungen von denen bestraft wird, die die Macht haben, dann herrscht keine eigentliche Meinungsfreiheit. Der freie Diskurs ist gestört. Man hört nur ›politisch korrekte‹ Äußerungen. Von einer eigentlichen Demokratie kann nicht gesprochen werden.« (Carl Christian von Weizsäcker, Der Grundgedanke heißt Freiheit, in: Merkur, # 653/654, 2003, S. 809).“ (Ebd., S. 28).

„Heute wird die abweichende Meinung schärfer kontrolliert als die abweichende Handlung. Auf die abweichende Meinung reagiert man nicht mit Widerspruch, sondern mit Empörung. Es gibt eine Art progressiver Steuer auf Meinungen, die von der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) abweichen. Und so kann sich die Orthodoxie der öffentlichen Meinung am Ende sogar gegen die Majorität durchsetzen, die dadurch erst wirklich zur »schweigenden Mehrheit« wird - ein Phänomen, das die von Tocqueville inspirierte Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann die Schweigespirale genannt hat. Diese Sprachpolitik hat aber erst dann ihr Ziel erreicht, wenn die Menschen unfähig sind, einen politisch unkorrekten Gedanken zu denken.“ (Ebd., S. 28).

„Die Sprachpolitik der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) kann unmittelbar anknüpfen an Rousseaus positiven Begriff der Zensur als Sprachregelung. Der Wille des Volkes will immer das Richtige, kann es aber nicht sagen und braucht deshalb einen Dolmetscher. Die öffentliche Meinung und kollektive Entscheidungsprozesse« waschen und reinigen« die Präferenzen des Einzelnen; er kann nur einen kleinen Ausschnitt seiner Vorlieben und Überzeugungen als Anspruch in die politische Öffentlichkeit tragen.“ (Ebd., S. 28).

„Zu den wichtigsten Aufgaben der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**) gehört es, die Diagnose eines Zusammenpralls der Zivilisationen, eines Kampfs der Kulturen als Diskriminierung und gefährliche Stimmungsmache zu diskreditieren. Damit verschleiert die Politische Korrektheit ihre eigene Strategie. Es gibt heute nämlich nicht nur einen Kulturkampf sondern zwei (das sagte schon Spengler! Anm. HB). Zum einen, und das ist bekannt, steht der Westen gegen den Rest der Welt (»Farbige Weltrevolution«, so Spengler! Anm. HB). Zum zweiten, und das wird von jener Sprachpolitik geschickt verdeckt, gibt es einen Kampf gegen den Westen innerhalb des Westens selbst (»Weiße Weltrevolution«, so Spengler! Anm. HB). Gemeint ist der antibürgerliche Affekt, der von den Linksintellektuellen kultiviert wird.“ (Ebd., S. 29).

„Es gibt eine sehr einfache, aber robuste Erklärung dafür, warum fast alle Intellektuellen der westlichen Welt politisch links stehen (wohlgemerkt: nicht alle! Anm. HB): Sie gelten sehr viel, aber sie verdienen recht wenig. Und ständig sind sie mit den Erfolgstypen der bürgerlichen Welt konfrontiert, die sehr viel verdienen, obwohl sie den Intellektuellen geistig weit unterlegen zu sein scheinen (wohlgemerkt: scheinen! Anm. HB). Soziologen drücken das so aus: Das typisch antibürgerliche Ressentiment der Intellektuellen entsteht durch das Ungleichgewicht von Status und Einkommen.“ (Ebd., S. 29).

„Die Geburt des Linksintellektuellen aus dem Haß auf den erfolgreichen Bürger -wir konnten das in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts noch einmal miterleben. Seine Gefühlswelt ist geprägt von der Denunziation der Leistung, des Erfolgs, der Exzellenz und der Dämonisierung des Wettbewerbs und des Profitmotivs. Jede Wirtschaftskrise wird hier dankbar aufgenommen, um den Untergang des Kapitalismus anzusagen und im Namen der Menschheit Gerechtigkeit als Gleichheit zu fordern. Doch hinter der Gleichheitspredigt steckt die Rachsucht - wir werden das in einem Kapitel über den Neid (**) noch ausführlich begründen.“ (Ebd., S. 29).

„Wer Gleichheit fordert, will Privilegien. Das gilt vor allem für Intellektuelle. Sie sind es, die betrügen wollen, indem sie »Menschheit« sagen. (»Wer ›Menschheit‹ sagt, will betrügen« [Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1927, S. 55]). Dieser ja eigentlich sehr farblose Begriff bekommt seine spezifisch antibürgerliche Färbung dadurch, daß die Menschen als Opfer eines Systems umworben werden. Und schon seit Jahrzehnten ist dieser Stellenrahmen konstant geblieben, während die Besetzungen dem Zeitgeist angepaßt wurden. Als Opfer-Klasse bot sich zunächst der ausgebeutete Arbeiter an. Seine Rolle übernahm dann die unterdrückte Frau; und heute ist es die verschmutzte, ausgebeutete, geschändete Natur.“ (Ebd., S. 29). **


„Ein Scherzwort der us-amerikanischen Konservativen macht diesen Substitutionszusammenhang sehr schön deutlich. Sie nennen die Umweltaktivisten »Wassermelonen«: außen grün, innen rot.“ (Ebd.).

„Dieser Diskurs kann nur aufblühen, wenn er fest in einer Institution verankert ist. Diese Institution ist die moderne Universität des Ressentiments. Sie hat eine einfache Strategie entwickelt, um sich unangreifbar zu machen. Wenn man versucht, innerhalb der Universität Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**) zu thematisieren, wird man typisch folgendes erleben: Entweder leugnen die Akademiker, daß es eine derartige Sprachpolitik überhaupt gibt, oder sie halten sie für eine Erfindung der Rechten. US-amerikanische Geisteswissenschaftler werden dann sogar »dialektisch » und behaupten, es sei heute politisch korrekt, die Politische Korrektheit zu kritisieren. Kurzum: Nur die politisch korrekte Interpretation dessen, was politische Korrektheit ist, wird akademisch zugelassen.“ (Ebd., S. 29-30).

„Wenn die Versklavung durch die öffendiche Meinung am größten ist, schlägt die Stunde der Philosophie. Aber der Staat hat zu Recht Angst vor der Philosophie - und deshalb züchtet er Philosophiebeamte. Sie denken nicht, sondern sie denken den Brüsseler Kommissionen, UN-Resolutionen und Kyoto-Protokollen nach. Ihre Verführbarkeit durch die Politik, die Bestechlichkeit durch Lob und die Unfähigkeit, der öffendichen Meinung zu widerstehen, sind die Hauptlaster der Intellektuellen in modernen Massendemokratien.“ (Ebd., S. 30).

„Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) ersetzt heute paßgenau die religiöse Richtigkeit. Sie ist der Religionsersatz der Akademiker. Das neue theokratische Zeitalter, das der Geschichtsphilosoph Giambattista Vico schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts angekündigt hat (**), spricht diese Sprache und tritt politisch als Egalitarismus auf. So kann man wortpolitisch Ordnung im Chaos stiften, Orientierungsmarken in der Neuen Unübersichdichkeit setzen. Die moralische Gewißheit der Politischen Korrektheit kompensiert die kognitive Ungewißheit des modernen Lebens. Und Stabilität gewinnt dieser Akademikerglaube gerade durch seine Distanz zum gesunden Menschenverstand. »Stammtisch« ist schon immer ein Fetisch der Linksintellektuellen gewesen, mit dem sie den gesunden Menschenverstand bekämpfen.“ (Ebd., S. 30).

„Die Behandlung des Ungleichen als Gleiches wird heute als Wert konzipiert - die Farbigen und die Weißen, die Kinder und die Erwachsenen, die Frauen und Männer, die Armen und Reichen, die Kleinen und die Großen, die Dummen und die Klugen. Der Geist der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) läßt sich deshalb auf eine ganz einfache Formel bringen: Wahrheit ist relativ. Er kämpft nicht gegen die Unwahrheit sondern gegen die Intoleranz. Nichts und niemand soll verachtenswert sein. Der gesunde Menschenverstand sagt einem aber: Man kann nicht das Gute finden und bewundern, ohne das Schlechte mit zu entdecken - und zu verachten.“ (Ebd., S. 30).

„Die Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) treibt dem Menschen das Unterscheiden aus und erschwert ihm damit die Identitätsbildung. Obwohl gerade die Intellektuellen wissen müßten, daß jede Entdifferenzierung der Gewalt den Boden bereitet, arbeiten sie hartnäckig am Abbau von Leitunterscheidungen wie alt/jung oder männlich/weiblich. Wenn man etwa daran erinnert, daß sich das Politische traditionell in zwei orthogonal zueinander stehenden Unterscheidungen, nämlich Freund / Feind und Herr / Knecht, bildet, so ist es natürlich nicht überraschend, daß die Politische Korrektheit von beiden Unterscheidungen nichts wissen will. Sie ist das Unpolitische als Politik.“ (Ebd., S. 31).

„»Wo Unterschiede fehlen, droht Gewalt.« Dieser Satz des Kulturanthropologen René Girard müßte über dem Eingangstor zur modernen Massendemokratie stehen. Kultur ist immer Differenzierung, und Entdifferenzierung provoziert Gewalt. Denn nicht die Unterschiede, sondern ihre Auflösung erzeugen Rivalität. Der Rivale ist mein Modell; sein Wunsch zeigt mir das Objekt meines Begehrens. Früher haben Religion und Stratifikation diese Imitationskonflikte in Schach gehalten. Und es ist eine bittere Ironie der Weltgeschichte, daß der moderne Demokratisierungsprozeß die Macht der Rivalität nicht geschwächt, sondern gesteigert hat. Gerade der moderne Gleichheitsgrundsatz erzeugt Gewalt. Der Verlust der Unterschiede ruft allererst die Rivalität ins Leben, für die dann die Unterschiede verantwortlich gemacht werden. Das ist die Sprengladung des Begriffs »soziale Gerechtigkeit« (**). Wir kommen gleich in einem eigenen Kapitel darauf zurück.“ (Ebd., S. 31). **


„Rivalität eskaliert sehr leicht, wenn sie keine anerkannten Ausdrucksformen findet. Deshalb sind Gewalt und Ausschluß stark korreliert. Auf der einen Seite der Grenze entfaltet sich die Erfolgsgeschichte der Systeme - auf der anderen Seite explodiert der Haß auf alles, was funktioniert. Ich zerstöre, also bin ich. Zerstörung ist eine fundamentale Art, sich zum Herrn zu machen. Man kennt das von Jugendlichen, deren martialisches Outfit das Modebild der großen Städte prägt. Sie wollen uns Angst einjagen,. weil sie es nicht schaffen, respektiert zu werden. Wie alle Ausgeschlossenen benutzen sie Gewalt, um die eigene Identität zu kommunizieren. Soziologen kennen das Geheimnis dieser unheilvollen Dynamik. Das Netzwerk der Wertschöpfung wirkt abweichungsverstärkend: die Wertvollen werden immer wertvoller - und es gibt immer mehr Überflüssige. Die Überflüssigen werden ausgeschlossen. Ihr Neid findet keine soziale Ausdrucksform mehr und schlägt um in Wut. Das ist symptomatisch für eine Gesellschaft, die nicht mehr primär durch die Unterscheidung oben/unten, sondern durch die Unterscheidung innen/außen geprägt ist. Anschluß oder Ausschluß - das ist hier die Frage.“ (Ebd.).

„Man kann sich Kultur nur als ein System der Unterschiede und Humanität nur als Differenziertheit denken. Das zeigt gerade unsere eigene Erfolgsgeschichte: Europa war und ist das Leben der Differenz. Und jeder, der Lebenserfahrung hat, weiß, daß es kein Glück gibt ohne die Erfahrung des Unterschieds. Wir sind erwachsen, wenn wir gelernt haben, mit der Ungleichheit zu leben. Wir verwechseln dann nicht mehr Ungerechtigkeit mit Ungleichheit. Ungerecht ist nicht die Ungleichheit, sondern das, was motivierte Menschen am Aufstieg hindert. Um das einzusehen, braucht man keine Theorie der Gesellschaft, sondern nur gesunden Menschenverstand.“ (Ebd., S. 31).

„Und doch läßt sich diese Selbstverständlichkeit heute kaum mehr kommunizieren. Warum? Unter Bedingungen der Chancengleichheit setzen sich die Fleißigeren und Verdienstvolleren durch. Das führt zu einer neuen sozialen Schichtung, die eine Neudefinition von Gleichheit provoziert, nämlich Ergebnisgleichheit. Das große Ärgernis besteht für die Egalitaristen nämlich darin, daß die Ungleichheit allen Nivellierungsmaßnahmen zum Trotz immer wieder neu entsteht zwischen Brüdern, zwischen Menschen gleicher Ausbildung, zwischen Menschen mit gleichem Intelligenzquotienten. Wer warum erfolgreicher ist, läßt sich nicht schlüssig erklären.“ (Ebd., S. 31-32).

„Aber eben das will die egalitaristische Politik nicht einsehen. Um die Ungleichheit der Lebensbedingungen zu reduzieren, muß der Staat die Menschen immer rigoroser uniformieren. Deshalb sollten freiheitsliebende Menschen wachsam sein, wenn das Lob der Ameise, der Biene, der Kollektivs, der Teamarbeit gesungen wird - auch und gerade wenn es heute die Zauberworte »Netzwerk« und »Schwarmintelligenz« intoniert. Jakobinismus, Leninismus und Maoismus sind Geschichte, aber die kleinen egalitären Tyranneien der politisch korrekten Universitäten sind traurige Gegenwart.“ (Ebd., S. 32).

„Und auch im Alltagsleben haben wir uns längst an die Zensur der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**) gewöhnt. .... Im Vietnamkrieg starben 57000 us-amerikanische Männer und 8 us-amerikanische Frauen. Ihrer wird gedacht mit Monumenten auf der Mall von Washington. Es sind die Figuren von 3 Männern und 3 Frauen. Das ist Politische Korrektheit. Geschichtsfälschung ist das eine.“ (Ebd., S. 32).

„Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) nennt man aber auch den Kampf gegen die biologische Realität, also gegen unser Schicksal. Dabei wechseln die Schauplätze der Politischen Korrektheit in rascher Folge. Man kämpfte erst gegen den Rassismus - noch recht us-amerikaspezifisch. Mit der Ausweitung der Kampfzone auf den Sexismus konnte man dann auch europäische Frauen und Schwule faszinieren. Heute polemisiert die Politische Korrektheit gegen Altersdiskriminierung - und wird damit zur modischen Massenideologie. Doch der Sensibilität für Benachteiligungen sind keine Grenzen gesetzt. Wer einen Behinderten nicht als »anders befähigt« anerkennt, macht sich des »ableism« schuldig. Und wer wie Goethe in der Schönheit ein Verdienst sieht, leidet an »Iookism«.“ (Ebd., S. 32).

„Diese beliebig vermehrbaren Beispiele zeigen sehr schön, wie die Menschen in der Mediendemokratie durch die Sprache versklavt werden. René Girard hat in diesem Zusammenhang von Verbalexorzismen gesprochen, und in der Tat geht es um eine neue Form von Inquisition, um eine politische Säuberung der Sprache. Früher nannte man das Linientreue. Ein noch harmloses Beispiel geben regelmäßig die Deutschen, die sich von einer Sprachgesellschaft das »Unwort des Jahres« wählen lassen. Und kaum jemand kommt auf den Gedanken, daß jedes Jahr das eigentliche Unwort des Jahres Unwort lauten müßte.“ (Ebd., S. 32-33).

„Solche Verbalexorzismen sind hochpolitisch, weil Sprache die Menschen macht, die sie sprechen. Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) ist die Rhetorik eines besetzten Landes. Und wieder nennen sich die Besatzer Befreier. Wie konnte es dazu kommen? Wir können hier wieder an Tocqueville anschließen. Die Emanzipation der Vernunft von der Tradition hat ein Orientierungsvakuum geschaffen, das die Gewalt der öffentlichen Meinung unwiderstehlich macht. Alle reden von Individualität, Diversität und Selbstverwirklichung - und alle denken dasselbe. So entsteht der Konformismus des Andersseins.“ (Ebd., S. 33).

„Gerade die herrschende öffentliche Meinung kultiviert bestimmte Formen des Nonkonformismus; man denke etwa an die unaufhörliche Propaganda des öffentlich-rechtlichen Fernsehens für homosexuelle Gemeinschaften und Patchworkfamilien. Frauen erscheinen als knallhart und aggressiv, Männer als empfindlich und verletzlich. Man sehe sich nur die Moderatoren von Tagesthemen, Heute-Journal und CNN daraufhin an. Film und Fernsehen zeigen uns vor allem auch in ihrem Unterhaltungsprogramm seit Jahren nur noch starke Frauen und lächerliche Männer; Kinder, die klüger sind als ihre Eltern und sehr gut ohne sie auskommen; nette Immigranten, die von »rechten« Einheimischen geprügelt werden; Homosexuelle, die ein kultiviertes, politisch korrektes Leben führen. Sie alle sind Schauspieler des Nonkonformismus auf der Bühne des Konformismus.“ (Ebd., S. 33).

„Man wird lernen müssen, diese Phänomene als Symptome eines kulturellen Bürgerkriegs zu verstehen. Mit anderen Worten, der italienische Kommunist Antonio Gramsci hat gesiegt. Der lange Marsch durch die Institutionen der Massenmedien, der Bildungsanstalten und des Kunstbetriebs war erfolgreich. Und der Marxismus, der als Programm für eine sozialistische Gesellschaft schon gescheitert war, hat sich nachträglich als Kulturtevolution durchgesetzt. Pop-Kultur und Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) sind heute die beiden Seiten des Kulturmarxismus. Auch wenn es in der eigenen jugendbewegten Seele schmerzt: Die Popkultur ist heute nicht mehr Gegenkultur sondern Inquisition.“ (Ebd., S. 33).

„Die entscheidenden Glaubensartikel dieser Kulturtevolution lassen sich sehr genau definieren:
Alle Lebensstile sind gleichrangig.
Einen alternativen Lebensstil zu diskriminieren, ist ein Verbrechen. Wer gegen die Gleichstellungspolitik ist, ist ein Rassist, Fremdenfeind und Sexist.
Nicht die Homosexuellen sind krank, sondern diejenigen, die Homosexualität verurteilen.
Keine Religion und keine Kultur ist einer anderen überlegen.
Daran glaubt natürlich kein vernünftiger Mensch, aber man darf es nicht sagen. So erzählt die Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**) ungehindert phantastische Wohlfühlgeschichten und verwandelt Geschichte in eine Therapie für Minderheiten. »Diversität«, also die gleichmäßige Repräsentation aller Religionen, Kulturen und Ethnien in einer Gesellschaft, ist ein klassischer Fall von Orwellschem Neusprech. Denn Diversität bedeutet im Klartext Konformismus. Wir haben es hier mit einer schlichten Inversion des Kulturchauvinismus zu tun. Der Westen gilt nichts, Asien und Afrika sind Vorbilder. Diversität heißt also: alle minus eins. Und dieses Eine ist die westliche Kultur der weißen Männer (**).“ (Ebd., S. 34).

„Die Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) suggeriert, alle Ideen und Meinungen seien gleich wertvoll. Aber das ist narürlich Unsinn, denn aus dem gleichen Recht auf Meinungsäußerung folgt nicht die Gleichwertigkeit aller Meinungen. Nur unsere aufgeklärte Toleranz gegen »das Andere« und die Angst vor den Großinquisitoren der Politischen Korrektheit hindern uns daran, die Lächerlichkeit dieser Propaganda nicht-westlicher Werte bloßzustellen.“ (Ebd., S. 34).

„Hier steht, so pathetisch das auch klingen mag, die Existenz unserer Demokratie auf dem Spiel. Sie setzt nämlich spezifisch bürgerliche Tugenden voraus: harte Arbeit, Mut, Ehrlichkeit, Verantwortungsbewußtsein, Besonnenheit, Höflichkeit. Aber sie können nur kultiviert werden, wenn die Gesellschaft bereit ist, das Gegenteil zu sanktionieren - kein Wert ohne Stigma! Doch die moderne westliche Gesellschaft stigmatisiert die Abweichungen heute nicht mehr, sondern toleriert sie - und benennt sie um. Das traditionell Abnorme wird normalisiert. Geschiedene Ehen, unverheiratete Mütter und uneheliche Kinder stehen nicht mehr für den Zusammenbruch der Familie, sondern für alternative Lebensstile.“ (Ebd., S. 34).

„Aber unsere Kulturrevolutionäre belassen es nicht bei der Normalisierung des Abnormalen; sie definieren auch das bisher ganz selbstverständlich als normal Geltende ins Abnorme um. Die klassische Familie mit allein verdienendem Vater und der Mutter als Hausfrau gilt als reaktionär, frauenfeindlich, ja pathologisch. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Propaganda der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) und die kollektive Gehirnwäsche durch die Massenmedien findet sich in Roland Huntfords Buch über die Schweden: die Substitution des traditionellen Begriffs für Hausfrau, »husmor«, durch den Neologismus »hernmafru«, mit dem man die Frau verspottet, die zu Hause bleibt, statt zu arbeiten - in de USA heißt sie »stay-at-home-mom«. So wird überall in der westlichen Kultur das Abweichende normalisien und belohnt, das bürgerlich Respektable dagegen stigmatisien und bestraft. Wettbewerbsgeist und persönlicher Ehrgeiz des Bourgeois werden bestraft, Coolneß und antibürgerlicher Affekt des Bohemien werden belohnt“ (Ebd., S. 34-35).

„Bei Lichte betrachtet ist die Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) also nur die Inversion des Vorurteils. Es handelt sich um eine Überkompensation, die diejenigen, die früher zu schlecht behandelt wurden, nun zu gut behandelt. Kein einziges Individuum wird hierbei ernst genommen; jeder Benachteiligte wird als Gruppenmitglied positiv diskriminiert. (**). Dabei schließen sich die Zeithorizonte wie bei Nietzsches Tieren, die an den Pflock des Augenblicks angekettet sind. Alles, was der Kultur der Politischen Korrektheit historisch vorausging, gilt als reaktionär. Die Geschichte der Vernunft beginnt mit Simone de Beauvoir.“ (Ebd., S. 35).

Der Skandal der natürlichen Ungleichheit

„Alle revolutionären Kämpfe im Namen der Freiheit zielten auf Gleichheit vor dem Gesetz. Die Leute sollen rechtlich gleich behandelt werden, obwohl sie tatsächlich unterschiedlich sind. Daß alle Menschen gleich geboren sind, ist also keine Tatsachenaussage. Die Übertragung dieser rechtlichen Gleichheit auf die moralischen und sozialen Beziehungen der Menschen untereinander macht den Geist der Demokratie aus. Dazu gehört aber auch, daß man materielle Ungleichheiten hinnimmt und ohne Murren erträgt. Der Prozeß der Zivilisation hängt daran, daß jeder Enzelne aus allem, was ihm widerfährt, den größten Nutzen schlagen darf. Jeder soll die besonderen Gelegenheiten nutzen, die der Zufall von Herkunft und Umwelt gerade ihm auf den Lebensweg geworfen hat.“ (Ebd., S. 36).

„Der skeptische Philosoph Odo Marquard hat einmal gesagt, Menschen müßten lernen, mit dem Zufall zu leben, d.h. den Zufall leiden zu können. Das ist in instruktiver Weise doppeldeutig: Man muß das Leiden am Zufall ertragen lernen und man muß den Zufall mögen. Statt die Kontingenz des Lebens als Ärgernis zu behandeln, wird sie zum Stimulans. Dieser vernünftige Fatalismus des Anknüpfens ans Vorgegebene ist der philosophische Feind des Egalitarismus, für den die unverfügbaren Vorgaben der Existenz gerade der ewige Skandal der Gesellschaft sind.“ (Ebd., S. 36).

„An den »unfairen Vorteilen« der natürlichen Ausstattung, der Geschicklichkeiten und Talente der Leute kann man aber nichts ändern, ohne die Freiheit der Gesellschaft zu gefährden. Weil die Menschen unterschiedlich sind, folgt gerade aus ihrer Gleichbehandlung die materielle Ungleichheit ihrer Lebenslagen. Erfolg ist in hohem Maße eine Sache des Zufalls. Jeder hat Eltern - und deshalb gibt es eine unvermeidliche Chancenungleichheit. Wer eine glückliche Kindheit hatte und von liebevollen Eltern gut erzogen wurde, hat Möglichkeiten der Lebensfreude und des Kulturgenusses, die durch keine Umverteilungspolitik kompensiert werden können. Armut und Unglück sind in der Regel keine Ungerechtigkeiten, sondern Übel. Materielle Ungleichheiten sind aber nur dann ungerecht, wenn sie das Resultat bewußter Verteilung sind. Und daraus folgt: Nicht der Zufall des Marktes, sondern die Politik der Umverteilung produziert Ungerechtigkeiten (**).“ (Ebd., S. 36-37).

„Jeder Mensch soll Eigentum haben. Aber was und wie viel er besitzt, ist rechtlich betrachtet zufällig. Hegel hat deshalb den konkreten Besitz als »Boden der Ungleichheit« bezeichnet. (Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 49, S. 113). Genau wie bei natürlichen Geistesgaben stellt sich hier die Frage der Gerechtigkeit nicht, »denn die Natur ist nicht frei und darum weder gerecht noch ungerecht«. Gleich sind die Menschen nicht in ihrer natürlichen Besonderheit, sondern nur als Personen. Und die Herstellung von Gleichheit auf diesem »Boden der Ungleichheit« wäre deshalb Unrecht. Aber sie wäre auch sinnlos, denn die erzwungene Gleichheit würde rasch wieder zerstört werden, da das »Vermögen vom Fleiß abhängt«. Die Forderung der Gleichheit ist also sinnlos, wenn sie sich gegen die Ungleichheit des konkreten Vermögens und der individuellen Fähigkeiten richtet.“ (Ebd., S. 37).

„Hegel wollte den Menschen statt der unmöglichen Gleichheit eine konkrete Ganzheit anbieten, »die in der allseitigen Verschlingung der Abhängigkeit aller liegt«. Doch dieses »Ganze von Unterschieden« konnte er sich nur als System der Stände vorstellen. (Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts,1821, § 199, S. 353 und § 200, S. 354). Und natürlich mußte sich auch Kant noch in diesem politischen Horizont bewegen. Entscheidend für unsere Diskussion ist aber, daß für Kant jedes Mitglied eines Standes durch Talent, Fleiß und Glück zu jeder Stufe dieses Standes gelangen kann. Niemand darf ihn in diesem Bestreben hindern, also durch Privilegien niederhalten.“ (Ebd., S. 37).

„Darüber hinaus aber gilt für alle die »Gleichheit als Untertan«, also die Gleichheit vor dem Gesetz. (Vgl. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 1793, A 238-243). Entscheidend in Kants Argumentation ist nun, daß sich diese rechtliche Gleichheit »ganz wohl mit der größten Ungleichheit« verträgt, nämlich der Ungleichheit des Eigentums, der Geistesgaben und des Glücks. Der eine befiehlt, der andere gehorcht. Der eine dient, der andere entlohnt. Doch auch in der größten Ungleichheit darf es keine angeborenen Vorrechte geben. Niemand ist durch Geburt zum Herrn qualifiziert. Und so kann man Status auch nicht vererben - wohl aber Eigentum.“ (Ebd., S. 37).

„Kant sieht sehr klar, daß das Vererben von Eigentum in der Geschlechterfolge rasch zu kumulativen Effekten führt, sich also »eine beträchtliche Ungleichheit in Vermögensumständen« einstellen kann. Doch das kann man hinnehmen, solange die Möglichkeit des eigenen Aufstiegs durch Talent, Fleiß und Glück nicht verstellt wird. Wenn jemand es nicht schafft, auf die gleiche Stufe wie die Erfolgreichen hinaufzusteigen, so kann man ihn dennoch »für glücklich annehmen«, wenn er weiß, daß seine Lage seinen Fähigkeiten und seiner Motivation entspricht und niemand anders Schuld an seinen Umständen hat.“ (Ebd., S. 37-38).

„Eine der bekanntesten Anekdoten über berühmte Philosophen ist die von Kant, der seine Gewohnheit, täglich um 7 Uhr abends durch Königsberg zu spazieren, in 25 Jahren nur einmal durchbrochen haben soll - ergriffen von der Lektüre des »Emile«. Und in der Tat ist Rousseau der Schlüssel zum Verständnis unseres Denkens über den Menschen, das Verhältnis von Kultur und Natur und die Gründe der Ungleichheit. Hier ist es besonders lehrreich, sich an eine weitere Trivialität zu erinnern, daß nämlich die berühmteste Formel Rousseaus, Zurück zur Natur!,  gar nicht von Rousseau stammt. Kant hat dazu den entscheidenden Satz gesagt: »Rousseau will nicht, daß man in den Naturzustand zurückgehen, sondern dahin zurücksehen soll.« (Immanuel Kant, Werke, Band XV, S. 890).“ (Ebd., S. 38).

„Unter entgegengesetzten Vorzeichen hat dann Nietzsche Kants Hochachtung für Rousseau bestätigt und ihn als Verkörperung des Geists der Moderne bekämpft. Rousseau war der erste moderne Mensch und seine Lehre von der Gleichheit die moderne Idee par excellence - darin sind sich Kant und Nietzsche einig. Der politische Philosoph Leo Strauss ist dann noch einen Schritt weiter gegangen und hat Rousseau als Denker der ersten Krise der Moderne gefeiert. Sein Zurück zur Natur und zur Antike war aber nicht reaktionär, sondern selbst modern. Hier vollzieht sich der Fortschritt der Moderne gerade als Rückkehr zur Antike.“ (Ebd., S. 38).

„In seinem Werk über Naturrecht und Geschichte schreibt Leo Strauss: »Der von Rousseau vorausgeahnte Menschentypus, der die bürgerliche Gesellschaft rechtfertigt, indem er über sie hinausschreitet, ist nicht mehr der Philosoph, sondern das, was man später den ›Künstler‹ nannte. Sein Anspruch auf bevorzugte Behandlung gründet sich eher auf seine Empfindsamkeit als auf seine Weisheit, eher auf seine Güte oder sein Mitleid als auf seine Tugend. Er gibt den unsicheren Charakter seines Anspruchs zu: er ist ein Bürger mit einem schlechten Gewissen. Da jedoch sein Gewissen nicht nur ihn selbst, sondern zu gleicher Zeit auch die Gesellschaft anklagt, der er angehört, neigt er dazu, sich als das Gewissen der Gesellschaft zu betrachten. Aber da er das schlechte Gewissen der Gesellschaft ist, muß er notwendig ein schlechtes Gewissen haben.« (Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, 1977, S. 306)“ (Ebd., S. 31).

„Was Rousseau für unser Thema so faszinierend macht, ist seine Überzeugung, daß der Mensch von Natur aus zwar frei, aber nicht menschlich ist. Deshalb oszilliert seine Gesellschaftstheorie ständig zwischen der Freiheit des natürlichen Menschen und der Gleichheit in der Gemeinschaft durch die Auslöschung des Selbst. Sehen wir näher zu. Mit Rousseau wird die Natur- und Gottgegebenheit der Ungleichheit plötzlich zu einem Problem, das für die Griechen genauso wenig bestand wie für die Christen. Rousseau war der erste, der der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei durch die angeborene Ungleichheit der Menschen widersprochen hat. Der Sozialgeschichtler Otto Brunner bemerkt dazu: »Auch ftr die Christen waren die Menschen zwar gleich vor Gott, aber nicht vor ihren Mitmenschen.« (Otto Brunner, Neue Wege der Sozialgeschichte, 1956, S. 43). Solange es gesellschaftliche Schichten, Stände und Rangordnungen gab, fragte man nach der Gleichheit der Ungleichen - und konnte auf die Gleichheit vor Gott verweisen. In der modernen Gesellschaft dagegen fragt man - und eben erstmals Rousseau - nach der Ungleichheit der Gleichen.“ (Ebd., S. 38-39).

„Schon Rousseau unterscheidet zwei Arten der Ungleichheit. Die natütliche Ungleichheit betrifft Intelligenz, Charakter, Gesundheit und Körperkraft. Nach ihrer Quelle zu suchen, verbietet sich für Rousseau, denn die Frage ist tautologisch: Die Quelle der natürlichen Ungleichheit ist die Natur. Anders die politische Ungleichheit. Sie ist nicht natürlich, sondern konventionell und betrifft Reichtum, Macht und Prestige. Vom Ursprung dieser Ungleichheit handelt Rousseaus berühmter Zweiter Diskurs. Aber auch hier formuliert er ein Frageverbot. Man darf nicht fragen, ob es eine wesentliche Verbindung zwischen natürlicher und politischer Ungleichheit gibt. Der Klügere darf nicht selbstverständlich auch der Befehlende, der Stärkere nicht selbstverständlich auch der Reichere sein.“ (Ebd., S. 39).

„Rousseaus Urszene ist einfach und bestechend. Die Entfremdungsgeschichte des Menschen beginnt mit dem ersten Privateigentum. Daß etwas Mein und nicht Dein ist, macht den Urunterschied, der dann weitere Unterschiede macht: zwischen Herren und Sklaven, zwischen Reich und Arm - Unterschiede, die Betrug und Neid hervorrufen. Alles gesellschaftliche Übel geht also zurück auf »die scheußlichen Worte Mein und Dein« (zitiert in: Robert Spaemann, Rousseau - Mensch oder Bürger, 2008, S. 79).“ (Ebd., S. 39).

„Mein und Dein - das ist die Urunterscheidung, die den Unterschied von Unterschied und Unterschiedslosigkeit macht. Jeder, der einen Zaun auftichtet oder einen Claim absteckt, wiederholt diese Urunterscheidung und schafft eine fundamentale Asymmetrie. Der StaatsrechtIer Carl Schmitt hat daran seine Theorie des »Nomos« geknüpft und diese ursprüngliche, griechische Ordnungskategorie auf das Nehmen zurückgeführt. Daß man nicht teilen kann, ohne vorher zu nehmen, ist seither das Grundformular jeder Kritik des Sozialismus. Und dieser kann umgekehrt darauf verweisen, daß man nicht »weiden«, also produzieren kann, ohne vorher genommen zu haben. Rousseau formuliert es so: »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte: ›Das ist mein‹ und so einfaltige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.« (Jean-Jacques Rousseau, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, 1754, S. 191).“ (Ebd., S. 39-40).

„Mit wenigen starken Strichen skizziert Rousseau nun die Urgeschichte der gesellschaftlichen Ungleichheit. Das Zusammenleben der Menschen organisiert sich ausgehend von der Familie, in der sich die ersten zarten Gefühle bilden und die sexuelle Arbeitsteilung etabliert. Die Frau sorgt sich um Haus und Kinder, der Mann um die Nahrung. Die Familienkultur der zarten Gefühle ist für Rousseau aber auch schon die erste Quelle der Übel. Die Menschen verschaffen sich Bequemlichkeiten, gewöhnen sich an sie und lassen sie zu echten Bedürfnissen degenerieren. Was man später dann die Tretmühle der Lust oder die Frustrationsmaschine nennen wird, zeigt sich hier in seiner frühesten Form. Bequemlichkeiten, die man hat, machen nicht glücklich, aber sie zu entbehren macht unglücklich.“ (Ebd., S. 40).

„Doch es gibt neben diesem technischen auch noch einen spezifisch sozialen Grund für das gesellschaftliche Unglück. Menschen, die zusammenleben, beginnen, ihre Eigenschaften und ihre Dinge zu vergleichen. So entstehen allmählich die Ideen von Verdienst und Schönheit, aber auch die Gefühle der Bevorzugung - und folglich der Eitelkeit einerseits, der Eifersucht und des Neids andererseits. »Jeder achtete die anderen und wollte seinerseits geachtet werden. Die öffentliche Achtung bekam Wert. Wer am besten sang und tanzte, der Schönste, der Stärkste, der Gewandteste, der Beredsamste wurden am meisten geschätzt. Das aber war der erste Schritt zur Ungleichheit.« (Jean-Jacques Rousseau, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, 1754, S. 205).“ (Ebd., S. 40).

„In Gesellschaft sein heißt, sich miteinander vergleichen zu müssen. Und wer sich vergleicht, will sich auszeichnen - durch Macht, Rang, Verdienst oder Reichtum. Das ist das Bild, das Rousseau zum Idol jeder Kulturkritik gemacht hat: Die Menschen sind Rivalen auf einer Rennbahn, auf der sie nach Ansehen, Ehre und Auszeichnung jagen, getrieben von einem Furor des Sich-unterscheidens, der sie von ihrem wahren Selbst ablenkt. Als Kontrastbild entsteht hier die Figur des edlen Wilden, der in sich selbst lebt. Das ist aber nur eine Hintergrundfiktion, vor der sich die Gestalt des zivilisierten Menschen abhebt, der sich selbst fremd ist und seine Identität nur in der Meinung der anderen findet.“ (Ebd., S. 40).

„Mit jedem Fortschritt in der sozialen Differenzierung entfaltet sich die natütliche Ungleichheit der Menschen. Hier die Erfolgreichen, also die Reichen und Mächtigen, dort die aus Schwäche oder Unmotiviertheit Überflüssigen. Diese sozialistische Optik ist uns so in Fleisch und Blut übergegangen, daß wir die Behauptung, Unterschiede zwischen Menschen seien rechtfertigungsbedürftig, für ein Argument halten. »Es lebe die Ungleichheit!«  klingt in modernen Ohren nach Diskriminierung. Aber warum sollte man jede Ungleichheit kompensieren? Daß niemand es heute wagt, die Rechtfertigungsunbedürftigkeit der Ungleichheit unter den Menschen zu behaupten, zeigt, daß Rousseau gesiegt hat.“ (Ebd., S. 40-41).

„Was bekommt man aber zu sehen, wenn man sich nicht an das Rousseausche Frageverbot hält und die gesellschaftlichen Effekte der natürlichen Ungleichheit beleuchtet? Unzweifelhaft gibt es natürliche Unterschiede: männlich und weiblich (wir werden gleich sehen, wie der fanatische Feminismus an einer »Dekonstruktion« arbeitet **), jung und alt (auch wenn immer mehr Alte das nicht wahrhaben wollen und behaupten »forever young« zu sein), schön und häßlich (was ja gerade vom politisch korrekten Kampf gegen »lookism« bestätigt wird), klug und dumm (Skandalthema »Bell Curve«; wir kommen gleich darauf zurück **). Selbst Führer und Horde scheinen einen natürlichen Unterschied zu machen; man kann die Wirklichkeit von Alpha-Males und Hackordnungen schlecht leugnen. Und der Verhaltensforscher Konrad Lorenz meint gar: »Es ist eines der größten Verbrechen der pseudodemokratischen Doktrin, das Bestehen einer natürlichen Rangordnung zwischen zwei Menschen als frustrierendes Hindernis für alle wärmeren Gefiihle zu erklären: Ohne sie gibt es nicht einmal die natürlichste Form der Menschenliebe, die normalerweise die Mitglieder einer Familie miteinander verbindet.« (Konrad Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 1973, S. 78).“ (Ebd., S. 41).

„Weder Natur noch Kultur sprechen für Gerechtigkeit. Die Natur nicht, denn nicht alle Frauen sind gleich schön; nicht alle Männer sind gleich kompetent. Aber auch die Kultur nicht, denn sie hat sich immer nur unter Bedingungen ungleicher Besitzverteilung entfaltet. Nietzsche meinte gar: unter Bedingungen der Sklaverei! All das klingt deprimierend, und die moderne Gesellschaft neigt dazu, weiteres Nachfragen zu verbieten. Gene, Intelligenz und Rasse sind die Tabus unserer Zeit - wie Sex im Viktorianischen England. Mit anderen Worten, archaisches Erbe, genetische Determination, angeborenes Verhalten und Geschlechtsrolle sind die Skandale der egalitären Gesellschaft.“ (Ebd., S. 41).

„Geist, Schönheit, Stärke, Geschicklichkeit, Talent, Fleiß - all das ist ungleich verteilt und läßt sich nicht umverteilen. Vor allem die Schönheit erscheint als die sichtbarste »Ungerechtigkeit« der Natur. Und deshalb sind die Schönen Skandal und Ärgernis der politisch korrekten Kultur. Schönheit ist undemokratisch verteilt, und man kann sie nicht umverteilen. Nun sorgen aber die Massenmedien dafür, daß uns dieses Ärgernis täglich quält; die Schönen in den Medien machen uns unzufrieden. Hinzu kommt, daß die sexuelle Revolution der 1960er Jahre eine sehr scharfe Diskriminierung gebracht hat, nämlich zwischen den attraktiven Jungen und den Alten, vor allem aber zwischen den Schönen und den Häßlichen. Wenn die Hüllen fallen, lassen sich die natürlichen Unterschiede der Attraktivität nicht mehr leugnen. Das kann man im Sommer bei jedem Strandspaziergang überprüfen.“ (Ebd., S. 41-42).

„Schönheit gehört also zu den großen Ungerechtigkeiten der Welt. Was wir schön finden - und vor allem: was Männer an Frauen schön finden, ist nicht erlernt. Gegen das Vorurteil der Attraktivität ist kein Kraut gewachsen; keine Aufklärung der Welt kann uns vor dem »lookism« bewahren. Und es ist eine der naivsten Illusionen des »Gutmenschentums«, daß das Aussehen nichts zählt. Das Bild der phantastischen Frau ist in Männerhirnen fest verdrahtet. Und die Massenmedien optimieren dieses Ideal so sehr, daß wir von den empirischen Körpern, die uns im Alltag begegnen, eigentlich nur enträuscht sein können.“ (Ebd., S. 42).

„Verschärft wird das Problem noch durch eine egalitaristische Rhetorik, die den Frauen einredet, jede könne schön sein. In dieser Überforderung trifft sich die Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) mit der Werbung der Kosmetikindustrie. Der Designer-Body ist deshalb das Statussymbol der Gegenwart. Der Körper selbst wird hier zum Modestar, zum Schauplatz der für alle sichtbaren Konsumkraft, denn es ist sehr teuer, einen Designer-Body zu pflegen - Schönheitschirurgie inklusive.“ (Ebd., S. 42).

„Die Predigt gegen die Idole von Schönheit und Jugend hat die gesamte Evolution des menschlichen Begehrens gegen sich. Schönheit ist ein Signal für reproduktive Fitneß; und daran orientieren wir uns, obwohl Sex in den meisten Fällen gar nicht mehr der Fortpflanzung dienen soll. Der intellektuelle Spott über den Designer-Body als Status-Symbol ist also zu billig. Denn für uns alle bleibt der Dreiklang schön - jung - reich betörend. Und keine Politische Kotrektheit kann etwas daran ändern, daß wir nur die Jungen schön und sexy finden. Wer das nicht wahrhaben will, muß dann schon zu Plattheiten wie der Grundschulforderung greifen, daß man Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen soll.“ (Ebd., S. 42).

„Ist es unfair, wenn die von allen begehrte Frau nicht mich, sondern meinen gut aussehenden und intelligenten Rivalen heiratet? Muß man für die schlechteren Startbedingungen auf dem Heiratsmarkt kompensien werden? Das sind natürlich rhetorische Fragen, aber sie sollen drastisch zeigen, daß man lernen muß, die Gleichheit aller Menschen als Subjekte der Menschentechte nicht mit empirischen Eigenschaften zu verwechseln. Empirisch herrscht Ungleichheit. So sind z.B. statistisch erfaßbare Kriminalität und meßbare Intelligenz ungleich verteilt.“ (Ebd., S. 42-43).

„Richard Herrnstein hat im September 1971 mit dem Artikel »IQ.« in der Zeitschrift Atlantic Monthly einen der größten Wissenschaftsskandale aller Zeiten ausgelöst. Die entscheidende These lautet, daß der soziale Status eines Menschen ganz wesentlich von vererbten Unterschieden abhängt. Denn sozialer Status hängt stark vom wirtschaftlichen Erfolg ab, wirtschaftlicher Erfolg ist sehr stark mit dem Intelligenzquotienten korreliert, und der IQ ist vererblich. Doch diese Zusammenhänge sind rein statistischer Art und besagen recht wenig über ein konkretes Individuum.“ (Ebd., S. 43).

„Herrnsteins These gewinnt ihre Brisanz aber nicht im Blick auf den Einzelnen, sondern im Blick auf die moderne Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Auch in Zukunft bleibt die Gesellschaft in soziale Klassen gespalten, aber die entscheidenden Faktoren sind nicht mehr Geld und Macht, sondern kognitive Fähigkeiten. Die Dynamik der modernen Gesellschaft selektiert die Klügsten unter den Jugendlichen und führt sie auf einen Karriereweg, der in der Formation einer kognitiven Elite endet.“ (Ebd., S. 43).

„So hat gerade die Demokratisierung der höheren Bildung die paradoxe Konsequenz, daß die Klügsten schärfer vom Rest der Bevölkerung isoliert werden als je zuvor - und zwar durch Prozesse der Selbstselektion. Jeder hat Zugang zum Schauplatz der höheren Bildung, auf dem sich die Menschen nicht mehr nach Rasse, Klasse oder Religion, sondern nach ihren kognitiven Fähigkeiten sortieren und trennen. Und dieser Prozeß endet nicht in Schule und Universität, denn Bildung hat Folgen für das Einkommen, die Berufswahl und den Geschmack der Leute. Ständig wächst der Marktwert der Intelligenz.“ (Ebd., S. 43).

„Die Isolation der kognitiven Elite vom Rest der Bevölkerung zeigt sich auch ganz handfest darin, daß sie sich an Lebens- und Arbeitswelten orientiert, in denen sie vor allem auf ihresgleichen trifft. Die elektronische Kommunikation durch das Internet spielt hier natürlich eine Schlüsselrolle. Die kognitive Elite bleibt unter sich, nicht nur in dem, was sie interessiert, sondern auch in dem, was sie verachtet - z.B. das Fernsehen, die Bild-Zeitung und den gesunden Menschenverstand. Robert Reich hat in diesem Zusammenhang von der Sezession der Erfolgreichen gesprochen. Sie findet ihren drastischsten Ausdruck in den »Gated Communities«, den Hochsicherheits-Lebenswelten der Reichen.“ (Ebd., S. 43).

„Wer gehört zur kognitiven Elite? Diese Frage führt rasch zum Skandal der egalitären Gesellschaft, der immer noch mit dem Titel eines Buches von Herrnstein und Murray verknüpft ist: The Bell Curve. Gerade der Egalitarismus moderner Sozialpolitik fördert eine extreme Elitebildung. Denn je besser es gelingt, jedem Jugendlichen die Chance zu geben, seine kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln, desto geringer wird der Einfluß der sozialen Umweltbedingungen - vor allem natürlich: des Elternhauses - auf seinen Intelligenzquotienten. Das bedeutet aber, daß die verbleibenden Unterschiede in der Intelligenz der Menschen zunehmend auf genetische Differenzen zurückgeführt werden müssen. Je größer die soziale Gleichheit, desto folgenreicher die genetischen Unterschiede. Mit der Gleichheit der Lebensbedingungen wächst die Vererblichkeit von Fähigkeiten.“ (Ebd., S. 44).

„Und nichts trennt die Menschen schärfer voneinander als das geistige Milieu. Man wird den Mitgliedern des eigenen Milieus immer ähnlicher und denen der anderen Milieus immer fremder. Wenn sich nun noch gleich zu gleich gesellt, wie man das vor allen Dingen vom Heiratsmarkt kennt, zeigt die Gesellschaft immer deutlicher Züge einer Schichtung nach Intelligenzgraden. Menschen von hoher Intelligenz neigen dazu, Menschen von hoher Intelligenz zu heiraten. Und da sie in der Regel gut verdienen, sind sie dann auch in der Lage, ihre Kinder vor den Gesamtschulen zu bewahren und sie in Privatschulen zu schicken.“ (Ebd., S. 44).

„Die meisten, die sich über das Buch » The Bell Curve« öffentlich geäußert haben, sind darüber zu Furien des »Gutmenschentums« geworden. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen wirkt es wie eine Kränkung der Menschheit, ein schändliches Antasten der Menschenwürde, wenn man die Leute nach ihren kognitiven Fähigkeiten in die fünf Rubriken sehr klug, klug, normal, dumm und sehr dumm einordnet. Zum andern skandalisiert die These von der Vererblichkeit der Intelligenz, zumal Herrnstein und Murray ja gerade für die egalitaristische Zukunft des vorsorgenden Sozialstaates zu prognostizieren scheinen, daß der IQ zum Schicksal wird. Es ist deshalb sehr wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, daß Statistiken zur Vererblichkeit nichts über konkrete, einzelne Menschen aussagen, sondern immer nur über eine ganze Population.“ (Ebd., S. 44).

„Intelligenz hat aber einen noch viel unmittelbareren Einfluß auf das Schicksal der Menschen. Das wird deutlich, wenn man betrachtet, wie die Leute mit ihrer Lebenszeit umgehen. Der eine hat mehr Freundinnen, der andere bessere Noten. Der eine studiert mit äußerster Konzentration und lebt dabei asketisch in einer Neuköllner Einzimmerwohnung. Der andere studiert zwar auch, jobbt aber nebenher, weil er einen gewissen Lebensstandard nicht aufgeben will. Der eine sitzt täglich in der Bibliothek, der andere genießt das »Studentenleben«. Der eine nimmt sich nach dem Studium erst einmal eine Auszeit und reist ein Jahr in der Welt herum. Der andere beginnt sofort mit harter Arbeit und legt damit die Grundlagen für seine Karriere. Darf man nicht vermuten, daß diese unterschiedlichen Formen des Umgangs mit Lebenszeit und Lebenschancen von Intelligenz abhängig sind? Offenbar sind kluge Leute weitsichtiger als dumme. Wohlgemerkt: weitsichtiger, nicht unbedingt glücklicher.“ (Ebd., S. 44-45).

„Die kognitive Klassenbildung und die Segregation geistiger Milieus führt »oben« wie »unten« dazu, daß die Menschen sich selbst überbewerten, weil ihre Werte ständig von der eigenen Clique bestätigt werden - das Internet hat diesen Effekt durch die virtuellen Gemeinschaften noch verschärft. Doch während die Selbstüberschätzung »oben« recht glücklich als Großstadtneurose gelebt werden kann, wird das unbegründete Selbstwertgefühl »unten« unmittelbar zum sozialen Problem. Die unbegründet hohe Selbstwertschätzung schlägt nämlich leicht in Aggression um, weil sie dem Realitätstest nicht Stand hält. Deshalb gibt es heute eine Politik des Selbstwertgefühls, die die Leistungsschwachen vor einer realistischen Selbstwahrnehmung schützen soll. Weil das Selbstwertgefühl der Leistungsschwachen nicht bedroht werden soll, darf der IQ nicht mehr getestet werden und wird Wettbewerb zum Unwort (**|**). Stattdessen fordert man »Teamarbeit« - ein in aller Welt beliebtes Wort, mit dem man Ehrgeiz und harte Arbeit tabuisiert.“ (Ebd., S. 45).

„Die »Ungerechtigkeiten« der Natur lassen sich offenbar nicht kompensieren. Jeder politische Versuch, sozial gleiche Umweltbedingungen für alle herzustellen, verschärft nur die sozioökonomischen Differenzen, die durch die unterschiedliche genetische Ausstattung der Menschen verursacht sind. Man kann - zum Beispiel mit Hilfe intelligenter Computerprogramme - den Durchschnitt der kognitiven Fähigkeiten von Schülern anheben, aber man kann die Differenzen ihrer kognitiven Fähigkeiten nicht aufheben.“ (Ebd., S. 45).

„Aus schierer Verzweiflung darüber haben sich die Bildungspolitiker entschlossen, die Schwachen zu begünstigen und die Talentierten zu benachteiligen. Das läßt sich am einfachsten bewerkstelligen, indem man das Niveau absenkt und die begabten Schüler unterfordert. Aber auch das nutzt nichts. Denn Chancengleichheit bietet eben nur gleiche Chancen. Doch diese Chancen werden höchst ungleich genutzt. Und durch die ungleiche Nutzung der gleichen Chancen driften die Kompetenzen immer weiter auseinander. Das hat das paradoxe Resultat, daß gerade die Demokratisierung der Bildung die Elitebildung fördert.“ (Ebd., S. 45-46).

„Und ähnliches gilt auch für den Konsum. Der Vergleich des Einkommens sagt nämlich nicht viel über die jeweilige Lebensqualität, denn die natürlichen Unterschiede der Menschen haben zur Folge, daß sie mit ein und demselben Warenkorb höchst unterschiedliche Dinge anstellen können. Einkommen muß immer erst noch in gutes Leben umgerechnet werden. Und nicht nur das Einkommen ist ungleich verteilt, sondern auch die Fähigkeit, aus dem Einkommen Lebenschancen zu entwickeln.“ (Ebd., S. 46).

Das unstilisierte Geschlechterverhältnis

„Das mächtigste Tabu der modernen Gesellschaft liegt über dem Geschlechtsunterschied. Wer daran festhält, daß es wesentliche unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, sich deshalb kritisch zu militanten Formen des Feminismus äußert und den Wissenschaftsstatus der so genannten »Gender Studies« in Frage stellt, gerät rasch in die Zone akademischer Kopfschüsse. Hier muß man entschlossen, aber auch sehr besonnen vorgehen - und das heißt eben: unterscheiden.“ (Ebd., S. 47).

„Wir wollen im folgenden zwischen dem aufgeklärten und dem fanatischen Feminismus unterscheiden und lassen uns dabei von der Überzeugung leiten, daß jeder, der dem fanatischen Feminismus Konzessionen macht, dem aufgeklärten Feminismus schadet. Der aufgeklärte Feminismus gehört in die stolze Geschichte des europäischen Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit. Der fanatische Feminismus ist eine psychische Epidemie, eine Geisteskrankheit, die aufgrund ihrer massenweisen Verbreitung in gewissen Medien und Bildungsanstalten als neue Form von Intelligenz gefeiert wird.“ (Ebd., S. 47).

„Der Geist der Demokratie verführt dazu, Gleichberechtigung mit Gleichartigkeit zu verwechseln. Daß es nicht mehr Herr und Knecht geben soll, wird dann so überinterpretiert, daß es auch keinen Unterschied zwischen Vater und Sohn oder zwischen Mann und Frau mehr geben soll. Gerade hier, im Verhältnis der Geschlechter, hat Alexis de Tocqueville den Punkt des größten demokratischen Mißverständnisses markiert. Indem man die Gleichheit der Geschlechter erzwingt, degradiert man beide. Hier konnte Tocqueville die us-amerikanische Demokratie noch loben: Während Europa zur forcierten Gleichstellung der Geschlechter neige, habe US-Amerika das ökonomische Grundprinzip der Arbeitsteilung auf das Geschlechterverhältnis angewandt. Es ist genau diese sexuelle Arbeitsteilung, deren überlegene Produktivität für Tocqueville noch außer Frage stand, gegen die sich der Kampf des Feminismus richtet.“ (Ebd., S. 47).

„Der fanatische Feminismus mißversteht Gleichberechtigung als Gleichheit. Der aufgeklärte Feminismus versteht sie als ein Als-ob. Wir behandeln Männer und Frauen politisch so, als ob es keinen Unterschied zwischen ihnen gäbe. Aber das, was hier ignoriert wird, ist eben nicht nichts. Und wenn es verdrängt wird, kehrt es in entstellter Form wieder: in der Pornographie oder als »sexuelle Belästigung«.“ (Ebd., S. 48).

„Alle Absurditäten des fanatischen Feminismus rühren also daher, daß einige intelligente Frauen nicht in der Lage sind, zwischen Gleichberechtigung und Gleichheit zu unterscheiden. Mann und Frau sind politisch gleich. Das gilt für die wahlentscheidenden Stimmen genauso wie für die Führungspositionen der westlichen Welt - man denke an Frau Thatcher, Frau Rice oder Frau Merkel. Mann und Frau sind aber biologisch ungleich. Der Geschlechtsunterschied ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Hier kann es nur liebende Komplementarität geben - oder den Krieg der Geschlechter. Jede Politik, die hier auf Identität statt auf Differenz setzt, ist monströs und lächerlich: Frauen im Kampfeinsatz an der Front; Männer, die Kinder gebären. Niemand hat das wahre Verhältnis emanzipierter Frauen und Männer besser definiert als der Dichter Alfred Lord Tennyson: Gleichsein im Unterschiedensein.“ (Ebd., S. 48).

„Mitte des 19. Jahrhunderts gab es noch einen aufgeklärten Feminismus, der Männer und Frauen gleichen Wert gab und der Emanzipation der Frau in Moral, Politik und Wissenschaft nur eine Grenze zog: nur das nicht zu tun, was die Weiblichkeit beschädigt. Die Frau ist nicht minderwertig, sondern anders. Deshalb darf Gleichberechtigung nicht heißen, Frauen wie Männer zu behandeln. Daß Frauen alles auch können, was Männer können, ist ein Wahn, der in der Umkehrung noch deutlicher wird: wenn Männer versuchen, was nur Frauen können, z.B. Kinder bekommen. Die Gleichheit von Mann und Frau kann nicht durch Gleichstellung, sondern nur durch die Form ihrer Verbindung verwirklicht werden. Und dafür hat Tennyson eine unüberbietbare Formel gefunden, die so prägnant ist, daß sie keine Übersetzung braucht: »Not like to like, hut like in difference«. (Alfred Lord Tennyson,a.a.O,., S. 202).“ (Ebd., S. 48).

„Der fanatische Feminismus zielt heute weder auf Freiheit noch auf Chancengleichheit, sondern auf Ergebnisgleichheit. Alle starren auf die Zahlen bei der Besetzung von Führungspositionen. Wie hoch ist der Anteil weiblicher Professoren an deutschen Universitäten? Wie viele Dax-Unternehmen werden von Frauen geführt? Nie geht es um konkrete Frauen und die Anerkennung ihrer Leistung, sondern immer nur um die Gruppe und ihre »Quote«. Die fanatischen Feministen heute wollen Gleichheit statt Freiheit - und zwar Ergebnisgleichheit start Chancengleichheit - und zwar Ergebnisgleichheit nicht für die einzelnen Frauen, sondern für die »Gruppe« der Frauen als ganze, statistisch meßbar an der Zahl von Frauen in bestimmten hoch bezahlten Berufen und Spitzenpositionen. Ja eigentlich geht es ihnen auch nicht um Gleichheit, sondern um Macht.“ (Ebd., S. 48-49).

„Hier zwei unbeliebige historische Beispiele. Alle Klischees des Antifeminismus werden durch das Leben Simone de Beauvoirs glänzend bedient: Der Vater nennt sie häßlich; die katholische Mutter beharrt auf der traditionellen Mutterrolle der Frau und weckt in der kleinen Simone schon früh einen Haß gegen Haushalt und Kindererziehung. Die Penetration erlebt sie als Trauma und deshalb erscheint ihr der Geschlechtsakt prinzipiell als Erniedrigung der Frau, aus der es nur den Ausweg in die Homosexualität gibt. Schwangerschaft erlebt die Frau als ein Leiden, das sie überdies als häßlichen, in jedem Fall aber unattraktiven Körper zurückläßt. Und der Rest des Lebens steht im Zeichen der Angst vor dem Altern, in dessen Verlauf jede Frau erfahren muß, daß sie nicht nur ein unbestimmtes Etwas zwischen Mann und Kastrat ist, sondern als alte Frau zum «dritten Geschlecht« herabsinkt.“ (Ebd., S. 49).

„Gegen all diese Ängste hat Simone de Beauvoir ihren Protofeminismus mobilisiert. Man kann leicht zeigen, wie dieser Feminismus aus dem Existentialismus Sartres entsteht und schließlich in die Soziologie der Postmoderne mündet. Die Parole lautet: Alles ist Wahl, nichts ist Natur. Mutterliebe ist nicht natürlich; der Unterschied von Mann und Frau ist rein kulturell. Das natürliche Geschlecht darf keine Rolle spielen. Doch damit die Lesben die Welt erobern können, müssen sie auch das männliche Wissen einer Revision unterziehen. So heißt es bei Simone de Beauvoir: »Ich bin der Meinung, daß man unbekümmert Mathematik oder Chemie studieren kann; die Biologie ist da schon suspekter, und erst recht gilt das für die Psychologie und die Psychoanalyse. Ich halte es für notwendig, daß wir das Wissen von unserem Gesichtspunkt her revidieren.« (Simone de Beauvoir, a.a.O., S. 465).“ (Ebd., S. 49).

„Die Umwertung der männlichen Werte mündet dann in die Anbetung der dreifaltigen Gottheit von Emanzipation, Selbstverwirklichung und Authentizität. Diese Fetischbegriffe verdecken zuweilen die einfachsten Zusammenhänge. Muß man z.B. nicht ohne eigene Wahl und durch eine Mutter zur Welt gekommen sein, um sich selbst vetwirklichen zu können? Logik mag ja männlich sein, aber etwas mehr Logik hätte dem existentialistischen Feminismus nicht geschadet. Am Ende war Simone de Beauvoir nicht existentialistisch genug. Theoretisch wußte sie, daß es gerade für Frauen darauf ankommt, ihr »Geworfensein« anzunehmen. Sie selbst hat es aber nicht angenommen, sondern in einem lebenslangen Sabotageakt gegen das biologische Schicksal bekämpft. Gerade das hat Simone de Beauvoir zur Ikone des Feminismus gemacht.“ (Ebd., S. 49-50).

„Simone de Beauvoir meinte, Frauen sollten keine Kinder haben, wenn sie dadurch von Erwerbsarbeit abgehalten werden. Ihre Enkelinnen nehmen sie heute beim Wort. Und dabei können sie auch weiterhin des Zuspruchs der Intellektuellen gewiß sein. Wie Hegels Weltgeschichtsphilosophie dem arbeitenden Sklaven die Verwandlung der Welt in ein menschliches Zuhause zugeschrieben hat, so schreibt die Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) der arbeitenden Frau die Verwandlung der modernen Gesellschaft in ein menschliches Zuhause zu.“ (Ebd., S. 50).

„Die us-amerikanische Intellektuelle Susan Sontag war ein Geisteskind Simone de Beauvoirs. Auch hier beginnt alles mit einer prototypischen traurigen Kindheitsgeschichte. Susan Sontag ist das Kind einer alkoholkranken, alleinerziehenden Mutter, die sie nach der Geburt sofort einer Nanny überläßt. Sie darf ihre Mutter in der Öffentlichkeit nicht »Mutter« nennen und bleibt Zeit ihres Lebens von dem Leben ihrer Eltern ausgeschlossen. All das verdichtet sich zu dem Grundgefühl, nicht geliebt zu werden. Im Glücksspiel einer akademischen Laufbahn scheitert Susan Sontag - und nun sucht sie ihr Heil im Angriff, seit 1951 entscheidend beeinflußt von Simone de Beauvoir.“ (Ebd., S. 50).

„Das hat zwei gravierende Folgen: Zum einen flüchtet Susan Sontag genau wie Simone de Beauvoir in die Homosexualität und ist deshalb bis zum heutigen Tag ein Rollenmodell der Lesben geblieben. Zum anderen stellt sie fortan alle Lebensenergien in den Dienst der Selbstinszenierung. Ständig arbeitet sie an der Kontrolle ihres Images und an der Organisation der Publicity. Und so wird Susan Sontag zur Ikone des »radical chic«. In der Strategie ihrer Selbstvermarktung ist Wut das wichtigste Marketing-Tool. Und genau damit ist sie für den Feminismus unschätzbar wichtig geworden: Susan Sontag hat den männlichen Zorn und die habituelle Entrüstung als Medium der Frauenemanzipation entdeckt.“ (Ebd., S. 50).

„Zwei Wissenschaftler, deren Namen heute eigentlich nur noch Wissenschaftler kennen, haben das Verhältnis der Geschlechter revolutioniert: Gregory Goodwin Pincus und John William Money. Pincus erfand 1960 die Antibabypille, Money nahm 1967 eine spektakuläre Geschlechtsumwandlung an dem zweijährigen Bruce Reimer vor.“ (Ebd., S. 50).

„Seit es die Pille gibt, ist Sex ohne Kinder selbstverständlich. Und umgekehrt konfrontiert uns die Gentechnik heute mit der Möglichkeit, Kinder ohne Sex zu haben. Die Pille erzeugt eine chemische Schwangerschaft. In der Geschichte der Liebe ist sie das wichtigste Stück Anti-Natur. Wie das Ende des Lebens hat damit auch sein Anfang seine Natürlichkeit verloren. Deshalb skandalisieren auch andere Techniken der Fortpflanzung kaum mehr - Leihmutter, künstliche Gebärmutter, Ektogenese sind hier die einschlägigen Stichworte. Bei Kulturanthropologen und Soziologen finden die gesellschaftlichen Folgen der Pille immer stärkere Beachtung. Frauen kontrollierten ja schon immer die Reproduktion - erst die Pille aber hat sie zu den wahren Türhütern der Natur gemacht. Und die Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) behandelt Frauen heute wie Männer, die sich gelegentlich eine kleine Auszeit nehmen, um Kinder zu bekommen.“ (Ebd., S. 51).

„An die Pille und ihre Folgen haben wir uns gewöhnt. Heute geht es darum, mit Bruce / Brenda Reimer und den Folgen fertig zu werden. John Money hatte ursprünglich ein rein psychiatrisches Interesse an Transsexuellen und Hermaphroditen und entwickelte in diesem Zusammenhang eine Theorie der psychosexuellen Neutralität und »Gender«-Identität. Zu Deutsch: Das soziale Geschlecht - also »Gender« - wird dem Menschen zugewiesen und kann nicht aus dem biologischen Geschlecht - also Sex - abgeleitet werden. Wenn »Gender« aber zugewiesen wird, dann kann man das soziale Geschlecht eines Menschen auch neu zuweisen. Genau das sollte durch eine Geschlechtsumwandlung an dem an den Genitalien verstümmelten Bruce Reimer bewiesen werden. Wie Volker Zastrow treffend bemerkt: »Das Skalpell diente als psychiatrisches Instrument.« (Volker Zastrow, Der kleine Unterschied, in: F.A.Z., 07.09.2006, S. 8 **).“ (Ebd., S. 51).

„Diese Geschlechtsumwandlung wurde massenmedienwirksam als Triumph der Aufklärung verkauft - und erwies sich im Nachhinein als unvorstellbares Debakel. Doch die lebensgeschichtliche Katastrophe des Versuchskaninchens Bruce / Brenda Reimer konnte dem Ruhm des John Money nichts anhaben. Denn er hat vielen ein Theorieangebot gemacht, das unwiderstehlich wirkte: Kultur ist wichtiger als Natur; Homosexuelle sind normal, Heterosexualität dagegen ist ein ideologisches Zwangssystem. Und vor allem die Feministinnen hatten jetzt eine Theorie, die Simone de Beauvoirs Credo stützte, daß man nicht als Frau auf die Welt kommt, sondern dazu gemacht wird.“ (Ebd., S. 51).

„ Das Spektrum der feministischen Money-Schülerinnen reicht von Kate Millet bis zu Alice Schwarzer. Manche Frauen gebären Kinder alle anderen Unterschiede sind artifiziell und beliebig umformbar. Und wenn man einem Jungen sagt, daß er ein Mädchen sei, und ihn entsprechend behandelt, wird er sich auch weiblich verhalten. Bruce Reimer hat das alles mit Blut, Schweiß und Tränen widerlegt, aber seine Leiden sind vergessen. Denn John Money hatte rechtzeitig eine Immunisierungsstrategie entwickelt, die dem Feminismus auch heute noch unschätzbare Dienste leistet: Wer behauptet, Männer seinen männlich und Frauen seien weiblich, will die Frauen wieder in Bett und Küche - oder wie man auch gerne sagt: zu Kindern, Küche und Kirche zurückzwingen.“ (Ebd., S. 51-52).

„Im Bereich des Geschlechterverhältnisses trägt die Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) den Namen »Gender Mainstreaming«. Das ist die regierungsoffizielle Politik der fortschrittlichen westlichen Länder, die das biologische Geschlecht von der sozialen Geschlechtsrolle abkoppeln möchte. »Gender« hat demnach nichts mit Sex zu tun und kann im Grunde frei gewählt oder neu zugewiesen werden. Auf diese Idee ist erstmals eben jener John Money gekommen - und zwar bereits in den 1970er Jahren. 1995 hat sie die Weltfrauenkonferenz in Peking dann zum Standard des politisch korrekten Umgangs mit Fragen des Geschlechterverhältnisses erhoben. Seither muß man denken (oder zumindest sagen), daß die Gesellschaft das Geschlecht konstruiert. In den Universitäten wird diese politische Philosophie durch »Gender« Studies verbreitet. Für sie scheint charakteristisch, daß das Engagement in der Frauenbewegung zum entscheidenden Qualifikationskriterium für die Frauenforschung erhoben wird.“ (Ebd., S. 52). ** ** **

„Im Nachrichtenmagazin Focus konnte man lesen: »Das Europaparlament hat beschlossen, daß in Fernsehwerbung, Schulbüchern und Internet Hausfrauen in der Küche nicht mehr gezeigt werden sollen, daß ›Körperbild‹ und ›Geschlechterrollen‹ positiv auf die Gesellschaft einwirken sollen.« (Focus, # 37, 2008). Der Satz stammt immerhin aus der Feder des Chefredakteurs Helmut Markwort. Auch nach längerem Nachdenken wird man sich nicht entscheiden können, ob es sich um einen guten Aprilscherz oder um die traurige Wirklichkeit des »Gender Mainstreaming« handelt.“ (Ebd., S. 52).

„Der fanatische Feminismus verwechselt soziale Rollen mit Geschlechterrollen. Ein Mann oder eine Frau zu sein, ist kein soziales Konstrukt. Soziale Rollen kann man wechseln, aber man kann als Mann nicht einfach Frau spielen - es sei denn im Film: Tootsie. Und man kann als Frau nicht einfach Mann spielen - es sei denn in der Oper. »Der Geschlechtsunterschied bleibt die Stelle, an der Natur und Kultur sich verbinden«, sagt Dietrich Schwanitz zu Recht (vgl. Dietrich Schwanitz, Männer, 2003, S. 28).“ (Ebd., S. 52).

„Das Wissen um die sexuelle Designdifferenz zwischen Mann und Frau geht in der westlichen Welt allmählich verloren. Feminismus besagt ja, daß der Unterschied zwischen Mann und Frau keinen Unterschied macht. Da die Differenz der Geschlechter aber ständig in die Augen springt, muß der fanatische Feminismus vor allem Wortpolitik betreiben und versuchen, Sex durch »Gender« zu verdrängen. Wenn also allerorten »Gender Studies« aufblühen, darf man vermuten, daß es dabei vor allem um eine Kampfansage gegen die Evolutionsbiologie geht.“ (Ebd., S. 52-53).

„Heute gibt es aber nicht nur Institute, sondern auch Medikamente für das richtige Denken. Mit Ritalin und Prozac erzeugt man Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**), nämlich Feministen und Softies. Natürlich sind hier die USA führend. Prozac wird dort vor allem depressiven Frauen verschrieben, denen es an Selbstwertgefühl mangelt - eine Droge, die Frauen Alpha-Tier-Gefühle verschafft. Ritalin dagegen wird vor allem hyperaktiven Jungs verschrieben, die nicht still auf ihren Schulbänken sitzen können. Schon 1969 hat Patricia C. Sexton den feminisierten Mann identifiziert. Er ist das Produkt eines Schulsystems, das zunehmend von Frauen bestimmt wird und deutlich weibliches Verhalten belohnt - man spricht dann gerne von »sozialem Lernen«, »Sensibilisierungskursen« und »Kommunikationstraining«.“ (Ebd., S. 53).

„So werden die Jungen sozialverträglicher, die Mädchen selbstbehauptender, und alle tendieren zur androgynen Mitte. Charles Horton Cooley hat schon vor hundert Jahren beobachtet, daß die demokratische Nivellierung der Geschlechterdifferenz in Organisationen und Wertbewerbssituationen tatsächlich zu einer Maskulinisierung der Frauen und einer Feminisierung der Männer geführt hat. Und wer das als Verlust kultureller Errungenschaften erfährt, muß lernen, daß eine künftige Differenzierung der Geschlechterrollen sich weder auf Natur noch auf Autorität berufen kann. Sie könnte allenfalls das Resultat eines freien experimentellen Spiels sein - und genau daran arbeitet der aufgeklärte Feminismus.“ (Ebd., S. 53).

„Wohl noch niemals in der Geschichte der Menschheit war das Verhältnis der Geschlechter so vergiftet wie heute. Weil uns der Geist der Demokratie dazu verführt, Gleichberechtigung als Gleichartigkeit und Gerechtigkeit als Gleichheit zu verstehen, erwachsen Legitimationsprobleme der Geschlechterdifferenz, weil sie asymmetrische Lebensformen aus sich entläßt. Gerne würde man das Problem ignorieren, denn so wie die Liebe die Logik stört, so stört der Geschlechtsunterschied die moderne Gesellschaft. Deshalb verzichtet unsere Kultur heute auf jede Stilisierung des Geschlechterverhältnisses.“ (Ebd., S. 53).

„Früher lebten Männer und Frauen zusammen - aber nach unterschiedlichen Regeln. Heute gelten für Männer und Frauen dieselben Regeln - aber sie leben nebeneinander her wie Parallelen, die sich eben nicht kreuzen. Das ist eine Folgelast der Modernisierungsprozesse, die die Kluft zwischen evolutionärem Erbe und Standards der Lebensführung immer weiter aufreißen. Ende des 19. Jahrhunderts war es für den Soziologen Emile Durkheim noch selbstverständlich, daß Mann und Frau sich suchen, weil sie sich unterscheiden; die Energie der Beziehung verdanke sich gerade der Unähnlichkeit der Naturen, die sie vereint. Heute dagegen schreibt unsere moderne Kultur den Männern und Frauen vor, Partner oder Kumpel zu sein - ein mächtiges Tabu liegt über dem magischen Unterschied. Statt Liebesaffären hat man Beziehungen. Modern ist es weder denkbar, daß die Gattenwahl fremdbestimmt erfolgt, noch daß man bewußt in eine Geschlechterrolle einrastet.“ (Ebd., S. 54).

„Frauen, die dem Zeitgeist huldigen, kopieren die Männer. Sie wollen das, was Männer tun, zum Beispiel regieren und Fußball spielen. Das Beispiel ist trivial, aber man kann daran den Unterschied zwischen aufgeklärtem und fanatischem Feminismus sehr schön klar machen. Daß auch Frauen gut regieren können, zeigt uns die jüngere Geschichte von Frau Thatcher bis Frau Merkel. Aber daraus folgt nicht, daß Frauen auch gut Fußball spielen können. Das moderne Gebot »Ignoriere den Geschlechtsunterschied!«  fordert aber: Mann soll so tun, als ob Frauenfußball interessant wäre.“ (Ebd., S. 54).

„Viele Frauen wollen aber nicht nur das tun, was Männer tun, sondern sie wollen auch das nicht tun, was Männer nicht tun wollen, zum Beispiel putzen und Windeln wechseln. Gerade den Sinn der sexuellen Arbeitsteilung kann man in der modernen Gesellschaft kaum mehr plausibel machen. Hinzu kommen die unbezweifelbaren Fortschritte in der Ausbildung von Frauen, die sie für die Wirtschaft attraktiv machen. Je erfolgreicher aber die Wirtschaft und je gebildeter die Frauen, desto unfruchtbarer ist eine Nation. Frauen verdienen mehr und gebären weniger. Die Emanzipation der Frau vollzieht sich demnach als Entwertung der Mutterschaft und der Männlichkeit. Männer und Frauen leben das gleiche Leben.“ (Ebd., S. 54).

„Doch das gleiche Leben von Mann und Frau versöhnt nicht, sondern verbittert. Mehr denn je scheint Nietzsche mit seiner Definition der Liebe recht zu behalten: »in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter« (Friedrich Nietzsche, Warum ich so gute Bücher schreibe, in: Ecce homo, 1889, § 5). Diesern latenten Kriegszustand zwischen den Geschlechtern versuchen sich immer mehr Menschen dadurch zu entziehen, daß sie die Identifikation mit ihrer Geschlechterrolle verweigern. Frauen wollen nicht mehr Frauen und Männer nicht mehr Männer sein. Man könnte das Geschlechtsflucht nennen. Sie erspart das Risiko, das darin liegt, daß sich Mann und Frau, um es mit der prägnanten Formel des Psychiaters Hans Bürger-Prinz zu sagen, auf »das Überraschungsfeld des anderen Leibes« begeben müssen. (Vgl. Hans Bürger-Prinz, Psychopathologie der Sexualität, 1955, S. 542). Durch Geschlechtsflucht passen sich die Menschen einer Gesellschaft an, in der die Spannung zwischen den Geschlechterrollen immer weiter abgespannt wird.“ (Ebd., S. 54-55). **


„Unsere Überlegungen zur aktuellen Kulturbedeutsamkeit der Homosexualität bleiben übrigens unberührt von der Frage; »nature« oder »nurture«? Zur Zeit neigt man unter Wissenschaftlern offenbar zu der Auffassung, die homosexuelle Objektwahl sei angeboren - sie als »fait social« zu betrachten, sei also nur eine Form der Diskriminierung. Natürlich ist diese Diskussion von allergrößter Bedeutung, aber sie führt nicht ins Zentrum unserer Frage. Wir fragen: Welche Prämien gibt es in der modernen Gesellschaft für bestimmte Lebensführungsformen? Es geht also nicht um die Frage, ob eine heterosexuelle Orientierung besser ist als eine homosexuelle; ob die klassische Familie besser ist als die Patchwork-Familie. Es geht vielmehr um die Frage, welche Lebensformen besser zur modernen Welt passen; für welche es soziale Prämien gibt. Und hier spricht einiges dafür, daß Schwule, Frauen und Singles besser an die neuen kooperativen, postindustriellen Strukturen angepaßt sind, als traditionell orientierte Männer und klassische Familien. Man kann das anerkennen, ohne doch deshalb das moderne Leben schon mit dem guten Leben zu identifizieren - und auch nicht mit einer »vernünftigen Gesellschaft«. Denn wir stellen auch die Anschlußfrage; Wie hoch ist der Preis? Was kostet es, derart modern zu sein? Das ist die Frage nach den sozialen Präferenzen, und wir gehen davon aus, daß sie sich in Vorurteilen niederschlagen (preference = prejudice). Jenseits der Vorurteile ist nirgendwo, also die Utopie. Das zeigt sich gerade in der Diskussion über Homosexualität. Gerade die intellektuellen Schwulen schreiben alles der Zuschreibung zu - nur nicht die eigene Homosexualität. Alles ist Diskurs, nur ich nicht! Man kann aber nicht beides haben: natürliche Homosexualität und Genderdiskurs. Wir maßen uns hier kein Urteil an, sondern fragen nach Präferenzen und plädieren für das Normale. Alle Welt hat das Normale dekonstruiert - uns kommt es darauf an, es zu verschonen.“ (Ebd.).

„Die Homosexuellen stellen hier nur einen Extremwert dar. Sie ersparen sich das Risiko des anderen Geschlechts und befriedigen ihr Begehren nach Frauen an Männern - und züchten damit eine Kultur der effeminierten Männer. Das ist durchaus realitätsgerecht. Denn der Kult der Männlichkeit verträgt sich nicht mit modernen Erfolgsbedingungen. Und deshalb kann man immer häufiger beobachten, daß gerade die Erfolgreichen in die Homosexualität flüchten. Homosexuelle entlasten sich nämlich vom Status-Sex-Wettbewerb und sie ersparen ihrem Begehren den Kompromiß mit den Erwartungen der Frauen. Die moderne Gesellschaft hat das längst normalisiert.“ (Ebd., S. 55).

„Der Siegeszug der Homosexuellen in den modernen Metropolen zeigt, daß es unserer Gesellschaft heute einleuchtet, Sexualität als vollkommen formbar zu begreifen. Man entscheidet sich für ein »Gender« und akzeptiert Heterosexualität längst nicht mehr als natürlichen Standard. (Denn man will ja untergehen! Anm. HB). Der Ökonom Edward Miller hat in diesem Zusammenhang vermutet, daß die Feminisierung der Öffentlichkeit die Entwicklung der Homosexualität fördert. Er deutet Homosexualität nämlich als Nebenprodukt, das bei der Produktion femininer Züge in unserer Gesellschaft anfällt: Mitgefühl, Sensibilität, Sanftheit, Freundlichkeit. Bei einigen Männern gelingt diese Temperierung ihrer Männlichkeit - die anderen werden schwul.“ (Ebd., S. 55).

„Die Unduldsamkeit, mit der aktuelle Diskurse alleine schon auf das Wort Männlichkeit reagieren, deutet auf ein mächtiges Tabu. Harvey C. Mansfield, der ein interessantes Buch über Männlichkeit geschrieben hat, weist zu Recht darauf hin, daß es für jeden Autor ein großes Risiko darstellt, über ein Thema zu schreiben, zu dem jeder eine Meinung hat (- und das gilt natürlich auch für das Thema dieses Buches!).  Aber, so sagt sich Mansfield in glänzender Selbstreferenz, es ist männlich, Risiken einzugehen. Oder ist es verrückt - und ist Männlichkeit verrückt? Ist der männliche Mann heute ein Don Quijote? “ (Ebd., S. 55).

„Mädchen werden offenbar auf sehr viel natürlichere Weise Frauen, als Jungen zu Männern werden. Und deshalb können Frauen auch Männlichkeit imitieren, ohne in eine Identitätskrise zu geraten. Männer sind künstlicher. Männlichkeit hat immer den Charakter einer Performance: Mann kann man nicht einfach nur »sein«. So ist Sex für Männer immer auch ein Identitätstest. Männlichkeit definiert sich sehr viel stärker über eine Negation des Weiblichen als umgekehrt. Deshalb sind Identitätskrisen bei Männern vorprogrammiert, wenn diese Negation erschwert wird.“ (Ebd., S. 55-56).

„Ohnehin steckt der Mann in einer Falle, die Psychiater »Double Bind« nennen. Man heißt ihn: Sei ein Mann! Aber ein Mann zu sein, heißt ja gerade, keine derartigen Befehle entgegenzunehmen. Männlich ist die Selbstbehauptung, nicht die Diskussion: Basta! Männliche Männer sind gerade nicht anpassungsfähig, flexibel und kontextsensitiv. Mit einem Wort: Sie sind durch und durch unmodern. War Männlichkeit immer schon Reaktionsbildung und Angstabwehr, so muß sie heute auf die Delegitimation der Männlichkeit selbst reagieren. Männlichkeit ist ständig gefährdet und muß deshalb ständig demonstriert werden. Ein Mann verweigert die Auswege des Eskapismus und Infantilismus. »Face it!«  wie man in den USA sagt. Heute erinnert daran nur noch die Karikatur des Machismo.“ (Ebd., S. 56).

„Der größte Feind des fanatischen Feminismus ist die Ritterlichkeit. Von Don Quijote war ja schon die Rede. Aber auch der Macho ist in all seiner Lächerlichkeit noch ein Repräsentant des Geistes der Männlichkeit. Vielleicht könnte man ihn den letzte Erben des Thymos nennen. Dieses unübersetzbare griechische Wort spricht von Herz, Mut, Stolz und Ehre. Thymos ist der Geist männlicher Dominanz. Natürlich trifft man ihn heute nur noch in verzertter und entstellter Gestalt an. So ist der moderne Macho oft intelligent genug, sich mit dem rhetorischen Gewand der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) zu maskieren. Wenn aber ein moderner Macho derart feministische Ideale im Fernsehen propagiert, dann doch offenbar nach dem Handicap-Prinzip: Meiner Männlichkeit kann das nichts anhaben! Ich kann mir das leisten.“ (Ebd., S. 56).

„Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus. Die Dichter von Homer bis Ernst Jünger haben das Lob der Männlichkeit im Krieg gesungen. Krieg war immer der Ernstfall der Männlichkeit, die Möglichkeit ihrer vollständigen Entfaltung. Und noch heute ... zeigt fast jeder Film die Waffe als Totem der Männlichkeit. Wo gekämpft wird, sind keine Frauen. Und wo Frauen erscheinen, wird nicht mehr gekämpft. Aber es wird um Frauen gekämpft. Und Männer hören auf zu kämpfen, wenn Frauen aufhören, sie dafür zu bewundern.“ (Ebd., S. 56).

„Frauen können erfolgreich Regierungen führen, auch im Krieg (Golda Meir, Indira Gandhi, Margaret Thatcher), aber nicht kämpfen. Deshalb bedeuten Gleichstellung und Unisex im Militär, daß die körperlichen Standards deutlich abgesenkt werden müssen, weil die meisten Frauen mit den meisten Männern hier nicht mithalten können. Frauen gibt es zwar in der Revolte, aber nicht im Krieg. Terroristinnen sind möglich, aber nicht Soldatinnen. (Auch wenn es sie de facto natürlich längst gibt!).  Und die männlichen Revolutionäre können Frauen an ihrer Seite ohne Selbstachtungsverlust nur deshalb akzeptieren, weil sie sich in einem asymmetrischen Kampf mit dem »System » befinden.“ (Ebd., S. 56-57).

„Im Krieg ist die Welt der Männer noch in Ordnung. In Friedenszeiten suchen sie nach einem Ventil für ihre heroische Energie. Allerdings blieb William James' Suche nach einem moralischen Äquivalent des Krieges erfolglos. Zum letzten Mal stellte ein bedeutender Denker die Frage: Wie kann man Männlichkeit in einer pazifistischen Welt bewahren und bewähren? Über dieser Frage liegen nun hundert Jahre Vergessenheit. Die Moderne kultiviert seither die Menschheit ohne Männlichkeit, die geschlechtsneutrale Gesellschaft.“ (Ebd., S. 57).

„Wenn man Männer nicht männlich sein läßt, werden sie gewalttätig oder schwul. Wer gewalttätig ist, will sich zum Herrn machen und unsere Gesellschaft ächtet das zu Recht. Aber es gibt eben auch noch einen anderen psychodynamischen Weg. Ein Mann, der kein Mann sein darf, sucht einen Mann: Homosexualität - und unsere Gesellschaft hat das normalisiert. Längst hat sich ein riesiger Markt der effeminierten Männer gebildet, männliche Jugendliche, die wie Frauen aussehen. Und nicht nur in Trend-Lettern, sondern auch in regierungsoffiziellen Verlautbarungen erscheinen sie als Rollenvorbild. An die Stelle der »neuen Gesellschaft« ist heute der »neue Mann« als Projekt der Linken getreten. Man könnte von einer Re-education Teil II sprechen. Nach der Entnazifizierung kommt jetzt die Entmachoisierung, die Verwandlung des Mannes in ein sorgendes Haustier. Letztlich geht es hier um die Ausrottung von Stolz und Ehrgeiz. Für den Wunsch, die Nummer eins zu sein, müssen dann Ersatzschauplätze gefunden werden - Sportveranstaltungen zum Beispiel.“ (Ebd., S. 57).

„Unisex, das Prokrustes-Bett der Emanzipation, hat sich von einer Modeströmung zur Regierungspolitik gemausert. Männer sollen »fürsorglich« werden und im Haushalt mitarbeiten; Frauen sollen das Sexualverhalten der Männer imitieren und ihren Mutterinstinkt verdrängen. Männer sollen für die Kinder sorgen, die die emanzipierten Frauen kaum mehr gebären. Männer werden von der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) auf weich und sensibel, Frauen auf kalt und berechnend programmiert.“ (Ebd., S. 57).

„Doch all diese Projekte haben ihre Sollbruchstelle an der Naturschranke. Bei den Olympischen Spielen in Peking konnte man wieder sehr schön beobachten, daß männliche Athleten erfolgreich ihre Männlichkeit gesteigert haben, während weibliche Athleten erfolgreich ihre Weiblichkeit unterdrückt haben. Viele Sportlerinnen sehen wie Parodien des klassischen Männlichkeitsideals aus.“ (Ebd., S. 58).

„Der Lieblingsbegriff des Fußballstars Günther Netzer, mit dem er jahrelang die Leistungen der deutschen Nationalmannschaft bemessen hat, ist der Inbegriff der Männlichkeit: Dominanz. Bis vor kurzem hat kein ernst zu nehmender Mensch daran gezweifelt, daß Männer im Durchschnitt aggressiver, dominanter, stärker, risikofreudiger, abstrakter und wettbewerbsorientierter sind als Frauen. Und niemand hat daran gezweifelt, daß Frauen im Durchschnitt fürsorglicher, friedlicherstabiler und kommunikativer sind als Männer. Das sind Stereotype, zugegeben. Aber stereotyp heißt nicht unwahr. Und damit hier kein Mißverständnis entsteht: Wir betonen »im Durchschnitt«. Denn natürlich gibt es manche Frauen, die männlicher sind als die meisten Männer, und manche Männer, die weiblicher sind als die meisten Frauen.“ (Ebd., S. 58).

„Männlichkeit schließt Frauen aus - das ist klar. Aber viel wichtiger ist, daß sie unmännliche Männer verachtet. Machismo ist die Verachtung für das Sanfte. Aber gerade das schafft dem Macho im Kampf um die Frauen einen Wettbewerbsvorteil vor dem Softie. Es gehört nämlich zu den Ärgernissen, für die es keine Abhilfe gibt, daß oft gerade diejenigen Männer, die ein extrem selbstbehauptendes und auftrumpfendes Verhalten an den Tag legen, Glück in der Liebe haben. Männer konkurrieren miteinander, weil Frauen Männer wollen, die von anderen Männern respektiert werden. Es geht hier um die Amalgamierung von Sexualität und Aggressivität. Übrigens ist nicht nur von Feministinnen, sondern neuerdings auch von Evolutionstheoretikern und Biologen zu hören, daß alle Männer potentielle Vergewaltiger sind.“ (Ebd., S. 58).

„Wenn Männer in jeder Kultur dominieren, dann könnte das ein Ausdruck männlicher Überlegenheit sein. So die Macho-Interpretation. Es könnte aber auch der Ausdruck des fundamentalen Sachverhalts sein, daß Frauen dominante Männer begehren. Daraus kann sich ein höchst produktives und lustvolles Zusammenspiel der wohl unterschiedenen Geschlechter ergeben. Männer dominieren, Frauen domestizieren.“ (Ebd., S. 58).

„Frauen domestizieren die männliche Natur - und das ist die Ultrakurzgeschichte der »Zivilisation«. Aus dem Jäger ist mit der Zeit der Versorger geworden: der Arbeiter und Familienvater. Und deshalb markiert die Rolle des Mannes als Versorger die empfindlichste Stelle der modernen Gesellschaft. Die Karrierefrau zerstört diese Rolle nicht nur zu Hause, sondern auch am Arbeitsplatz. Jede gleichberechtigte Frau am Arbeitsplatz erzeugt bei den Männern nämlich eine kognitive Dissonanz: Kollege oder Sexualobjekt? Das wird deutlich im Vergleich mit den klassisch asymmetrischen Arbeitsbeziehungen wie Arzt / Krankenschwester, Regisseur / Schauspielerin, Chef / Sekretärin. Hier wird die Geschlechterdifferenz durch eine Statusdifferenz vereindeutigt. Heute aber ist das Gefühlschaos am Arbeitsplatz genau so groß wie zu Hause.“ (Ebd., S. 58-59).

„Nun besetzen Männer nach wie vor die Spitzenpositionen - das sollte man nicht abstreiten. Aber Männer besetzen eben auch die untersten Positionen der sozialen Skala: Kriminelle, Obdachlose .... Workaholics sind zumeist Männer - aber eben auch die Penner. Daß es mehr Krankenschwestern als Krankenbrüder, mehr Sekretärinnen als Sekretäre gibt, ist unproblematisch. Aber daß es mehr Professoren als Professorinnen, mehr Präsidenten als Präsidentinnen gibt, ist ein Skandal.“ (Ebd., S. 59).

„Wenn man sich fragt, warum es viel mehr Männer als Frauen an der Spitze des Wissenschaftssystems gibt - also Nobelpreisträger, berühmte Autoren und C4-Professoren -, ist nur eine Antwort politisch korrekt: Das Patriarchat hält die Frauen konspirativ unten. Jede andere Antwort ist so skandalös, daß sie den Kopf kosten kann. Das mußte der Präsident von Harvard, Larry Summers, erfahren. Er hatte öffentlich gesagt, daß es auf der obersten Leistungsebene mehr Männer gibt.“ (Ebd., S. 59).

„Wer sich jetzt nicht erregt, sondern einfach nur rechnet, bemerkt sofort, daß sich das durchaus mit dem statistischen Befund verträgt, daß Männer und Frauen gleich intelligent und gleich befähigt sind. Denn Männer sind nicht nur klüger, sondern auch dümmer als Frauen. Die Genies findet man fast ausschließlich bei den Männern - aber eben auch die Idioten. Im Jargon der Statistik gesprochen: Die Glockenkurve ihrer Intelligenzverteilung ist flacher als die der Frauen; die Mitte ist weiblich, die Extreme sind männlich.“ (Ebd., S. 59).

„Männer sind klüger als Frauen - und dümmer. Männer sind gewalttätiger als Frauen - und sensibler. Daß Mädchen bei Tests heute besser abschneiden als Jungs, hängt mit der Inflation der guten Noten zusammen. Wenn man für gute Leistungen sehr gute Noten bekommt (und das ist typisch in den deutschen Schulen und Universitäten der Fall), dann können überragend gute Leistungen den Durchschnitt nicht nach oben ziehen. Sehr wohl aber können die faulen und dummen Jungs den Durchschnitt nach unten ziehen.“ (Ebd., S. 59-60).

„Genau umgekehrt ist es im Berufsleben, wo Männer ja besser verdienen als Frauen. Das hängt damit zusammen, daß es zwar Mindestlöhne gibt (de facto, und alle arbeiten ja daran, daß es sie bald auch in Deutschland de jure gibt), aber dem Einkommen nach oben keine Grenzen gesetzt sind (vgl. die Diskussion über Managergehälter). Die erfolgreichen Männer können das Durchschnittsgehalt deshalb sehr hoch ziehen, während die ungelernten Arbeiter den Durchschnitt des männlichen Einkommens nicht in gleichem Maße nach unten ziehen können.“ (Ebd., S. 60).

„Die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit leuchtet natürlich unmittelbar ein. Aber Männer sind eher bereit, ein hohes Risiko einzugehen - und dafür werden sie auch besser bezahlt. Über 90% der Leute, die im Beruf getötet werden, sind Männer. Als der 3000. Soldat im Irak-Krieg getötet wurde, waren 2938 davon Männer und nur 62 waren Frauen. Das erstaunt niemanden, und wir finden es auch normal, daß das Fernsehen, wenn es die Grausamkeiten eines Krieges zeigen will, Bilder von leidenden, weinenden Frauen und Kindern zeigt. Und selbst heute würde noch der armseligste Mann das Titanic-Ethos verstehen (wenn vielleicht auch nicht befolgen): Frauen und Kinder zuerst!“  (Ebd., S. 60).

„Eine Ungleichheit, die in der Diskussion über das Geschlechterverhältnis selten beachtet wird, besteht darin, daß die meisten Leute Frauen lieber mögen als Männer .... Die einzige Möglichkeit, unter Bedingungen der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) an der Asymmetrie der Geschlechter festzuhalten, besteht deshalb im Lob der Frauen. Bekanntlich sind sie friedlicher, fleißiger, gesünder und kommunikativer als Männer; daß sie schöner sind, sollte man freilich nicht erwähnen, denn das weckt leicht den Verdacht, man sehe in den Frauen Sexualobjekte.“ (Ebd., S. 60).

„Aber die Schönheit der Frauen stellt auch in anderer, nämlich biologischer Hinsicht ein unlösbares Problem dar. Es gibt nämlich eine strikte Asymmetrie zwischen den Geschlechtern. Frauen sieht man die Fruchtbarkeit an, Männern nicht. Was Frauen attraktiv macht, nimmt mit der Zeit ab: Schönheit, Jugend, Sex-Appeal. Was Männer attraktiv macht, kann mit der Zeit wachsen: Macht, Einkommen, Prestige. Die Folgelasten dieser Asymmetrie tragen allein die Frauen. Ihr Fruchtbarkeits- und Reproduktionswert fällt mit fortschreitendem Alter sehr stark ab. Deshalb arbeiten Frauen am eigenen Selbst nicht mehr nur mit den Mitteln der Psychoanalyse und kosmetischer Psychopharmaka wie Prozac, sondern zunehmend mit Schönheitsoperationen.“ (Ebd., S. 60-61).

„Das ist ein biologisches Schicksal, das der Feminismus sabotieren möchte. Die Intention ist ehrenwert, aber die kulturellen und psychischen Folgelasten der sie erfüllenden Politik sind gewaltig. Im fanatischen Feminismus droht unserer Gesellschaft die Herrschaft der unweiblichen, nämlich der unattraktiven und unfruchtbaren Frauen. Weil schöne Frauen unter »Sexualobjekt« rubriziert werden und Schwangerschaft als Behinderung verstanden wird, dominieren die Unfruchtbaren und die Häßlichen. Die zufriedenen und schönen Frauen schreiben nicht gegen das biologische Schicksal an.“ (Ebd., S. 61).

„In aller wünschenswerten Deutlichkeit hat Shulamith Firestone die Emanzipation der Frau mit der Befreiung von der Bürde der Fortpflanzung verknüpft. Seither steht, wer sich Kinder wünscht, unter Rechtfertigungszwang.“ (Ebd., S. 61).

„Wenn, wie Freud erkannte, die Biologie das Schicksal ist, dann versteht sich der fanatische Feminismus als Sabotage dieses Schicksals. Und hierbei spielt die Rechtfertigungsbedürftigkeit der Fortpflanzung eine Schlüsselrolle. Sobald nämlich Kinder kommen, wird die Geschlechterdifferenz unabweisbar. Deshalb ist die Abtreibung ein Sakrament des fanatischen Feminismus.“ (Ebd., S. 61).

„Die Schwangerschaft macht jedem deutlich, daß die Größe des biologischen Beitrags, den Mann und Frau zur Fortpflanzung der Gattung erbringen, höchst unterschiedlich ist. Und aus dieser Differenz der Investitionen folgt typisch die Differenz der Geschlechter: Männer sind kämpferisch, Frauen sind wählerisch. Wenn man das sabotieren will, muß man Schwangerschaft in eine Art Behinderung umdefinieren. Der Soziologe Niklas Luhmann bemerkt dazu trocken: »Die (bis auf weiteres) unvermeidbare Differenz, daß nur Frauen Kinder austragen und gebären können, wird als eine Art entschädigungsbedürftiges Sonderopfer dargestellt, das durch Gegenleistungen im Arbeits- und Rentenrecht honoriert werden sollte.« (Niklas Luhmann, Protest, 1996, S. 145).“ (Ebd., S. 61).

„Zunächst ging es dem Feminismus um die Beseitigung der Asymmetrie in der Unterscheidung von Mann und Frau - die Frau ist genau so viel wert wie der Mann, es fehlt ihr nichts, sie ist nicht organisch oder intellektuell minderwertig. Aber man sieht dann rasch zweierlei. Der Feminismus muß, erstens, den Geschlechtsunterschied als eine Unterscheidung betrachten, die nicht unterscheidet. Und zweitens erfordert die Gleichstellung von Mann und Frau eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen - die große Korrektur der historischen Ungerechtigkeiten durch eine Bevorzugung der Benachteiligten.“ (Ebd., S. 61-62).

„Der fanatische Feminismus akzeptiert die Unterscheidung von Mann und Frau eigentlich nur noch, um statistisch erfaßbare Benachteiligungen zu markieren. Ansonsten setzt man auf Ununterscheidbarkeit. So verschärft sich die feministische Ideologie durch fortschreitende Gedankenlosigkeit. Erst war man gegen die Asymmetrie in der Unterscheidung von Mann und Frau; dann wollte man, daß die Unterscheidung nicht unterscheidet; und schließlich unterstellt man Ununterscheidbarkeit - das androgyne Ideal, Transsexualität, Männer, die Kinder gebären. Für die Tugendwächterinnen des Geschlechtsegalitarismus wird jede normale - ja: normale! - menschliche Regung zum skandalösen Störfall.“ (Ebd., S. 62).

„Der Soziologe Harrison C. White hat gezeigt, daß die Leugnung des Geschlechtsunterschieds als Unterschied die Überlegenheit des männlichen Geschlechts gerade steigert. Man ist versucht, das unter »List der Vernunft« zu verbuchen. In jedem Fall aber handelt es sich um eine Ironie der Geschichte. Seit die Gleichheit der Geschlechter mit Nachdruck betont wird, wird die Sexualität nach dem Mann modelliert. Sexualität wird zur Leistung, die optimiert werden kann. Und den Orgasmus kann man an Männern einfach besser studieren als an Frauen. Nichts ist prägnanter als der Phallus. Männliche Sexualität paßt auch besser in den modernen Lebensalltag; sie ist, wie Soziologen so gerne sagen, »ausdifferenziert« - neben Beruf, Freizeit und Sport. In Niklas Luhmanns schönem Buch über Liebe als Passion heißt es dazu: »Wenn eine Frau liebt, sagt man, liebt sie immer. Ein Mann hat zwischendurch zu tun.« (Niklas Luhmann, Liebe als Passion, 1982, S. 294). Wenn nicht alles täuscht, lieben Karrierefrauen heute wie Männer.“ (Ebd., S. 62).

„Die fanatischen Feministinnen sind die wahren »Phallozentriker«; sie können nur wertschätzen, was Männer tun, und verachten alles spezifisch Weibliche wie die Hausarbeit und die Sorge um die Kinder. Mütter und Hausfrauen werden von den meisten Männern respektiert, von vielen Frauen nicht. Ein Männlichkeitskomplex bringt Frauen dazu, Männer nachzumachen. Karrierefrauen mieten andere Frauen, nämlich Putzfrauen und Tagesmütter, die die Arbeit machen, die sie verachten. So verringert sich der Unterschied zu den Männern, indem sich der Unterschied zu den statusniedrigeren Frauen vergrößert. Und ein Soziologe könnte nüchtern anmerken, daß sich die Karrierefrauen damit die Möglichkeiten verknappen, »nach oben« zu heiraten.“ (Ebd., S. 62-63).

„Der moderne Feminismus ist ein Ableger des Marxismus. Seine Gründungsurkunde ist die berühmte Schrift von Friedrich Engels über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Dort heißt es in aller wünschenswerten Klarheit: »Die erste Vorbedingung der Befreiung der Frau ist die Wiedereinführung des ganzen weiblichen Geschlechts in die öffentliche Industrie« (Friedrich Engels, Der Usrprung der Familie, 1884, S. 158) und damit die Abschaffung der klassischen Familie. Die radikalen Feministinnen haben das nachgebetet: Nur die Zerstörung von Ehe und Familie kann die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen aufheben. Die Familie ist nichts als die Fessel, die Frauen von der Erwerbstätigkeit abhält, und die Ehe ist nichts anderes als Prostitution und Vergewaltigung. Früher haben die Linken den Arbeitern eingeredet, daß sie unterdrückt sind - heute reden sie es den Hausfrauen ein. Buchstäblich geht es um eine Enthauptung der Familie, sofern nämlich der Vater traditionell als Oberhaupt der Familie verstanden wurde, und um die Durchsetzung des androgynen Ideals - die Geschlechterrollen sind austauschbar.“ (Ebd., S. 63).

„Der Kampf für Gleichheit ist immer auch ein Kampf gegen die Familie. Denn Familien produzieren asymmetrische Verhältnisse nach innen und nach außen. Betrachten wir zunächst das Außenverhältnis. Die ökonomische Ungleichheit wächst kumulativ. Wer produktiver ist, kann mehr sparen und investieren - und steigert damit seine Produktivität. Im Medium der Familie setzte sich dieser Prozeß der Abweichungsverstärkung über Generationen hinweg fort. Deshalb haben alle radikalen Sozialisten die Abschaffung der Familie als Institution gefordert.“ (Ebd., S. 63).

„Die gleiche Asymmetrie zeigt sich im Innenverhältnis. Die klassische Familie ist die Welt der selbstverständlichen, akzeptierten Ungleichheit und der selbstverständlichen Unterscheidung von Mann und Frau. In Familien werden asymmetrische Opfer gebracht. Hier gibt es kein »do ut des«. Familienleben ist kein gleichmäßiges Geben und Nehmen; es nimmt extreme Ungleichheiten in Kauf. Die größten Vorteile starker Familienbindungen kommen zumeist nicht denen zugute, die die größten Verpflichtungen auf sich nehmen.“ (Ebd., S. 63).

„Elterliche Sorge ist kostspielig. Kinder aufuziehen und eine Ehe zu führen »bis daß der Tod euch scheide«, erfordert aus der Perspektive einer Kosten-Nutzen-Kalkulation irrationale Opfer. Und nur Elternliebe kann es letztlich verhindern, daß die Kosten-Nutzen-Kalkulationen zu ihrem logischen Ende geführt werden. Liebe ist unökonomisch - man braucht viel Zeit. Das gilt für die unendliche Geduld, die man Kindern gegenüber aufbringen muß, genauso wie für die Erkundung der Welt des geliebten Ehepartners. Desmond Morris hatte den fabelhaften Mut, zu sagen, daß die Definition der Ehe als Partnerschaft eigentlich eine Beleidigung der Ehe und ein Mißverständnis der Liebe sei. Das Handeln und Verhandeln, das Geben und Nehmen, das für moderne Partnerschaften so charakteristisch ist, spielt für die Liebe keine Rolle. Eine glückliche Ehe entsteht durch ein doppeltes Opfer: Der Mann opfert sein Jägerleben, die Frau opfert Karrierechancen.“ (Ebd., S. 63-64).

„Bei allem, was die Familie betrifft, ist der Hinweis auf Biologisches skandalträchtig. Das gilt für das Verhältnis von Mann und Frau genauso wie für das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern. Wer das erotische Fühlen aus der biologischen Sexualdifferenz erklärt, beleidigt die emanzipierten Frauen. Wer Elternliebe biologisch erklärt, kränkt all diejenigen, die Kinder adoptiert haben oder Stiefeltern sind. Ohne Rückgriff auf biologische Gründe ist aber kaum zu verstehen, warum Eltern in der Regel so geduldig und großzügig sind; warum sie geben, ohne zu bekommen; warum sie die maßlosen Ansprüche ihrer Kinder ertragen. Und vor allem: warum Eltern die Opfer, die sie für ihre Kinder bringen, für niemand anderen bringen würden.“ (Ebd., S. 64).

„Ein klassischer Fall der Abweichungsverstärkung, also des positiven Feedback, ist die sexuelle Arbeitsteilung. Mögen die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau im Blick auf die Aufzucht von Kindern auch noch so klein sein, so führen sie doch dazu, daß die Unterscheidung von Haushalt und Markt systematisch auf die Geschlechterdifferenz abgebildet wird. Wenn die Frau auch nur ein wenig geschickter im Umgang mit Kindern ist und der Mann auch nur ein wenig aggressiver im ökonomischen Wettbewerb ist, lohnt es sich, wenn beide ihre Geschicklichkeiten kultivieren, um dann die jeweiligen Spezialisierungsgewinne in die Ehe einzubringen. Und das läuft eben auf eine scharfe sexuelle Arbeitsteilung voraus. Rollentausch ist natürlich möglich - aber nach derselben Logik. Es lohnt sich dann eben auch, wenn die Karrierefrau ohne jede Einschränkung als Moderatorin beim Fernsehen arbeitet, während der Mann zu Hause die Kinder hütet. Auch das ist ein klarer Fall sexueller Arbeitsteilung.“ (Ebd., S. 64).

„In der klassischen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau sorgt die sexuelle Arbeitsteilung dafür, daß der Handel für beide profitabel ist. Die Solidarität der Eheleute, dieses stärkste aller altruistischen Gefühle, entsteht demnach aus der sexuellen Arbeitsteilung. Die Frau übernimmt dabei die emotionale Führung, der Mann die instrumentale. Frauen sympathisieren, Männer systematisieren. Der eine sorgt sich um die externe, die andere um die interne Grenzerhaltung des Systems Familie. Um hier das durchaus brauchbare Stereotyp der feministischen Kritik zu bemühen: Während die Frau sich um Haus und Kinder sorgt, geht der Mann auf die Jagd.“ (Ebd., S. 64-65).

„Es liegt nahe, gegen die biologische Ableitung der sexuellen Arbeitsteilung eine kulturelle Interpretation auszuspielen; doch das führt nicht sehr weit. Denn gerade die strenge Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau bringt beiden Vorteile, weil sich jeder Partner auf bestimmte Typen des Humankapitals spezialisieren kann. Wenn aber die Spezialisierung in einer arbeitsteiligen Ehe beiden große Vorteile bringt, weil in beiden Bereichen die Produktivität wächst, dann genügen auch kleine biologische Differenzen im Blick auf Kindererziehung, um die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Haushalt und Markt zu begründen: die Frau zu Hause, der Mann auf der Jagd nach dem Profit. Kleinste Differenzen schaukeln sich durch Abweichungsverstärkung zur Opposition der Geschlechterrollen auf.“ (Ebd., S. 65).

„Doch was geschieht, wenn die Frau nun zum Jäger wird? Die Antwort, die Emile Durkheim schon Ende des 19. Jahrhunderts auf diese Frage gab, ist heute von größter Aktualität: Schraubt man die sexuelle Arbeitsteilung unter einen bestimmten Punkt herab, so verflüchtigt sich die Ehe und läßt nur mehr äußerst kurzlebige sexuelle Beziehungen zurück. Je weniger die sexuelle Arbeitsteilung in der modernen Gesellschaft einleuchtet, desto schwächer wird die ökonomische Reziprozität zwischen Mann und Frau - und desto schwächer werden die Gefühle, die sie aneinander binden.“ (Ebd., S. 65).

„Früher gab es den Wettbewerb der Männer um Frauen; jetzt gibt es den Wettbewerb mit Frauen. Und mit jedem Teilsieg in diesem Kampf gegen die sexuelle Arbeitsteilung schwächt sich die Ordnungsleistung der sexuellen Asymmetrie weiter ab. Das macht die Geschlechterrollen von Mann und Frau mehrdeutig. Zumal Männer stehen vor der unlösbaren Aufgabe, dominant aufzutreten und zugleich mit Frauen im Wettbewerb zu stehen. Rollenambiguität aber macht unglücklich - oder doch zumindest unsicher.“ (Ebd., S. 65).

„Damit hat uns die sexuelle Emanzipation in die unerträglichste Ungleichheit gestürzt. Was man heute Partnerschaft nennt, ist ein Schauplatz des gnadenlosen sexuellen Wettbewerbs. Nie war es für die Mächtigsten und Reichsten leichter, die Schönsten und Attraktivsten zu bekommen. Und nie war es für die Schwächeren schwerer, ihre Partner zu »halten«. Der sexuelle Wettbewerb hat bösartige Züge angenommen, seit er nicht mehr effektiv durch das Gebot der Monogamie begrenzt wird. Monogamie verhinderte ja die Zerstörung der Familie durch mächtige Frauen und Männer. Und die größte Macht liegt eben bei den jungen schönen Frauen und den alten erfolgreichen Männern.“ (Ebd., S. 65-66).

„Da wir alle Männer oder Frauen, heterosexuell oder homosexuell, schön oder häßlich sind, gibt es in diesen Fragen keinen unbeteiligten Beobachter. Schon deshalb wird diese knappe Darstellung dem Feminismus nicht gerecht. Sie ist traditionalistisch und nimmt zuweilen die Position des unmodernen Außenseiters in Kauf. Aber vielleicht gibt es in den Fragen des Geschlechterverhältnisses ja keine prästabilierte Harmonie zwischen Modernität und gesundem Menschenverstand. Der Geschlechtsunterschied ist die wichtigste Tatsache unseres Lebens. Seit Darwin wissen wir, daß die Evolution Differenzen bewahrt, wenn sie nützlich sind. Das ermöglicht Männern und Frauen ein Verhältnis des Gleichseins im Anderssein. In dieser Einsicht ttifft sich der gesunde Menschenverstand mit dem aufgeklärten Feminismus.“ (Ebd., S. 66).

Der Egalitarismus der Medien

„Die moderne Gesellschaft ist komplex und abstrakt; es fehlt ihr die Gefühlsstütze, und deshalb kann man sie nicht lieben. Friedrich von Hayeks berühmte These, der freie Markt sei die größte Entdeckung in der Geschichte der Menschheit, läßt eigentlich jeden kalt. Hier gibt es also einen akuten Gefühlsbedarf, die Notwendigkeit einer emotionalen Gestaltung der modernen Gesellschaft. Das leisten die Massenmedien, indem sie ständig soziale Ungleichheiten zeigen. So bedienen sie die rousseauistische Nostalgie nach einer von archaischen Gefühlen geleiteten Gesellschaft, in der ein autoritärer Staat sichtbar »soziale Gerechtigkeit« (**) schafft.“ (Ebd., S. 67).

„Der Sozialismus hat heute wieder Konjunktur. Er spricht nicht mehr von Klassengesellschaft, sondern von der Neuen Ungleichheit und verweist auf die Pornographie des exzessiven Reichtums ... einerseits, die stillen Leiden der Kinderarbeit und der Hartz-IV-Existenz andererseits. In der Zeitung kann man lesen, daß das Durchschnittseinkommen der reichsten Länder 50mal so groß ist wie das der ärmsten. Topmanager verdienen bis zu 400mal so viel wie durchschnittliche Angestellte. Die Fassade der »sozialen Gerechtigkeit« (**) zeigt besonders dramatische Risse, wenn im Fernsehen gezeigt wird, wie mobil das große Kapital geworden ist. Der Ehrliche ist bekanntlich der Dumme - und nur der Dumme wird besteuert. Mehr Gleichheit durch Umverteilung scheint deshalb die selbstverständlichste politische Forderung zu sein, und tagtäglich findet sie in den Massenmedien Resonanz. Nur selten hört man allerdings die Komplementärinformation, daß z.B. in Deutschland 20% derer, die Einkommen beziehen, 70% aller Einkommensteuern zahlen.“ (Ebd., S. 67).

„In der Immanenz der Welt gibt es offenbar nur soziale Ungleichheit - die Gleichheit muß deshalb von außen kommen. Vor Gott waren ja alle Menschen gleich als Sünder. Aber was ist, wenn Gott tot ist? Schon seit dem 19. Jahrhundert konnte man beobachten, daß Gott zwar tot, aber das Schuldbewußtsein geblieben ist. Es suchte sich einen neuen Gegenstand und entdeckte die Armut des Industrierproletariats, die soziale Frage. So entstand eine ökumenische Liebesreligion des Mitleids und der Toleranz. Der Reiche ist seither der Sündenbock. Und tatsächlich kann wohl nur ein ungeheures Schuldbewußtsein den Erfolg der Ökos, Multikultis und Antikapitalisten in der westlichen Welt erklären. »Das Soziale« ist der Gottesersatz unserer Zeit. Wer nach einern zeitgemäßen Glaubenssystem sucht, findet es hier. Es kultiviert den Krisenstolz als neuen Sündenstolz.“ (Ebd., S. 67-68).

„Früher hätte man gesagt, daß es Ungleichheit gibt, weil es Schicksal gibt: Glück ohne Verdienst, Verhängnis ohne Schuld. Das kann man nur meistern, indern man es anerkennt. Und das ist eine Frage der Theodizee, nicht der Sozialpolitik. Doch die modernen Massenmedien pflegen das primitive Denken, das allem Geschehen eine Ursache und jeder Ursache einen Schuldigen zuschreibt. Nicht die »Programmverantwortlichen« sind dafür verantwortlich, sondern die Struktur der Massenmedien selbst. Sie reduzieren uns Zuschauer, Hörer und Leser auf das bloße Erleben: Wir müssen zusehen, wie andere entscheiden, genießen und leiden. Und wenn andere entscheiden, werden wir zu Betroffenen. Wenn andere genießen, halten wir uns für benachteiligt. Wenn andere leiden, ist uns das unerträglich. Die Massenmedien erzwingen weltweit eine Wahrnehmung der Ungleichheit, an die dann Politiker und Intellektuelle ihre Programme anschließen können. Die Intellektuellen positionieren sich in moralischer Überlegenheit als Kritiker des Kapitalismus, des Systems oder der Gesellschaft, die an jenen Ungleichheiten schuld sind. Denn die Zumutungen der Fernethik kann man offenbar am besten ertragen, wenn man sich in die Position des Protestierenden bringt. Und die Politiker präsentieren sich paternalistisch als Betreuer der Benachteiligten.“ (Ebd., S. 68).

„Wie die Intellektuellen sind auch die Politiker Parasiten der Macht der Schwachen. Denn in der »Massenmediendemokratie« haben gerade die Schwachen Macht, sofern sie uns zum Mitleid zwingen; sie haben die Macht, wehzutun. Unzählige Formate des Fernsehens ermöglichen ihnen, was Nietzsche das Zur-Schau-Tragen des Unglücks genannt hat. Und das Entrüstungsvergnügen, das die sozialkritischen Sendungen anbieten, stellt sich nicht nur auf der Seite der Zuschauer, sondern auch auf der Seite der ins Bild gesetzten Benachteiligten ein; sie genießen das Sich-Beklagen als Lebensreiz der Schlechtweggekommenen.“ (Ebd., S. 68).

„In den Medien zu sehen, daß Gerechtigkeit geschieht, ruft eine Art Soziallust hervor. Und nicht nur im Unterhaltungsprogramm bietet das Fernsehen die soziale Lust der Moralität. In der fiktiven Realität des Krimis wird der Verbrecher seiner gerechten Strafe zugeführt. In der realen Realität der Öffentlichkeit wird der korrupte Politiker oder Wirtschaftsführer an den Medienpranger gestellt. Die Medien inszenieren den Skandal als demokratischen Schauprozeß, den die Zuschauer lustvoll konsumieren. Der Skandal ist der Sündenbockmechanismus der Massenmedien. Und dabei ist es völlig gleichgültig, ob der Altruismus oder die Niedertracht Regie führen. Die Bestrafung des Übeltäters ist ein öffentliches Gut - egal, ob sie aus Gemeinsinn oder aus Bösartigkeit erwächst. Was zählt, ist der Effekt der sozialen Kontrolle.“ (Ebd., S. 68-69).

„Diese ethische Plakatwelt der Massenmedien illustriert sehr schön die Dialektik der Heuchelei, die Hegel schon vor zweihundert Jahren entwickelt hat. Sein Diderot würde heute fragen: Was ist gut an den »Gutmenschen«? Ihre moralistische Aggression ist ein unverzichtbarer sozialer Mechanismus zum Schutz der Altruisten. Denn je dynamischer die Gesellschafr, um so wahrscheinlicher das Trittbrettfahren und Betrügen - und desto notwendiger der Moralismus, der schon immer eine soziale Technik der Kontrolle von Betrügern war. Man kann heute von Evolutionsbiologen lernen, daß es eine genetische Selektion für moralistische Aggressivität gegen Betrüger und Trittbrettfahrer gibt. Sie findet in den Massenmedien, die den Markt für Achtung und Aufmerksamkeit regulieren, ein ideales Instrument. Der dort zumeist erhobene Ton ist nicht der Ton der Kritik, sondern der modischen Wut. Das erspart die Überzeugungsarbeit. Entrüstung gilt als Echtheitsbeweis. Wer früher kritisch war, ist heute wutschnaubend. Das funktioniert natürlich nur, weil es von der »Mediendemokratie« prämiert wird. Wut ist so demokratisch wie Angst - jeder kann sie ausdrücken.“ (Ebd., S. 69).

„Die Tugendbehüter, von denen Vilfredo Pareto einmal gesprochen hat, gibt es heute aber nicht nur in den Redaktionsstuben der Zeitungen und Fernsehanstalten, sondern auch in den virtuellen Gemeinschaften und sozialen Netzwerken des Internet. Wie eh' und je wird geklatscht und getratscht, nur daß die Gerüchte heute in Lichtgeschwindigkeit die Runde machen. Der Klatsch heißt jetzt zwar Chat, aber nach wie vor hat er die Funktion sozialer Kontrolle und dient dem Management der Reputation. Mit der schönen Formel von Klaus Thiele-Dohrmann: »Blöße mindert Größe« (Klaus Thiele-Dohrmann, Der Charme des Indiskreten, 1995, S. 191).“ (Ebd., S. 69).

„Die Entwicklung der Medientechnologien hat uns in ein Zeitalter geführt, von dem der Jesuitenpater und Medienwissenschaftler Walter J. Ong sagen konnte, es sei so ausdrücklich und programmatisch sozial wie nie ein Zeitalter zuvor. Elektronische Medien haben nämlich eine Weltkommunikation in Echtzeit ermöglicht, die uns die Empfindung der Allgegenwart vermittelt. Alles, was auf der Welt geschieht, geht uns nun etwas an, und wir alle entwickeln durch Radio, Fernsehen und Internet einen sozialen Sinn für die globale Einheit“ (Ebd., S. 69-70).

„Deshalb werden Formen direkter Demokratie wieder attraktiv. Das ist natürlich nur mit den Medien und in den Medien möglich. Man denke nur an die wachsende Bedeutung der Meinungsumfragen, die mittlerweile den Rahmen für alle politischen Entscheidungen abgeben. Natürlich hat dieses Mehr an Unmittelbarkeit seinen Preis. Besonnenheit und Geschmack haben in unserer Kultur kaum mehr eine Chance. Doch ist das ein Grund für Kulturkritik? Auch wenn es weh tut: Wir müssen lernen, mit Geschmacklosigkeiten zu leben. Denn Geschmack diskriminiert - und das ist in »Massendemokratien« unerträglich. Deshalb haben »demokratische« Kulturen den Geschmack durch die öffentliche Meinung ersetzt, die von den Medien inszeniert wird.“ (Ebd., S. 70).

„Diese von den Massenmedien inszenierte öffentliche Meinung findet ihre stabilste Einheit im Protest. Niklas Luhmann hat gezeigt, daß es zwei Techniken gibt, mit denen man heute besonders leicht Protestpotential aktivieren kann. Man kann, erstens, »die Sonde der internen Gleichheit in die Gesellschaft« (Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 857) einführen, um Ungleichheiten sichtbar zu machen. Das ist unser Thema im engeren Sinn - das Thema Verteilung. Man kann aber auch, zweitens, »die Sonde des externen Gleichgewichts« (Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos, 1991, S. 147) in die Welt einführen, um zu zeigen, daß wir im ökologischen Ungleichgewicht mit der Natur leben. So entstehen die Gefahrenthemen.“ (Ebd., S. 70).

„Die Massenmedien stimulieren uns derart, gegen die Existenzbedingungen der modernen Gesellschaft zu protestieren, nämlich eben gegen Ungleichheit - dagegen richtet sich der »rote« Protest - und Ungleichgewicht - dagegen richtet sich der »grüne« Protest. So entstehen Neidthemen und Angstthemen. Die Angstthemen zeigen uns die Welt im Licht einer neuen Gleichheit der Unsicherheit: Katastrophen nivellieren. Die Katastrophe ist die vollkommene Entlastung: ich muß mir die Hilflosigkeit nicht selbst zurechnen. Heute wird vor allem der Klimawandel zum Instrument für Egalitarismus und weltstaatlichen Zentralismus. In seiner reinsten Gestalt zeigt sich der Egalitarismus der Massenmedien aber bei den Neidthemen, die die gesellschaftliche Ungleichheit sondieren.“ (Ebd., S. 70).

„Die Sonde der Gleichheit, die die Massenmedien in die Gesellschaft einführen, wirkt wie ein permanenter »Demokratietest«. Die Massenmedien zeigen täglich den pornographischen Reichtum - und zwar nicht nur den Armen den des Westens, sondern auch uns Wohlstandsbürgern den der Superreichen. Rasch zeigt sich da unsere Toleranz gegenüber dem Reichtum anderer überfordert. Bei der Wahrnehmung der Ungleichheit ist ja der Filter der Stände und Kasten weggefallen - jeder ist ein Mensch wie du und ich. Und das macht jede Ungleichheit tendenziell zum Skandal. Der sozialeVergleich erzeugt Neid und läßt die Erwartungen explodieren. Heinz Bude hat in diesem Zusammenhang auf die wachsende Bedeutung der lebensstilistischen Unterschiede für die Alltagsorientierung in einer Gesellschaft, in der meritokratische Maßstäbe nicht mehr gelten, hingewiesen: »Der soziale Blick ist darauf fixiert, wer wo einkauft, wer sich wo vergnügt, wer was sagen darf, wer was anzieht, wer einen wie anguckt. Man setzt in gewissen Momenten schier sein Leben daran, die eigene Wahrheit am anderen zu finden, weil es sonst nichts gibt, woran man sich halten könnte.« (Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen, 2008, S. 65).“ (Ebd., S. 70-71).

„Daß die Armen der Dritten Welt unglücklich über ihr Los sind, versteht jeder. Die Massenmedien zeigen ihnen heute die Welt so, wie sie früher nur die Reichen gesehen haben. Die Welt wie die Reichen zu betrachten, ohne reich zu sein, ist aber eine Quelle ständiger Frustration. Die Bilder der Medien treiben deshalb die neue Völkerwanderung an. Die Armen machen Ernst mit dem Egalitarismus der Medien. Da muß das Fernsehen nur Bilder des Westens zeigen - und die Erwartungen explodieren.“ (Ebd., S. 71).

„Aber warum sind wir, die Wohllebenden, die jenen Armen als Traumbild vorschweben, nicht glücklich? Das wunderbare Ansteigen des Lebensstandards in der westlichen Welt hat die Menschen wohlhabender, gesünder und freier werden lassen - aber nicht glücklicher. Weil sie sich vergleichen, ist die Ungleichheit ihr Unglück. Man kann das eigene schöne Haus nicht mehr genießen, weil das der Nachbarn noch schöner ist. Und meist sind es nur die Menschen, denen noch die Schrecken und Entbehrungen eines Krieges ins Gedächtnis gebrannt sind, die dankbar bemerken, wie herrlich weit sie es gebracht haben. Doch nicht nur Haus, Auto und Ehefrau des Nachbarn verführen zum Vergleich, sondern mehr noch die Massenmedien, die uns ständig mit dem Glitzerleben der Reichen und Mächtigen konfrontieren. Sie führen uns einen Lebensstil vor, den wir nie erreichen werden.“ (Ebd., S. 71).

„Menschen können sich mit sozialer Ungleichheit arrangieren, so lange man ihre Wahrnehmung der Unterschiede steuern kann. Das war in Stände- und Kastengesellschaften der Fall. Im Zeitalter der »Massendemokratie« und der Massenmedien ist die Wahrnehmung der Unterschiede völlig umgesteuert worden. Denn Zeitung, Radio, Kino und Fernsehen sind egalitäre Medien - vom Internet ganz zu schweigen. Alles, was Massenmedien senden, hat dieselbe Botschaft: Alle Menschen sind gleich. Und jede offenbare Ungleichheit wird zum Skandal. Jeder vergleicht sich nun mit jedem auf der Welt, und diese kollektive Praxis des sozialen Vergleichens läßt sich nicht mehr steuern. Deshalb ist das Zeitalter der Massenmedien auch das Zeitalter der permanenten Revolution ständig wachsender Erwartungen und Ansprüche. Jede öffentlich zugängliche Information über die Verteilung von Macht und Geld stärkt den Egalitarismus.“ (Ebd., S. 71-72).

„Die Leute vergleichen sich nicht nur mit ihresgleichen, sondern sie vergleichen auch ihren heutigen mit dem früheren Konsum. Deshalb sind die Neureichen glücklich, und diejenigen, denen es heute etwas schlechter geht als früher, z.B. weil die Globalisierung ihre Privilegien zerstört hat, sehr unglücklich. Und viele sind schon unglücklich, wenn die Wachstumsrate, an die man sich gewöhnt hat, nicht etwa fällt, sondern sich lediglich abschwächt. Nur 2,1% Wachstum, hört man im Fernsehen - bisher waren es doch 3,5%. Das ist die statistische Depression: »mehr ist weniger«.“ (Ebd., S. 72).

„Der Soziologe Niklas Luhmann hat in einem wunderbar ironischen Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (20.03.1996) dieses Phänomen der statistischen Depression erläutert. Wie kommt es zu pessimistischen Zukunftserwartungen? Die Antwort ist so einfach wie verblüffend. Massenmedien sind von Zahlen und Tabellen fasziniert, weil Zahlen so bestimmt und scheinbar eindeutig sind. Noch spannender als die Zahlen, z.B. die genaue Zahl der Verkehrstoten in diesem Jahr, ist der Zahlenvergleich, z.B. 2,1% Winschaftswachstum in diesem Jahr im Vergleich zu 3,5% im vergangenen Jahr. Nur 2,1% Wachstum! »Wir haben zwar mehr, aber auch weniger«.“ (Ebd., S. 72).

„Aber auch wenn sich die Dinge eindeutig verbessern, verschlechtert sich etwas, nämlich der Wert der bisher erreichten Position. Eine Rückkehr in die Düsseldorfer Eigentumswohnung, die noch vor wenigen Jahren die Erfüllung meiner Lebensträume war, erschiene mir heute als Zumutung. Mit dem wachsenden Einkommen wachsen auch die Erwartungen, und damit ist die Unzufriedenheit gleichsam ins Wachstum eingebaut. Das Problem entsteht durch den Zwang zum Vergleich. So produziert das Mehr das Weniger, der Reichtum die Armut und das Wachstum die Depression. “ (Ebd., S. 72).

„Hannah Arendt hat einmal gesagt, das Schlimme am Behaviorismus sei, daß er die Wirklichkeit der »Massendemokratie« zutreffend beschreibe. Ihr ideales Darstellungsmedium ist die Statistik, in der das Hervorragende nur als »Ausreißer« vorkommt. Der Behaviorismus ist die Sozialpsychologie der verwalteten Welt. Der vorsorgende Sozialstaat will nicht, daß die Menschen handeln, sondern daß sie sich verhalten. Hervorragende Leistungen können diesem Prozeß der Normalisierung nur störend dazwischen kommen. Dieser Triumph der Gleichheit in der Öffentlichkeit drängt den Wunsch nach Distinktion ins Privatleben zurück.“ (Ebd., S. 72-73).

„Eine Gesellschaft, die sich selbst mit Statistiken beschreiben kann, hat ihre Bürger erfolgreich normalisiert. In der Wirklichkeit gibt es ja eigentlich nur Einzelfälle. Die Statistik dagegen erzeugt eine fiktive Parallelwirklichkeit der Aggregate, an die wir uns immer mehr gewöhnen. Auch wenn es uns schwerfällt, zu glauben, daß, nachdem beim Roulette fünfmal hintereinander Rot kam, die Wahrscheinlichkeit, daß beim nächsten Spiel wieder Rot kommt, genau so groß ist wie für Schwarz. Statt der Vernunft haben wir die Massenmedien. Sie trainieren uns in der Beobachtung von Beobachtern und kultivieren jenen quasi-statistischen Sinn, den die Demoskopin Elisabeth NoelleNeumann als Orientierungsinstrument des modernen Massenmenschen bestimmt hat.“ (Ebd., S. 73).

„Den entscheidenden Zusammenhang zwischen der politischen Forderung der Gleichheit, der Wirklichkeit der Massen, den Medien der technischen Reproduzierbarkeit und der Wissenschaft von der Statistik hat der Kulturkritiker Walter Benjamin schon in den 1930er Jahren durchschaut. In seiner noch immer maßgeblichen Studie über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zitiert er in diesem Zusammenhang ein prägnantes Wort des dänischen Dichters Johannes V. Jensen: »Sinn für alles Gleichartige in der Welt« (Walter Benjamin, a.a.O., S. 414). Das ist der quasi-statistische Sinn für das Gleiche im Ungleichen, für die Wirklichkeit der Masse.“ (Ebd., S. 73).

„Die Massenmedien wissen: Mit Sex-Themen kann man heute niemanden mehr erregen, wohl aber mit Statistiken über die Einkommensverteilung. Jede Boulevard-Zeitung ergreift dankbar die Möglichkeit, die Höhe der Managergehälter zu skandalisieren. Es ist aber unmöglich, zu sagen, was die angemessene Bezahlung für die Erledigung hochkomplexer Aufgaben ist. So bleibt nur der Marktpreis. Spitzenmanager sind so knapp wie überragende Fußballspieler und Popstars. Deshalb können sie mehr Geld verlangen, als viele für nachvollziehbar halten. Und die Medien berichten darüber.“ (Ebd., S. 73).

„Der Star verdient heute unendlich viel mehr als der Zweitrangige. Das gilt für das Management (Josef Ackermann), das Entertainment (Günther Jauch) und den Sport (Michael Ballack) gleichermaßen. Diese Leute verdienen wahnsinnig viel - und arbeiten wahnsinnig viel. Dabei nutzen sie die Massenmedien zur Omnipräsenz. Am anderen Ende des Spektrums entfaltet sich Deutschland als der »Freizeitpark«, den schon Helmut Kohl prophezeite. Was beide verknüpft, ist das millionenfach reproduzierte Trikot von Ballack, das die Kinder nicht nur am Strand, sondern auch in der Schule tragen.“ (Ebd., S. 73-74).

„Hier haben wir es mit einem sehr bedeutsamen - soll man sagen: dialektischen? - Sachverhalt zu tun: Die Rückseite des Egalitarismus der Massenmedien ist ihr Starkult. Eigentlich stellt sich ja bei jeder Darstellung einer konkreten Person in Massendemokratien das Problem, daß Individuen nicht interessant sind, weil es zu viele von ihnen gibt. Warum sollte man gerade dieses eine betrachten? Mit ihrem Sinn fitr alles Gleichartige in der Welt verneint ja jede »Massendemokratie« die Welt von Kanon und Klassiker, Elite, Größe und Stars. Doch zeigt die Erfahrung, daß die Menschen überall dort, wo Hierarchien fehlen, durch Hackordnungen fasziniert werden - jedes Kind lernt das auf dem Spielplatz und jeder US-Amerikaner im Büro. Man ruft sich Jack und Bob, aber nur einer ist der Boss. Massenmedien haben sich auf die Beobachtung der Hackordnungen spezialisiert, und dabei müssen sie eine schwierige Balance zwischen Egalitarismus und Elitismus, Demokratie und Exzellenz finden.“ (Ebd., S. 74).

„Deshalb gibt es neben dem Kult der Gleichheit eine Idolatrie der Bestenlisten. Täglich opfern die Massenmedien dem Gott der Hitparaden. So wird Berühmtheit geschaffen, zugeteilt und ausgelöscht. Wenn wir von Prominenz sprechen, meinen wir asymmetrisch verteilte Aufmerksamkeit, also klassisch Statusdifferenz und Rangordnung. Man kann Prominenz aber auch viel einfacher und doch genauer fassen, nämlich als den Quotienten aus den Personen, die mich kennen, und den Personen, die ich kenne. Hier spielen Massenmedien natürlich eine Schlüsselrolle: »Ich kenne Sie aus dem Fernsehen.« Neben dem Geld, das man verdient, gibt es also auch ein psychisches Einkommen: Berühmtheit, Respekt, Bewunderung - und gerade das schafft heute Statusdifferenzen.“ (Ebd., S. 74).

„Die Balance zwischen Egalitarismus und Elitismus gelingt den Massenmedien am besten aber in der Kultivierung einer ganz neuen Spezies. Wir haben keine echten Helden mehr - oder müßte man sagen: wollen keine mehr haben? -, aber immer noch das Bedürfnis nach Heldenverehrung. Während die charismatische Eminenz des Helden eigentlich immer ein Ärgernis für die Demokratie ist, bieten uns die Celebrities Präparate des Durchschnitts. Ihre Geschicklichkeit besteht in der Unterscheidung von ihresgleichen. Celebrities beweisen die Perfektibilität des Durchschnitts. Sie sind »oben«, ohne daß wir deshalb »unten« wären, und deshalb ermöglichen sie die »demokratische« Bewunderung. Man ist nicht neidisch auf sie, weil man in ihnen sich selber feiert. Zur Celebrity könnte nämlich jeder werden. Das ist das Grundprinzip der Casting-Shows. Und fast täglich kann man vor dem Bildschirm sitzend miterleben, wie die Massenmedien den Sprung über die spezifisch moderne Kluft der Abweichungsverstärkung schaffen: Deutschland sucht den Superstar.“ (Ebd., S. 74-75).

„Der intellektuelle Spott über derartige Sendungen ist billig. Sieht man aber genauer hin, so kann man bemerken, daß sie wie Psychopharmaka wirken. Sie schützen den Zuschauer gegen die Drohung, ein Niemand zu sein. Je glänzender nämlich die echte Prominenz auf den Bildschirmen, desto unerträglicher das Gefühl der eigenen Nichtigkeit. Die Hölle ist: nicht beachtet werden. Deshalb läßt man sich gerne von den Medien einreden, jeder könne die Seiten wechseln und selbst auf den Bildschirm gelangen. Sobald nun deutlich wird, daß sich der Status eines Stars nicht der Leistung, sondern allein dem Design verdankt, begreift jeder Zuschauer die Warhol-Lektion über den fünfzehnminütigen Weltruhm. Ihre durchaus realistische und nur durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung getrübte Botschaft lautet: Jeder könnte der Star sein.“ (Ebd., S. 75).

„In der Paradoxie der Berühmtheit für alle übergreift der Egalitarismus heute seinen Gegensatz. Die Massenmedien »demokratisieren« den Ruhm; und das ist möglich, weil sich der Ruhm von der Leistung emanzipiert hat. Dazu gibt es eine sehr wichtige Entsprechung im Alltagsleben der modernen Gesellschaft: Die Selbstwertschätzung eines Menschen hat sich von seiner Leistung abgekoppelt. Früher verstand man seine Selbstverwirklichung noch als Bewährung, gemessen an einem für alle verbindlichen Standard. Heute ist an dessen Stelle die Eigenrichtigkeit des leistungsunabhängigen Selbstwertgefühls getreten: Ich bin es mir wert.“ (Ebd., S. 75).

„Einem Realitätstest hält dieses freischwebende Selbstwertgefühl natürlich nicht stand. Deshalb sind die Medien als Traumfabriken so wichtig. Simulation ist das »massendemokratische« Erlebnis. Man kann den berechtigten Anspruch aller Menschen auf authentische Erfüllung nämlich nicht in der Realität befriedigen. Die Teilhabe aller würde zerstören, woran alle teilhaben wollen. Das ist eine spezifisch moderne Einsicht, die aber eben auch so alt wie die Moderne ist und deshalb schon für den Roman gilt. Der Roman ist die Heimat des wahren Egalitarismus: Jeder kann zur Figur in einer Geschichte werden - auch K. oder die wunschlos unglückliche Mutter. John Updike hat über diese »Demokratie« des Fiktionalen, die seltsame egalitäre Welt des Romans einmal gesagt: Was zählt sind nicht Reichtum und Ruhm, sondern die authentischen Gefühle. Nur der Roman und der Film sind wahrhaft egalitär - dort geht es allein um echte Gefühle; nur die Liebe zählt.“ (Ebd., S. 75-76).

„Wenn wir nun von analog auf digital, von Massenmedien auf interaktive Medien, von Büchern auf Computer und von Zeitungen auf »Blogs« umschalten, ändert sich zwar unendlich viel, aber die Dialektik von Egalitarismus und Elitismus bewährt sich erneut. Das Internet ist eine Quelle egalitaristischer Utopien. Die Weisheit der Vielen tritt in erfolgreiche Konkurrenz zum Expertenwissen, weil alle mehr wissen als jeder. »Wiki« wird zum Erkennungszeichen einer weltweiten Selbstorganisation des Laienwissens. »Blogs« versprechen, daß jeder Leser zum Autor und Journalisten werden kann. Und auf den Märkten des Internet-Kapitalismus herrscht die »Konsumentendemokratie«. Diese Formeln wirken wie Fahnen, die das neue Soziale abstecken.“ (Ebd., S. 76).

„Versuchen wir zunächst einmal, die utopischen Züge der Internet-Kultur zu skizzieren. In offenen Netzen treffen sich frei assoziierte Individuen - und sie bilden Gesellschaft als Hypertext, in dem sich jedes Individuum immer wieder neu »schreiben« kann. Das ist keine einheitliche Kultur, sondern ein Netzwerk von speziellen Interessen und Wissensgruppen.“ (Ebd., S. 76).

„Auch die vertrauten Formen sozialer Hierarchie werden heute immer entschiedener durch eine heterarchische Netzwerk-Kultur verabschiedet. Das Internet ist heute die Schlüssel-Metapher für spontane soziale Ordnung. Das offene Netz ist längst zur Projektionsfläche von Aufklärungsutopien geworden; man spricht von elektronischen Rathäusern und virtuellen Parlamenten. Viel attraktiver aber ist vor allem für die Jugendlichen die Möglichkeit, in den offenen Strukturen des Internet ein Netzwerk der Minderheiten zu etablieren.“ (Ebd., S. 76).

„So weit die konkrete Utopie. Doch längst gibt es auch skeptische Stimmen aus dem innersten Kreis des Cyberspace, die Zweifel an der Idee des Internet als eines Mediums radikaldemokratischer Kollaboration hegen. Das Netz zeigt immer deutlicher aristokratische Strukturen. So zeichnen einige wenige »Tagebuch«-Schreiber für den Löwenanteil des Datenverkehrs in der Weblog-Welt verantwortlich. Der Grund ist denkbar einfach: Nur wenige Blogs sind wirklich attraktiv - und ziehen dann alle Aufmerksamkeit auf sich.“ (Ebd., S. 76).

„Hier bestätigt sich das Pareto-Gesetz der unbalancierten Reichtumsverteilung: 20% der Bevölkerung verfügen über 80% des Reichtums. Das ist ein Effekt, der sich überall dort einstellt, wo Menschen aus einer Fülle von Möglichkeiten frei wählen können. Clay Shirky hat das auf die Formel gebracht: Vielfalt + Wahlfreiheit = Ungleichheit. 20% aller Knoten ziehen 80% aller Links auf sich. Deshalb hat es keinen Sinn, in derartigen Netzwerken nach repräsentativen, d.h. durchschnittlichen Teilnehmern zu suchen. Der Mathematiker Albert-Lázló Barabási nennt sie deshalb skalenfrei. Statistische Mittelwerte sind hier nicht aussagekräftig.“ (Ebd., S. 76-77).

„Wo sich Vielfalt, Ungleichheit und Abweichungsverstärkung verkoppeln, stellt sich die schon 1897 von Vilfredo Pareto entdeckte Verteilung ein, die man in einfachster Mathematik durch die Formel y = l/x darstellen kann. In der Sprache der Wirtschaft heißt das: Weniges verkauft sich viel und vieles verkauft sich wenig. Diese Power-Law-Verteilung der Pareto-Regel ergibt sich also immer, wenn viele Menschen eine Fülle von Möglichkeiten haben, ihre Vorlieben auszudrücken. Das führt zu einer Wirtschaft der Stars - und entsprechend dazu, daß die meisten anderen unterhalb des Durchschnitts rangieren. Hier herrscht die Logik der Abweichungsverstärkung. Popularität wächst durch positives Feedback. Es ist also gerade die Wahlfreiheit der Kunden auf den Märkten, die Stars produziert; denn die Leute wählen, was die Leute wählen.“ (Ebd., S. 77).

„Diese Logik der Abweichungsverstärkung führt in der Welt der Weblogs einerseits dazu, daß einige Schreiber immer mehr Leser und Feedback bekommen. Diese Stars der Weblog-Szene können natürlich nicht mehr auf die Unzahl der Kommentare reagieren und kehren damit ironischerweise wieder in die Welt des Massenmedien zurück; denn sie verteilen ja Material an die Vielen, ohne doch noch an der Kommunikation darüber angemessen teilnehmen zu können. Andererseits gibt es immer mehr Weblogs, die nur wenige Leser finden und folglich ein anderes Erfolgskriterium als Popularität brauchen. Der größte Teil der elektronischen Tagebücher wird deshalb ein schriftliches Gespräch unter Freunden sein.“ (Ebd., S. 77).

„Popularität heißt heute also: viele Links zeigen auf mich. Und weil Popularität attraktiv ist, wird dem, der hat, noch mehr gegeben. Auch Wissenschaftler, die einen neuen Text schreiben, zitieren höchstwahrscheinlich Texte, die schon vielfach zitiert worden sind - und steigern so deren Popularität. Der Soziologe Robert K. Merton hat das den Matthäus-Effekt genannt: Wer hat, dem wird gegeben. Berühmte Wissenschaftler bekommen eine unverhältnismäßig große Anerkennung für ihre Beiträge, während unbekannte Wissenschaftler eine unverhältnismäßig geringe Anerkennung für durchaus vergleichbare Beiträge bekommen. Dahinter steckt ein Aufmerksamkeitsproblem. Niemand kann ja mit der Flut der wissenschaftlichen Veröffentlichungen Schritt halten; deshalb orientiert sich der Leser an berühmten Namen. Die Vertrautheit mit der Quelle einer Information stimuliert dazu, sie zu nutzen. So werden aber nicht nur die Star-Wissenschaftler immer berühmter, sondern auch - zumindest relativ betrachtet - die unbekannten Wissenschaftler immer unbekannter.“ (Ebd., S. 77-78).

„Dieser Matthäus-Effekt prägt auch das Internet. Alle können sich heute im Netz artikulieren, aber nur von wenigen wird Notiz genommen, nur wenige werden sichtbar. Hier gilt tatsächlich der Satz von Bischof Berkeley: Sein heißt Wahrgenommenwerden. Wenn niemand auf meine Webpage verweist, existiere ich praktisch nicht im Netz. Wahrgenommenwerden ist alles. Sichtbarkeit im Internet ist eine direkte Funktion der auf das eigene Informationsangebot verweisenden Links. Wer den Status des Stars aber nicht erreicht, findet sich im langen Schwanz jener Verteilungskurve wieder, die Pareto entdeckt hat und heute zumeist unter dem Titel Power Law diskutiert wird. Daß das Internet Ungleichheit produziert und eine Wirtschaft der Stars begünstigt, stellt für alle »radikaldemokratischen« Utopisten der neuen Medienwelt natürlich eine tiefe narzißtische Kränkung dar.“ (Ebd., S. 78).

„Wer von der Logik der Netzwerke keine Ahnung hat, läßt sich gerne die »Geschichte vom Internet als dem ultimativen Medium der Demokratie« erzählen. Und zunächst sieht es ja auch tatsächlich so aus, als ob hier jede Stimme gleich zählen würde. Zensur im Internet ist schwierig, fast unmöglich. Jeder kann seine Meinung veröffentlichen. Und was einmal ins Netz gestellt ist, steht theoretisch Hunderten von Millionen Menschen zur Verfügung. Doch das World Wide Web ist kein Netzwerk, in dem die Links, also die Verknüpfungen der Webpages, gleich verteilt wären. Das Gegenteil ist der Fall. Albert-Lászloó Barabási spricht sogar von einer vollständigen Abwesenheit von Demokratie, Fairneß und egalitären Werten im Internet. Die Begründung dieser These ist denkbar einfach. Von den Milliarden Dokumenten, die das Netz für jeden von uns bereithält, sehen wir ja nur einige wenige. Die Frage lautet deshalb für jeden, der Informationen oder Meinungen ins Netz stellt: Wird es überhaupt irgend jemandem auffallen?“ (Ebd., S. 78).

„Es geht hier um das Problem der Sichtbarkeit. Und das Internet mißt meine Sichtbarkeit ganz einfach durch die Zahl der Links, die auf meine Webpage verweisen. Nun sind einige wenige Knoten im Netz sehr stark, also mit zahllosen anderen verknüpft, z.B. Amazon oder Google, fast alle aber nur sehr schwach. Verglichen mit den »Zentralflughäfen« des Internet existieren die meisten anderen Knoten praktisch gar nicht. Webpages werden also durch die Links, die auf sie zeigen, überhaupt erst sichtbar. Und je mehr Links sie auf sich ziehen, umso leichter sind sie zu finden - und umso vertrauter werden wir mit ihnen. So bildet sich ein unbewußtes Vorurteil zugunsten erfolgreicher Websites. Popularität ist attraktiv. Wer hat, dem wird gegeben. Wer googlet nicht?“ (Ebd., S. 78-79).

„Das ist ein gutes Beispiel für den Netzwerkeffekt der Abweichungsverstärkung, den man auch positives Feedback nennt. Mit der Pareto-Verteilung sind wir am Gegenpol des Egalitarismus angekommen. In den meisten Netzwerken herrscht die Pareto-Verteilung vor, die auch als 80/20-Regel bekannt ist. 20% derer, die Einkommen haben, zahlen 80% der Einkommensteuer; 20% der Mitarbeiter eines Unternehmens sind für 80% des Profits verantwortlich; 20% der Produkte eines Supermarktes machen 80% des Umsatzes aus; 20% der Wissenschaftler bekommen 80% der Zitate ab, 20% der Wissenschaftler schreiben 80% der wissenschaftlichen Texte. Und eben: 80% der Links im Internet zeigen auf 20% der Webpages.“ (Ebd., S. 79).

„In all den genannten Bereichen kann man natütlich bei empirischer Überprüfung auf leicht veränderte Prozentzahlen kommen - es geht uns hier nur um die Illustration einer Regel. In der Pareto-Verteilung gibt es einige gut sichtbare Großereignisse und unzählig viele, kaum sichtbare Kleinereignisse. Wer auf der zweiten Position ist, ist nur noch halb so viel wert wie der Erste. Wer auf der fünften Position ist, ist nur noch ein fünftel so viel wert wie der Erste. Und das Entscheidende ist: Es hat keinen Sinn, hier nach einem Durchschnittswert zu suchen. Wenn sich dieses Power Law auch in der Einkommensverteilung westlicher Länder zeigt, wenn also 20% der Bevölkerung 80% des Geldes verdienen, dann bedeutet das, daß statistische Angaben über das Durchschnittseinkommen genau so sinnlos sind wie die daran orientierten Berechnungen der Armutsgrenze.“ (Ebd., S. 79).

„Egalitarismus ist offenbar nur in sehr kleinen Gesellschaften möglich. Sobald eine gewisse kritische Masse überschritten ist, stellt sich ein Ungleichgewicht des Ruhms ein. Das zeigt sich jetzt auch in der Blogger-Szene. Je erfolgreicher ein Blog, desto unmöglicher wird Interaktivität. Interaktivität unter Gleichen war ja gerade das Heilsversprechen der Internetgemeinde. Heute wird aber deutlich, daß Erfolg immer heißt: Ungleichheit. Die Erfolgreichen, denen unsere Aufmerksamkeit gilt, können keine Aufmerksamkeit zurückgeben, denn wir sind zu viele. So leben sie in einer anderen Welt als wir.“ (Ebd., S. 79).

„Was für die Erfolgreichen gilt, gilt auch für die Aktivisten im Netz. Es gibt hier keine durchschnittliche Beteiligung, z.B. an Wikipedia. Die meisten tragen unterdurchschnittlich viel bei, einige wenige dagegen fast alles. Statistisch ausgedrückt könnte man sagen, daß sich der Durchschnitt immer mehr vom Median entfernt. So kann man bei sozialen Netzwerken wie Meetup, MySpace oder Facebook für die Zahl der »Freunde« einen Durchschnitt von 50, aber einen Median von nur 5 errechnen, weil eben einige wenige Nutzer tausendfach stärker »verlinkt« sind als die meisten. Auch für Wikipedia gilt: 20% der Schreiber liefern 80% der Beiträge. Es gibt also keinen repräsentativen Nutzer des Internet.“ (Ebd., S. 80).

„Das Nachrichtenmagazin Time hat im Jahre 2006 den Wikipedia-Erfinder Jimmy Wales als Champion des Internet-Egalitarismus gefeiert, denn Wikipedia verfolgt das Ideal der gleichen Stimme: Es ist egal, ob du Schüler, Student, Professor, Hobby-Wissenschaftler oder Professional bist. Titel, Qualifikation und akademische Reputation spielen keine Rolle; nur der Beitrag zählt. Dieser Egalitarismus der Internetkultur scheint die klassischen Intellektuellen und Experten zu entthronen. Doch die radikale »Demokratisierung« der Information weckt ein Orientierungs- und Führungsproblem. Braucht man nicht doch einige Leute, die es besser wissen als andere? Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein sprechen hier von libertärem Paternalismus, Larry Sanger, der die Uridee zu Wikipedia hatte, fordert heute eine sanfte Leitung durch Experten.“ (Ebd., S. 80).

„Nicht jeder kann, was er könnte. Mit den Möglichkeiten der Partizipation wachsen auch die Anforderungen an Partizipation. Je gleicher die Partizipationschancen, desto ungleicher die Partizipationsniveaus - deshalb wächst mit der Gleichheit die Unzufriedenheit. Und das ist ein sehr wichtiges Zwischenergebnis unserer Untersuchung: Es gibt keine Gleichheit in der Nutzung der Chancengleichheit. In einer modernen Gesellschaft können Kommunikationschancen nicht gleich verteilt sein. Die alte Formel »Wissen ist Macht« gewinnt deshalb in der Welt der neuen Medien eine ganz neue Konkretheit. Verteilung und Zugang zum Wissen sind die großen Machtfragen des 21. Jahrhunderts. Eine Politik, die das reflektiert, kreist dann um Probleme des Datenschutzes, der Privatsphäre, des Geheimnisses und des freien öffentlichen Zugangs zu Daten.“ (Ebd., S. 80).

„Neben die sozialen Standards, die man Gesetze nennt, treten im Internet-Zeitalter zunehmend technische Standards, nämlich die Programm-Codes, die sich in der Hardware festsetzen und sich dann mit jedem verkauften Chip in der Welt verbreiten. Lawrence Lessig meint gar, daß das Gesetz unwichtig wird und sich der eigentliche Ort der Regulierung in den Computer-Code verlagert. Wer das verstehen will, muß sich nur an Fragen wie diese erinnern: Hat man oberste Kommunikationspriorität oder hängt man meist in der Warteschleife? Wer bekommt welche Informationen? Wer hat Zugang zu den Datenbanken und wer darf dort neue Daten einschreiben? Und man könnte weiter fragen: Wem gehören die Daten? Wer designt die Software? So beginnen heute einige, die alte Hobbes'sche Frage nach dem Kern des Politischen, Wer entscheidet?, neu zu stellen - und zwar in der von Carl Schmitt präzisierten Fassung: »Das ist die Frage, wer die Frage stellt und den in sich entscheidungsfremden Apparat programmiert.« (Carl Schmitt, Die vollendete Reformation, in: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, 1938, S. 174).“ (Ebd., S. 80-81).

„Die globalisierte Welt wird heute nämlich nicht nur durch den Gegensatz »arm vs. reich« sondern auch durch den Gegensatz »vernetzt vs. nicht vernetzt« strukturiert. Diese Gegensätze gehen quer durch alle Gesellschafren hindurch. Und die Zukunft wird vielleicht zeigen, daß der Gegensatz »vernetzt vs. nicht vernetzt« noch mächtiger ist als der zwischen arm und reich. Das digitale Netzwerk der Wertschöpfung wirkt nämlich abweichungsverstärkend: Die Wertvollen werden immer wertvoller - und es gibt immer mehr Überflüssige. Gerade in der globalisierten Welt gibt es keine gemeinsamen Medien mehr. Unterschiedliche Wertsysteme werden von unterschiedlichen Medien bedient. Demographische, politische und kulturelle Verwerfungslinien trennen verschiedene Informationswelten voneinander. Vor allem die neuen computergestützten und vernetzten Medien fördern eine kognitive Stratifikation, eine geistige Klassenschichtung. Auf der Sonnenseite der Weltkommunikation können wir eine weltweite Kooperation der Geistesarbeiter beobachten. Und gleichzeitig bieten die Massenmedien für die Armen und Dummen das, was Raymond Carrell Phantasiekompensation genannt hat - etwa die Telenovela, die in den Favelas von São Paulo empfangen wird.“ (Ebd., S. 81).

Die Sakralisierung der Gerechtigkeit

„Nach dem Irak-Krieg 2003 hat Jürgen Habermas (angeblich gemeinsam mit Jacques Derrida) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Manifest über die Wiedergeburt Europas veröffentlicht. Darin heißt es: »In Europa sind die lange nachwirkenden Klassenunterschiede von den Betroffenen als ein Schicksal erfahren worden, das nur durch kollektives Handeln abgewendet werden konnte. So hat sich im Kontext von Arbeiterbewegungen und christlich-sozialen Überlieferungen ein solidaristisches, auf gleichmäßige Versorgung abzielendes Ethos des Kampfis für »mehr soziale Gerechtigkeit« (**) gegen ein individualistisches Ethos der Leistungsgerechtigkeit durchgesetzt, das krasse soziale Ungleichheiten in Kauf nimmt.« (Jürgen Habermas & Jacques Derrida, in: FAZ, 31.03.2003).“ (Ebd., S. 82).

„Die Intelligenz von Habermas steckt in dem Komparativ »mehr«. Er markien die Differenz zur sozialistischen Ideologie, die Ungleichheit schlechthin mit Ungerechtigkeit identifiziert. Das ist ein Unterschied ums Ganze. Denn ob man »soziale Gerechtigkeit« (**) oder »mehr« »soziale Gerechtigkeit« fordert; ob man gegen soziale Ungleichheiten oder eben nur gegen »krasse« soziale Ungleichheiten kämpft, entscheidet über die Möglichkeit der Freiheit. Freiheit ist immer Ungleichheit und sie impliziert immer unverdiente Erfolge und unverschuldete Mißerfolge. Und wohlgemerkt: »unverdient« ist nicht »ungerecht«.“ (Ebd., S. 82).

„Bertrand de Jouvenel hat einmal sehr schön gesagt, mit nichts könne man die moderne Gesellschaft heftiger skandalisieren als mit der These, daß eine gerechte soziale Ordnung unmöglich ist. Es gibt aber schon deshalb keine gerechte Gesellschaft, weil die Gesellschaft keine Organisation ist. Hinter den folgenden Überlegungen steckt die Befürchtung, daß die Rede von der »gerechten Gesellschaft« genau so gefährlich ist wie die Rede vom »gerechten Krieg«. In jedem Fall aber ist die politische Idee einer gerechten Gesellschaft eine Anleitung zum Unglücklichsein; sie produziert ständig Unzufriedenheit mit dem jeweils erreichten Stand der Gerechtigkeit.“ (Ebd., S. 82).

„Die meisten Menschen können nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, aber sie haben ein sehr genaues Empfinden für Ungerechtigkeiten. Offenbar genügt uns aber der Kampf gegen evidente Ungerechtigkeiten nicht. Ein Grund dafür liegt sicher auch im medialen Trommelfeuer der Gerechtigkeitsrhetorik. Gerechtigkeit ist heute ein Wert, dem man nicht nicht zustimmen kann - der Konsensbegriff Nr. l. Hier gibt es keinen Diskussionsbedarf mehr.“ (Ebd., S. 82-83).

„Gerechtigkeit ist ein sich selbst rechtfertigendes Ideal, das sich rhetorisch gegen Tradition und Erfahrung abgeschirmt hat. Wer etwa darauf hinweist, daß es real keine Gleichheit der Menschen gibt, wird ermahnt, daß sie ein Menschenrecht sei. Und wer mit Aristoteles darauf hinweist, daß Gerechtigkeit gebietet, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, wird mit den Maximen der Gleichstellungspolitik konfrontiert. Aristoteles muß irren, denn wenn man Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln müßte, dann wäre Gleichstellung ja der Inbegriff der Ungerechtigkeit. Das darf die Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) auf keinen Fall zugeben.“ (Ebd., S. 83).

„Doch wir waren schon einmal klüger. Als die Moderne noch um ihre Funktionsbedingungen wußte, verzichtete die Gesellschaft auf substantielle Gleichheit zugunsten formaler Gleichheit und ersetzte die Poesie vom gerechten Staat durch die Prosa des Rechtsstaats. Wo früher Status entschied, galten nun Verträge. Sir Henry Maine hat diesen Prozeß der gesellschaftlichen Modernisierung auf die Formel »from status to contract« gebracht. Heute, in Zeiten der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**), befinden wir uns auf dem Rückweg vom Rechtsstaat zum Status.“ (Ebd., S. 83).

„Der Staat privilegiert wieder bestimmte Gruppen und begründet das als Wiedergutmachung historischer Diskriminierungen. Statt Gleichheit zu gewähren, erzwingt man Gleichstellung. Das politische Ziel der Ergebnisgleichheit - z.B. genau so viele Professorinnen wie Professoren an Universitäten - zerstört die formale Gleichheit vor dem Gesetz. So behält Carl Schmitt recht: Der gerechte Staat ist der Feind des liberalen Rechtsstaats. Denn man muß unterschiedliche Menschen unterschiedlich behandeln, um bei ihnen das gleiche Resultat zu erzielen.“ (Ebd., S. 83).

„Und entsprechend gilt eben umgekehrt auch, daß unterschiedlichen Menschen dieselben objektiven Gelegenheiten zu eröffnen nicht heißt, ihnen dieselben subjektiven Chancen zu geben. Gesunder Menschenverstand genügt, um das einzusehen. Doch daraus folgt, daß wir empfindlich auf jede Rhetorik reagieren sollten, die Gerechtigkeit mit edlen Adjektiven schmückt. Denn überall da, wo Protest gegen eine »bloß formale« Gerechtigkeit laut wird, lauert der Totalitarismus. Um es in einem Vergleich zu sagen: Die Wissenschaft kann nur funktionieren, wenn sie auf substantielle Wahrheit verzichtet; und die Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn sie auf substantielle Gerechtigkeit verzichtet.“ (Ebd., S. 83-84).

„Was Menschen unterscheidet, gilt heute als unwesentlich. Für die klassischen Liberalen des 18. Jahrhunderts hingegen bedeutete Gleichheit zwar Freiheit für alle, aber eben nicht Einförmigkeit im Sinne gleichen Einkommens oder gleichen Status. All das änderte sich mit der französischen Revolution, von der Lord Acton sagte, die Leidenschaft für die Gleichheit habe die Hoffnung auf Freiheit zerstört. Die Liebe zur Freiheit hängt nämlich an den Ungleichheiten der Menschen. Der Staatsrechtslehrer Gerhard Leibholz resümiert: »Freiheit erzeugt zwangsläufig Ungleichheit und Gleichheit notwendig Unfreiheit. Je freier die Menschen sind; um so ungleicher werden sie. Je mehr die Menschen dagegen im radikal demokratischen Sinne egalisiert werden, um so unfreier gestaltet sich ihr Leben.« (Gerhard Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1974, S. 88f.).“ (Ebd., S. 84).

„Der Begriff Gleichheit hat in den letzten zweihundert Jahren einen entscheidenden Bedeutungswandel durchgemacht. An die Stelle der differenzierenden aristotelischen, proportionalen Gleichheit - suum cuique, jedem das Seine, d.h. jeder soll nach dem ihm zukommenden Maß gemessen werden - ist zunehmend die mathematische Gleichheit des radikalen Egalitarismus getreten. Gleichheit und Angemessenheit, Verdienst und Wohlfahrt, »jedem das Seine« und »jedem nach seinen Bedürfnissen« - das sind Widersprüche. Wie sie aufzulösen wären, ist heute rätselhafter denn je. Die Durchhalteparolen des Wohlfahrtsstaates überzeugen jedenfalls genau so wenig wie ein »Zurück zu Aristoteles!«.“ (Ebd., S. 84).

„Es ist eine traurige Ironie der Weltgeschichte, daß das Ideal der Gleichheit den Haß verewigt, den die Realität der Ungleichheit erzeugt hat. »Massendemokratisch« leben heißt, im vergleichenden Blick auf die anderen leben. Und je gleicher die Lebensverhältnisse sind, um so hartnäckiger fixiert sich der neidische Blick auf das überragende, die Exzellenz, den Besseren. So entsteht der Ärger im sozialistischen Paradies, oder wie Alexis de Tocqueville es formulierte: die Unruhe mitten im Wohlstand. »Ist die Ungleichheit das allgemeine Gesetz einer Gesellschaft, so fallen die stärksten Ungleichheiten nicht auf; ist alles ziemlich eingeebnet, so wirken die geringsten Unterschiede kränkend. Deshalb wird der Wunsch nach Gleichheit um so unersättlicher, je größer die Gleichheit ist.« (Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1831-1832, S. 627).“ (Ebd., S. 84).

„Der Haß auf die Ungleichheit ist die »demokratische« Leidenschaft par excellence. Und je weniger Ungleichheiten es gibt, desto größer wird der Haß auf sie. Das Prinzip Gleichheit wirkt also paradox: Je mehr Gleichheit praktisch durchgesetzt wird, desto unerträglicher wird jede noch vorhandene Ungleichheit. Je größer die Gleichheit, desto unerbittlicher das Verlangen nach noch mehr Gleichheit. Die statistisch erwiesene Ungleichheit wird als Ungerechtigkeit interpretiert und dann als zentrales Beweismittel im ideologiekritischen Prozeß gegen die bürgerliche Freiheit eingesetzt. Gefälligkeitswissenschaftler arbeiten schon an der passenden Rhetorik. Weil niemand mehr an »Klassengesellschaft« glaubt, setzt die kritische Soziologie jetzt auf »neue Ungleichheit«.“ (Ebd., S. 84-85).

„In der Öffentlichkeit macht man diese neue Ungleichheit gerne an Managergehältern fest - genauer gesagt: am Verhältnis der Einkommen eines Managers und einer Krankenschwester, die heute als Idealtypus anständiger Arbeit figuriert. Eine egalitaristische Gesellschaft beurteilt die Leistungen aller Bürger ja als gleichwertig und muß deshalb die extrem unterschiedlichen Einkommen als ungerecht empfinden. Daß niemand es wagt, zu fragen, warum diese Ungleichheit begründet werden muß, oder ob sie begründet werden kann, zeigt, daß es gelungen ist, Gleichheit als begründungsunbedürftig darzustellen.“ (Ebd., S. 85).

„Keiner soll haben, keiner soll befehlen, keiner soll meinen. Alle egalitären Sozialisten bekämpfen das Eigentum (mit Umverteilung), mißtrauen der Freiheit (mit Umerziehung) und verachten das Individuum (mit Kollektivismus). In der Forderung nach Umverteilung präsentiert sich der Egalitarismus als Feind des Privateigentums, denn jedes Privateigentum impliziert Diskriminierung und das Recht auf Exklusion. In den Projekten der Umerziehung präsentiert sich der Egalitarismus als eine behavioristische Fortschrittsphilosophie: Man kann die Leute ändern, indem man ihre Umwelt ändert.“ (Ebd., S. 85).

„Die eigentliche Attraktivität des Egalitarismus steckt aber im Kollektivismus, d.h. in dem Angebot an die Individuen, sie von ihrer Individualität zu entlasten. Die Propaganda für »Teamarbeit«, Partnerschaft und Gemeinschaft verstärkt das kindliche Vorurteil für Verteilungsgleichheit. Teamwork ist ein Euphemismus dafür, daß die anderen die Arbeit tun. Hannah Arendt hatte den fabelhaften Mut, diese Wahrheit ganz unzweideutig auszusprechen: Es gibt nichts, was der Arbeitsqualität fremder und schädlicher wäre als Gruppenarbeit.“ (Ebd., S. 85).

„John Rawls' Schleier der Ignoranz - wir kommen gleich noch ausfühtlich darauf zurück - läßt sich heute konkretisieren als der Schleier der Gruppe. Nicht zur Gruppe zu gehören, ist die Sünde wider den Heiligen Geist des Sozialismus. Wer hervorragen will, gilt als asozial. Prämiert werden Anpassungsfähigkeit und »Teamgeist«. Persönlicher Stolz ist die größte Sünde im egalitären Sozialismus, Selbstauslöschung dagegen eine Tugend. Wer nicht mitmacht in den »communities« und Kommissionen gilt als Verworfener. Die Gruppe ist heute die Kirche, außerhalb derer kein Heil ist. Ihr Kult und die genau komplementäre Fernethik des Humanitarismus zerstören das Selbstsein und die Liebe zum Nächsten.“ (Ebd., S. 85-86). **


„Jede sozialdemokratische Schwärmerei für das »schwedische Modell« wird durch dieses Buch ausgenüchtert. Nur die europäische Tradition schützt uns heute noch vor dem schwedischen Wohlfahrtstotalitarismus. Die Beobachtungen Huntfords stammen allerdings aus den frühen 1970er Jahren, und man kann natürlich argumentieren, daß Schweden mittlerweile seine Sozialsysteme so rigoros umgebaut hat, daß es nicht mehr als Muster des Versorgungsstaats taugt, Das können wir hier dahingestellt sein lassen, denn es geht uns nur um die Mentalität und die spezifisch sozialdemokratische Idee »Schweden«. Zur schwedischen Sklaverei im Namen des öffentlichen Wohls vergleiche auch Ian Angell, Das neue barbarische Manifest, 2000, S. 101. Das Konzept hat offenbar deutsche Ursprünge. Schon Oswald Spenglers preußischer Sozialismus hatte ja die Gleichheit resolut von der Freiheit befreit.“ (Ebd.).

„Jede Gruppenzugehörigkeit macht abhängig, und jede Abhängigkeit reduziert die Freiheit. Zuerst büßt man die Freiheit des Entscheidens ein und dann die Freiheit des Denkens. Am Ende steht, wie der Rechtswissenschaftler Walter Erbe mit bitterer Ironie bemerkte, auch »eine Freiheit: die Freiheit von der eigenen Meinung.« (Walter Erbe, Die Freiheit im sozialen Rechtsstaat, in: Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Hrsg.: Ernst Forsthoff, 1968, S. 317). Der Gemeinschaftsgeist ist der große Gegenspieler der Leidenschaft für den Unterschied. Demokratie ist das Zeitalter der Diffusion und der Verachtung für die Distinktion; sie honoriert Selbstvergessenheit mit einem Tugendstatus. Jeder Unterschied wird als Ungleichheit interpretiert und jede Ungleichheit als Ungerechtigkeit. Aber überall, wo menschliche Kräfte sich frei entfalten dürfen, entstehen Ungleichheiten. Gerade sie bilden den Nährboden für die bürgerliche Gleichheit, in der die Gruppenideologie zu Recht ihren natürlichen Feind erkennt. Odo Marquard hat für dieses bürgerliche Grundmotiv freier Gleichheit die schöne Formel gefunden: »Gleichheit ist angstloses Andersseindürfen für alle.« (Odo Marquard, Philosophie des Stattdessen, 2000, S. 43).“ (Ebd., S. 86).

„Die Gruppe dagegen ist die Gehirnwäsche, und es ist völlig gleichgültig, ob es sich dabei um Gruppentherapie, Teamtraining oder soziales Lernen handelt - stets geht es um die Austreibung von Individualität und Wettbewerb. Ein Geschichtsphilosoph müßte sagen: Von Gruppen her und auf Gruppen hin zu denken, ist anti-westlich. Denn Gruppe heißt immer: nicht Individuum. Und ein Soziologe müßte sagen: Der Kult der Gruppe lenkt von den Strukturnotwendigkeiten der modernen Gesellschaft ab. Egalitarismus funktioniert nämlich nur in kleinen Gruppen. Nur hier gibt es Reziprozität, jeder sorgt sich um jeden, die Ressourcen werden gleichmäßig verteilt. Doch je größer die Gruppe wird, desto wichtiger wird Differenzierung: Man muß etwas Besonderes zu bieten haben, und je größer der Beitrag, desto größer die Belohnung. Gleichheit aber schließt Rollendifferenzierung aus. Und wo Gleichheit egalitaristisch verordnet wird, bleibt dem Individuum nur noch die Flucht in die Institutionen.“ (Ebd., S. 86).

„Die sozialistische Politik ist ein Kampf gegen die tausendköpfige Hydra der Ungleichheit. Jeder staatliche Eingriff zur Reduzierung von Ungleichheit schafft unzählige neue. Es gibt nämlich immer Leute, die durch Chancengleichheit begünstigt werden, Kriegsgewinnler der Gleichstellung. Und es ist kein Herakles in Sicht, der die sich selbst reproduzierenden Ungleichheiten ausbrennen würde. So erzeugt der Egalitarismus selbst beständig Frustration.“ (Ebd., S. 86-87).

„Weil aus der Wahrnehmung von Differenzen Neid entsteht, muß der Egalitarismus eine Schaufensterpolitik betreiben, also sichtbar machen, daß Gerechtigkeit geschieht. Weil nicht die sozialen Unterschiede, sondern die Wahrnehmung dieser Unterschiede den Zusammenhalt der Gesellschaft bedrohen, inszeniert die Politik egalitaristische Maßnahmen. Dabei geht es nicht darum, daß Gerechtigkeit geschieht, sondern darum, daß die Leute sehen, daß Gerechtigkeit geschieht. Das kann man dadurch erreichen, daß man Bedürftigen etwas gibt, aber genau so gut auch dadurch, daß man Erfolgreichen etwas nimmt («Reichensteuer«).“ (Ebd., S. 87).

„Solche egalitären Maßnahmen begünstigen unproduktive Menschen. Und sozialistische Politik lebt heute fast nur noch von »sozialen Problemen«, die von unproduktiven Menschen hervorgerufen werden. Das hat eine wahrhaft tragische Konsequenz: Sozialistische Politik muß ein Interesse daran haben, daß es viele unproduktive Menschen gibt, die von staatlichen Transferleistungen leben. Daß sich die Partei, die genau diese Politik verfolgt, »Die Linke« nennen darf, ist bitter für die sozialdemokratische Linke.“ (Ebd., S. 87).

„Das gegenwärtige Unbehagen in der Kultur hat aber noch einen anderen Grund. In der modernen Welt symbolisiert der Reichtum nicht mehr besondere Fähigkeiten und Leistungen. Man kann vom Lebensstil nicht mehr auf die Person schließen. Der Konsumstil hat die Lebensführung ersetzt, und das gute Leben ist zum Rechtsanspruch geworden. Deshalb hat der Lebensstandard heute Suchtcharakter angenommen; er befriedigt zwar nicht, aber jede Minderung erscheint unerträglich.“ (Ebd., S. 87).

„Politisch betrachtet ist das Glück der Gesellschaft eine Sisyphos-Arbeit, denn je angenehmer die Lebensumstände der Menschen werden, um so höher werden die subjektiven Standards für glückliches Erleben. Man muß ständig neue Ebenen der Stimulation ansteuern, um das alte Ausmaß an lustvollem Empfinden zu sichern - wie Drogenabhängige ständig die Dosis erhöhen müssen, um den gleichen Kick zu bekommen. Philip Brickman und Donald T. Campbell haben das als die Tretmühle der Lust bezeichnet, und Fred Hirsch spricht von einer Frustrationsmaschine.“ (Ebd., S. 87).

„Dieses paradoxe Unbehagen am wachsenden Wohlstand haben Sozialpsychologen durch den schon erwähnten deprimierenden Effekt von Zahlenverhältnissen erklärt. Das jeweils erreichte Bessere macht das Bisherige schlechter: »mehr ist weniger«! Jedes Wachstum ist deshalb immer auch eines der Depression. Verständlich wird das vor dem Hintergrund der triviale Lebenstragik, daß die Enttäuschung darüber, das Gewünschte nicht bekommen zu haben, noch überboten wird durch die Enttäuschung, die sich einstellt, sobald man das Gewünschte bekommen hat. Die primäre Erfahrung ist die Enttäuschung. Wenn Wünsche aber unerfüllbar sind, dann wächst die Enttäuschung mit dem Wohlstand. Das ist die ökonomische Seite des Unbehagens in der Kultur.“ (Ebd., S. 87-88).

„Daß Menschen unzufriedener werden, obwohl sich ihre objektiven Lebensumstände verbessert haben, liegt daran, daß ihre Vergleichsstandards noch schneller wachsen als ihr Lebensstandard. Das gilt z.B. für viele Menschen im heutigen Ostdeutschland, berufstätige Frauen, oder Kranke und Pflegebedürftige. Die heutigen Ostdeutschen vergleichen ihre Lage nicht mehr mit dem Leben in der DDR sondern mit dem Einkommensniveau der Westdeutschen. Die berufstätigen Frauen vergleichen ihre Lage nicht mehr mit dem Leben ihrer Mütter, sondern mit den Machtbefugnissen und dem Einkommensniveau ihrer männlichen Kollegen. Und die Kranken jammern über vorenthaltene ärztliche Leistungen, ohne noch ermessen zu wollen, wie phantastisch die ganz selbstverständlich jedem bereitgestellte ärztliche Versorgung (zumindest in Deutschland) ist - denn andere werden noch besser versorgt: Zweiklassenmedizin!“ (Ebd., S. 88).

„Für fast alle wird fast alles besser. Aber das zählt nicht. Denn zwar geht es allen besser, aber zugleich verstärkt sich die Polarisierung. Den Armen geht es besser, aber relativ zu den Reichen werden sie ärmer. Der Vergleich macht unglücklich. Und wenn es nicht zynisch klingen würde, könnte man sogar sagen: Der Vergleich macht arm. Aber wir können gar nicht anders. Jeder lebt unter dem Zwang, sich mit anderen zu vergleichen. Und »Demokratie« heißt in diesem Zusammenhang eben: Jeder darf sich mit jedem vergleichen, auch wenn er sich nicht mit jedem vergleichen kann. Und zwar vergleicht man sich mit dem vergangenen Selbst, mit dem Idol, mit dem Nachbarn und mit dem Durchschnitt.“ (Ebd., S. 88).

„Daß sich das Wohlergehen des Menschen vom materiellen Wohlstand abgekoppelt hat, begründet Jörg Lau durch eben diesen »Vergleichsstreß«, der uns mit dem jeweils Erreichten nicht zufrieden sein läßt. Daß es mir heute besser geht als gestern, besagt wenig, wenn es dem Kollegen oder Nachbarn heute besser geht als mir. Doch Jörg Lau gibt diesem Befund eine faszinierende Wendung: schlechte Laune als Produktivkraft. Weil wir Pessimisten sind, haben wir viele gute Ingenieure. Es gibt also eine Ziele schaffende Unzufriedenheit. Und im Kampf um knappe Ressourcen setzen sich nicht die Saturierten durch. Lau nennt das evolutionäre Selektion zugunsten des Negativismus und resümiert: »Die Genügsamen und Selbstzufriedenen bringen es meist nicht weit. Das Glück ist mit den Unzufriedenen, die allerdings mit Gereiztheit und Gestreßtheit für ihre Erfolge bezahlen müssen.« (Jörg Lau, Risikoreligion und Zukunftsneid, in: Neugier, Merkur # 712/713; 2008, S. 775).“ (Ebd., S. 88-89).

„Nicht nur Rechtsstaat, sondern sozialer Rechtsstaat; nicht nur Gerechtigkeit, sondern »soziale Gerechtigkeit« (**); nicht nur Politik, sondern Sozialpolitik; nicht nur Demokratie, sondern Sozialdemokratie; nicht nur Marktwirtschaft, sondern soziale Marktwirtschaft - und die Welt hebt an zu singen, sprichst du nur das Zauberwort »sozial«. In dem Wort »Gesellschaft« fasziniert das Versprechen der Gleichheit; in dem Wort »sozial« fasziniert das Versprechen der Gleichverteilung des Glücks.“ (Ebd., S. 89).

„Das Soziale ersetzt heute die Brüderlichkeit der französischen Revolution. Und nicht anders als die Brüderlichkeit ist auch das Soziale genauso verheißungsvoll wie schwer definierbar. Der Verfassungsrechtler Ernst Forsthoff warnte zurecht: »Kein Wort ist vieldeutiger und dem Mißbrauch leichter zugänglich wie das Wort sozial. Kein Staat ist mehr in Gefahr, im Dienst der jeweils Mächtigen instrumentalisiert zu werden als der Sozialstaat.« (Ernst Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaates, 1954, a.a.O., S. 163). Streng genommen ist »sozial« ein unjuristischer Begriff, der im Grundgesetz das Grundgesetz transzendiert. Er eignet sich gerade deshalb besonders gut als Kampfbegriff.“ (Ebd., S. 89). **

„Die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes öffnet einer sozialistischen Interpretation des Sozialen Tür und Tor. Der Verfassungsrechtler Hans Gerber hat das einmal die »Wendung vom Sozialen zum Sozialistischen« genannt. Wie leicht sie zu vollziehen ist, hat dann der Marxist und Rechtsprofessor Wolfgang Abendroth deutlich gemacht, als er aus dem Begriff des sozialen Rechtsstaats »die objektive Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit ständigen gestaltenden staatlichen Eingriffs in das soziale Gefüge« ableitete. (Vgl. a.a.O.). Dem entspricht dann ein Demokratiebegriff, der sich nicht mehr nur auf die politische und rechtliche Stellung des Staatsbürgers sondern auf »seine gesamten Lebensverhältnisse« erstreckt. In der sozialen Planung des Wohlfahrtsstaats fallen dann Individual- und Gesamtinteresse zusammen.“ (Ebd., S. 89).

„Gegen die Leistungen und Glückszwangsangebote des Sozialstaates und das auf ihn verschobene Sicherheitsbedürfnis des Einzelnen bietet die Verfassung des Rechtsstaats keinen Schutz, und deshalb mußte Ernst Forsthoff geradezu beschwörend die Macht vom Sozialen getrennt halten. Denn wenn die Sozialfunktion des modernen Staates in Herrschaft umgesetzt würde, hätten wir die perfekte Tyrannei. Mit anderen Worten: Sobald das Soziale mit Macht kontaminiert ist, haben wir es mit totaler Herrschaft zu tun - durch Betreuung beherrschen. Diese Gefahr droht immer dann, wenn das Wort »sozial« einen polemischen Sinn bekommt. Dann ist nämlich eine Politik am Werk, die die Gewährleistungsfunktion des Rechtsstaates, also die Wahrung der Rechte des Einzelnen, nur noch im Rahmen dessen ausübt, was von der Regierung als sozial verstanden wird.“ (Ebd., S. 89-90).

„Längst hat die Arroganz der Benachteiligten die der Linksintellektuellen als Ferment unserer kulturellen Selbstverständigung abgelöst. Statt »kritisch« sagt man heute »sozial«. Das ist der semantische Markenartikel des Wohlfahrtsstaates. Man kann es auch so sagen: »Sozial« ist der Ausdruck für das Unbehagen in der Moderne. Und gerade dieses Unbehagen stabilisiert die moderne Gesellschaft dynamisch - gerade die Dynamik stabilisiert! -, d.h. es hält sie in einer Art Fließgleichgewicht.“ (Ebd., S. 90).

„Man kann das heute am besten an der Forderung nach »sozialer Gerechtigkeit« (**) studieren. Im Klartext geht es natürlich um wohlfahrtsstaatliche Kompensationen. Für unseren Zusammenhang ist es aber viel wichtiger, zu sehen, wie weit sich dieser »soziale« Gerechtigkeitsbegriff vom traditionellen entfernt hat. Bei Aristoteles etwa ist Gerechtigkeit kein Wert, sondern die gleiche Distanz zu allen Werten - oder wie man auch, mit Gotthard Günther, sagen könnte: ein Rejektionswert. Heute dagegen ist Gerechtigkeit nur noch ein Kampfbegriff.“ (Ebd., S. 90).

„Die Deutschen konnten die Pioniere des Sozialen werden .... Nirgendwo läßt sich das historische Apriori der modernen Gesellschaft besser studieren als in Deutschland: die »autonome Sozialtendenz« (Arnold Gehlen, Einbilke, 1975, S. 228), die auf eine Ergänzung des Rechtsstaats durch eine Gefühlsdemokratie drängt. Im Innersten ihres Herzens sind die meisten Deutschen Sozialdemokraten. Die Gleichverteilung des Lebensglücks hat sich erst von der Utopie zur ethischen Forderung und dann zum Rechtsanspruch gewandelt. An die Stelle von Leistung und Verpflichtung sind Forderung und Etwartung getreten. Die autonome Sozialtendenz ist also die genaue Antithese zum Unternehmerethos.“ (Ebd., S. 90).

„Genau so wie sich die Heuchelei des 19. Jahrhunderts um das Sexuelle drehte, dreht sich die Heuchelei seit dem 20. Jahrhundert um das Soziale. Es ist das Gott-Wort unserer Epoche. Den ersten entscheidenden Schritt zur Vergötzung des Sozialen verdanken wir dem Marxismus und seiner Religion der Arbeit. Man muß sich immer wieder vor Augen halten, daß die moderne Verklärung der Arbeit alles andere als eine kulturelle Selbstverständlichkeit ist. Nicht nur für die Antike war gerade umgekehrt die Verachtung der Arbeit selbstverständlich.“ (Ebd., S. 90-91).

„Seit 1848 aber gibt es den heiligen Arbeiter - zunächst war es der Kumpel aus dem Ruhrpott, später dann die Krankenschwester. Der Schritt von der Religion der Arbeit zur Vergötzung des Sozialen ist dann ganz klein. Es genügt als zusätzliches Element der Kult des Kollektivs, den wir schon analysiert haben. Wer heute einen Job sucht, muß vor allem den Eindruck erwecken, »teamfähig« zu sein. Und Schülern bringt man im so genannten »sozialen Lernen« bei, daß Gruppenarbeit die einzige Lebensform des guten Menschen sei.“ (Ebd., S. 91).

„In der Kultur der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) hat der heilige Arbeiter schließlich seine moralische Schlüsselstellung an den Benachteiligten abtreten müssen. Wir haben es hier mit einem Schulbeispiel der Dialektik der Aufklärung zu tun. Wer eigene Vorurteile bekämpfen will, erzeugt neue Vorurteile durch Überkompensation: Man ist zu freundlich und zu hilfsbereit gegenüber den Benachteiligten. Der Gutmensch begünstigt die Benachteiligten, diskriminiert zugunsten der Marginalen - und konsumiert dabei das Hochgefühl der Nichtdiskriminierung. Politisch schlägt sich das darin nieder, daß Minderheiten und Benachteiligte immer mehr Rechtsansprüche auf staatliche Leistungen bekommen.“ (Ebd., S. 91).

„Heute vollendet sich die Herrschaft der Minderheiten. Wer am Rand steht, auffallend anders ist oder nicht mitkommt, bekommt immer mehr Rechtsansprüche auf staatliche Leistungen. Der Begriff der »sozialen Gerechtigkeit« (**) bezieht sich eben primär auf die Schwachen und Unterlegenen unserer Gesellschaft. Er fordert Gleichheit durch Ungleichheit; seine Allegorie ist das Handicap. Der Verwaltungsrechtler Otto Bachoff hat die »soziale Gerechtigkeit« (**) deshalb als »eine die abstrakte Gleichheit zugunsten der Schaffung konkreter Gleichheit durchbrechende Gerechtigkeit« definiert. (Vgl. Otto Bachoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, 2008, , in: Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Hrsg.: Ernst Forsthoff, 1968, S. 206). Der Wohlfahrtsstaat prämiert den Mangel. Wer ein Handicap vorweisen kann, sichert sich sozialstaatlichen Beistand. Der Soziologe Heinz Bude meint sogar: »Es erweist sich als eine fürs Überleben dienliche Cleverneß, sich einen wie auch immer gearteten Behindertenstatus zuzulegen.« « (Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen, 2008, S. 112). So entwickelt sich ein regelrechter Wettbewerb um den Status des Benachteiligtseins. Und den Menschen mit Handicap stehen immer mehr Berater zur Seite, die einen immer größeren Fürsorgebedarf durch die Erfindung von Defiziten erzeugen. Prinzipiell kann man sagen: Je mehr Berater und Therapeuten es gibt, desto mehr wird die Welt vom einem Gefühl der Benachteiligung gerahmt.“ (Ebd., S. 91).

„Alle Sozialleistungen, an die wir uns gewöhnt haben, nehmen die Form von Rechtsansprüchen an. Dadurch verwandeln sich alle Unfälle in Sozialfälle. Eine Politik, die davon lebt, kann dauerhaft natürlich nur betrieben werden, wenn die Gesellschaft ständig Ungleichheit produziert bzw. die Empfindlichkeit für Unterschiede steigert. Diese wachsende Abweichungsempfindlichkeit hat ihren Preis. An die Stelle von Freiheit und Verantwortung treten Gleichheit und Fürsorge. Der Soziologe Niklas Luhmann formuliert das so: »Die Rechtsentwicklung zeigt deutlich eine Doppelbewegung: eine zunehmende Betonung der Sozialpflichtigkeit subjektiver Rechte und eine zunehmende Abmilderung strenger Haftungen.« (Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band II, 1989, S. 88).“ (Ebd., S. 92).

„Der Wohlfahrtsstaat ersetzt die Caritas durch politische Rechte auf bestimmte Lebensstandards. Die Regierung verschenkt also Ansprüche und Rechte, die wiederum nur durch Regierungshandeln eingelöst werden können. So sind wir unterwegs vom Rechtsstaat zum Berechtigungsstaat. Die neue sozialistische Strategie besteht darin, neue »Rechte« zu erfinden, die es dem Staat ermöglichen, sich ins Privatleben einzumischen. Mit jedem neuen »Recht« verschafft sich die Regierung nämlich Zutritt zu unserem Privatleben. Ein unbeliebiges Beispiel: »Rechte für Kinder«. Das ist wohl nicht einmal gut gemeint, aber es klingt sehr gut. Doch wer sich von dem Sirenengesang der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) nicht betören läßt, erkennt rasch, daß »Rechte für Kinder« nur heißt: Verstaatlichung der Kinder. Kinderrechte entfremden die Kinder ihren Eltern und unterwerfen sie dem Staat.“ (Ebd., S. 92).

„Vor allem in Fragen des Geschlechterverhältnisses, der Gesundheit und der Bildung erwartet die moderne Gesellschaft ganz selbstverständlich gleiche Behandlung für alle, die durch immer neue »Rechte« gewährleistet werden soll. Da diese Erwartung aber so unrealistisch wie selbstverständlich ist, erzeugt sie bei den Begünstigten eine permanente Unzufriedenheit. Um diese Unzuftiedenheit von sich abzulenken, verspricht die Regierung dann regelmäßig «mehr Gleichheit«. So können die Bürger Begünstigungen von Anrechten kaum mehr unterscheiden.“ (Ebd., S. 92).

„Jedes wohlfahrtsstaatliche Programm begünstigt einige und benachteiligt fast alle. Es ist eine unverächtliche Trivialität, daß der Staat den einen nur geben kann, was er den anderen genommen hat; ja nicht einmal das, denn der Transfer selbst verursacht hohe Kosten. So präsentiert sich der vorsorgende Sozialstaat heute als legalisierter Robin Hood, der das »Recht« der Schwachen und Unglücklichen auf einen »angemessenen » Lebensstandard durchsetzt.“ (Ebd., S. 92).

„Hier erweist sich die »soziale Gerechtigkeit« (**) unmittelbar als eine Ideologie, die Entrechtlichung rechtfertigt. Und das entspricht genau dem gerade beschriebenen Sachverhalt, daß es in der modernen Gesellschaft Anrechte gibt, die zu nichts mehr verpflichten. Niklas Luhmann hat sie »das ungerechte Recht« genannt. (Vgl. Niklas Luhmann, Die Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, S. 365). Offenbar ist es die Arbeit des Begriffs der »sozialen Gerechtigkeit«, die diesen Weg vom Rechtsstaat zum Berechtigungsstaat gebahnt hat. Wir müssen ihn deshalb etwas näher betrachten.“ (Ebd., S. 93).

„Der Begriff der »sozialen Gerechtigkeit« (**) markiert den Abschied von der liberalen Gesellschaft. Und es gibt heute kaum mehr Politiker, die nicht im Namen der »sozialen Gerechtigkeit« agieren. Niemand kann den Begriff definieren, aber gerade deshalb funktioniert er so gut als Flagge des »Gutmenschen«, als Chiffre für die richtigen moralischen Gefühle. Niemand muß konkret sagen können, wer denn ungerecht gewesen ist. »Soziale Gerechtigkeit« ist ein Gebet an die vergöttlichte Gesellschaft, das nur von einem totalitären System erhört werden kann.“ (Ebd., S. 93).

„Unsere Ehrfurchtssperre vor dem Begriff der »sozialen Gerechtigkeit« (**) ist heute so mächtig, daß man schon zu theologischen Begriffen greifen muß, um sie zu analysieren. Die Religion der »sozialen Gerechtigkeit« herrscht uneingeschränkt über die Seelen der Massendemokraten, die längst den Weg vom Seelenheil zum Sozialheil zurückgelegt haben. Und »Reaktionär« heißt nun jeder, der nicht zur Glaubensgemeinschaft der Sozialreligion gehört.“ (Ebd., S. 93).

„Die großen Ökonomen Friedrich von Hayek und Frank H. Knight waren sich in einem Punkt einig: Der Begriff der »sozialen Gerechtigkeit« (**) ist hoffnungslos undefinierbar und bedeutungslos. Alles, was eine vernünftige Politik tun kann, ist, konkrete Ungerechtigkeiten zu lokalisieren und Prozeduren zu entwickeln, die sie lindern helfen. Doch daß der Begriff der »sozialen Gerechtigkeit« bedeutungslos ist, heißt nicht, daß er funktionslos ist. Im Gegenteil. Die moderne Gesellschaft hat ihre Gerechtigkeitsprinzipien sakralisiert.“ (Ebd., S. 93).

„Je weniger die Menschen an Gott glauben, um so mehr müssen sie an die »soziale Gerechtigkeit« (**) glauben. Deshalb können wir es nur schwer ertragen, wenn analytische Denker wie David Hume und Nietzsche auf die Künstlichkeit und Konstruiertheit ihrer Prinzipien und Vorschriften verweisen. In dieser Frage erlaubt sich unsere restlos aufgeklärte Gesellschaft eine letzte große Mystifikation, den Appell an ein unkommunizierbares Gefühl. »Soziale Gerechtigkeit« ersetzt das Heilige.“ (Ebd., S. 93).

„Die Sakralisierung der Gerechtigkeit zerstört die Freiheit individueller Entscheidungen. Friedrich von Hayek hat den Begriff der »sozialen Gerechtigkeit« (**) deshalb als das Trojanische Pferd des Totalitarismus bezeichnet. Und auch wer diese Formulierung für überzogen hält, kann aus dem Bild des Trojanischen Pferdes einen Erkenntnisgewinn ziehen. Denn auch die bürgerlichen Parteien präsentieren ihren Wählern mitderweile »soziale Gerechtigkeit« als ein Geschenk - ohne zu ahnen, daß in seinem hohlen Innern die Agenten des Sozialismus stecken.“ (Ebd., S. 93-94).

„Aldous Huxleys These, daß Wohlfahrt Tyrannei ist, bewährt sich heute an der politischen Rhetorik sozialer Probleme, die uns versklavt. Gerecht zu scheinen, ohne es zu sein, ist jene höchste Ungerechtigkeit, die man »soziale Gerechtigkeit« (**) nennt. (**). Sie ist nicht nur unsozial und ungerecht, sondern auch unökonomisch, denn Verteilungsgerechtigkeit verwandelt das Wirtschaften in ein Nullsummenspiel. Hier ist es sehr lehrreich, einmal auf die verschiedenen Namen zu achten, die das Geld bezeichnen, das man für seine Arbeit bekommt: Lohn, Einkommen, Gehalt, Bezüge - aber eben auch Verdienst. Ob jemand das, was er verdient, auch tatsächlich verdient, könnte man an seiner Leistung und ihrem Wert für den Markt messen. Aber genau dagegen richtet sich das Konzept der »sozialen Gerechtigkeit«. Es treibt die Meritokratie durch Mediokrität aus.“ (Ebd., S. 94).

„Im Wohlfahrtsstaat verschiebt sich das Zentrum der Identitätsbildung von der eigenen Leistung auf die Ansprüche, die man geltend machen kann. Und gerade auch politisch zählt nur der, der Ansprüche anmeldet. Man stellt einfach einen Anspruch, wobei man sich an den Ansprüchen anderer orientiert - und wartet, was passiert. Die Ansprüche finden Resonanz und ermöglichen neue Programme der Fürsorge. So kommt es zu einer positiven Rückkopplung von Ansprüchen und öffendichen Leistungen, die, wie Arnold Gehlen schon früh gesehen hat, den Leviathan in eine Milchkuh verwandelt.“ (Ebd., S. 94).

„»Soziale Gerechtigkeit« (**) heißt im Klartext: Umverteilung von oben nach unten. Entsprechend kann der Finanzminister das Loch in der Staatskasse als größte soziale Ungerechtigkeit, nämlich als Umverteilung von unten nach oben, verkaufen. Konkreter sollte man nicht werden. Der erfahrene Politiker hantiert mit Werten wie mit Fahnen. Man tut so, als ob klar sei, was gerecht ist, und unterstellt jedem, der darüber diskutieren will, er sei dagegen.“ (Ebd., S. 94).

„Doch selbst der Begriff der Chancengleichheit, ohne den ja keine Demokratie denkbar ist, bleibt meist unterbestimmt. Denn was sind gleiche Startbedingungen? Selbst wenn man ererbten Reichtum wegsteuern und Statusdifferenzen nivellieren würde, bleiben doch so gravierende Faktoren wie die Intelligenz der Eltern und eine behütete Kindheit, Gesundheit, physische Stärke, Disziplin. Deshalb haben die klassischen Liberalen das Konzept der Chancengleichheit bewußt unterboten: Es gibt keine gleichen Startbedingungen, aber jeder hat die gleiche Chance zu starten. Der Zugang zu den Bildungsanstalten und Berufen darf nicht eingeschränkt werden. Bei Lichte betrachtet, geht es also nicht um Chancengleichheit, sondern um Gleichheit des Zugangs. Daß daraus höchst unterschiedliche Karrieren erwachsen, muß man hinnehmen.“ (Ebd., S. 94-95).

„Es gibt keinen vernünftigen Maßstab für die Verteilung des wirtschaftlichen Ertrags. Die Ergebnisse des freien Marktes sind rechtfertigungsunbedürftig. Das ist die theoretisch elegante Lösung von Friedrich von Hayek und Milton Friedman. Doch wie wenig sie politisch zu überzeugen vermag, kann man an den Wahlergebnissen der FDP ablesen. Sehr viel überzeugender klang in den Ohren der 68er die Diagnose einer »Legitimationskrise des Spätkapitalismus« und klingt in heutigen Ohren die Zauberformel für ihre Überwindung: »soziale Gerechtigkeit« (**). Das ethische Bedürfnis nach Rechtfertigung ist heute stärker als jedes materielle.“ (Ebd., S. 95).

„Die Besessenheit vom Gedanken einer »fairen« Verteilung des Wohlstandes macht blind gegenüber der Antinomie der »sozialen Gerechtigkeit« (**). Einerseits soll niemand aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, andererseits soll jeder bekommen, was er verdient. Doch wie steht es dann mit den Kranken, Dummen und Unfähigen? Und wie steht es mit den Unwilligen? Wenn jeder bekommt, was er verdient, bekommen einige gar nichts. Und wenn alle etwas bekommen, bekommen einige nicht das, was sie verdienen. Im Streit über den fairen Anteil kann dann leicht das, was verteilt werden soll, zerstört werden - kleine Kinder führen uns das immer wieder vor Augen. Und was durch diesen Streit in modernen Gesellschaften regelmäßig zerstört wird, ist genau das Wachstum, das die Verteilungsprobleme lösen könnte.“ (Ebd., S. 95). **


„Der »Rest der Welt« könnte durch diese Dilemma der westlichen Wohlstandszone den Eindruck gewinnen: Gerechtigkeit ist etwas, was sich nur die Reichen leisten können. Und für die Armen kann es »soziale Gerechtigkeit« nur in dem Maße geben, in dem sie selbst reich werden. Gleichheit und Gerechtigkeit sind offenbar Luxusartikel reicher Gesellschaften.“ (Ebd.).

„Wer »soziale Gerechtigkeit« (**) will, ist offenbar nicht zufrieden mit Gerechtigkeit und übersieht dabei, daß Gerechtigkeit eigentlich kein Wert, sondern das »Maß der Besinnung gegenüber den exzessiven Ansprüchen aller Werte laquo; ist. (Vgl. Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 181). Diese großartige Formulierung Luhmanns knüpft an das aristotelische Verständnis der Gerechtigkeit als gleichmäßigem Abstand zu allen Werten an. Dagegen meint »soziale Gerechtigkeit« Verteilungsgerechtigkeit über Steuern und Abgaben, deren System absichtlich undurchschaubar gehalten wird. Wer Herrschaft durch die Erfindung neuer sozialer Bedürfnisse anstrebt, kann nämlich kein Interesse an einem einfachen Steuersystem haben. Das Programm der »sozialen Gerechtigkeit« sorgt so für die politische Stabilisierung der Unmündigkeit, die sich selbst als »gesellschaftskritisch« empfinden darf.“ (Ebd., S. 95-96).

„Mit beißender Ironie hat Rüdiger Altmann den Kernbestand jeder Theologie des Sozialen als das Recht auf Abhängigkeit definiert. Die Tyrannei der Wohltaten erzeugt jene Sklavenmentalität, die Sozialpsychologen als erlernte Hilflosigkeit charakterisiert haben. Und wenn wir diesen Sachverhalt in politischer Perspektive beschreiben, kommen wir zu dem schmerzlichen Resultat: Der Paternalismus des »vorsorgenden Sozialstaates« ist Despotismus.“ (Ebd., S. 96).

„Gerade aufgeklärte Geister, die sich in der Tradition Kants verstehen, müßten es so sehen, denn in seinem Aufsatz »Über den Gemeinspruch, das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« (1793) heißt es: »Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d.i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts, und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus.« (Ebd., A 236, auch in: Werke, Band XI, S. 145f.).“ (Ebd., S. 96).

„Wohlfahrtsstaatspolitik erzeugt Unmündigkeit, also jenen Geisteszustand, gegen den jede Aufklärung kämpft. Und so wie es des Mutes bedarf, um sich des eigenen Verstandes zu bedienen, so bedarf es des Stolzes, um das eigene Leben selbständig zu leben. Wie für das Mittelalter ist deshalb auch für den Wohlfahrtsstaat der persönliche Stolz die größte Sünde. Denn das Projekt der Moderne war genau in dem Maße erfolgreich als es das Hobbes-Projekt war, den Stolz durch die Angst zu ersetzen. Und Vater Staat will nicht, daß seine Kinder erwachsen werden.“ (Ebd., S. 96).

„Der Begriff der Subsidiarität besagt, daß Entscheidungen auf dem unterst möglichen Niveau getroffen werden sollten - der Staat sollte also keine Verantwortung übernehmen, wo Familien eigentlich zuständig sind. Doch der Staat neigt dazu, den Leuten die Entscheidungen zu stehlen. Hildegard Schooß hat sehr schön gezeigt, wie seit den 1970er Jahren die »Professionalisierung der Sozialarbeit den zertifizierten Ausbildungsformen und Tätigkeiten einen absoluten Vorrang vor den im Umgang mit Menschen und in der Familie erworbenen Kompetenzen einräumte.« (Hildegard Schooß, Mütterzentren als Antwort auf Überprofessionalisierung im sozialen Bereich, 1977, S. 232).“ (Ebd., S. 96).

„Die Familie erlaubt ja gerade ein extremes Ungleichgewicht der Leistungen und eine extreme Ungleichheit der Kompetenzen. Genau das aber ermöglichte einmal jene konkreten persönlichen Generationenverpflichtungen, die der Wohlfahrtsstaat heute durch das Phantom der Solidarität, also ein abstraktes Verhältnis der kollektiven Haftung aller für alle ersetzen will. Der Soziologe Helmut Schelsky hat hierin den wichtigsten Grund für den kalten Krieg zwischen Staat und Familien gesehen: »Daseimvorsorge und Daseinsfürsorge sind - schon von der Bibel her - die wesentlichsten immanenten Sinngebungen des menschlichen Daseins; indem man sie ›kollektiviert‹, d.h. dem Einzeinen und der einzelnen Familie als ihre Uraufgabe wegnimmt zugunsten von großorganisatorischer Betreuung, entmündigt man den Menschen und drängt seine Lebenspflichten und -erwartungen in den Komum des bloß Gegenwärtigen ab.« (Helmut W. F. Schelsky, Kritik der austeilenden Gerechtigkeit, 1981, S. 310f.).“ (Ebd., S. 96-97).

„1930 hatte Karl Jaspers in seiner Schrift über »die geistige Situation der Zeit« (1930) von »universaler Daseinsfürsorge« gesprochen, ein prägnanter Begriff, der in leichter Abwandlung zur »Daseinsvorsorge« durch Ernst Forsthoff dann in die Diskussion über den modernen Sozialstaat einging. Seine philosophische Fundierung erhält dieser Begriff schon drei Jahre früher, nämlich in Martin Heideggers Hauptwerk »Sein und Zeit« (1927). Die Sorge um die Freiheit des Einzelnen, die gerade an dem hängt, »was ihm niemand abnehmen kann« (Karl Jaspers, ebd., S. 54), und in der alles auf dem Spiel steht, »worum zu leben es sich lohnt«, wird durch die wohlfahrtsstaatlichen Praktiken geweckt, die dem Menschen die Sorge abnehmen, indem sie ihm besorgen, was er zum Leben braucht. »Diese einspringende, die ›Sorge‹ abnehmende Fürsorge« (Martin Heidegger, ebd., S. 122) ist charakteristisch für das Soziale der modernen Welt.“ (Ebd., S. 97).

„Heidegger entwickelt diesen Befund »existenzialontologisch« in einer Analyse des alltäglichen Selbstseins, die um den berühmt gewordenen Neologismus »das Man« zentriert ist. Das Man ist die Diktatur der Anderen, zu der jeder selbst beiträgt und die uns das Sein, d.h. die Verantwortlichkeit abnimmt. Man genießt, man urteilt, man läßt gelten, man empört sich. Die universale Daseinsfürsorge bietet uns Seinsentlastung. Dieser Entlastungseffekt folgt unmittelbar aus der Nivellierung des Alltags, aus der Einebnung aller Seinsmöglichkeiten. Jede Entscheidung ist vorgegeben, jedes Lebensrisiko vorgezeichnet. Die Diktatur des Man ignoriert jeden Niveau-Unterschied, überwacht jede Ausnahme und hält jeden Vorrang nieder.“ (Ebd., S. 97).

„Die Seinsentlastung der universalen Daseinsfürsorge, die uns die Verantwortung abnimmt, wird also von einer »Sorge der Durchschnittlichkeit« angetrieben. Doch Heidegger zeigt nun eindrucksvoll, wie diese Sorge der Durchschnittlichkeit ihrerseits - man ist versucht zu sagen: dialektisch - aus der Sorge um einen Unterschied entspringt. Gemeint ist der Unterschied gegen die Anderen, den wir egalitär ausgleichen wollen; aber auch der Unterschied gegen die Anderen, die wir ehrgeizig einholen oder elitär niederhalten wollen. Dem Dasein geht es also nicht nur um sein Sein, sondern gerade auch um sein Anderssein. Das Geheimnis der universalen Daseinsfürsorge, die heute vorsorgender Sozialstaat heißt, ist die »Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen« (Martin Heidegger, ebd., S. 126).“ (Ebd., S. 97-98).

„Ernst Forsthoff unterscheidet den beherrschten vom effektiven Lebensraum. Im Prozeß der Moderne schrumpft der beherrschte Lebensraum, in dem das Individuum eine gewisse Autarkie hat, also als Herr auftreten kann, während sich der effektive Lebensraum durch Technik und Medien enorm erweitert. Je moderner man lebt, um so größer wird die Abhängigkeit von staatlichen »Versorgungsapparaturen«, von Leistungen der Daseinsvorsorge. Im effektiven Lebensraum gewährleistet der Staat die Existenz. »Wer vom Staat betreut wird; fiihlt sich auch von ihm abhängig und ist geneigt, sich ihm zu beugen.« (Ernst Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaates, 1954, a.a.O., S. 153).“ (Ebd., S. 98).

„Wie Egalitarismus und Despotismus im vorsorgenden Sozialstaat zusammenstimmen, kann man sich mit der Unterscheidung verdeutlichen, die Georg Simmel zwischen Autorität und Prestige getroffen hat. Prestige reißt mit und bezaubert, während Autorität eine gewisse Freiheit des Unterworfenen voraussetzt. Beiden Formen ist aber gemeinsam, daß die Untergeordneten selbst an der Bildung der Rangordnung mitwirken. Die Vielen suchen einen Führer, der ihnen die Selbstverantwortlichkeit abnimmt - und zugleich opponieren sie dieser Führung. Diese eigentümliche Einheit von Opposition und Gehorsam macht das »Lebenssystem der Gehorchenden« aus. (Vgl. Georg Simmel, Soziologie, 1908, S. 109). Despotismus und Egalitarismus vertragen sich also sehr gut: Wir sind alle gleich, sofern wir alle gleichermaßen dem Führer unterworfen sind.“ (Ebd., S. 98).

„Dieser Führer ist heute Vater Staat. Wir beobachten die Wiederkehr des paternalistischen Obrigkeitsstaats unter dem Namen des vorsorgenden Sozialstaats. Der vorsorgende Sozialstaat operiert mit drei Kurzfehlschlüssen: er schließt von Ungleichheit auf Benachteiligung, von Benachteiligung auf soziale Ursachen und von sozialen Ursachen auf paternalistische Maßnahmen. Damit übernimmt er die Gesamtverantwortung für die moderne Gesellschaft und besetzt souverän die Spitzenposition. Deshalb darf man sich nicht wundern, wenn Politiker zum Größenwahn neigen.“ (Ebd., S. 98).

„Paternalismus ist die Rückseite der Emanzipation. Der Staat schützt den Einzelnen vor sich selbst, d.h. er behandelt ihn als unmündig, weil der unemanzipierte Mensch noch nicht weiß, was gut für ihn ist. Und kaum jemand in den Massenmedien, die doch so gerne warnen und mahnen, warnt vor den Risiken und Nebenfolgen der paternalistischen Emanzipation. Wenn ständig Ungerechtigkeiten wieder gutgemacht werden, treten Folgeschäden der Kompensationspolitik auf, die ihrerseits nach Kompensation verlangen - das alte Thema des Philosophen Odo Marquard.“ (Ebd., S. 98-99).

„Der paternalistische Staat bildet also den Hintergrund aller modernen Emanzipationen. Wir haben es hier mit einer handfesten Paradoxie zu tun: In den Befreiungen bekundet sich die Liebe zur Sklaverei. Auch als er noch nicht so hieß, hat der vorsorgende Sozialstaat die neuen Untertanen gezüchtet - die betreuten Menschen. Man bekommt diese bittere Wirklichkeit gut in den Blick, wenn man mit Helmut Schelskys einfacher Unterscheidung zwischen »selbständig« und »betreut« operiert. Ihr grelles Licht entstellt den Paternalismus der Sozialingenieure zur Kenntlichkeit.“ (Ebd., S. 99).

„Natürlich weigern sich die Betreuten genauso wie die Betreuer, ihre Wirklichkeit mit dieser Unterscheidung zu beobachten; aber nur mit ihr kann man jene Paradoxie der Befreiung aus Liebe zur Sklaverei entfalten. Die Gleichheit der Unfreien gewährt Sicherheit. Doch Sicherheit verdanken die meisten heute nicht mehr dem Gesetz, sondern der staatlichen Fürsorge. Im vorsorgenden Sozialstaat schließlich wird die Daseinsfürsorge präventiv: Es wird geholfen, obwohl es noch gar keinen Bedarf gibt. Konkret funktioniert das so, daß die Betreuer den Fürsorgebedarf durch die Erfindung von Defiziten erzeugen. Der Wohlfahrtsstaat fördert also nicht die Bedürftigen sondern die Sozialarbeiter.“ (Ebd., S. 99).

„Die sympathischsten Vertreter des vorsorgenden Sozialstaates, Richard H. Thaler und Cass. R. Sunstein propagieren einen »libertären Paternalismus«. Das Adjektiv libertär soll das Erschrecken über einen selbstbewußt auftrumpfenden Paternalismus mildern; es soll immer gewährleistet bleiben, daß die Menschen ihren eigenen Weg gehen können - auch gegen den Rat der vorsorgenden und fürsorglichen Väter. Doch die Ausgangsüberlegung des aufgeklärten, libertären Paternalismus ist eben jene Überzeugung, daß die meisten Menschen nicht wissen, was gut für sie ist.“ (Ebd., S. 99).

„Sehen wir näher zu, wie Thaler und Sunstein diesen libertären Paternalismus begründen. Wenn es um Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge geht, hilft es den Menschen nicht, wenn man ihnen eine Fülle von Wahlmöglichkeiten anbietet. Je komplexer die Lage, desto wichtiger ein benutzerfreundliches Design, das die Bürger und Kunden in die richtige Richtung schubst. Die Leute, die nicht wissen, was gut für sie ist, brauchen »Wahl-Helfer« im wortwördichen Sinne, kompetente Menschen, die ihre Entscheidungen wohltätig beeinflussen; Thaler und Sunstein nennen sie Wahl-Architekten. Genau so verstehen sich heute aufrechte Sozialdemokraten. Der alles sehende und alles besorgende Staat entfaltet eine Tyrannei des Wohlmeinens. Wohlfahrt impliziert heute nämlich eine Überwachung des Verhaltens der Bürger. Der Staat greift auf den ganzen Menschen zu, auf Leib und Seele. So wird der Wohlfahrtsstaat präventiv: aus Sorge wird Vorsorge. Geholfen wird also auch denen, die nicht hilfsbedürftig sind. Seither heißt Wohlfahrt »Service«.“ (Ebd., S. 99-100).

„Auch Anthony Giddens plädiert für eine Erweiterung der staatlichen Daseinsvorsorge zur Politik der positiven Wohlfahrt, die Glück als universalisierbaren Wert und deshalb sich selbst als Entwicklungshilfe eines »autotelischen Selbst« begreift. Das ist Politik als Glückszwangsangebot, dessen Adressaten bei Giddens übrigens nicht nur die Benachteiligten, sondern auch die Erfolgreichen sein sollen. Denn so wie die Armen an der Ungleichheit, so leiden die Reichen am »Produktivismus«. Giddens träumt von einem Lebensstilpakt zwischen Arm und Reich, einem wechselseitigen Lernen, aus dem dann das »autotelische Selbst« erwächst. Die Reichen lernen von den Armen, die Autonomie der Arbeit in Frage zu stellen, und die Armen lernen von den Reichen, die positiven Effekte der sozialen Unterschiede anzuerkennen.“ (Ebd., S. 100).

„Eine philosophische Grundlegung dieses libertären Paternalismus bietet John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit. Der Paternalismus ist gerechtfertigt, weil die Menschen vor der eigenen Willensschwäche geschützt werden müssen. Bestimmte Menschen sind dann autorisiert, in unserem Namen zu handeln und zu tun, was wir selbst tun würden, wenn wir rational denken und entscheiden könnten. Der paternalistische Staat, der ja nichts von uns als Personen wissen kann, versorgt uns dann mit den Dingen, die wir »vermutlich« wünschen - ganz unabhängig davon, was wir faktisch wünschen!“ (Ebd., S. 100).

„Das eigentliche Problem einer Politik der »sozialen Gerechtigkeit« (**) liegt also nicht darin, daß man - um die Lieblingsmetapher der Sozialreligion zu zitieren - »die starken Schultern« immer stärker belastet. Vielmehr sind die Begünstigten der wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen deren eigentliche Opfer. Denn »soziale Gerechtigkeit« als Umverteilung sorgt für die politische Stabilisierung der Unmündigkeit; sie bringt den Menschen bei, sich hilflos zu fühlen. Bei wohlfahrtsstaatlichen Leistungen muß man nämlich damit rechnen, daß der Versuch, den Opfern zu helfen, das Verhalten reproduziert, das solche Opfer produziert. Wer lange wohlfahrtsstaatliche Leistungen bezieht, läuft Gefahr, eine Wohlfahrtsstaatsmentalität zu entwickeln; von Kindesbeinen an gewöhnt man sich daran, von staatlicher Unterstützung abzuhängen. Und je länger man von wohlfahrtstaatlichen Leistungen abhängig ist, desto unfähiger wird man, für sich selbst zu sorgen.“ (Ebd., S. 100-101).

„Die Massenmedien besorgen dann den Rest: Man lernt, sich hilflos zu fühlen, wenn man andere beobachtet, die unkontrollierbaren Ereignissen ausgesetzt sind - z.B. Naturkatastrophen. Und so sehnt man sich nach dem schützenden Vater, der in der vaterlosen Gesellschaft natürlich nur noch der Staat sein kann. Überall in der westlichen Welt steht die politische Linke heute für den Sozialstaatskonservativismus. Und überall wo der Sozialismus real existiert, programmiert er die Gleichheit der Unfreien. Als Wohlfahrtsstaat besteuert er den Erfolg und subventioniert das Ressentiment.“ (Ebd., S. 101).

„Der Wohlfahrtsstaat ist eine gute, humane Idee mit fatalen Folgelasten. Sie fordert eine Politik der vollständigen Inklusion - keiner soll draußen bleiben. Und durch kompensatorische Maßnahmen sollen Ungleichheiten beseitigt werden. Doch jedes wohlfahrtsstaatliche Programm produziert selbst Ungleichheit. Da ausnahmslos alle am gesellschaftlichen Leben teilnehmen sollen, müssen einige begünstigt werden. Benachteiligt werden - wie Luhmann wunderbar ironisch sagt - »nur alle« (Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 230). Als Steuerzahler hält ein jeder die Umverteilungsmaschine in Gang. Und wir haben uns so sehr daran gewöhnt, daß staatliche Interventionen schon allein deshalb als legitim erscheinen, weil sie für Umverteilung sorgen. Alles Unglück ist unverdient und begründet einen Anspruch auf Hilfe. Deshalb ist Umverteilung per se gerecht. Das ist der Gefühlssozialismus, auf dem der moderne Wohlfahrtsstaat ruht.“ (Ebd., S. 101).

„Der Preis für den Zugang zu Leistungen ist die Abhängigkeit von ihnen. Der vorsorgende Sozialstaat macht uns zu Gefangenen unserer Ansprüche. Schon 1927 brachte Martin Heidegger mit den wenigen Zeilen über »Fürsorge« die sozialdemokratische Herrschaft der Betreuer auf den philosophischen Begriff. Im Anschluß daran hat dann Ernst Forsthoff den durchschlagenden Namen für den Inbegriff all dieser öffentlich-rechtlichen Leistungen geprägt: »Daseinsvorsorge«. Heute überspannt sie die gesamte westliche Welt mit einer globalen Sozialarbeit, die uns zwar das Leben sichert, aber das Dasein abnimmt.“ (Ebd., S. 101).

„Wer nicht für seine Subsistenz sorgen, also sich durch eigene Arbeit behaupten kann, läuft Gefahr, zum Pöbel zu rechnen. Diesen Begriff hatte jedenfalls Hegel für die unselige Kombination von Armut und Ressentiment gegen die Reichen angeboten. Durch eigene Arbeit ein angemessenes Leben führen zu können, ist demnach die Grundlage für das Gefühl der Ehre, und diese rechnet Hegel neben der Scham zu den »subjektiven Basen der Gesellschaft« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 244, § 245). Der Pöbel hat diese Ehre der Subsistenz nicht; stattdessen reklamiert er ein Recht darauf. Und das ist das spezifisch moderne an der sozialen Frage nach der Armut: In der bürgerlichen Gesellschaft »gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts«.“ (Ebd., S. 101-102).

„Die totale Daseinsvorsorge nimmt den Selbständigen das Geld und den Betreuten die Würde. Was die Würde des Menschen also wirklich antastet, ist gerade die Wohltat des Staates, die ihn abhängig macht. So produziert die Politik des Wohlfahrtsstaates, also typisch Umverteilung und Reichensteuer, paradoxe Effekte. Die Wohlfahrtsempfänger verlieren ihre Würde, weil sie sich das, was sie bekommen, nicht verdienen können. Die Produktiven folgen der Logik des ökonomischen Darwinismus und werden noch produktiver, um tatsächlich die »starken Schultern« zu enrwickeln, auf denen die Lasten der »sozialen Gerechtigkeit« (**) ruhen.“ (Ebd., S. 102). **


„Hier ein aktuelles Beispiel dafür, wie die Ungleichheit in der modernen Welt durch Abweichungsverstärkung entsteht: Wenn man die Jungen zwingt, immer mehr Alte zu finanzieren, wächst die Produktivität von wenigen und die Abhängigkeit von vielen.“ (Ebd.).

„Umverteilungspolitik reduziert also nicht die Armut, sondern die Kosten der Armut. Jede Transferleistung reduziert nämlich den Anreiz, die Armut durch eigene Produktivität zu überwinden. Mit anderen Worten: Die meisten politischen Hilfsprogramme ermutigen eine Lebensführung, die zur Armut führt. Die schöne Formel »Hilfe zur Selbsthilfe« verdeckt diese Paradoxie. Die ältere Redensart »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott« scheint realistischer zu sein.“ (Ebd., S. 102).

„Jeder Versuch, den Armen zu helfen, subvertiert sich gerade durch seinen Erfolg selbst. Es wächst nämlich die Abhängigkeit von wohlfahrtsstaatlichen Programmen. Die Klasse der Abhängigen und Betreuten wächst. Das macht zwar die Sozialhilfeempfänger nicht lebenstüchtiger, hält aber den Sozialstaat in Gang. Denn der stabilisiert sich, indem er immer mehr Empfänger öffentlicher Leistungen produziert. Die sozialistische Politik der globalen Sozialfürsorge muß dafür Sorge tragen, daß die Armut nicht knapp wird. Die Bürokraten des Wohlfahrtsstaats haben ein Interesse daran, daß sich die Lage der Abhängigen nicht ändert - sie leben ja davon, daß die anderen nicht für sich selbst sorgen können. Die Linke liebt die Misere.“ (Ebd., S. 102).

„Wohlfahrt ist heute eine Droge, von der immer mehr Menschen abhängig werden. Aus der guten, humanen Idee wurde eine Art Opium fürs Volk. Denn die sozialistische Politik, die diese Idee implementieren wollte, hat lediglich die Menschen von der Regierung abhängig gemacht. Schon Alexis de Tocqueville kannte die Sklaven des Wohlstandes und sah sehr klar, daß subventionierter Wohlstand unpolitisch und hilflos macht. Und er hat den demokratischen Despotismus des vorsorgenden Sozialstaats vorausgesehen, der Gleichheit ohne Freiheit bietet.“ (Ebd., S. 102-103). **


„Auf den Schultern von Tocqueville stehend sehen wir heute, wie die Demokratie ausgehöhlt wird (schon längst größtenteils ausgehöhlt ist; Anm. HB), weil die Herrschaft der sozialistischen Parteien dazu tendiert, die Mehrzahl des Wahlvolkes in Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen zu bringen. Wohlfahrtsstaatspolitik nennt man ja den Transfer von den Habenden zu den Nichthabenden. Die gesellschaftlichen Effekte liegen auf der Hand: Der Wert der Familie als kooperatives und helfendes System schrumpft. Die Ehe wird wertlos, Investitionen in die Erziehung und Bildung der Kinder zahlen sich nicht mehr aus. Kinder haben kein Respekt mehr vor den Erwachsenen.“ (Ebd.).

„Wer erfolglos ist, kann diesen Mißerfolg entweder sich selbst oder den Umständen zurechnen. Die anderen sind schuld - und daraus leite ich politische Ansprüche auf Entschädigung ab. Ich selbst habe einen Fehler gemacht - und daraus lerne ich. Der Markt interpretiert einen Fehler als Stimulans zur Entdeckung von Neuem. Die Politik interpretiert einen Fehler als Ausdruck von Unfairneß und legt ein Hilfsprogramm auf. Populistische Sozialpolitik neigt dazu, Fehler oder Unglück der Marktteilnehmer als Ausdruck der Unfairneß des Marktes zu interpretieren - z.B. Arbeitslosigkeit. Dann werden rasch politische Programme aufgelegt, um den »Opfern« des Marktes zu helfen. Mitleidsgefühle können dann natürlich sehr leicht von Interessengruppen und gut organisierten Minderheiten ausgebeutet werden. Das funktioniert deshalb so gut, weil die politischen Hilfsprogramme hochkonzentriert sichtbare Wohltaten verteilen, deren Kosten über Steuern auf die Gesamtgesellschaft verteilt werden, also unsichtbar bleiben.“ (Ebd., S. 103).

„Hier zu helfen, zu betreuen und zu beraten, ist längst Sache eines großformatigen Betriebs geworden, der von den Medien und dem Mitleid am Leben gehalten wird. Betroffenheit durch die Hilfsbedürftigkeit der Opfer eines unfairen Marktes - das ist die heute vorherrschende »demokratische« Empfindung, die uns alle zu roten, grünen oder schwarzen Sozialisten macht. Und da die eigene Stimme nicht wahlentscheidend ist, kostet es fast nichts, die Partei des Mitleids zu wählen und sich gut dabei zu fühlen. Mitleid ist leicht, Mitfteude ist schwer.“ (Ebd., S. 103).

„Mitleid, seit Rousseau das demokratische Urgefühl, ist die raffinierteste Maske des Überlegenheitsgefühls. Im Mitleid gibt sich Ungleichheit als Gleichheit; es ist die Eitelkeit des Egalitarismus. Allan Bloom hat das in seiner Analyse der 1960er Jahre sehr schön auf den Punkt gebracht: Die bewegten Studenten der 68er-Generation haben den zur Schau getragenen Konsum ihrer Eltern durch zur Schau getragenes Mitleid ersetzt. Aus der Liebe zur Gleichheit einen Distinktionsgewinn zu schlagen, war ihr dialektisches Meisterstück. Die Hebelwirkung des Mitleids für eine radikale Gesellschaftskritik ist auch heute noch beträchtlich. So hat Paul Farmer in seinem ebenso engagierten wie enragierten Buch über die Pathologien der Macht sehr schön deutlich gemacht, daß weder der Gedanke der Caritas noch der Gedanke der Entwicklungshilfe, sondern allein das Konzept der »sozialen Gerechtigkeit« (**) Entscheider und Wissenschaftler dazu ermutigt, zu den Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der Welt moralisch Stellung zu nehmen. Diese moralische Stellungnahme zum Leiden der Welt fordert das Opfer der wissenschaftlichen Objektivität zugunsten von Mitleid, Solidarität und Zeugenschaft. Nancy Scheper-Hughes versteht diese Anthropologie des Leidens sogar als neue Form der Theodizee. Und in der Tat trifft man heute immer häufiger auf Wissenschaftler, die die Welt nicht mehr analysieren, sondern retten wollen - mit »Nachhaltigkeit« die Natur und mit »sozialer Gerechtigkeit« die Gesellschaft.“ (Ebd., S. 103-104).

Der böse und der gute Neid

„Mitleid und Neid sind Vorder- und Rückseite derselben sozialen Natur des Menschen. Sie entstehen beide aus dem Vergleich mit anderen. Als sei der Neid der Dämon des Menschen, tritt er uns in den Imitationskonflikten genau so machtvoll und unbesiegbar entgegen wie im Begehren nach Anerkennung. Gefühle, meinte der Psychoanalytiker Jacques Lacan, seien immer reziprok. Aber Neid ist kein reziprokes Gefühl; es korreliert mit Selbstmitleid. Doch der Neid ist - paradoxerweise gerade als nicht reziprokes Gefühl - das eigentliche Sozialgefühl.“ (Ebd., S. 105).

„Die meisten der Zehn Gebote beziehen sich auf diese Imitationskonflikte und das Begehren nach Anerkennung: Du sollst nicht begehren deines Nächsten XY. Es geht um das Begehren nach dem Eigentum des Anderen, das sich in der Eroberung imperialistisch, im Verbrechen kriminell, und in der Umverteilung sozialistisch manifestiert. Wer hier zu kurz kommt, entwickelt den Neid als Feindseligkeit gegen das Begehrte. Faszinierenderweise wächst dabei die Empfindlichkeit umgekehrt proportional zur Ungleichheit. Freud hat das den Narzißmus der kleinsten Differenz genannt: Unerreichbarer Reichtum reizt den Neid weniger als der kleine Einkommensunterschied.“ (Ebd., S. 105).

„Wer einmal den Neid eines Kleinkindes auf seinen Milchbruder erlebt hat, wird vielleicht den Menschen schlechthin für das neidische Tier halten. Wir wollen das Thema aber nicht anthropologisch analysieren, sondern nach dem Neidapriori der modernen Gesellschaft fragen. Es gibt nämlich ein gesellschafrliches Gesetz der Erhaltung des Neids. Wenn er durch egalitäre Maßnahmen aus einer Lebensdimension, z.B. dem Einkommen, schwindet, wandert er in andere Lebensdimensionen, z.B. Macht oder Schönheit, aus. Und je weniger Möglichkeiten eine Gesellschaft der Entfaltung des Neids bietet, um so schärfer und aggressiver zeigt er sich.“ (Ebd., S. 105).

„Der Neid hat offensichtlich etwas mit dem Blick des Anderen und dem Blick auf den Anderen zu tun. Wenn ich jemandem Achtung erweise, sehe ich ihn auf Augenhöhe. Verachtung dagegen bedeutet immer, auf jemanden herabzublicken. Und genau komplementär dazu steckt im Neid die Nötigung, hinaufzuschauen. Schon bei Aischylos heißt es dazu im »Agamemnon«: »Nur seltnen Menschen ist es angeborne Art, // Den hochbeglückten Freund zu ehren sonder Neid.« (Aischylos, Agamemnon, Vs. 832f.). Und das ist auch Kants Motiv in der »Metaphysik der Sitten«: Das Wohl der anderen schmerzt uns. Daß es den anderen gut geht, wirft einen Schatten auf das eigene Wohlleben.“ (Ebd., S. 105-106).

„Ursprünglich hat das Christentum einmal den Neid als satanisch verurteilt und damit eine »Zivilisation der einander Ungleichen« (Helmut Schoeck, Der Neid und die Geselschaft, 1971, S. 114) ermöglicht. Doch daran mag es sich heute nicht mehr erinnern lassen. Stattdessen verkauft man Jesus als Robin Hood und interpretiert das Gebot der Nächstenliebe als Aufforderung zur Umverteilung. Im Kalvinismus war der modernen Gesellschaft noch einmal ein genialer Kompromiß zwischen Ressentiment und Erfolgsorientierung gelungen, der den Kapitalismus florieren ließ. Doch dann erschien Lenin als der neue Paulus. Das Ressentiment wurde erneut schöpferisch: im Bild vom kapitalistischen Herrn als dem Bösen, gegen den ein Rachefeldzug der »sozialen Gerechtigkeit« (**) geführt werden mußte.“ (Ebd., S. 105-106).

„Vormoderne Gesellschaften hatten weniger Probleme mit dem Ressentiment, denn die soziale Stratifikation durch ständische Ordnung oder Kasten unterbrach den Vergleich von Lebenslagen und Ansprüchen - und beugte damit dem Ressentiment vor. Dagegen brauchen moderne Gesellschaften ausdrücklich eine Sozialpolitik zur Pazifizierung des Ressentiments.“ (Ebd., S. 106).

„War die aristokratische Sünde der Stolz, so ist die demokratische Sünde der Neid. (**). Einem evangelischen Theologen des 19. Jahrhunderts, der davor noch nicht die Augen verschlossen hat, verdanken wir die wunderbare Formulierung: »Bewunderung ist glückliche Selbstverlorenheit, Neid unglückliche Selbstbehauptung.« (Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, 1849, S. 84f,). Schon für Kierkegaard war der Neid die spezifisch moderne Macht der Nivellierung, der Haß auf das Hervorragende und damit der Krebs der Seele. Heute sucht man den Christen, der den Neid als satanisch verurteilt, genauso vergebens wie den Gentleman, der keinen Neid kennt. Man kann nur noch abstrakt sagen: Herr sein über den Neid heißt erwachsen sein.“ (Ebd., S. 106).

„Hegel hat in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte einmal gesagt: »Der freie Mensch ist nicht neidisch, sondern anerkennt das gern, was groß und erhaben ist, und freut sich, daß es« ist. (Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, S. 47). Daß die großen Menschen nicht glücklich waren, ist der »schauderhafte Trost« der Mittelmäßigen. Der Neid ist begierig nach Nachrichten über das Unglück der Großen, weil er ihre Exzellenz nur unter dieser Bedingung ertragen kann. Wissenschaftliche Unterstützung bekommen die Neidischen heute vor allem von den Psychologen, die es verstehen, die großen Taten der großen Männer auf Süchte und Leidenschaften zu reduzieren. Diese Kammerdienerperspektive psychologischer Geschichtsschreibung, die das Ressentiment der Mittelmäßigen bedient, hat sich unlängst ja auch an Bismarck erprobt.“ (Ebd., S. 106-107).

„Wenn man es nicht bei einer Kritik der »Neidgesellschaft« belassen und zur Dialektik des Neidbegriffs vorstoßen will, muß man so weit in die Geistesgeschichte zurückschauen, wie es Nietzsche getan hat. Was die Welt der alten Griechen von unserer modernen am meisten unterscheidet, ist die Anerkennung des Kampfes und der »Lust des Sieges«, die unmittelbare Folgen für das Verständnis des Neides hat. (Vgl. Friedrich Nietzsche, Homer's Wettkampf, 1872, in: Werke, Band III, S. 293). Bei den alten Griechen gab es nämlich noch den guten Neid, die wohltätige Eris. Und wir werden im folgenden immer wieder den guten Neid, der sich in Wettbewerb, sozialer Kontrolle und den modernen Formen des Ostrazismus zeigt, vom bösen Neid unterscheiden, den man seit Nietzsche Ressentiment nennt.“ (Ebd., S. 107).

„»Public envy« lautet die dialektische Parole seit Francis Bacon: Neid zugunsten des öffentlichen Wohls. Das war einmal antik der Ostrazismus; modern ist davon meist nur noch eine staatstragende Heuchelei übrig geblieben, für die sich der Leviathan revanchiert, indem er den Stolz der Einzelnen niederhält. Aber auch dieser Begriff des Ostrazismus hatte bei den alten Griechen noch einen ursprünglichen guten Sinn, auf den Nietzsche hingewiesen hat. Das griechische Grundgefühl von der Notwendigkeit des Wettkampfes läßt es nicht zu, daß jemand dauerhaft der Beste ist, denn das würde den Wettkampf ja zum versiegen bringen. Bayern München darf nicht jedes Jahr Meister werden. Ostrazismus heißt deshalb: »man beseitigt den überragenden Einzelnen, damit nun wieder das Wettspiel der Kräfte erwache.« (Friedrich Nietzsche, Homer's Wettkampf, 1872, in: Werke, Band III, S. 297). Griechisch ist die Kultur der vielen Genies, die sich gegenseitig zur Tat reizen und Grenzen setzen - die Welt des kreativen Neids.“ (Ebd., S. 107).

„Der Wettkampf ist aber nicht nur das pädagogische Medium, in dem sich alle Begabungen entfalten, sondern auch der wohltätige Schleier über dem »Abgrund ... der Vernichtungslust«. Wer Wettkampf und Wettbewerb diskreditiert, entfesselt die Aggressivität des Homo natura. Die Griechen waren neidisch - und stolz darauf. Der Neid ist eine Göttin, die zur Tat reizt. Und alles hängt nun daran, ob der gute Neid zu einer »Tat des Wettkampfes«, oder der böse Neid zu einer »Tat des Vernichtungskampfes« reizt. (Vgl. Friedrich Nietzsche, Homer's Wettkampf, 1872, in: Werke, Band III, S. 294). Wettbewerb oder Vernichtung - das ist die Frage, die der Neid an die Gesellschaft stellt.“ (Ebd., S. 107).

„Die Unterscheidung des guten und des bösen Neids ist ein Urmotiv Nietzsches. In der Vorrede zu einem ungeschriebenen Buch über »Homer's Wettkampf« berichtet er von jener faszinierenden griechischen Idee, daß es zwei Eris-Göttinnen gibt, also zwei Formen des Neides. Den bösen Neid kennen wir alle, und auch das Christentum verurteilt ihn als Kardinalsünde. Aber die alten Griechen kannten auch einen guten Neid. Der Arme schaut auf den Reichen und will es ihm gleichtun. Die gute Eris ist die wohltätige Gottheit, die den Menschen durch Neid zur Tat reizt - eine Tat, die den, der es besser hat, nicht vernichten, sondern übertreffen will. So werden auch die Unbeholfenen und Lässigen zum Werk geweckt. Bei Hesiod heißt es: »Denn wer dürftig an Werk auf den anderen Mann blickt, den reichen, wie er sich eilt mit dem Pflügen und müht mit dem Pflanzen, und anstrengt gut sein Haus zu bestellen, der eifert als Nachbar dem Nachbarn nach auf dem Weg zum Erfolg; das ist guter Streit für die Menschen.« (Hesiod, Tage und Taten, Vs. 20f.).“ (Ebd., S. 108).

„Der Töpfer grollt dem Töpfer, der Schmied dem Schmied, der Bettler beneidet den Bettler und der Sänger den Sänger. Was wir heute Wettbewerb nennen, ist dieser gute Streit, den die andere Eris, die wohltätige Schwester der Kriegs-Eris anzettelt. Und der gute Neid stachelt nicht nur zum Wettkampf an, sondern er sorgt auch dafür, daß es immer eine Vielzahl von Besten gibt, eine Aristokratie der Genies, die sich gegenseitig zu Höchstleistungen reizen und gleichzeitig »in der Grenze des Maßes halten« (Friedrich Nietzsche, Homer's Wettkampf, 1872, in: Werke, Band III, S. 296).“ (Ebd., S. 108).

„Der böse Neid ist verantwortlich für die Kultur des Ressentiments, deren christliche Variante Nietzsche in seiner Genealogie der Moral so unerbittlich freigelegt hat. Der gute Neid dagegen ist der Ansporn zu Wettkampf, zum Agon der alten Griechen, der verantwortlich ist für die Entstehung des Großen in der Geschichte. Deshalb hat Nietzsche einen positiven Begriff von Ruhmsucht. Der böse Neid erzeugt die politische Unzufriedenheit, die immer auf die Revolte des Kollektivs drängt. Der gute Neid dagegen weckt die persönliche Unzufriedenheit des Ehrgeizes. Und sie ist der Muskel, der Adam Smiths »unsichtbare Hand« bewegt. Den Streit der Ehrgeizigen können wir als das Marktmodell jenes Wettkampfs begreifen, in dem die Griechen das Walten der Gerechtigkeit erkannten.“ (Ebd., S. 108).

„Doch mit Hesiods doppelter Eris ist die Dialektik des Neides noch nicht erschöpft. Nietzsche hat den Mythos in einem faszinierenden Aphorismus weitergedichtet. Nach der erstaunlichen Selbstkorrektur des Hesiod, der seine Darstellung der Gottheit Eris in der »Theogonie« widerruft und nun in »Werke und Tage« von dem Schwesternpaar einer guten und bösen Eris erzählt, erfindet Nietzsche einen edleren Bruder des Neides. Die Geschichte setzt voraus, daß sich die Menschen schon in zivilisatorischer Distanz zu einem Naturzustand befinden, der durch nackte und bedenkenlose Ungleichheit geprägt ist. Der Naturzustand ist für Nietzsche nämlich der Absolutismus der Ungleichheit. Neid kann aber nur entstehen, wo Gleichheit die Norm ist. »Der Neidische fühlt jedes Hervorragen des Anderen über das gemeinsame Maß und will ihn bis dahin herabdrücken - oder sich bis dorthin erheben.« (Friedrich Nietzsche, Werke, Band III, S. 891). Genau das macht den Unterschied zwischen gutem und bösen Neid aus: Ehrgeiz und Wettstreit oder Ressentiment und Nivellierung.“ (Ebd., S. 108-109).

„Über diese Einsicht Hesiods geht Nietzsche nun einen dialektischen Schritt hinaus. Es gibt nämlich eine zivilisatorische Variante des Neids, seinen edleren Bruder: die Indignation. Sie ist das Gefühl der verletzten Würde, die Entrüstung über einen Angriff auf die soziale Norm. Und zwar funktioniert die Indignation in beiden Richtungen, also nicht nur als die Empörung darüber, daß es jemandem unter seiner Gleichheit schlecht ergeht, sondern auch als die Empörung darüber, daß es jemandem über seiner Gleichheit gut ergeht. Dieser edlere Bruder des Neides ist es, den wir meinen, wenn wir von sozialer Kontrolle sprechen.“ (Ebd., S. 109).

„Schon Kierkegaard war weitsichtig genug, gerade im Neid das negativ-einigende Prinzip der Gesellschaft zu erkennen. Und wer sich nicht mit einer Kulturkritik der »Neidgesellschaft« begnügt, kann genau hier einhaken, um das dialektische Potential des Neids zu entfalten. Er hat nämlich eine unverzichtbare gesellschaftliche Funktion: Der Neid testet soziale Systeme. Man könnte ihn als einen evolutionären Mechanismus zur Kontrolle der Trittbrettfahrer und Betrüger definieren. Diese gesellschaftliche Unverzichtbarkeit des Neides hat sein erster Monograph, der Soziologe Helmut Schoeck, auf die Formel gebracht: »Die Neidfdhigkeit ist eine notwendige soziale Warngeste.« (Helmut Schoeck, Der Neid und die Gesellschaft, 1971, S. 23). Das setzt aber voraus, daß die gute Eris den Neid vor dem Ressentiment bewahrt. Mandevilles Verheißung, daß das private Laster zur öffentlichen Tugend werden kann, würde dann tatsächlich erfüllt. Helmuth Berking hat das so ausgedrückt: »Neid zivilisiert in dem Maße, wie er selbst zivilisiert zum Ausdruck gebracht wird.« (Helmuth Nerking, in: Neid, Ästhetik und Kommunikation, 1991, # 77, S. 11).“ (Ebd., S. 109).

„Die gesellschaftliche Arbeit am Neid zeigt sich überall dort, wo der Ehrgeiz die Menschen in den Wertbewerb treibt. Und wo sie verweigert wird, bricht sich die Wut der Verlierer Bahn - oft auch sublimiert als Ressentimentkritik. Freuds Psychoanalyse hat gezeigt, daß ein Blick auf das Erleben kleiner Kinder hier sehr viel über die Dynamik der Gesellschaft verraten kann. Die zivilisierende Verwandlung von Neid in Gemeingeist und Gleichheitsforderung, die Umwandlung von Eifersucht in Egalitarismus folgt nämlich dem Gedanken: Wenn ich nicht selbst bevorzugt werde, soll wenigstens auch kein anderer bevorzugt werden.“ (Ebd., S. 109-110).

„Eifersucht und Neid des Kindes auf das andere erzeugen als Reaktionsbildung die Forderung nach Gleichbehandlung für alle. So entsteht das Sozialgefühl aus dem Neid. »Keiner soll sich hervortun wollen, jeder das gleiche sein und haben. ›Soziale Gerechtigkeit‹ (**) will bedeuten, daß man sich selbst vieles versagt, damit auch die anderen darauf verzichten müssen, oder was dasselbe ist, es nicht fordern können. Diese Gleichheitsforderung ist die Wurzel des sozialen Gewissens und des Pflichtgefühls.« (Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, 1921, in: Gesammelte Werke, Band XIII, S. 134 **). Schon das Kind formuliert also in der Gleichheitsforderung die Bedingung, unter der es bereit wäre, auf den bösen Neid zu verzichten. Die Leidenschaft für die Gleichheit ist eine Idealisierung des Neids. Und es ist immer wieder faszinierend, zu sehen, wie es der modernen Gesellschaft gelingt, die unglückliche Selbstbehauptung des Neiderfüllten in das eigentliche Sozialgefühl zu transformieren.“ (Ebd., S. 110).


„Vgl. dazu auch die »politisch unkorrekte« Bemerkung Freuds: »Daß man dem Weib wenig Sinn für Gerechtigkeit zuerkennen muß, hängt wohl mit dem Überwiegen des Neids in ihrem Seelenleben zusammen, denn die Gerechtigkeitsforderung ist eine Verarbeitung des Neids, gibt die Bedingung an, unter der man ihn fahren lassen kann« (Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke, Band XV, S. 144).“ (Ebd.).

„In der Tat hat sich die moderne Gesellschaft durch die Mächte der guten Eris entfaltet: Wissenschaft und Technik, gleiches Recht und Bildung für alle, städtisches Leben und staatliche Organisation. Der Philosoph Joachim Ritter resümiert: »In dieser Umwälzung wird die Gesellschaft, die ungeheure humane Macht, die überall die Gleichheit des Menschen, realisiert.« (Joachim Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 351). Doch durch die Ressentiments und antibürgerlichen Affekte der linksintellektuellen Boheme ist diese gute Gleichheit der Moderne rasch zu einem Fetischismus der Gleichheit pervertiert worden. Seither sammeln sich hinter der Fahne der »sozialen Gerechtigkeit« (**) alle Feinde der Leistung, des Wettbewerbs, des Erfolgs und der Exzellenz. Ihr semantischer Coup besteht darin, Ungleichheit mit Ungerechtigkeit zu identifizieren.“ (Ebd., S. 110).

„Neid entsteht zum einen, wenn man sieht, daß der andere etwas hat, was man selbst gerne hätte, ohne daß er es mehr verdient hätte als man selbst. Insoweit ist Neid noch mit Gerechtigkeit verknüpft. Das trifft aber nicht mehr auf den Neid zu, der damit zufrieden ist, daß der andere sein Gut verliert. Es geht um die befriedigende Vorstellung von der gewaltsamen Zerstörung dessen, was man selbst niemals bekommen kann. Hier freut sich der Neid am Schaden des anderen. Der Philosoph Leibniz hat das sehr genau gesehen: »Denn manche Güter sind wie Freskogemälde, welche man wohl zerstören, aber nicht wegnehmen kann.« (Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Versuche über den menschlichen Verstand, 1704, S. 160).“ (Ebd., S. 110).

„Dieser böse Neid ist verschleierter Haß. Es tut dem Neidischen weh, sehen zu müssen, daß es dem anderen gut geht, obwohl das gute Leben des anderen keinerlei Auswirkungen auf das eigene Leben des Neidischen hat. Das gute Leben des anderen wirft einen Schatten auf das eigene. Endlich kann man sich das kleine Häuschen in Mallorca leisten, auf das man sich sein ganzes Leben lang gefreut hat. Da wird man in die prachtvolle Villa des Freundes nebenan eingeladen und der Schatten des Neides verdüstert das eigene Glück. Kant spricht deshalb von »dem scheußlichen Laster einer grämischen, sich selbst folternden und auf Zerstörung des Glückes anderer gerichteten Leidenschaft« (Immanuel kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, S. 596). Man kann das eigene Häuschen nicht mehr in seinem eigenen Wert schätzen, weil man es am Maßstab der prunkvollen Villa mißt.“ (Ebd., S. 111).

„Der Begriff des sozialen Einkommens berücksichtigt, daß der Wert des eigenen Einkommens von der gesellschaftlichen Umwelt abhängig ist, sich also relativ zum Einkommen der anderen bemißt. Das war schon die zentrale These von Thorstein Veblen. Demnach kann das Begehren nach Reichtum nicht dadurch befriedigt werden, daß es allen Mitgliedern einer Gesellschaft besser geht - und zwar ganz unabhängig davon, wie gleich oder »fair« die Verteilung der Güter erfolgen mag. Es geht nämlich nicht um die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern um ein Wettrennen der Reputation auf der Basis neiderfüllter Vergleiche. Hinter dem Wunsch nach Reichtum und der Akkumulation von Gütern steckt das Begehren eines jeden, die anderen zu übertrumpfen.“ (Ebd., S. 111).

„Der neiderfüllte Vergleich mit dem anderen zielt auf dessen Wertschätzung, die ich nur durch sichtbaren Erfolg erlangen kann. Und in der Flüchtigkeit des Lebens von »Massendemokratien« braucht man leicht erkennbare Signale für die eigene Zahlungsfähigkeit. Der neidische Vergleich mit den anderen wird im System des Konsumismus (**) habituell, und der im Konsum sichtbare Erfolg wird so zur Evaluationsbasis des modernen Menschen. Die Frage nach seinem Willen oder seinen Bedürfnissen - konkret: »Was will der Kunde?«  - führt deshalb meist in eine Sackgasse.“ (Ebd., S. 111).

„Begehren dagegen ist ein Verhältnisbegriff, der aus dieser Sackgasse des Willens herausführt. Das Begehren ist nämlich immer auf den anderen bezogen. Man wählt nicht das Objekt, sondern den Wunsch des anderen, das Wünschenswerte. So funktioniert heute die Frage Was ist »in«? wie ein Kompaß auf den sozialen Märkten des Ansehens und Status. Die Moden wechseln nicht, weil sich der Geschmack der Eliten ändert, sondern weil sich die Lebensstildifferenzen zwischen Geschmacksführer und Masse immer wieder schließen. Der Markt der Eliten existiert also immer nur für kurze Zeit. Und diese Verkürzung der Zeit des »in«-Seins wirkt wie ein Vergrößerungsglas für die feinen Unterschiede der Marken.“ (Ebd., S. 111-112).

„Wie die Marke hat der Luxus noch eine große Zukunft vor sich, weil - so Hans Magnus Enzensberger im Anschluß an Thorstein Veblen - »das Streben nach der Differenz zum Mechanismus der Evolution gehört und die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt.« (Hans Magnus Enzensberger, Zickzack, 1997, S. 156). Wenn wir nun im Blick auf die Märkte des 21. Jahrhunderts von einem Luxus zweiter Ordnung sprechen, so soll das besagen: Es geht nicht mehr um die naive Zurschaustellung des Konsums und der Kaufkraft, sondern um eine spirituelle Technik der Differenz. Bei Markenartikeln geht es also nicht um die Qualität des Produkts, sondern um die Identität des Kunden. Man zahlt für das Prestige und den sozialen Distinktionsgewinn. Die Befriedigung, die der teure Markenartikel gewährt, liegt in der Wertschätzung und dem Neid der anderen. Hochpreisige Produkte garantieren Exklusivität, ein konsumistisches Pathos der Distanz. Es geht hier also um die Ungleichheit des Status: Was mich befriedigt, ist die Anerkennung durch die anderen.“ (Ebd., S. 112).

„Der Mensch bewertet sich selbst, indem er sich mit anderen vergleicht, und schwankt dabei zwischen den Extremen des Neids und der Dummdreistigkeit. Dummdreistigkeit besteht nach Kant in der »Gleichgültigkeit gegen das Urteil anderer«, Neid dagegen entsteht, »wenn der Mensch seinen Wert nach andern schätzt und dabei versucht, den Wert des andern zu verringern.« (Immanuel Kant, Über Pädagogik, in: Theorie - Werkausgabe, Band XII, S. 752f.). Im überhitzten Klima des neiderfüllten Vergleichs wächst das Ressentiment; d.h. die Toleranz gegenüber der Ungleichheit, die Niklas Luhmann Reichtumstoleranz genannt hat, nimmt ab. Es geht mir besser als früher, aber nicht so viel besser als den anderen - und deshalb geht es mir schlechter. Schon eine Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums erzeugt typisch Unzufriedenheit. Und Wachstum selbst ist keineswegs der Weg zur allgemeinen Zufriedenheit, denn wenn es allen gleichmäßig besser geht, geht es niemandem besser..“ (Ebd., S. 112).

„Die Verschiedenheiten vermindern sich, aber die Gleichheitserwartungen wachsen. Das liegt ganz einfach daran, daß Menschen sich vergleichen. Aber mit wem vergleicht man sich? Mit den relevanten Anderen. Und in diesem Vergleich können auch kleinste Differenzen als schreiend ungerecht empfunden werden. Je geringer die Unterschiede, desto größer die Gleichheitserwartungen und desto größer das Ressentiment. Der neiderfüllte Vergleich steigert sich in einer Spirale positiver Rückkopplungen.“ (Ebd., S. 112).

„Schon Alexis de Toqueville hatte ja gesehen, daß gerade die Verringerung des Abstandes zwischen Arm und Reich zum Anlaß wird, sich mit neidischen Blicken zu messen. Es ist also nicht die Armut selbst, die das Ressentiment erzeugt. Soziologen sprechen deshalb vom Tocqueville-Effekt, um das Phänomen zu benennen, daß die Gleichheitserwartungen um so schneller steigen, je geringer die Ungleichheiten zwischen den Menschen sind; man leidet weniger, hat aber eine sehr viel höhere Sensibilität. Und je größer die Erwartungen, desto größer der Neid. So wird die moderne Kultur von einem Jammern auf hohem Niveau begleitet; die Klagelieder erklingen aus dem Herzen des Wohlstands.“ (Ebd., S. 113).

„Hier zeigt unsere Kultur deutlich tragische Züge, denn gerade in einer ihrer wichtigsten Errungenschaften, dem fundamentalen demokratischen Prinzip der Rechtsgleichheit, steckt ein Potential für Fanatismus: die neidische Gleichstellung auch derer, die durch Bildung, Erziehung und Einsicht besser, erfolgreicher sind. Talent, Lebensenergie und Glück produzieren in einer freien Marktwirtschaft notwendigerweise Ungleichheit. Für den Ökonomen Vilfredo Pareto war das kein Problem, solange der Gewinn des einen nicht mit dem Verlust des anderen erkauft wird. Doch er hat seine Rechnung ohne das Ressentiment gemacht, das gerade auch dann entsteht, wenn der Lebensstandard zwar für alle steigt, aber für einige schneller als für andere.“ (Ebd., S. 113).

„Ressentiment ist der Haß auf den Erfolg. Was man am Erfolg haßt, ist nicht nur der Reichtum der anderen, sondern die Anforderung von Disziplin und harter Arbeit, die Erfolg überhaupt erst möglich machen. Dieses Ressentiment ist in der Kultur der Boheme schöpferisch geworden - als Wille zum Unglück. Die subkulturelle Verklärung der Erfolglosigkeit hat fast zwei Jahrhunderte intellektueller Antibürgerlichkeit getragen, deren Rhetorik vom »Philister« Hölderlins bis zum »Establishment« der 68er reicht. Seit der Romantik ist der Künstler per definitionem antibürgerlich. Er will die Bourgeoisie schockieren.“ (Ebd., S. 113).

„Doch es bleibt nicht bei Theaterskandalen und ästhetischen Provokationen. Antibürgerlichkeit ist ein Politikum ersten Ranges, eine tiefgreifende, aber maskierte Unterscheidung von Freund und Feind. Der Haß auf den Feind wird nämlich durch den Neid auf den Erfolgreichen ersetzt, der sich gerade heute wieder weltweit als das negativ einigende Prinzip der Linken erweist. Neid und Ressentiment bilden das Gefühlsmedium der Globalisierung. Pascal Bruckner bemerkt: »Es gibt keine Zeitgleichheit zwischen den verschiedenen Menschheiten, die sich den Planeten teilen, ohne alle in derselben Epoche zu leben. Aber alle sind, dank der Technik und der Kommunikation, Zeitgenossen im Haß und im Neid.« (Pascal Bruckner, Ich kaufe, also bin ich, 2004, S. 224). Eine der aktuellen Masken der Feindschaft ist der Begriff »Fairneß«, den der Haß auf den Erfolg erfolgreich okkupiert hat. Dieser neu verpackte Sozialismus deutet Erfolg als ein Zeichen für Ungerechtigkeit.“ (Ebd., S. 114).

„Die Erfolgreichen sind die Sündenböcke der Moderne - man kann sie, wie jüngst in einem Hamburger Theater geschehen, an den Pranger stellen, indem man ihre Namen, Adressen und Kapitalsummen verlesen läßt. Gerade weil unsere Gesellschaft ökonomisch erfolgreich ist, setzt die Linke auf Klassenneid. Und verläßlich wird sie von den Intellektuellen und Künstlern in dieser Gefühlsarbeit des Ressentiments gegen die Reichen unterstützt. Doch der Neid auf die Reichen trifft eine wichtige Unterscheidung. Madonna, Ronaldo und Brad Pitt dürfen Abermillionen verdienen, nicht aber die Manager, Politiker und Spekulanten. (**). Warum eigentlich? Was Fußballspieler, Popsänger und Schauspieler tun, verstehen die Leute; sie schätzen es und können es einschätzen. Doch was CEOs, Hedge-Fonds-Manager und Staatssekretäre tun, können die meisten Menschen nicht verstehen und vermuten sogar, daß es von Übel ist. Seit der großen Bankenkrise des Jahres 2008 (**) ist der Manager der globale Sündenbock.“ (Ebd., S. 114).


„Für das Starsystem der Wirtschaft hier ein paar ältere Beispiele: Der Tennisspieler Andre Agassi hat für die bloße Teilnahme am ATP-Turnier in San Francisco 1993 200000 $ erhalten. Der Fc Barcelona bot dem Fußballspieler Ronaldo 180 Millionen $ für acht Jahre an. Nike sponosrte den Golfer Tiger Woods mit 90 Millionen $. Und der Schaupieler Leonardo DiCaprio verlangt für jeden Film 33 Millionen $. (Vgl. Ian Angell, a.a.O., S. 85). Weltklassespieler wie Michael Ballack verdienen sehr viel mehr als die zweitbesten und unendlich viel mehr als die Weltklassespieler vor 40 Jahren, etwa Uwe Seeler (auch genannt: »Uns Uwe«). Dasselbe gilt für Topmodels und Filmschauspieler.“ (Ebd.).

„Wie könnte es anders sein? Offenbar ist nichts schwieriger, als der Umgang mit dem Erfolg - mit dem eigenen ebenso wie mit dem der anderen. Auch hier herrscht das Gesetz der Abweichungsverstärkung: Erfolg macht erfolgreich. Wer hat, dem wird gegeben. Und Erfolg macht süchtig, Wer dagegen deutlich weniger Erfolg hat, deutet das als Mißerfolg. Und Mißerfolg macht hilflos. Hinzu kommt dann noch der unabweisbare Eindruck, daß die meisten, die Erfolg haben, es auch verdient haben. Das Ressentiment hat hier leichtes Spiel. Neid und Erfolg sind in vielfacher Weise und sehr stark korreliert. Man beneidet den anderen um seinen Erfolg. Der Neid auf den anderen treibt einem selbst zum Erfolg. Man interpretiert den Neid des anderen als Zeichen des eigenen Erfolgs.“ (Ebd., S. 114). **


„In der Netzwerk-Gesellschaft unserer tage liegt ein Geheimnis des Erfolgs darin, den anderen nicht um seinen Erfolg zu beneiden. In einer Nullsummenspielwelt muß man nicht besser sein als der andere, um erfolgreich zu sein.“ (Ebd.).

„Doch nicht nur der Umgang mit dem Erfolg der anderen ist schwierig, sondern auch der mit dem eigenen. Gerade eine egalitäre Gesellschaft läßt ja die natürlichen Unterschiede der Menschen bis zur Unerträglichkeit hervortreten. Und so wächst unten der Neid und oben das Schuldgefühl. Der Neid der anderen bewirkt, daß die von natürlichen Gaben und Talenten reich Beschenkten entweder ein Schuldgefühl entwickeln oder die Welt verachten. Deshalb mußte Nietzsche Verachtung so durch und durch positiv deuten. Doch Verachtung ist als soziale Geste selten geworden, und schon Nietzsche bemerkte, daß den meisten die Kraft dazu fehlt. Bei den Erfolgreichen manifestiert sich die Ungleichheit deshalb in der Regel als Schuldbewußtsein: Ich erzeuge den Neid des anderen - das ist meine Schuld. Der kulturelle Erfolg des Ressentiments besteht also darin, daß die Erfolgreichen ein schlechtes Gewissen haben.“ (Ebd., S. 114-115).

„Vom schlechten Gewissen der Erfolgreichen entlasten die Steuern. Aber beruhigen sie auch das Ressentiment der Erfolglosen? Die Utopie des Sozialstaats besteht genau darin, durch die Bereitschaft, Steuern zu zahlen, den Neid, den der Erfolgreiche weckt, in Anerkennung zu verwandeln; denn immerhin läßt der Erfolgreiche die anderen an seinem Erfolg teilhaben - eben in Form von Steuern. Eine prägnante Formulierung findet diese Utopie in einem Aufsatz des ehemaligen Richters des Bundesverfassungsgerichts Paul Kirchhof, der Eigentum als geprägte Freiheit definiert. »Freiheit heißt, sich auch im Erfolg seines Handelns von anderen unterscheiden zu dürfen. Wer also erwerbswirtschaftlich besonders erfolgreich war, wer sein Eigentum klug verwaltet, gemehrt und genutzt hat, findet in einer freiheitlichen Ordnung freiheitsverständige Anerkennung. Wer diese freiheitlich hergestellte Verschiedenheit nicht ertragen kann, verweigert sich letztlich dem Freiheitsgedanken.« (Paul Kirchhof, Geprägte Freiheit, in: F.A.Z., 09.09.2003, S. 10).“ (Ebd., S. 115).

„Man ist versucht zu sagen: zu schön um wahr zu sein. Wir können diese utopische Fassung des Eigentums als geprägter Freiheit aber durch eine soziologische ergänzen, die dem Neidapriori der modernen Gesellschaft Rechnung trägt. Helmut Schoeck hat darauf hingewiesen, daß Privateigentum den Neid vom Menschen selbst ablenkt. »Die Güter schieben sich als gesellschaftlich notwendiges Neidschild zwischen die Menschen und schützen die physische Person vor Angriffen.« (Helmut Schoeck, Der Neid und die Geselschaft, 1971, S. 235). (**). Der andere ist sportlich, gesund, sieht besser aus und führt ein glückliches Familienleben. Aber mein Neid wird auf sein Haus, sein höheres Einkommen und sein neues Auto abgelenkt.“ (Ebd., S. 115).


„Die Ökonomen haben hier natürlich längst viel komplexere Modelle entwickelt, in denen berücksichtigt wird, daß aus bestimmten Waren und Konsumchancen kein unmittelbarer Schluß auf das Wohlleben der Menschen gezogen werden kann. Hier zwei verblüffende Beispiele: Zwei Personen haben die Well-Being-Funktionen W1 und W2 und die Warenkörbe x1 und x2.
Wenn gilt:
W1(x2) > W1(x1) > W2(x2) > W2(x1),
dann beneidet W1 den anderen, obwohl es W1 besser als W2 geht. Im Fall von:
W1(x1) > W1(x2) > W2(x2) > W2(x1)
gibt es keinen Neid, obwohl es W1 besser als W2 geht.“ (Ebd.).


„Schöne Frauen und intelligente Männer erzeugen oft aber auch einen Neid, für den es keinen Trost und keine Ablenkung gibt, sondern nur die Möglichkeit, in Haß umzuschlagen und Rache zu nehmen. Dieser Haß muß sich allerdings maskieren, entweder als ethische Forderung nach »sozialer Gerechtigkeit« (**) oder als begeistertes Lob des Mittelmäßigen. Schopenhauer hat geradezu von einem »Unterdrückungssystem der Neidischen gesprochen, die alles daran setzen, das Vortreffliche zu ersticken. Der Neid nämlich ist die Seele des überall florierenden, stillschweigend und ohne Verabredung zusammenkommenden Bundes aller Mittelmäßigen gegen den einzelnen Ausgezeichneten.« (Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, 1851, in: Werke, Band V, S. 407).“ (Ebd., S. 115).

„Die Verschwörung der Mittelmäßigkeit gegen die Exzellenz ist nicht nur in dem anthropologischen Grundfaktum, daß alle Menschen neidisch sind, begründet, sondern vor allem auch darin, daß Ruhm ein Nullsummenspiel ist. Man kann niemanden erheben, ohne andere herabzusetzen. Der Ruhm steht also immer im Kampf mit dem Neid. Der beste Schüler macht die Kameraden zu schlechteren. Die Eliteuniversität macht die anderen zu Hochschulen zweiter Klasse.“ (Ebd., S. 116).

„Sobald der Neid keine soziale Ausdrucksform mehr findet, schlägt er um in Wut und schafft sich Luft in der Attacke auf Symbole des sozialen Unterschieds. Die wachsende ökonomische Entbehrlichkeit vieler Menschen macht diesen Umschlag heute immer wahrscheinlicher. Die Überflüssigen werden ausgeschlossen, und die Fanatiker nehmen sich nun der Menschen an, die die Weltgesellschaft aus sich ausgeschlossen hat. Wer in der Gesellschaft keine Anerkennung findet, sucht sie gegen sie. Aus Neid wird Fanatismus. Mir gelingt etwas nicht - und deshalb soll die Welt untergehen. Willkürliche Gewalt und Wandalismus sind die »Leistungen« des Ressentiments, das die Lebensenergien des Menschen durch Orgien von Neid und Haß aufzehrt.“ (Ebd., S. 116).

„Der Haß des Ressentiments entsteht, wenn man sich gleich fühlt, aber nicht gleich ist; wenn man angeregt wird, sich mit Leuten zu vergleichen, mit denen man sich nicht vergleichen kann - mit den Worten Max Schelers: wenn »öffentlich anerkannte, formale soziale Gleichberechtigung mit sehr großen Differenzen der faktischen Macht, des faktischen Besitzes und der faktischen Bildung Hand in Hand gehen.« (Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, S. 9). Moderne Kultur ist ja eine Kultur des Vergleichs und sie ist selbst der Vergleich mit anderen Kulturen. Sinnvoll und begehrenswert ist das, wonach andere streben. Diese vor allem von den Massenmedien vermittelte Erfahrung kann den persönlichen Ehrgeiz entfesseln, aber eben auch Neidverbrechen provozieren.“ (Ebd., S. 116).

„Gerade wenn man, wie der Autor dieser Zeilen, die Demokratie für alternativlos hält, muß man sich über ihre Todsünde klar werden. (**). Im Neid droht die Leidenschaft der Gleichheit die Freiheit zu zerstören. Demokratie ist der Idee der Gleichheit verpflichtet; sie garantiert gleiche Rechte und formale soziale Gleichheit. Aber gerade dadurch werden die faktischen Ungleichheiten in Macht, Reichtum und Prestige um so auffälliger. Demokratie impliziert normative Gleichheit, und daraus folgt, daß alle ständig mit der Vermessung von Diskrepanzen beschäftigt sind. So entsteht Ressentiment. Die Verschiedenheiten vermindern sich, aber die Gleichheitserwartungen wachsen.“ (Ebd., S. 116).

„Wir müssen also resümieren: Demokratie fördert den Neid. Ständig stellt sie Gleichheit in Aussicht, um sie doch ständig wieder zu versagen. Und die Frustrierten können dann in jedem, der sie überragt, nur ein Hindernis ihres Glücks sehen. Der große Reaktionär Nicolas Gómez Davila faßt es in einem seiner bissigen Aphorismen so: »In den Demokratien, in denen der Egalitarismus verhindert, daß die Bewunderung die Wunde heilt, die die fremde Überlegenheit in unseren Seelen aufreißt, wuchert der Neid.« (Nicolas Gómez Davila, Scholien, 2006).“ (Ebd., S. 117).

„Wie wir schon gesehen haben, richtet sich das Ressentiment gegen Selektion und Leistung, Erfolg und Konkurrenz. Dietrich Schwanitz hat den Egalitarismus vor diesem Hintergrund als »Kombination von Inkompetenz und Neid« definiert. (Vgl. Dietrich Schwanitz, Männer, 2003, S. 158). Daraus können wir eine Erklärung für das Unbehagen in der modernen Kultur ableiten. Es rührt her von der Notwendigkeit zum Kompromiß zwischen Leistungsorientierung und Ressentiment. Und während die Leistungsorientierung immer noch in der Wirtschaft dominiert, bemächtigt sich das Ressentiment zunehmend der Wissenschaft - zumindest ihres »sanften« Teils.“ (Ebd., S. 117).

„In linksintellektuellen Diskursen ist das Thema Neid tabu, aber inkognito ist der Neid längst salonfähig geworden. Niemand schämt sich mehr seines Neides; er wird zum Beweis »sozialer Ungerechtigkeit« (**). Man ist neidisch, nennt das Gefühl aber »Gerechtigkeitssinn«. In Max Schelers immer noch maßgebender Schrift über das Ressentiment im Aufbau der Moralen findet sich der interessante Begriff der Ressentimentkritik. Schelers große Einsicht liegt nun darin, zu erkennen, daß die Ressentimentkritik eine Form des Genießens ist; sehr schön spricht er vom dem »Lustgefühl, das im puren Schelten und der Negation liegt.« (Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, S. 10).“ (Ebd., S. 117).

„Der Neid darf heute nicht beim Namen genannt werden, weil er eine der mächtigsten psychischen Antriebskräfte der westlichen Kultur ist. Um so besser lassen sich dann aber Geschäfte mit dem Neid machen, in der Werbung nicht anders als in der Politik. Man spürt die Schärfe dieses Tabus, wenn man sich und anderen vor Augen führt, daß auch der scheinbar so selbstverständliche Anspruch »sozialer Gerechtigkeit« (**), dem also bloße Gerechtigkeit nicht genügt, einer Politik des Neids entspringt. Das ist kein Plädoyer gegen Sozialpolitik, sondern nur ein Hinweis darauf, daß ihre Implementierung nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat.“ (Ebd., S. 117).

„Wer »soziale Gerechtigkeit« (**) will - und das tun wohlgemerkt alle politischen Parteien in Deutschland -, ist nicht zufrieden mit Gerechtigkeit. Wir haben es hier offenbar mit einem Deckbegriff für Neid zu tun. Signalisiert wird er von Wörtern wie »untragbar«, etwa im Blick auf eine bestimmte Einkommensverteilung. Bescheidenheit und moralische Indigniertheit sind die entsprechenden Fassaden, hinter denen sich der Neid am besten verstecken kann. Progressive Einkommensteuer und Erbschaftssteuer institutionalisieren dann den Neid. Und man reibt sich die Hände.“ (Ebd., S. 117-118).

„»Starke Schultern« war einmal eine Metonymie der Männlichkeit; aber heute bedeutet der Ausdruck: Neidsteuer. Je größer das Ressentiment in einer Gesellschaft, desto höher die Steuern. Diese Neidsteuern leisten dann zweierlei. Mit ihnen subventioniert die populistische Politik das Ressentiment - Stichwort: Umverteilung - und finanziert gleichzeitig den Schutz gegen das Ressentiment - Stichwort: Kriminalität. Da die Zahl derer, die von den Sozialversicherungen Leistungen empfangen, größer ist als die Zahl derer, die Beiträge zahlen, sieht sich jede bürgerliche Partei in die Defensive gedrängt. Der ehemalige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz, bemerkt dazu trocken: »Rein rechnerisch betrachtet kann man Wahlen heute mit den Arbeitnehmern und den Unternehmern allein nicht mehr gewinnen, aber gegen die Rentner, Pensionäre und Bezieher von Arbeitslosengeld und Sozialleistungen sehr wohl verlieren.« (Friedrich Merz, Mehr Kapitalismus wagen, 2008, S. 143).“ (Ebd., S. 118).

„Die Politik des Neids ist die Achillesferse der Demokratie: Die Verlierer des großen Spiels ums Geld können die Regierung wählen und sich dann aus der öffentlichen Schatzkammer bedienen. Auf das Ressentiment der Vielen kann die populistische Politik immer dann rechnen, wenn das Geld primär als das »Geld der Anderen« erlebt wird. (Vgl. Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1988, S. 61). Es ist für die Menschen dann kein Trost mehr, daß diejenigen, die auf knappe Güter zugreifen, dafür zahlen müssen. »Turbokapitalismus« oder »Raubtierkapitalismus« - das sind dämonisierende Namen für das freie Flottieren des Geldes der Anderen.“ (Ebd., S. 118).

„Der egalitaristische Populismus will nivellieren. Er ist nicht für Fairneß, sondern gegen Elite. Es geht ihm nicht um Gerechtigkeit, sondern um den Ausdruck des Ressentiments. Die, denen die Autorität der Kompetenz fehlt, wollen die Macht. Ihre intellektuellen Zuträger findet man vor allem unter jenen gut Gebildeten, die nicht viel Geld verdienen und deshalb den Eindruck haben, daß die Gesellschaft ihnen die Anerkennung verweigert. Je größer ihre Statusinkonsistenz - für ihre »Verdienste« gibt es keinen Markt -, desto weiter rücken die Intellektuellen nach links. Statusinkongruenz liegt immer dann vor, wenn das Einkommen nicht dem Prestige des Berufs entspricht. Und das ist bei Intellektuellen regelmäßig der Fall.“ (Ebd., S. 118).

„In Schulen, Universitäten und Redaktionen sorgen sie dafür, daß sich unsere Alltagskultur zunehmend in eine Art Schule des Neids verwandelt. Man lernt hier systematisch, sich als Unterprivilegierter zu verstehen: als Frau, als Farbiger, als Senior, als Homosexueller, als Buddhist, als dickleibig oder häßlich. Ich bin benachteiligt, also bin ich. Was geschieht hier eigentlich? Der Neider beobachtet das Glück der anderen - genauer gesagt: den Glamour, der als Symbol des Glücks erfahren wird - und begreift es nicht als Erfolg von Tüchtigkeit, sondern als Beweis der eigenen Benachteiligung, die nach gesellschaftlicher Kompensation verlangt.“ (Ebd., S. 119).

„Die Egalitaristen aller Länder vereinigen sich heute unter der Flagge der Philosophie von John Rawls. Wir müssen sie deshalb etwas genauer betrachten - und werden dabei feststellen, daß die Position von Rawls viel differenzierter ist, als es sich das linksintellektuelle Ressentiment träumen läßt. Auch Rawls unterscheidet zwischen gutem und bösem Neid. Und er fügt noch eine weitere bedeutsame Unterscheidung hinzu, nämlich die zwischen Neid und Ressentiment. Das idealtypisch rationale Individuum kennt keinen Neid, solange die sozialen Unterschiede nicht als Resultate von Ungerechtigkeit erfahren werden. Das impliziert aber: Der durch Ungerechtigkeit provozierte Neid ist gerechtfertigt. Wir werden gleich sehen, daß er deshalb einen anderen Namen bekommt.“ (Ebd., S. 119).

„John Rawls differenziert zunächst einmal zwischen verschiedenen Formen des Neides. So gibt es einen allgemeinen Neid, der sich nicht auf bestimmte Güter, sondern auf die Reichen und die Schönen überhaupt bezieht. Wir haben es hier mit einer Feindseligkeit gegenüber den Glücklicheren zu tun, die ganz unabhängig von der eigenen Lage ist. Dagegen ist der besondere Neid das Resultat von Rivalität und Wettbewerb - man beneidet den erfolgreichen Anderen um konkrete Güter: diese Frau und diesen Job. Jede Gesellschaft kennt diesen besonderen Neid; er ist dem menscWichen Leben selbst wesentlich.“ (Ebd., S. 119).

„Rawls sieht also durchaus, daß es bösartige Neider gibt, die sogar bereit sind, die eigene Situation zu verschlechtern, wenn dies zu einer Verringerung der Differenz zu den Erfolgreichen führt. Mangelndes Selbstwertgefühl und Hoffnungslosigkeit sind die sozialpsychologischen Quellen dieses bösen Neids. Dem entspricht spiegelgenau der Groll des boshaften Überlegenen, der bereit ist, die eigene Situation zu verschlechtern, wenn damit die Differenz zu den weniger Erfolgreichen befestigt werden kann. Schon Aristoteles hat ja diese Bösartigkeit als Freude am Unglück des Anderen definiert. Um jeden Preis die sozialen Differenzen nivellieren oder eben fixieren zu wollen, sind also komplementäre Formen des Asozialen.“ (Ebd., S. 119-120).

„Doch es gibt auch einen guten Neid, der den Wert von Dingen bestätigt, die der Andere hat. Wir preisen den Anderen dann, wenn wir bekennen, daß wir ihn beneiden. Und Rawls kennt auch jenen guten Neid des Wettbewerbs, der uns antreibt, den Erfolgreichen nachzuahmen. Man kann ja auf sehr unterschiedliche Weise unzufrieden sein. Es gibt eine ziellose und eine zielorientierte Unzufriedenheit; die eine erzeugt Unglück, die andere erzeugt Neid. Aber es gibt auch eine Ziele schaffende Unzufriedenheit, die den Menschen vorantreibt. Deshalb kann Magoroh Maruyama behaupten, Unzufriedenheit sei ein authentisches Gefühl. Im Blick auf unser Thema besagt das: Ungleichheit, die eine Ziele schaffende Unzufriedenheit erzeugt, ist die gesellschaftliche Bedingung von Freiheit.“ (Ebd., S. 120).

„In all diesen Fällen haben wir es aber nicht mit moralischen Gefühlen zu tun; eher mit einem Signal der Aufmerksamkeit für die bessere Situation des Anderen. Hier schlägt Rawls nun die Unterscheidung zwischen Neid und Ressentiment vor. Ressentiment ist der durch Ungerechtigkeit provozierte, berechtigte Neid, der deshalb als moralisches Gefühl gewertet werden muß. Das bedeutet aber auch, daß der vom Ressentiment Getriebene jederzeit bereit sein muß aufzuzeigen, inwieweit eine ungerechte Behandlung vorliegt.“ (Ebd., S. 120).

„Der faszinierendste Gedanke, den Rawls in diesem Zusammenhang entwickelt, betrifft den Zusammenhang von Neid, Ressentiment und Selbstwertgefühl. Die sozialen Umstände, die Neid hervorrufen, können so zwingend sein, daß man normalen Menschen ihre Verbitterung nicht verübeln kann. Das Ressentiment ist die Reaktion dessen, der neidisch gemacht worden ist - und es ist vor allem ein Ressentiment darüber, neidisch gemacht worden zu sein. Der Schmerz des verlorenen Selbstwertgefühls rechtfertigt hier die Verbitterung; der Neid ist entschuldbar.“ (Ebd., S. 120).

„Nichts ist wichtiger für die Gesellschaft als die Sicherung des Selbstwertgefühls ihrer Mitglieder (nur für die bundesrepublikanische Gesellschaft scheinbar nicht, denn für sie scheint der Selbsthaß wichtiger zu sein ! Anm. HB). Rawls trennt nun dieses Selbstwertgefühl nicht völlig von Erfolg und Leistung, aber in jedem Falle erklärt er das absolute Niveau des individuell Erreichten für irrelevant. Entscheidend für das Selbstwertgefühl eines Menschen ist es demnach nur, daß er mindestens einer Interessengemeinschaft angehört, die seine Anstrengungen würdigt. Die absolute Qualität seiner Leistung spielt also gar keine Rolle. Das ist die Demokratie der Wertschätzung in einer wohlgeordneten Gesellschaft. Wir kommen gleich noch einmal ausführlicher darauf zurück.“ (Ebd., S. 120).

„John Rawls ist durch eine Metapher berühmt geworden: den »veil of ignorance«, den Schleier des Nichtwissens. Hinter ihm verschwindet alles, was Psychologen analysieren könnten. Es geht um das Gedankenexperiment einer Ursituation, in der rationale Individuen, die nichts über ihren Platz in der Gesellschaft, ihren sozialen Status und ihre natürliche Ausstattung, also Stärke, Intelligenz und Schönheit, wissen, ein Prinzip der Gerechtigkeit wählen. Indem man den Menschen all diese Informationen vorenthält, schützt man sie davor, von Vorurteilen geleitet zu werden. Der Zufall der Natur und der sozialen Umstände soll keine Rolle spielen. Die Beziehung eines jeden zu jedem anderen ist vollkommen symmetrisch. Alle Kontingenzen müssen ausgeschaltet werden. Man könnte deshalb auch sagen: Rawls benutzt die Ignoranz als Technik der Kontingenzbewältigung.“ (Ebd., S. 121).

„Diese ursprüngliche Situation hinter dem Schleier der Ignoranz entspricht exakt dem Naturzustand der traditionellen Vertragstheorie, und das Nichtwissen um den eigenen Platz in der Gesellschaft entspricht Kants kategorischem Imperativ, der uns ja heißt, die Maxime des eigenen Handelns zu betrachten, als ob sie ein allgemeines Gesetz sei. In der Ursituation treffen wir auf rationale Individuen, die Neid nicht kennen und die die anderen nicht besiegen wollen, sondern lediglich nach einer Verbesserung der eigenen Lage streben.“ (Ebd., S. 121).

„Alle egalitären Forderungen treffen bei konservativen Kritikern auf den Verdacht, von Neid getrieben zu sein. Rawls hat den Sozialisten eine elegante Ausrede formuliert: Es geht nicht um das private Laster des Neids, sondern um das sozial berechtigte Ressentiment gegen die Ungerechtigkeit. (**). Niemand habe seine natürlichen Talente und seine gesellschaftlichen Startbedingungen »verdient«. (**). Und hier zeigt sich erst, wie brillant die absolute Metapher vom Schleier der Unwissenheit erdacht ist: Die Ursituation hinter dem Schleier des Nichtwissens verkörpert selbst den Neid - und macht ihn dadurch unsichtbar.“ (Ebd., S. 121).


Das ist reine Rhetorik bzw., um Bolz zu zitieren, eine „Ausrede“ (**) ! Kein Mensch kann die Frage, ob das Ressentiment „sozial berechtigt“ (**) sei oder nicht, eindeutig beantworten!Ebenso kann kein Mensch die Frage, ob jemand „seine natürlichen Talente und seine gesellschaftlichen Startbedingungen »verdient«“ (**) habe oder nicht, eindeutig beantworten.!Auch Rawls nicht. Wenn überhaupt, dann nur Gott. Jedenfalls kein Mensch! (Anm. HB).

„Rawls fragt sich aber nie, ob die Menschen in der Ursituation hinter dem Vorhang des Unwissens überhaupt das Recht haben, zu entscheiden, wie alles verteilt werden soll. Sie behandeln, wie Robert Nozick sehr schön bemerkt hat, die gesamte Verteilungsmasse wie Manna vom Himmel. Was der Schleier des Nichtwissens verdeckt, ist die Nahme - als ob man verteilen könnte, ohne vorher zu nehmen.“ (Ebd., S. 121).

„Aber nicht nur über die Nahme legt Rawls den Schleier des Nichtwissens. Der ungeheure Erfolg seiner Gerechtigkeitstheorie liegt nämlich darin begründet, daß er das System der natürlichen Freiheit attakkiert, in dem sich jeder Liberale zu Hause fühlt. Das System der natürlichen Freiheit besteht aus Marktwirtschaft, gleicher Freiheit - das »free and equal« der us-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung -, formaler Chancengleichheit und Karrierechancen für jedes Talent. Der Fehler dieses liberalen Systems liegt für Rawls nun darin, daß es die kumulativen Effekte der Ungleichheit natürlicher Talente (IQ, Kraft, Schönheit) und sozialer Kontingenzen (glückliche Familienverhältnisse, gute Schule) nicht berücksichtigt. Und mit dieser Überlegung bereitet Rawls den Umschlag seiner Gerechtigkeitstheorie in eine Ethik des Sozialismus vor. Für Sozialisten ist es nämlich typisch, daß sie die natürliche Ausstattung des Menschen und die sozialen Umstände seiner Existenz als Produkte von Faktoren betrachten, die prinzipiell außerhalb ihrer Kontrolle liegen. Was der Mensch mit seinen Fähigkeiten macht; wie er mit seiner sozialen Situation umgeht, seine autonomen Wahlakte und Handlungen spielen bei Rawls keine Rolle.“ (Ebd., S. 121-122).

„Das stärkste Argument für die Ergebnisgleichheit ist die Fiktivität der Chancengleichheit. Das hat Rawls sehr scharf gesehen. Der Einfluß der »natürlichen Lotterie« ist zu mächtig, um für Menschen gleiche Erfolgschancen zu schaffen. Es kann keine echte Chancengleichheit geben, solange es noch Familien gibt. Selbst der Wille, sich Mühe zu geben, sich anzustrengen, etwas zu versuchen, hängt von glücklichen sozialen und familiären Umständen ab.“ (Ebd., S. 122).

„Niemand, so Rawls, verdient seine größeren natürlichen Fähigkeiten. Deshalb gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen Demokratie und Fairneß. Jedem nach seinem Verdienst - das ist zwar demokratisch, aber nicht fair. Fairneß verlangt die Kompensation der Ungleichheit in der natürlichen Ausstattung der Menschen. Rawls betrachtet deshalb die Verteilung natürlicher Talente als Gemeinschaftseigentum, als ein kollektives Gut. Niemand hat seine natürliche Begabung und seine soziale Stellung »verdient« (**), und deshalb darf sie der Begünstigte nur nutzen, wenn dadurch auch das relative Unglück der anderen kompensiert wird.“ (Ebd., S. 122).


Das ist reine Rhetorik bzw., um Bolz zu zitieren, eine „Ausrede“ (**) ! Kein Mensch kann die Frage, ob jemand „seine natürlichen Talente und seine gesellschaftlichen Startbedingungen »verdient«“ (**) habe oder nicht, eindeutig beantworten!Ebenso kann kein Mensch die Frage, ob das Ressentiment „sozial berechtigt“ (**) sei oder nicht, eindeutig beantworten.!Auch Rawls nicht. Wenn überhaupt, dann nur Gott. Jedenfalls kein Mensch! (Anm. HB).

„John Rawls' Vorstellung eines gesellschaftlichen Pooling der Intelligenz und Geschicklichkeit der Individuen als kollektivem Gut entspricht exakt der von Max Weber dem Kommunisten Babeuf und seiner »Verschwörung der Gleichen« zugeschriebenen Forderung, daß man »die Ungerechtigkeit der ungleichen Verteilung der geistigen Gaben auszugleichen habe durch strenge Vorsorge dafür, daß das Talent, dessen bloßer Besitz ja schon ein beglückendes Prestigegefühl geben könne, nicht auch noch seine besseren Chancen in der Welt für sich ausnützen könne.« (Max Weber, Soziologie, S. 269).“ (Ebd., S. 122).

„Doch wohlgemerkt: Es geht John Rawls um Kompensation und nicht um Elimination der sozialen Unterschiede. Das hat die entscheidende Konsequenz, daß Rawls in den Exzellenzen der Menschen kein Hindernis der Gerechtigkeit, sondern ein Medium des Fortschritts sehen kann. Individuelle Exzellenzen sind Güter, an denen sich, wenn sie nur richtig in Szene gesetzt werden, alle erfreuen können. So wird jeder die Meisterschaft im Musizieren für ein Gut halten, auch wenn er nicht selbst über sie verfügt.“ (Ebd., S. 122-123).

„Das ist der Kern jeder sozialistischen Ethik: »equality as equity«, Gleichheit als Fairneß. Diese Umdefinition fasziniert deshalb, weil sie alle Fragen nach Fleiß, Mühe, Arbeit und Verdienst ausblendet - als ob Erfolg nur Sache des Glücks oder der sozialen Umstände wäre. Ganz resolut weist Rawls die traditionelle Vorstellung zurück, der Anteil des Einzelnen am Wohlleben sei mit seinen Verdiensten und Tugenden korreliert. Das Individuum hat Ansprüche und legitime Erwartungen, die völlig unabhängig von seinem inneren, moralischen Wert sind. In Rawls wohlgeordneter Gesellschaft heißt Gerechtigkeit gerade nicht, daß die Tugend belohnt würde. Ja nicht einmal die Mühe und die Anstrengungen, die der Einzelne auf sich nimmt, sollen Auswirkungen auf die Verteilung der Güter haben, weil eben auch der Ehrgeiz und die Zielstrebigkeit eines Menschen von seinen natürlichen Begabungen und seiner sozialen Lage beeinflußt werden. Legitime Erwartungen hat nur der, der tut, was die wohlgeordnete Gesellschaft von ihm erwartet.“ (Ebd., S. 123).

„Meritokratie dagegen ist die Herrschaft der Kompetenten, die sich ihren Status erarbeitet haben und darin von ihresgleichen anerkannt werden. Ausdrücklich weist Rawls jede meritokratische Interpretation der Gerechtigkeit zurück. Daß dem Talent alle Wege offen stehen sollen und Chancengleichheit die produktiven Energien der Menschen freisetzt, entspricht gerade nicht dem Geist der »sozialen Gerechtigkeit« (**). Denn Chancengleichheit bedeutet faktisch ja die gleiche Chance, die weniger vom Glück Begünstigten auf dem Weg zum Erfolg hinter sich zu lassen.“ (Ebd., S. 123).

„Von Meritokratie und Erfolg zu Egalitarismus und der Kompensation von Benachteiligungen - das ist die Kulturrevolution, für die John Rawls steht. Verdienst soll nicht belohnt werden. Das Leistungsprinzip wird durch das Ideal der Fairneß verdrängt - ein Begriff, der leer bleibt, solange er nicht in einem verbindlichen Wertesystem verankert ist. Heute verdrängt dieses leere Ideal der Fairneß die Rechtsstaatlichkeit. Fairneß im Rawls'schen Sinn ist nicht universalisierbar. Es geht ja um die Kompensation von Ungleichheiten, also um positive Diskriminierung, und das heißt um staatliche Eingriffe, die Lasten ungleich verteilen, nämlich vor allem auf die »starken Schultern« der Weißen, der Reichen und der Männer. Antiuniversalistisch ist aber auch die Wiedergutmachung von Diskriminierungen durch die Repräsentation von Minderheiten.“ (Ebd., S. 123-124).

„Wie gesagt: John Rawls' Gerechtigkeitstheorie ist viel differenzierter, als sie in ihrer vorherrschenden egalitaristischen Lesart erscheint. Zwar sind Ungleichheiten in Fragen des Reichtums und der Macht nur dann gerecht, wenn sie Wohltaten für jedermann zur Folge haben. Doch daß einige wenige mehr haben, ist so lange nicht ungerecht, solange die Situation der weniger Glücklichen dadurch verbessert wird. Vilfredo Pareto war hier noch bescheidener und verlangte nur, daß ihre Situation sich nicht verschlechtert. Entscheidend ist aber: Rawls meint, daß sich die weniger Erfolgreichen nicht beklagen dürften, wenn sie in einem System der Ungleichheit mehr bekommen als in einem egalitären. Insofern widersprechen auch große Einkommensunterschiede nicht dem Gerechtigkeitsprinzip - solange sie nicht »exzessiv« sind. Und das ist natürlich eine rein praktische Frage, die die deutsche Politik gerade mit der Einkommensgrenze von 500000 Euro pro Jahr für Manager beantwortet hat.“ (Ebd., S. 124).

„Wenn man John Rawls' Schleier des Nichtwissens auf Wirtschaftssysteme anwenden würde, dürfte man vermuten, daß die meisten Menschen die Marktwirtschaft wählen würden. Und tatsächlich gibt es ja eine ganz handfeste Analogie zum Gedankenexperiment des Ignoranzschleiers, nämlich die internationalen Migrationsströme. Fast alle Migranten strömen in Länder, die marktwirtschaftlich organisiert sind. Im Vorwort zur revidierten Auflage hat Rawls denn auch darauf hingewiesen, daß seine Gerechtigkeitstheorie nicht als Rechtfertigung des Wohlfahrtsstaats gedacht war, sondern sich am besten mit einer sozialdemokratisch regierten Marktwirtschaft verträgt. Sehr viel mehr als Schweden wäre Deutschland der ideale Schauplatz.“ (Ebd., S. 124).

„John Rawls ist also besonnen genug, um Verteilungsgerechtigkeit nicht mit Einkommensgleichheit zu verwechseln. Doch gerade das führt unmittelbar zur größten Schwäche seiner Theorie. Wir haben ja ausführlich gezeigt, wie Neid aus dem Zwang entsteht, sich mit anderen vergleichen zu müssen, und wie die Massenmedien dieses Sichvergleichen habitualisieren. Rawls löst dieses Problem mit einem naiven Handstreich. Der Schleier des Nichtwissens legt sich nicht nur über die hypothetische Urszene der Gerechtigkeitsidee, sondern auch über den konkreten Alltag der Bürger.“ (Ebd., S. 124).

„Rawls' Konzept der wohlgeordneten Gesellschaft imaginiert eine soziale Einheit aus sozialen Einheiten, also einer Pluralität von Assoziationen und Interessengemeinschaften, die alle ein stabiles, sicheres Innenleben haben. Weil nun alle Menschen ihre Lebenswelt in solchen Gemeinschaften finden, sind sie gegen die schmerzliche Sichtbarkeit der sozialen Unterschiede geschützt. Wir vergleichen uns eigentlich nur mit Mitgliedern der eigenen Bezugsgruppe oder mit Leuten, die im Horizont unseres eigenen Lebensentwurfs auftauchen. So differenziert sich die wohlgeordnete Gesellschaft in »noncomparing groups«, in Gruppen, die sich nicht miteinander vergleichen und es jedem Mitglied ermöglichen, die Unterschiede des Einkommens und des Lebensstils zu ignorieren. Dieser wohltätigen Ignoranz entspricht auf Seiten der Privilegierten und Erfolgreicheren, daß sie auf jede Zurschaustellung ihres höheren Lebensstandards verzichten.“ (Ebd., S. 124-125).

„Rawls streitet einfach ab, daß der für seine wohlgeordnete Gesellschaft charakteristische Trend zu »mehr Gleichheit« das Interesse der Individuen an ihrer relativen Position steigert, also zu neiderfüllten Vergleichen verlockt. Weil sich alle auf das bunte Leben der je eigenen Interessengemeinschaft beziehen, spielen Eifersucht und Neid gesellschaftlich kaum eine Rolle. Und das Selbstwertgefühl des Einzelnen hat mit seinem Einkommen nichts zu tun, sondern wird durch öffentliche, institutionelle Anerkennung gesichert. Alle haben den Status gleicher, freier Bürger.“ (Ebd., S. 125).

„Wenn man sich mit Hegel fragt, welche Philosophie heute dem Anspruch entspricht, ihre Zeit in Gedanken zu fassen, so müßte man im Blick auf unser Thema sagen: John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit. Ohne jede Spur von Selbstironie präsentiert sie den philosophischen Mythos von der Ursituation der Gerechtigkeit hinter dem Schleier des Nichtwissens als Perspektive der Ewigkeit, die jeder rationale Mensch jederzeit einnehmen könne. Also tatsächlich noch einmal Philosophie sub specie aeternitatis. Sie endet mit einer Definition des reinen Herzens: diese Perspektive nicht nur einnehmen zu können, sondern aus ihr mit Anmut und Selbstbeherrschung zu handeln.“ (Ebd., S. 125).

Rangordnung und Diskriminierung

„Im Zeitalter der Demokratie sind der Herr und sein Knecht Geschichte, aber nach wie vor und vielleicht mehr denn je gibt es Rangordnungen, Hierarchien und Hackordnungen. Das folgt oft aus organisatorischen Notwendigkeiten, aber fast immer haben wir es auch mit der Freude am Unterschied und der entsprechenden Empfindlichkeit, nämlich dem Narzißmus der kleinsten Differenz zu tun. Ob im Sandkasten, am Stammtisch, beim Sport oder in der Politik - stets präsentiert sich ganz selbstverständlich das Alpha-Tier, der Führer. Und ganz gleich, ob es sich hier um Väter, Fürsten oder charismatische Leader handelt, geht es um eine seltene und unverwechselbare Leistung, die Oswald Spengler einmal »Führerarbeit« genannt hat. (Vgl. Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik, 1931, S. 57 [**] und S. 76 [**]).“ (Ebd., S. 126).

„Daß dies dem Egalitarismus der Moderne nicht widerspricht, sondern genau entspricht, hat Freud in seinem berühmten öffentlichen Brief an Albert Einstein unter dem Titel »Warum Krieg?«  mit der Autoritätsbedürftigkeit der Mehrheit begründet: »Es ist ein Stück der angeborenen und nicht zu beseitigenden Ungleichheit der Menschen, daß sie in Führer und in Abhängige zeifallen.« (Sigmund Freud, Warum Krieg?, in: Gesammelte Werke, Band XVI, S. 24). Man läßt sich die Abhängigkeit gerne gefallen, weil es die eines jeden ist. Wir sind alle gleich unter einem Führer. Das Autoritätsbedürfnis ist auch heute noch ungebrochen.“ (Ebd., S. 126).

„Doch in der modernen Gesellschaft hat kaum jemand mehr das Talent zum Herrn. Der Ökonom Joseph Schumpeter hat den Führer deshalb nicht mehr in der Politik sondern in der Wirtschaft gesucht; es ist der Unternehmer mit seinem fabelhaften Mut zum Neuen. »Mancher kann sicher gehen, wo noch keiner ging, ein andrer nachfolgen, wo erst einer ging, ein dritter nur im Haufen, aber in diesem unter den ersten.« (Joseph Alois Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1911, S. 121). Und in seinen Reflexionen über diese Führungsarbeit des »plus ultra« hat Schumpeter ganz deutlich ausgesprochen, was den typischen Unternehmer motiviert. Es ist die Stellung des Herrn, der Wille zum Sieg und die »Freude am Gestalten« (Ebd., 1911, S. 121 und 138).“ (Ebd., S. 126).

„Reaktionäre Autoren wie Pareto, Mosca und Robert Michels konnten diese Welt der Rangordnungen noch ganz positiv beschreiben. Jede Gesellschaft zerfällt in Herrscher und Beherrschte, bzw. in Elite und Nicht-Elite. Dagegen bleibt der Citoyen ein Traum der linksintellektuellen Boheme, ein Phantom, das nur notdürftig den fundamentalen Sachverhalt verdeckt, daß es immer Eliten gibt; daß die Gesellschaft immer in Führer und Geführte zerfällt; daß jede Massenorganisation von einer Oligarchie beherrscht wird, die sich jeder demokratischen Kontrolle entzieht.“ (Ebd., S. 126-127).

„Vom Kult des Citoyen ist heute nur noch die Verweigerung der Bürgerlichkeit übrig geblieben. Alle Lebenswünsche der Nicht-Elite beziehen sich auf die Lebensformen von Eliten. Und auch heute steuert eine Elite die Welt: die kognitive Elite. Sie herrscht ganz sanft als weltweite Kollaboration der Geistesarbeiter, und die große kognitive Stratifikation des 21. Jahrhunderts wird durch jedes neue Kommunikationsmedium erleichtert. Wie die Ärmsten der Armen haben auch die Mitglieder der kognitiven Elite einen »Migrationshintergrund«. Aber es ist eine unsichtbare Migration, die sich als die Sezession der Erfolgreichen vollzieht.“ (Ebd., S. 127).

„Seit es keine Herren mehr gibt, braucht die Gesellschaft die großen Persönlichkeiten, die verantwortlich sind für das Ganze und damit den Leuten wie du und ich die Angst nehmen. Damit bestätigt die »Massenmediendemokratie« einen archaischen Mechanismus: Der Gruppenzusammenhalt wird durch die gemeinsame Beobachtung der dominanten Persönlichkeiten gesichert. Wer dominiert, kann den Eindruck erwecken, kraftvoll zu handeln. Wer den Eindruck erweckt, kraftvoll zu handeln, fasziniert die Aufmerksamkeit. Und wer die Aufmerksamkeit fasziniert, sichert damit seine Dominanz.“ (Ebd., S. 127).

„Das spielt gerade auch im Verhältnis der Geschlechter eine entscheidende Rolle. Man sollte durchaus kritisch nachfragen, wenn Frauen abstreiten, daß sie dominante Männer begehren. Denn man kann leicht beobachten, daß Frauen Männer verachten, die sich von anderen Männern dominieren lassen und es nicht schaffen, sich in ihrer Lebenswelt Respekt zu verschaffen. Immer mehr Frauen wählen heute den Ausweg, das Gefühl der Dominanz selbst zu kaufen.“ (Ebd., S. 127).

„Es gibt heute zwar keine Herren mehr - aber Prozac. Die Verknüpfung zwischen Serotonin, dem Gefühl der Dominanz und dem Medikament Prozac ist so eng und eindeutig, daß der Anthropologe Lionel Tiger mit schöner Ironie von der optimalen demokratischen Medizin sprechen konnte: Alle fühlen sich überdurchschnittlich gut!“ (Ebd., S. 127).

„Offenbar sind wir hier in einer Sackgasse, und da empfiehlt es sich, umzukehren und einen Blick zurück in die Geschichte zu werfen. Um einen kontraststarken Hintergrund zu gewinnen, genügt schon eine ganz grobe Skizze der antiken Verhältnisse. Die Polis war der Schauplatz der Gleichheit, das Haus war die Welt der Ungleichheit. Und auf dem Marktplatz, der Agora, traten die Gleichen in Wettkämpfe ein, um sich zu unterscheiden und auszuzeichnen. Der agonale Geist will sich von anderen unterscheiden, zeigen, daß er der beste ist und sich durch einzigartige Taten über die anderen erheben. Was die Griechen »arete« nannten und die Römer mit »virtus« übersetzten, heißt im Management-Jargon unserer Zeit »Pursuit of Excellence«: Tugend als Streben nach Exzellenz. Es ist aus der Politik in die Wirtschaft gewechselt (**).“ (Ebd., S. 127-128).


„Und dort unter Bedingungen der »Massendemokratie« auch besser aufgehoben, weil der Pluralismus der Wirtschaftsschauplätze mehr Chancen für das »Hervorragen« bietet als die Politik. ... Weil aber modernes Sein Ersetzbarsein ist, gibt es für jede Stelle und jeden Status immer mehr Kandidaten, die alle das gleiche Anrecht haben. Das ist die Tragödie der Demokratie. »Aus einer Menge von Gleichen kann man nicht jeden in die verdiente Stellung bringen.« (Georg Simmel, Soziologie, 1908, S. 185).“ (Ebd.).

„Die aristotelische Definition des Menschen als zoon politikon, d.h. als politisches Tier, verweist einmal auf Politik, also auf Gleichheit, Kooperation und Umverteilung; zum andern aber auch auf das Tier im Menschen, d.h. auf die Lust an der Ungleichheit (Hackordnung), das Streben nach Dominanz und die Kampfbereitschaft. Wer dominiert, lebt einfach besser. Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf ihn. Das politische Streben nach Gleichheit wird also durch den Wettkampf um Status beschränkt: Wir markieren den eigenen Rang, stecken Claims ab und hissen Flaggen.“ (Ebd., S. 128).

Aristoi nannten die Griechen die Besten, die sich ständig selbst beweisen und nach unsterblichen Taten trachten. Unverlöschlicher Ruhm - das ist auch heute noch gemeint, wenn man vom Ehrgeiz einiger Politiker spricht, sich in die Geschichtsbücher einzutragen, etwa als der Kanzler der Deutschen Einheit. Der Egalitarismus kann das nicht dulden und verführt die demokratische Gesinnung zu jener Perversion, die jede Größe verleugnet und das Heroische verachtet. Es soll keine großen Männer, keine großen Taten und keine großen Gedanken mehr geben. Deshalb dürfen Niemande Biographien ... schreiben.“ (Ebd., S. 128).

„Es gibt in unserer Kultur vielleicht nur noch einen Schauplatz des gesellschaftlich anerkannten Wettbewerbs: den Sport als symbolischen Konflikt. Auf diesem Schauplatz sind Dinge möglich, die überall sonst tabu sind. Sport operiert ja mit der Unterscheidung Siegen / Verlieren. Während in der Politik - vor allem nach Wahlen - alle als Sieger auftreten dürfen, und die Wirtschaft sorgsam vertuscht, daß ihr Triumphzug über namenlose Verlierer hinwegzieht, produziert der Sport in aller Deutlichkeit Sieger und Verlierer. Nur im Sport winkt uns noch die Anerkennung als »überlegen« und »besser«. Nur im Sport darf man noch siegen. Während ein Sieg, diese antike Gestalt des Glücks, in unserer Kultur der Gleichheit überall sonst eine Peinlichkeit und ein Skandal wäre.“ (Ebd., S. 128).

„Und weil es im Sport um Sieg, Überlegenheit und Rangordnung geht, hat unsere Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) sprachliche Betäubungsmittel erfunden, um das Bewußtsein gegen diese Archaismen abzuschirmen: »Dabei sein ist alles«. Das ist natürlich Unsinn, und im Grunde weiß auch jeder, daß sich niemand für den Viezemeister, den Zweitplazierten, den Olympioniken mit dem »hervorragenden vierten Platz« interessiert. »Go for gold«, nur der Sieg zählt - in Atlanta war das sogar auf Plakaten zu lesen.“ (Ebd., S. 129).

„Was die Griechen nicht denken konnten, war die Dialektik der Anerkennung, die ihrer großartigen agonalen Kultur den Garaus gemacht hat. Der Kampf macht die einen zu Sklaven und die anderen zu Freien. Doch der Edle, Freie geht nur aus dem Kampf hervor, um sich in eine Dialektik zu verstricken, die ihm das Todesurteil spricht. Der Kampf, der Herr und Knecht aus sich entläßt, wandelte sich in der bürgerlichen Welt zur Konkurrenz - um einen Dritten, den Konsumenten. Heraklits Freier und Hegels Herr werden deshalb bei Marx konkret zum Fabrikherrn. Politisch entspricht dem die Demokratie als Aufhebung der Unterscheidung von Herr und Knecht. Der Begriff Demokratie verdeckt also von Anfang an die Paradoxie, daß der Souverän, nämlich das Volk, nicht herrscht; nicht erst seit Schumpeter weiß man, daß es die Politiker sind, die in einer Demokratie herrschen. So resultiert die Aufhebung der Unterscheidung von Herr und Knecht im Regime der Selbstbeherrschung freiwilliger Knechte.“ (Ebd., S. 129).

„Das macht aber logischerweise nicht nur den Herrn zur unmöglichen Figur, sondern eben auch seine Komplementärfigur, den Diener. Wir ertragen es nicht mehr, daß sich jemand hinkniet, um uns die Schuhe zu putzen. Keine Gesellschaft ist deshalb dem Dienen ferner als die Diensdeistungsgesellschaft, und nur wenn alle allen dienen, kann sie sich selbst ertragen. Einem Menschen oder einer Idee zu dienen, ist nämlich kein Service. Kein Soziologe hat das genauer gesehen als der Dichter Stefan George: »Die weder dienen noch herrschen können, sind Bürger.« (Stefan George, in: Der George-Kreis, a.a.O., S. 78).“ (Ebd., S. 129).

„Den Herrn ersetzt also zunächst der »Bürger«, dann der »Arbeiter« und schließlich der »Mensch«. (**|**|**). Der Bürger ist das Subjekt des Liberalismus (**): keiner soll befehlen. So verwirklicht man Freiheit (**). Der Arbeiter ist der asketische Held des Sozialismus (**): keiner soll haben. So verwirklicht man Gleichheit (**). Und der Mensch ist der Durchschnittswert des Humanismus (**): keiner soll meinen. So verwirklicht man Brüderlichkeit (**). Dieses anspruchsvollste Projekt besorgt die Zähmung des Meinens durch die öffentliche Meinung. Und hier läßt sich nun mit Alexis de Tocqueville die Paradoxie der Demokratie sehr klar entfalten: Je freier die Menschen, desto versklavter durch die öffentliche Meinung.“ (Ebd., S. 129-130).

„Alle Welt predigt heute Netzwerke, Teamgeist und Heterarchie, als würde man sich in diesen Organisationsformen aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien. Ein Herr könnte hier den blinden Fleck der demokratischen Gleichheitspolitik erkennen. Diese ist nämlich konstitutionell unfähig, die humanen Entlastungsfunktionen der Hierarchie zu würdigen. Die Hierarchie zähmt die Hackordnung. Nirgendwo ist der Psychoterror nämlich größer als unter Radikaldemokraten. Die Hierarchie entlastet, weil sie klärt, worauf man reagieren muß. Auch wenn der Aktienkurs des Unternehmens ins Bodenlose fällt, entsteht für den Abteilungsleiter kein Handlungsbedarf. Und schließlich: Rangdifferenzen entlasten von der Leistungskonkurrenz mit dem Überlegenen. Das ist der humane Kern jeder Hierarchie; sie schützt den Menschen vor dem Zwang zum Vergleich mit dem Besseren. Wenn alle sich für gleich halten, müssen sich die faktisch Unterlegenen ja auch noch als Versager fühlen. Nur die Hierarchie hat Platz für die Schwachen (**).“ (Ebd., S. 130).


„Damit hier kein Mißverständnis entsteht: Auch Hierarchien haben Stärken. Heterarchien akzeptieren zu viele schlechte Ideen, Hierarchien rejizieren zu viele gute Ideen. In Hierarchien gibt es mehr gute als schlechte Ideen - aber um den Preis vieler guter Ideen. Heterarchien mischen Kompetenz und Inkompetenz. Hierarchien katalysieren Kompetenz und Inkompetenz.“ (Ebd.).

„Und jeder, der in einer Organisation oder einem größeren Unternehmen arbeitet, weiß natürlich, daß Zusammenarbeit nicht nur mit Wettbewerb sondern auch mit Unterordnung vereinbar ist. Denn die Hierarchie ist aus Gegenseitigkeiten aufgebaut. Vorgesetzter und Untergebener beobachten sich gegenseitig. Um es mit einem intelligenten Witz des Soziologen Niklas Luhmann zu formulieren: Der eine überwacht, der andere »unterwacht« (Niklas Luhmann, Politische Planung, 1972, S. 69). Erfolgreich in Hierarchien agieren heißt dann: Erfreue den Vorgesetzten, inspiriere den Untergebenen, überzeuge den Gleichrangigen.“ (Ebd., S. 130).

„Es gibt Dinge, die besser sind als andere. Es gibt Kulturen, die fortschrittlicher und humaner sind als andere. Und es gibt Menschen, die anderen überlegen sind - die Aristoi, die Elite, die Seltenen, die Besten, die Stars, die Reichen, die Mächtigen, die Berühmten. Dieses Besser- und Überlegensein artikuliert sich traditionell als Vornehmheit, Größe, Stil und Wille zur Distinktion. Nietzsche hat vom Pathos der Distanz gesprochen. Für die Massendemokratie ist das ein Skandal, auf den sie mit einem scharfen Ressentiment zunächst gegen Meisterschaft und Autorität, dann gegen Kanon und Elite und schließlich gegen Erfolg und Leistung reagiert. Die ersten Opfer dieser Rhetorik der Gleichheit sind die Schönheit, die Wahrheit, die Tugend und die Größe (**).“ (Ebd., S. 130).“


„Und man muß kein Genie sein, um die Dialektik zu erkennen, die hinter der egalitaristischen Rhetorik waltet: Gerade diejenigen, die Größe gelten lassen können, sind nicht autoritätshörig. Die Neidischen dagegen beten den Führer an.“ (Ebd.).

„»Free and equal« heißt es in der us-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Das bedeutet aber, daß man gleich nur in der Freiheit ist, aber in allen anderen Hinsichten ungleich, bunt, divers. Thomas Jefferson und John Adams hatten eine Gleichheit im Sinn, die die Exzellenz einer natürlichen Aristokratie in allen möglichen Lebensbereichen einschließt, ja ermöglicht: Olympiasieger, Nobelpreisträger, Schönheitsköniginnen. Thomas Jefferson verstand demokratische Wahlen als eine reine Selektion der allein regierungsfähigen »natural aristoi«. Diese natürliche Aristokratie der demokratischen Führer hat man später Meritokratie genannt.“ (Ebd., S. 131).

„Auch natürlicher Adel verpflichtet. Es geht hier um die »nobilitas naturalis« jener Asketen der Zivilisation, die sich durch ihre überragende Leistung qualifizieren. Die Aristokratie wäre als Herrschaft der Besten in einer Gesellschaft qualitativ ungleicher Menschen zwar die beste Regierungsform; aber sie läßt sich heute nicht mehr verwirklichen, weil es kein Verfahren der Selektion der Besten gibt. Das war zu Zeiten der us-amerikanischen Gründungsväter noch anders. Damals hatte man noch keine Schwierigkeiten, an die puritanische Gleichheit der Erwählten und die Auswahl der Fähigsten zu glauben. Heute kann man nur noch konstatieren: Einige führen, viele folgen.“ (Ebd., S. 131).

„Universale Arbeitsteilung und natürliche Aristokratie sind die beiden Mechanismen, die die Ungleichheit der Menschen gesellschaftlich nutzen und reproduzieren. Robert Michels hat hier vom eisernen Gesetz der Oligarchie gesprochen: Wo Menschen gemeinsam handeln, bilden sich Führer heraus - und die anderen folgen. Daran scheitern auch heute alle radikaldemokratischen Versuche, Führung durch Partizipation zu ersetzen. Das Scheitern kann man an der Langeweile und Ineffizienz von Kommissionssitzungen ablesen. Jeder Teilnehmer muß ja gleichermaßen an allen Entscheidungsprozessen teilnehmen, die deshalb endlos viel Zeit in Anspruch nehmen. So zehrt die Organisation allmählich das Leben ihrer Mitglieder auf; man eilt von Kommissionssitzung zu Kommissionssitzung.“ (Ebd., S. 131).

„Schon Montesquieu hatte erkannt, daß das Prinzip der Demokratie verfällt, wenn der Gleichheitsgedanke überspannt wird. Es geht nicht ohne Befehl und Gehorsam, gerade auch in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft. »So weit der Himmel von der Erde, so weit ist der wahre Gleichheitsgedanke von dem überspannten entfernt. Jener besteht nicht darin, daß jeder befehlen darf oder daß keinem befohlen wird, sondern darin, seinesgleichen zu gehorchen oder zu befehlen. Er strebt nicht danach, überhaupt keinen Herrn, sondern nur seinesgleichen als Herrn über sich zu haben.« (Charles-Louis de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1748, S. 157).“ (Ebd., S. 131).

„Die prägnanteste Formel, auf die wir unser Thema bringen können, lautet: »Das Problem der Gleichheit, während wir Alle nach Auszeichnung dürsten.« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Band 12, S. 287). Nietzsche hat als erster verstanden, wie die beiden scheinbar entgegengesetzten Züge des Europäers, nämlich Individualismus und Gleichheitsstreben, zusammen passen. Das Individuum ist eine äußerst verwundbare Eitelkeit, die fordert, daß jeder andere nur als gleichgestellt gelte. Hier entfaltet sich dann das, was Freud den Narzißmus der kleinsten Differenzen genannt hat. Die ganz großen Menschen werden vom Individualismus abgelehnt, aber dafür werden die kleinen Verdienste herausgestrichen. Größe wird nur noch als Massenerfolg akzeptiert. Und gegen alle, die ihren Stolz in die Einsamkeit setzen, gegen die Vornehmen, die das Lob der vielen verachten, entfesselt der egalitäre Individualismus eine »Wut ohne Grenzen« « (Friedrich Nietzsche, Werke, Band III, S. 474). Was am Sozialismus bis heute fasziniert, ist dieser Entrüstungspessimismus.“ (Ebd., S. 131-132).

„Nietzsche beginnt die Vorrede zu seinem ungeschriebenen Buch »Der griechische Staat« mit dem Satz: »Wir Neueren haben vor den Griechen zwei Begriffe voraus, die gleichsam als Trostmittel einer durchaus sklavisch sich gebarenden und dabei das Wort ›Sklave‹ ängstlich scheuenden Welt gegeben sind; wir reden von der ›Würde des Menschen‹ und von der ›Würde der Arbeit‹.« (Friedrich Nietzsche, Der griechische Staat, 1872, in: Werke, Band III, S. 275). Den Unterschied macht die christliche Menschenliebe, die keinen Unterschied mehr macht - im Blick auf Gott. Daß es keine Rangordnung mehr gibt, wird schon hier durch Geringschätzung des konkreten Menschen erkauft.“ (Ebd., S. 132).

„Jesus hat die Armen, Ausgestoßenen und Ungeliebten ins Zentrum gerückt. Und der große Paradoxien-Künstler Paulus hat daraus die höchst wirkungsmächtige Konzeption einer Macht aus Schwäche entwickelt. Die Macht der Schwachen besteht nämlich darin, daß sie uns zum Mitleid zwingen; sie haben die Macht, wehzutun. Jeder Bettler kennt ja das Mittel, das Schwäche in Macht umschlagen läßt: »das Zur-Schau-Tragen des Unglücks« (Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 1. Teil, 1878, in: Werke, Band I, S. 486). Diese Darstellung ist für die bürgerlichen Zuschauer unwiderstehlich, nicht nur weil sie durch schlechtes Gewissen fesselt, sondern auch weil sie den Blick auf die Größe erspart. Bewunderung ist der Blick nach oben, Mitleid ist der Blick nach unten. Wir zeigen Mitleid, um nicht bewundern zu müssen.“ (Ebd., S. 132).

„Deshalb ist »Größe« das große Thema der antimodernen Philosophie Nietzsches. Er hat zu seinem eigenen Denken gefunden, als er erkannte, daß nicht Sokrates, sondern Paulus und dessen Lehre von der Macht der Schwäche die großen Widersacher einer Philosophie der Größe sind. Es geht um eine andere Perspektive auf das Leben. Der viel belächelte Über-Mensch ist ja nicht Superman, sondern er steht über dem Menschen auf einem Bergesgipfel und schaut hinab. Das Privileg des Über-Menschen, aus großer Höhe auf die Menschen herabzusehen, ist nicht der Ausdruck »sozialer Ungerechtigkeit« (**), sondern Resultat größter Selbstgefährdung. Nietzsche nennt es deshalb »das gefährliche Vorrecht« (Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 1. Teil, § 4, 1878, in: Werke, Band I, S. 441).“ (Ebd., S. 132-133).

„Eine andere Perspektive auf das Leben ist aber niemals die »wahre« Perspektive auf das Leben. Jeder Blick erfolgt aus einer bestimmten Höhe, und das zwingt erkenntnistheoretisch zu einem Perspektivismus, der genau der Ungerechtigkeit des Lebens entspricht. Diese Ungerechtigkeit ist notwendig, weil sie die Bedingung allen Wertschätzens ist. Jedes Schätzen und Werten impliziert Selektion; jede Selektion produziert Rangordnung und Ungleichheit, indem sie Andere und Anderes niederhält und fernhält. Rhetorisch fragt Nietzsche einmal in Jenseits von Gut und Böse: »Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Different-sein-wollen?« (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, § 9, 1886, in: Werke, Band II, S. 573).“ (Ebd., S. 133).

„Es sind immer wieder dieselben Begriffe, auf die man im Umkreis von Nietzsches Grundformel »Pathos der Distanz« stößt: Rangordnung, Wert-Verschiedenheit, eingefleischte Unterschiede, »Übung im Gehorchen und Befehlen« (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, § 257, 1878, in: Werke, Band II, S. 727). Aus dem Pathos der Distanz nehmen sich die Herren das Recht, Werte zu schaffen und Namen zu geben. Das »Herrenrecht, Namen zu geben« (Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke, Band II, S. 773) steht polemisch gegen Hegels »Arbeit des Begriffs«. Diese Arbeit besteht nämlich im wesentlichen darin, Unterschiede nicht Unterschiede sein zu lassen, sondern sie zum Gegensatz und Widerspruch zuzuspitzen.“ (Ebd., S. 133).

„»Mein Einwand gegen die ganze Soziologie« (Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung, 1889, in: Werke, Band II, S. 1014): daß sie die Antithese gegen das Pathos der Distanz zur Norm des modernen Weltlaufs erhebt. Statt Distanz und Rangordnung kennt der Soziologe nur funktionale Differenzierung und Integration. »Klüfte aufreißen« - das macht soziologisch keinen Sinn. Genau darum aber, um das Pathos der Distanz, geht es dem Herrn. Und zwar, erstens und vor allem, um das Pathos der Distanz zu sich selbst. »Selbstentfernung« nennt das Ernst Jünger einmal sehr schön. (Vgl. Ernst Jünger, Eumeswil, 1977, S. 128). Die Vornehmheit des Herrn verzichtet auf Glück und Behagen und gönnt es den Knechten.“ (Ebd., S. 133).

„Wie man gute Manieren nicht kaufen kann, so kann man Vornehmheit nicht schauspielern. »Vornehm« ist ein Wert, der die Wertalternativen der modernen Gesellschaft zurückweist. Um das zu markieren, hat Nietzsche das härteste, schmerzlichste Antonym bemüht: verächtlich. Mit Dünkel hat das gar nichts zu tun, sehr viel aber mit dem Gebrauch von Unterscheidungen. Genaues Beobachten nämlich ist die höchste Form der Verachtung. Das ist die Lektion aller guten Moralisten. Vornehm heißt ausgesucht. Den Seltenen selten, heißt es einmal bei Stefan George: Selektion, Auswahl, Eleganz. Und weil man das nur erreicht, indem man Einen, Eine oder Eines aus einer Menge herausnimmt, statt alle und alles gleich zu setzen oder zu stellen, liegt in der modernen Gesellschaft über dem Vornehmen ein Tabu, das offenbar mit dem schon erwähnten Tabu des Nehmens exakt korreliert ist.“ (Ebd., S. 133-134).

„Die moderne Soziologie ficht das nicht an, eben weil sie sich als Theorie der modernen, d.h. funktional ausdifferenzierten Gesellschaft versteht. Die vornehmen Werte sind aber sehr eng mit einer stratifikatorischen Gesellschaftsstruktur korreliert. Max Scheler hat das früh erkannt: »Vom König bis zur Hure und zum Henker trägt jeder jene formale ›Vornehmheit‹ der Haltung, an seiner ›Stelle‹ unersetzlich zu sein. Im ›Konkurrenzsystem‹ hingegen entfalten sich die Ideen der sachlichen Aufgaben und ihre Werte prinzipiell erst auf Grund der Haltung des Mehrsein- und Mehrgeltenwollens aller mit allen. Jede ›Stelle‹ wird nun zu einem bloß transitorischen Punkt in dieser allgemeinen Jagd.« (Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, S. 14).“ (Ebd., S. 134).

„Doch auch in der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft hat das Soziale zwei orthogonal zueinander stehende Dimensionen, nämlich Rangordnung und Gleichheit. (**). Nur findet die Hierarchie keine Fürsprecher mehr. Persönliche Autorität, wie etwa bei der Anweisung an die Putzftau, ist heute verpönt. Nun beobachten wir eine Wiederkehr der verdrängten Rangordnung in der Hackordnung, als funktionale Autorität der Verwalter, Lenker und Entscheider, aber auch als Prominenz und öffentliches Ansehen der Politiker, Sportler und Entertainer. Doch sind wir weit davon entfernt, anzuerkennen, daß die Möglichkeiten der Gleichheit gerade durch die Wirklichkeit der Rangordnungen geschützt werden.“ (Ebd., S. 134).

„Sinn gibt es eben nur in Rangordnungen, und Kultur ist eine Ordnung von Unterschieden. Rangdifferenzen erleichtern das Lernen, denn um erfolgreich zu werden, muß man sich immer wieder Überlegenen, z.B. Vätern, Lehrern und Meistern, unterordnen. Umgekehrt erzeugt der Verlust der Unterschiede erst die Rivalität, für die dann in der Öffentlichkeit der Massenmedien die Unterschiede verantwortlich gemacht werden. Deshalb muß man sagen: Gerade der moderne Gleichheitsgrundsatz und verschärft noch die Gleichstellungspolitik erzeugen Gewaltpotentiale.“ (Ebd., S. 134).

„Menschen sind unterschiedlich. Und wenn man sie zwingt, gleich zu sein, bleibt ihnen nur noch eine Möglichkeit, anders zu sein als die anderen - nämlich die anderen zu überwältigen. Ohne Rangordnung kann man diese Aggressivität nicht neutralisieren. Sie ist heute zur sozialen Gereiztheit atomisiert und auf Dauer gestellt. Hinzu kommt, daß die Abfuhr von Aggressivität immer schwieriger wird, je moderner, d.h. bequemer und von körperlicher Arbeit entlasteter das Leben ist. Unter »massendemokratischen« Bedingungen richtet sich dann die angestaute Aggressivität gegen alle Formen von Rangordnung. Folglich, so der Soziologe Arnold Gehlen, »ergibt sich eine sozusagen molekulare Gehässigkeit, eine Annäherung an den Kampf aller gegen alle« (Arnold Gehlen, Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, in: Gesamtausgabe, Band 4, S. 229).“ (Ebd., S. 134-135).

„Wenn man die Menschen dagegen unterschiedlich sein läßt, ja ihre heterogene Individualität sogar fördert, entsteht ein Klima kreativer Interaktivität. Wir können also resümieren: Gleichheit erzeugt Konflikt, Ungleichheit ermöglicht Kooperation. Vor diesem Hintergrund läßt sich das gerade vorgeschlagene zweidimensionale Modell des Sozialen noch weiter differenzieren. (**). Das hat Alan Page Fiske in seinem Werk über die vier elementaren Formen der menschlichen Beziehungen in eindrucksvoller Weise getan.“ (Ebd., S. 135).

„Betrachten wir zunächst die egalitaristischen Strukturen des sozialen Lebens. Fiske beschreibt zunächst die Welt des kommunalen Teilens, also der Solidarität, Gemeinschaft und Liebe, wie wir sie aus der Stammesgemeinschaft, der Gruppe und der Familie kennen. Hier sichert die Äquivalenz der Mitgliedschaft ein stabiles Wir-Gefühl, das sich in den öffentlichen Gütern objektiviert. Das ist die Welt des Helfens und Sorgens, in der man ganz selbstverständlich mit den Bedürftigen teilt - »jedem nach seinen Bedürfnissen«.“ (Ebd., S. 135).

„Die zweite Sozialstruktur, die die Sehnsucht nach Gleichheit bedient, wird aus Paßformen der Egalität gebildet. Die Menschen sind hier voneinander getrennt, aber gleich. Ihre Verhältnisse zueinander sind streng reziprok. Was man bekommt, entspricht genau dem, was man gibt, und was verteilt wird, wird in genau gleiche Teile geteilt. Überall herrscht die Balance des 1: 1, die lateinisch Quid pro quo und englisch »turn-taking« heißt - »jetzt bist du dran«. Das ist die Welt der Kameraden, der Kollegen, der Peers, in der jede Person prinzipiell austauschbar ist.“ (Ebd., S. 135).

„Orthogonal zu diesen Strukturen der Gemeinschaft und Gleichheit stehen aber die Strukturen des Marktes und der Rangordnung. Die Marktverhältnisse bringen gegenüber den egalitaristischen Strukturen einen entscheidenden Komplexitätszuwachs. Fiske drückt das einmal so aus, daß die Kameraden nur addieren und subtrahieren können, während man auf dem Markt lernt, zu multiplizieren und zu dividieren. Auf den von Preisen geordneten Märkten enrfaltet sich die Rivalität in der produktiven Form der Konkurrenz und wird die Leistung prämiert. Auch auf dem Markt herrscht die Äquivalenz, aber vermittelt über das neutrale Medium Geld, in dem alles ausgedrückt werden kann. »Alles hat seinen Preis«, und alle, die kompetent und ehrlich sind, dürfen am Marktgeschehen teilnehmen.“ (Ebd., S. 135-136).

„Bleibt schließlich die Rangordnung der Autorität als strikt asymmetrische Sozialstruktur. Es handelt sich hier um eine anerkannte Beziehung der Ungleichheit, in der Differenzen von Status und Prestige, Prominenz und sozialer Bedeutsamkeit zum Ausdruck kommen. Im Gegensatz zum Zwang der Macht ist die Rangordnung der Autorität in der Verehrung durch die Untergeordneten fundiert. Wie in Max Webers Begriff des Charisma angedeutet, wird der hohe Rang gleichsam als Extension des Selbst erlebt. Entsprechend asymmetrisch ist die Aufmerksamkeitsverteilung - der Ranghöhere ist prominent. Und heute geht es in Fragen der Rangordnung auch gar nicht mehr um Befehl und Gehorsam. Denn je mehr die materiellen Lebensbedingungen sich angleichen, desto deutlicher treten die Motivationskräfte Status, Prestige, Anerkennung und Ehre hervor. Genauso wie bei der Liebe und dem Neid geht es hier um nicht-ökonomische Motive, die der metaphysische Individualismus der klassischen Wirtschaftswissenschaften unterschätzt.“ (Ebd., S. 136).

„1961 hat Ralf Dahrendorf seine Antrittsvorlesung an der Universität Tübingen über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen gehalten. Dort findet sich die großartige Formulierung: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, aber sie sind es nicht mehr nach dem Gesetz.« (Ralf Dahrendorf, Über den Ursprung der Ungleichheit der Menschen, 1961, S. 27). Sobald die Menschen nämlich mit dem Gesetz in Berührung gekommen sind, leben sie in einer Welt der Normenzumutungen und Rollenerwartungen. Und in den Prozessen von Konformismus und Abweichung bilden sich nun durch Sanktionen des jeweiligen Verhaltens Rangordnungen des sozialen Status. In den Unterschieden des Rangs steckt eine Wertung, die aus den Sanktionen des sozialen Verhaltens folgt; in der Regel honoriert die Gesellschaft konformistisches Verhalten. Und diese Wertung drückt sich modern in den Unterschieden von Einkommen und Prestige aus.“ (Ebd., S. 136).

„Diese Konzeption Dahrendorfs ist in ihrer dialektischen Stringenz auch heute noch bewunderungswürdig. Doch für die meisten, die heute über Ungleichheit und »soziale Ungerechtigkeit« (**) klagen, ist sie offenbar intellektuell und moralisch zu anspruchsvoll. Gesellschaftliche Modernisierung war einmal der Weg vom Status zum Kontrakt. Heute treten die »Politisch Korrekten« wieder den Rückweg an. Im Namen von Fairneß und Gleichstellung propagieren sie die Privilegierung der Unterprivilegierten.“ (Ebd., S. 136).

„Was in den USA »affirmative action« heißt, kämpft gegen Diskriminierung mit der Wunderwaffe der Repräsentation, also mit Hilfe der Quote. Nicht die individuelle Leistung zählt, sondern die Gruppenzugehörigkeit. Damit aber wird die berechtigte Kritik von Diskriminierung ad absurdum geführt. Früher gab es Menschen, deren individuelle Leistung aufgrund einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit nicht anerkannt wurde. Heute werden Menschen aufgrund einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit gefördert, unabhängig von ihrer individuellen Leistung. Also hat sich nur das Vorzeichen der Diskriminierung gewandelt. Früher hat man Schwarze und Frauen diskriminiert - so gut ihre Leistungen auch waren. Heute werden Schwarze und Frauen gefördert - so schlecht ihre Leistungen auch sind. Jede Gleichstellungspolitik diskriminiert diejenigen, die es aus eigener Kraft geschafft haben, z.B. Frauen auf C4-Professuren.“ (Ebd., S. 136-137).

„Was sind eigentlich »Quoten«? Es gibt nicht unbegrenzt viele CEO-Posten in DAX-notierten Unternehmen; es gibt nur eine klar begrenzte Anzahl an Parlamentssitzen im Deutschen Bundestag; und auch die Zahl von Professorenstellen an Universitäten läßt sich nicht beliebig vermehren. Hier haben wir es mit absoluten Knappheiten zu tun. Die Forderung nach Quoten - bei uns ja zumeist: für Frauen - zielt auf eine Vorabzuschreibung wertvoller Stellen an Gruppenmitglieder. Auch wenn sie politisch nicht erfüllt wird, kann man die Quotenforderung als Warnung verstehen, daß die »Politisch Korrekten« nicht bereit sind, das Ergebnis eines individuellen Wettstreits um begrenzte Chancen hinzunehmen. Denn jeder Wettbewerb um knappe Positionen ist ein Kampf um Vorrang, d.h. es entsteht immer eine Nachfrage nach Ungleichheit. Man muß Männer benachteiligen, wenn man Frauen »nach vorne« bringen will. Man muß begabte Kinder benachteiligen, wenn man lernschwache Kinder zu denselben Lernergebnissen führen will. Nur im Witz können alle Schüler überdurchschnittlich gut sein.“ (Ebd., S. 137).

„Die »Politik der Ungleichheitskompensationsungleichheit«, so spottete Niklas Luhmann einmal, endet erst am »Jüngsten Tag der Herstellung vollständiger Gleichheit«. (Vgl. Niklas Luhmann, Protest, 1996, S. 126 und S. 130). Und seit der vorsorgende Sozialstaat nicht mehr zwischen Wohltaten und Anrechten unterscheidet, können wir eine neue Segmentierung der Gesellschaft durch die Ansprüche von Gruppen beobachten, die es gelernt haben, sich als Opfer dieser Gesellschaft zu präsentieren. Die Politik der Antidiskriminierung vollzieht sich als Viktimisierung. Früher war die Leistung Grundlage der Wertschätzung, heute ist es die Benachteiligung. Im Kampf um Status ist der ausschlaggebende Faktor der, daß man Wundmale der Diskriminierung vorzeigen kann. Horst Dreier hat das »Kränkungsfetischismus« genannt. (Vgl. Horst Dreier, Verfassungsstaat im Kampf der Kulturen, in: F.A.Z., 04.07.2007, S. 10). Und der funktioniert auch im welthistorischen Maßstab. Immer mehr Historiker und Soziologen arbeiten Diskriminierungen der Vergangenheit auf, um heutige, »progressive« Diskriminierungen zu rechtfertigen - als Wiedergutmachung.“ (Ebd., S. 137-138).

„Der »Gutmenschen«-Krieg gegen Diskriminierungen ist längst ein Krieg gegen den gesunden Menschenverstand geworden. Arbeitgeber dürfen nicht mehr anstellen, wen sie wollen. Vermieter dürfen nicht mehr vermieten, an wen sie wollen. Man macht es den Eltern schwer, ihre Kinder auf gute Schulen zu schicken. Lehrer können schlechte und bösartige Schüler nicht mehr loswerden. Das sind die bekanntesten Praktiken der erzwungenen Integration. Sie schließt die Augen vor realen Leistungsdifferenzen und Qualitätsunterschieden. Und vor dem Bösen.“ (Ebd., S. 138).

„Die lebenswerte Alternative zur erzwungenen Integration liegt nicht in der Ungerechtigkeit der Privilegierten, sondern in der Getrenntheit der Gleichen. Jeder, der ein Grundstück besitzt, weiß, daß der gute Zaun die gute Nachbarschaft macht. Friedliche Kooperation setzt die Freiheit zur räumlichen Trennung und Diskriminierung voraus. Denn privates Eigentum ist Diskriminierung: Das gehört mir, nicht dir. Einen Zaun um das Grundstück ziehen, einen Claim abstecken das sind die Gesten des Privateigentums, die Exklusivität, Differenz und Ungleichheit markieren. Eigentum schließt das Recht auf Ausschluß ein. Du darfst mein Grundstück nicht betreten, wenn ich es nicht will.“ (Ebd., S. 138).

„Die Politik der »sozialen Gerechtigkeit« (**) hat dieses Recht auf Diskriminierung ausgehöhlt, ja tendenziell sogar kriminalisiert. Es gibt aber gute und schlechte Diskriminierung. Discrimino ist lateinisch und heißt: Ich unterscheide. Wenn wir das Wort Diskriminierung in politischen Zusammenhängen benutzen, bekommt dieses U nterscheiden eine entscheidende Zuspitzung. Wer diskriminiert, behandelt jemanden oder eine Gruppe unterschiedlich, nämlich herabsetzend. Diskriminierung ist also das exakte Gegenteil von Nepotismus, d.h. Vetternwirtschaft, der unterschiedlichen Behandlung von Günstlingen. Diskriminierung entspricht einem negativen Vorurteil, Nepotismus entspricht einem positiven Vorurteil. Und diese Vorurteile lassen sich nur sehr schwer von Vorlieben unterscheiden. Hier stößt jede Aufklärung an Grenzen, denn wer einen Wunsch nach Diskriminierung hat, läßt sich nicht von Fakten bekehren; er will gar nicht »objektiv« sein.“ (Ebd., S. 138).

„Deshalb unterscheiden Ökonomen heute zwischen Marktsegregation - hier geht es um Unterschiede des Geschmacks - und Marktdiskriminierung - hier geht es um den Geschmack für Unterschiede. Geschmack selbst diskriminiert, und deshalb ist es nicht erstaunlich, daß »Massendemokratien« den Geschmack, der sich historisch ja immer in Oberschichten entwickelt hat, durch öffentliche Meinung ersetzen wollen. Doch solange überhaupt noch von Geschmack die Rede ist, geht das Gespenst der Diskriminierung um. Wer sich etwa »geschmackvoll« einrichten möchte, wird darauf achten, daß seine Möbel nicht von IKEA stammen.“ (Ebd., S. 138-139).

„Doch der Geschmack für Unterschiede geht natürlich weit über die Unterschiede des Geschmacks hinaus. Viele Menschen finden Geschmack an der Diskriminierung anderer, sie haben, wie der Nobelpreisträger Gary S. Becker formuliert, einen Wunsch nach Diskriminierung. Ökonomisch betrachtet kann man also sagen, daß es einen Konsum der Diskriminierung gibt. Folglich hat sie ihren Preis. Jeder, der Geschmack an der Diskriminierung bestimmter Leute hat, muß handeln, als ob er bereit wäre, dafür zu zahlen oder auf einen möglichen Gewinn zu verzichten. Von Schwarzen will ich nicht bedient werden. Mein Kind soll nicht an eine Schule, die Türkinnen das Tragen von Kopftüchern erlaubt. Ich will nicht in der Nähe von Rußlanddeutschen wohnen. Das ist Diskriminierung im politisch inkriminierten Sinn.“ (Ebd., S. 139).

„Doch daß der Unternehmer eine Frau nicht einstellt, die ihm voraussichtlich weniger Nutzen als Kosten bringt, hat nichts mit »politischer« Diskriminierung zu tun. Und daß in Zehlendorf weniger Türken wohnen als in Kreuzberg, hat auch nichts mit Diskriminierung zu tun; hier gibt das unterschiedliche Einkommen den Ausschlag. Einen Geschmack für Diskriminierung aber entwickelt der erfolgreiche türkische Familienvater, der von Kreuzberg nach Zehlendorf zieht, damit seine eigenen Kinder nicht in Schulen mit hohem Ausländeranteil gehen müssen. Zur Segregation von Wohngebieten in einer großen Stadt genügt es übrigens schon, daß Türken lieber in der Nähe von Türken leben als von Deutschen und daß Deutsche lieber in der Nähe von Deutschen leben als von Türken. Auch das hat mit der politisch zurecht inkriminierten Diskriminierung nichts zu tun.“ (Ebd., S. 139).

„Es ist also sehr wichtig, daß wir den Begriff der Diskriminierung differenzieren. Man stelle sich etwa einen Geschäftsmann vor, der diskriminiert - oder nicht -, weil er Vorurteile hat - oder nicht. Hier gibt es vier Verhaltensmöglichkeiten. Wenn er Vorurteile gegenüber bestimmten Menschen hat und sie deshalb diskriminiert, können wir von einem Konsum der Diskriminierung sprechen; er bezahlt dafür einen Preis, sofern er auf diese Menschen, sei's als Arbeitskräfte, sei's als Kunden, verzichtet. Der Geschäftsmann kann aber auch Vorurteile gegenüber bestimmten Menschen haben, ohne sie zu diskriminieren - weil es gut für's Geschäft ist. Und auch der umgekehrte Fall ist möglich: Der Geschäftsmann hat gar keine Vorurteile und diskriminiert dennoch bestimmte Menschen, weil es gut für's Geschäft ist - wenn er z.B. den Eindruck hat, daß seine Kunden nicht von einer schwarzen Verkäuferin bedient werden möchten. Schließlich und zumeist werden wir es aber mit Geschäftsleuten zu tun haben, die weder Vorurteile haben noch diskriminieren. Dieser scheinbar so harmlose Fall hat aber seine eigene Dialektik. Denn im »Gutmenschentum« schlägt die nicht diskriminierende Vorurteilslosigkeit in einen Konsum der Nichtdiskriminierung um - auch wenn es schlecht für's Geschäft ist. Wir haben es dann mit einer Diskriminierung zugunsten der Marginalen, einem Nepotismus der Benachteiligten zu tun (**).“ (Ebd., S. 139-140).“


„Das wirkt natürlich als positives Feedback für die typische sozialpsychologische Reaktion auf die Diskriminierung einer Gruppe: die Selbstverklärung dieser Gruppe.“ (Ebd.).

„Doch der eigentliche Schauplatz des Konsums der Nichtdiskriminierung ist natürlich nicht das Geschäftsleben, denn das muß profitabel sein, sondern die Bildung, denn die wird vom Staat finanziert. Dort zeigt sich das Problem der Diskriminierung als Problem der Selektion. Sie ist die Erbsünde der Pädagogik. Der Lehrer muß ja loben und tadeln, wenn er überhaupt an gewissen Kriterien für Lernerfolg festhalten will. Und eine Lehre ohne Kriterien wäre keine Lehre. Der Lehrer erzieht, indem er diskriminiert. Das macht seine Stellung in unserer Kultur der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) so schwierig, »denn Selektion bedeutet: Inanspruchnahme und Verstärkung von Ungleichheit. Wenn Selektion ohnehin unwillkommen ist, bietet Gleichheit Schutz vor Selektion und zugleich Schutz vor Verantwortung für Selektion.« So das Resümee des Soziologen Niklas Luhmann und des Pädagogen Karl Eberhard Schorr (Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, 1988, S. 263).“ (Ebd., S. 140). **


„Gesamtschulen wollen ja Differenzierung ohne Selektion - das geht aber nicht. Und weil man die Selektion scheut, ruft man nach »Beratung«.“ (Ebd.).

„Es gibt heute keinen schwierigeren Beruf als den des Lehrers. In der Konfrontation mit den Schülern und ihren Eltern müßte er vor allem vermitteln, daß zwar jeder Respekt verdient, aber nur wenige Lob verdienen. Man kann alle Menschen respektieren, aber man kann nicht alle loben. Loben heißt nämlich zugleich zurücksetzen. Gute Schüler gibt es nur, wenn es schlechte Schüler gibt.“ (Ebd., S. 140).

„Es gibt eben kein Lob ohne Tadel. Man kann das Einzigartige und Hervorragende nicht bewundern, wenn man keinen positiven Begriff von Ungleichheit hat. Doch in einer egalitären Gesellschaft stehen die Leistungsschwachen im Zentrum. Und weil es keine Versager geben darf, sind Standards, Wettbewerb und Leistung bedrohlich. So schafft man Schritt für Schritt die Standards ab, damit es keine Versager mehr gibt. Und so zieht man eine falsche Konsequenz aus der richtigen Einsicht, daß nicht der Reichtum über den Bildungserfolg entscheiden soll. Nicht die Begüterten, sondern die Begabten sollten das Bildungssystem prägen. Doch statt die Basis für die Selektion der Begabten zu verbreitern, bekämpft man die Selektion (**).“ (Ebd., S. 140-141).


„Diese egalitaristische Dummheit gibt dann umgekehrt den Wohlhabenden die Chance, Bildung im klassischen Sinn wie ein Pfauenrad funktionieren zu lassen, nämlich als soziales Handicap - ich kann mir das leisten! Zum Beispiel Altgriechisch.“ (Ebd.).

„Max Weber hat einmal gesagt: »Bildungs- und Geschmackskultur-Schranken sind die innerlichsten und unübersteigbarsten aller ständischen Unterschiede.« (Max Weber, Soziologie, S. 477). Das ist für die moderne demokratische Gesellschaft natürlich ein permanenter Skandal, gegen den sie mit einer Flut reformpädagogischer Programme verzweifelt ankämpft. Doch Erfolg ist eine Funktion von Begabung, Fleiß und Bildung. Zwar kann man den Zugang zu den Bildungsanstalten für alle garantieren, also formal Chancengleichheit sichern, aber wie soll man Leistungsmotivation und Übung steuern? Und vollends machtlos ist der Staat ja gegenüber IQ und genetischer Mitgift. Auch die Herstellung gleicher Startchancen kann deshalb nichts daran ändern, daß Chancen unterschiedlich wahrgenommen werden. Wenn der Schüler sich nicht meldet, kann der Lehrer nichts machen. Manche sind stark genug, sich als »Streber« gegen das Mobbing der Verwöhnten und Faulen zu behaupten. Die meisten aber suchen ihr Heil in der Anpassung an eine Coolneß, die darin besteht, sich nicht für den Unterricht zu interessieren. Familien haben darauf einen gewissen, staatlich nicht steuerbaren Einfluß, die Lehrer dagegen sind ohnmächtig.“ (Ebd., S. 141).

„Die Bildungsanstalten verschieben die Selektionsaufgabe, also den Zwang zur unterschiedlichen Bewertung von Lernleistungen, auf die Wirtschaft. Wir haben es längst mit einer Inflation der guten Noten und einer Entwertung von Diplomen zu tun. Wenn aber alle das Abitur machen und dann ihr Master-Studium mit »sehr gut« abschließen, entscheidet eben der erste Chef über Gewinner und Verlierer. Denn in der Wirtschaft haben die bürgerlichen Ideen der Konkurrenz und Exzellenz überlebt. Mehr Gleichheit bedeutet ökonomisch fast immer: weniger Effizienz.“ (Ebd., S. 141).

„Tatsächlich nur in der Wirtschaft? Vielleicht werden die Europäer einmal dem Pisa-Schock dafür dankbar sein, daß wieder eine Rhetorik der Exzellenz möglich wurde, die man früher allenfalls einer gewissen Partei der Besserverdienenden zugetraut hätte. Die Forderung nach Elite-Universitäten entspricht präzise dem Geist einer Zeit, in der Deutschland den Superstar sucht und das Volk per Handy kundtut, wen es zu »Unseren Besten« rechnet. Dieses neu erwachte Interesse an Spitzenleistungen zeigt sich seit einiger Zeit auch in der Konjunktur des Ranking: Zeitschriften veröffentlichen Listen der besten Mediziner, Rechtsanwälte oder Universitäten. Benchmarking, das Sich-messen an den Besten, kannte man bisher nur in der Wirtschaft. Jetzt greift diese Orientierungs- und Motivationstechnik auch auf andere Lebensbereiche über. Überall gibt es Leuchtturm-Projekte, Entwürfe zu einem Kanon des wahrhaft Wissenswerten - und vielleicht wird man uns bald auch wieder Vorbilder, ja Leitbilder präsentieren.“ (Ebd., S. 141-142).

Absolut knappe Güter

„Jedes Buch hebt sich vor einem Hintergrund des Ungeschriebenen ab. Dieser Diskurs über die Ungleichheit spricht nicht über reale, schmerzliche Armut, Menschen ohne politische Rechte, ohne medizinische Versorgung und Bildungsmöglichkeiten. Es gibt diese Menschen - millionenfach. Sie nicht zum Thema zu machen, heißt nicht, sie zu verschweigen. Viele Autoren haben sich in den letzten Jahren dieser Ausgeschlossenen angenommen, niemand eindrucksvoller und leidenschaftlicher als der Arzt und Anthropologe Paul Farmer. Wenn man sein Buch über die Pathologien der Macht und den Krieg gegen die Armen liest, merkt man rasch, daß Ausschluß (Paul Farmers und neuerdings Heinz Budes Thema) und Ungleichheit (mein Thema) nicht dasselbe sind. Nicht die Ungleichheit ist der wahre Skandal unserer Zeit, sondern der Ausschluß der Nobodies, von denen Eduardo Galeano so präzise wie poetisch sagt: Sie sprechen keine Sprachen, sondern Dialekte; sie haben keine Religionen, sondern Aberglauben; sie haben keine Kultur, sondern Folklore; sie sind keine Menschen, sondern Humanressourcen.“ (Ebd., S. 143).

„Karl Marx hat das Lumpenproletariat verachtet. Die liberale Wirtschaftstheorie hat die Ausgeschlossenen, die wirklich Armen ignoriert, weil sie eben gar nicht zum System der Wirtschaft gehören: die Obdachlosen, die Drogenabhängigen, die illegalen Einwanderer. Wenn man in Talkshows von »neuer Armut« spricht, meint man etwas ganz anderes. Armut wird bei uns in der westlichen Welt immer an gewissen (ziemlich hohen) Lebensstandards gemessen, und als arm gilt dann etwa der, der weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verdient. Davon können die wirklich Armen nur träumen. Sie haben tagtäglich nur eine Aufgabe: zu überleben.“ (Ebd., S. 143).

„Der politisch korrekteste aller Ökonomen, der Nobelpreisträger Amartya Sen, hat einen Kriterienkatalog für Unfreiheit erstellt, der sehr nützlich ist, um unser Thema Ungleichheit vom Thema Exklusion zu unterscheiden. Als Quellen der Unfreiheit nennt Sen: Armut, Tyrannei, geringe wirtschaftliche Möglichkeiten (keine Jobs), miserable Infrastruktur. Kein ernst zu nehmender Mensch wird behaupten, daß auch nur eines dieser Kriterien für unsere westliche Wohlstandswelt zutrifft. Das Problem der Ersten Welt ist nicht das Problem der Dritten Welt.“ (Ebd., S. 143-144).

„Rousseau ist das Idol des Egalitarismus. An ihm müssen wir uns theoretisch orientieren und haben das ja auch schon getan. Historisch sind die 68er der ideale Ausgangspunkt für unsere Überlegungen. Am Ende der 1960er Jahre, also gerade in einer Zeit stürmischen wirtschaftlichen Wachstums, hat die Jugend des Westens wieder mit »revolutionärer Ungeduld« die große Frage formuliert: Wer bekommt was? Wir fragen nach dieser Frage. Wie konnte es dazu kommen? »Denen geht es zu gut«, war eine Antwort, die zwar richtig ist, aber intellektuell nicht überzeugen kann. Das Paradoxon, daß gerade im wachsenden wirtschaftlichen Wohlstand die kulturelle Frustration wächst, führt uns zum Thema der sozialen Knappheit (**). Wir können uns immer mehr leisten, aber es befriedigt immer weniger. Warum? Es geht hier nicht, wie der Club of Rome damals meinte und wie man heute wieder irn Zeichen von Bio, Öko und Grün suggeriert, um die natürlichen Grenzen, sondern um die sozialen Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums.“ (Ebd., S. 144).

„Soziale Knappheit (**) bedeutet, daß sich eine Kluft auftut zwischen den Möglichkeiten jedes Einzelnen und dem, was gesellschaftlich möglich ist. (**). Die Güter, an denen sich soziale Knappheit am deutlichsten erfahren läßt, hat Fred Hirsch in seinem großartigen Buch über die gesellschaftlichen Grenzen des Wachstums »positional goods« genannt. (Das Buch stammt aus dem Jahre 1976 und erinnerte die damaligen Leser natürlich an den Bericht des Club of Rome über die natürlichen Grenzen des Wachstums!). Wir lassen diesen prägnanten Begriff im folgenden unübersetzt.“ (Ebd., S. 143).

„Positional Goods sind der Wirtschaftsbereich, der den Konservativen am meisten Kopfzerbrechen bereitet. Denn hier funktioniert ihre Zauberformel nicht, das Problem der Ungleichheit durch Wachstum für alle zu lösen, also nicht gleich, sondern reich zu werden. Mit anderen Worten: Positional Goods markieren die Sandbank, an der der Wirtschaftsliberalismus Schiffbruch erleidet. Die Grundidee der Konservativen und Liberalen besteht ja darin, die Frage der Umverteilung des Reichtums durch das Angebot der Teilhabe am Wachstum der Wirtschaft zu verdecken. Durch robustes wirtschaftliches Wachstum wird die Lage jedes Einzelnen positiver verändert, als das durch Umverteilung in Stagnation möglich wäre. Und dieses wirtschaftliche Wachstum wird gerade durch die Beobachtung von Konsummöglichkeiten angetrieben, die zunächst einmal nur den Erfolgreichen an der Spitze offen stehen. Die so entstehenden neuen Wünsche werden erfüllt - im Lauf der Zeit. D.h. der Luxus dieser Generation wird zum Standard der nächsten und zur selbstverständlichen Grundausstattung der übernächsten. Jeder hat heute ein Auto und einen Fernseher. Jeder macht heute im Ausland Urlaub. Einmal war das Handy ein Statussymbol von Geschäftsleuten, heute ist es ein trivialer Gebrauchsgegenstand aller Bürger der westlichen Welt, und morgen wird es wie Nahrung, Bildung und Gesundheitsvorsorge zu den garantierten Existenzbedingungen auch der Ärmsten gehören.“ (Ebd., S. 144-145).

„Die Erfolgreichen bilden die Avantgarde des Konsums, und es ist gerade die Ungleichheit, die die anderen antreibt, es ihnen gleichzutun. So breiten sich die guten Dinge des Lebens allmählich von oben nach unten aus. Fred Hirsch hat das als dynamischen Egalitarismus bezeichnet. Wirtschaftliches Wachstum kann als ein egalitärer Agent verstanden werden, der seine Wirkung mit der Zeit entfaltet. Eine aktive egalitäre Politik ist also gar nicht nötig, ja sie könnte dem dynamischen Egalitarismus des wirtschaftlichen Wachstums nur störend dazwischenkommen. Und so lange der Kapitalismus als Wachstumsmaschine erfahren wird - und das war die Erfahrung der Deutschen in der Zeit des Wirtschaftswunders -, gibt es gar keinen Bedarf für eine ethische Rechtfertigung der Einkommensverteilung. Allen geht es ständig besser.“ (Ebd., S. 145).

„Diese erzliberale Strategie scheitert aber an der Frage nach den Positional Goods. Bei Nullsummenspielen wie dem Wettbewerb um den besten Platz gibt es Veränderung nur durch Umverteilung. Es gibt hier keine Pareto-Optimalität. Wenn es einigen besser gehen soll, muß es anderen schlechter gehen. Jede Befriedigung durch ein Positional Good frustriert andere. Endlich kann ich es mir leisten, Urlaub in Hawaii zu machen. Aber daß ich es mir leisten kann, ist eben das untrüglichste Anzeichen der Tatsache, daß ein Hawaii-Urlaub auch nicht mehr das ist, was er einmal war.“ (Ebd., S. 145).

„Gute Wohngebiete sind Positional Goods; der ruhige, fast unberührte Traumstrand; Bilder von Klee; die Note »summa cum laude«. Positional Goods sind absolut knappe Güter - die herrschaftlichen Anwesen am Kleinen Wannsee zum Beispiel, oder Bilder von Gerhard Richter. Positional Goods sind also das Gegenteil von Software. Software kann man ohne Mehrkosten millionenfach verteilen. Mein Haus dagegen, das auch mein Nachbar kaufen wollte, gibt es nur einmal. Kommunikation ist nicht knapp, wohl aber das Recht, die Umwelt zu verschmutzen. Fernsehunterhaltung ist nicht knapp, wohl aber die Chance, ungestört und angenehm zu reisen. Information ist nicht knapp, wohl aber Mobilität.“ (Ebd., S. 145-146). **


„Ein Mann kann auch seine Frau als Positional Good betrachten. Dem entspricht die Frau, indem sie auf ihren Status achtet, und das bedeutet: Sie darf sich nicht auf den Markt der verfügbaren Frauen begeben. Nur geringwertige Frauen sind auf dem Markt verfügbar, im Extrem die Prostituierte - eben zu Marktpreisen.“ (Ebd.).

„Die Logik der Positional Goods greift heute auch auf schulische Bildung und medizinische Versorgung über. Die Nachfrage nach Gesundheit und Bildung wird in Zukunft das Angebot weit übersteigen. Das liegt daran, daß es sich im Kern um persönliche Dienstleistungen handelt, deren Produktivität kaum erhöht werden kann. Auch hier ist wachsende Ungleichheit programmiert. Genau so dramatisch ist die Situation im Erziehungssystem. Im Wettkampf um die guten Plätze spielt die Bildung eine Schlüsselrolle. Wenn sie in Zukunft überhaupt noch funktionieren sollen, müssen die Bildungsanstalten wieder Talente sortieren und Fähigkeiten testen - und dann funktionieren sie als Kontrollstellen sozialer Knappheit (**).“ (Ebd., S. 146).

„Man kann das Problem der Positional Goods auf eine ganz einfache Formel bringen: Der Wettbewerb um die besten Plätze ist ein Nullsummenspiel. Jeder kann heute CEO werden, denn die soziale Herkunft spielt formal keine Rolle mehr, aber nicht jeder kann es sein, denn die Spitzenpositionen sind knapp. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie Gleichheit Ungleichheit ermöglicht. Es läßt sich nie im voraus sagen, wer was zu sagen haben wird. Die Herkunft ist unwichtig, die Zukunft unklar - das ist die moderne Gleichheit, die ständig systemspezifische Ungleichheiten erzeugt.“ (Ebd., S. 146).

„Wer ein absolut knappes Gut besitzt, genießt nicht nur das Gut, sondern auch seine Knappheit. Es ist immer auch ein Statussymbol, mit dem ich markieren kann, daß ich im Rennen um die besten Plätze ganz vorne liege. Wer etwas Seltenes besitzt, genießt den Neid der anderen. Daß der Nachbar entbehrt, was ich besitze, macht den eigentlichen Reiz der Sache aus. Deshalb ist der Egalitarismus eine Sisyphosarbeit. Oder wie es Georg Simmel in seinem soziologischen Märchen »Rosen« formuliert hat: »Das eben war der welthistorische Irrtum, daß man in das Haben oder Nichthaben von Gegenständen den Grund der Freuden oder Leiden verlegte. Nein, nicht ob ich es habe oder nicht habe, entscheidet meine Gefühle, sondern ob andere es nicht haben oder haben.« (Georg Simmel, Schriften, S. 172).“ (Ebd., S. 146).

„Wenn der Lebensstandard steigt, nimmt der Konsum soziale Züge an; d.h. die Befriedigung, die mir eine Ware oder Dienstleistung verschafft, hängt vom Konsum der anderen ab. Denn die Bedingungen des Gebrauchs verschlechtern sich, je mehr Leute von einer bestimmten Sache Gebrauch machen. Je mehr Leute Auto fahren, um so weniger macht Auto fahren Spaß. Das hat nichts mit der Qualität des Produkts an sich zu tun, sondern mit den Umweltbedingungen seiner Nutzung. An und für sich ist die Idee, am nächsten Wochenende einen Kurzurlaub in Venedig zu machen, großartig; aber Zehntausende haben dieselbe Idee. Fred Hirsch hat genau das als soziale Knappheit (**) bezeichnet. Nicht alle können erreichen, was jeder erreichen kann. Jeder kann heute Abend den besten Platz im Restaurant bekommen, aber nicht alle, die heute dort essen gehen. Jeder kann so hart arbeiten und so lange sparen, daß er sich einmal ein freistehendes Häuschen am Waldrand leisten kann, aber nicht alle.“ (Ebd., S. 146-147).

„Denn wenn alle es wollten, gäbe es keine freistehenden Häuschen am Waldrand mehr. Jeder kann CEO oder Spielführer der Fußballmannschaft werden, aber nicht alle. Die meisten haben die Dinge nicht, die es wert sind, daß man sie hat. Deshalb wird es immer den Wunsch nach Umverteilung geben. Das intelligenteste Argument für Umverteilung hat Adair Turner in einer Fußnote seines Buches »Just Capital« versteckt - intelligent, weil Turner hier nicht sozial-moralisch, sondern rein ökonomisch argumentiert. Wenn die wirtschaftliche Ungleichheit nicht durch eine Politik der Umverteilung - klassisch: Kapital -, Erbschafts- und progressive Einkommensteuer - korrigiert wird, ist sie kumulativ. Reiche Leute können mehr sparen und rascher Kapital anhäufen. Und diese Abweichungsverstärkung wird durch die wachsende Bedeutung von Positional Goods entscheidend zugespitzt. Wenn man nämlich Positional Goods uneingeschränkt vererben kann, steigen ihre Preise, und damit wächst das Kapital derer, denen es ohnehin schon sehr gut geht. Die derart vererbte Ungleichheit verschärft sich ständig und bedroht damit die Dynamik des Kapitalismus.“ (Ebd., S. 147).

„Umverteilung im Dienste des Kapitalismus - eleganter kann man sozialdemokratische Politik nicht verkaufen. Doch gerade wenn es konkret wird, wird es auch philosophisch. Die entscheidende Frage nämlich, wie hoch die Steuern denn sein sollen, läßt sich nicht wirtschaftswissenschaftlich beantworten. Hier geht es um den Geist der Demokratie, also um das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit - unser Thema!“ (Ebd., S. 147).

„Das Unbehagen in der Wohlstandswelt rührt daher, daß die Befriedigung materieller Bedürfnisse nicht die Wünsche der Menschen erfüllen kann. Daß ich mir im KaDeWe jeden Artikel leisten kann, hilft mir nicht weiter im Wettkampf um die besten Plätze. Die durch ihre absolute Knappheit so wertvollen Positional Goods werden zwar einer Mehrheit angeboten - oft mit dem paradoxen Versprechen: »exklusiv« -, sie können aber nur von einer Minderheit konsumiert werden. Und das frustriert.“ (Ebd., S. 147).

„Es gibt also Konsummöglichkeiten, die prinzipiell nur wenigen Menschen Befriedigung verschaffen können und die gerade deshalb befriedigen, weil sie die Wenigen über ihre Mitbürger erheben. Sir Roy Harrod hat deshalb von einer unüberbrückbaren Kluft zwischen oligarchischem und demokratischem Reichtum gesprochen. Den demokratischen Reichtum kann man als ungeheure Warensammlung im KaDeWe betrachten, zu der prinzipiell alle, die überhaupt am Wirtschaftsleben teilhaben, Zugang haben. Oligarchischer Reichtum dagegen ist prinzipiell nur für die Wenigen möglich. Und je mehr der demokratische Reichtum wächst, desto mehr wächst auch das Begehren nach dem oligarchischen Reichtum. Die Massen wollen das Exklusive, die Vielen das Seltene. Es geht hier also um Produkte, deren Qualität sich dadurch vermindert, daß immer mehr Menschen sie wollen. Der Tourismus ist hierfür ein gutes Beispiel. Venedig wäre eine Zauberwelt, wenn die anderen nicht wären. Der Tourist sucht das Unvergleichliche und zerstört es, indem er es findet.“ (Ebd., S. 148).

„Das meiste von dem schönen Leben, das uns die bunten Zeitschriften und Boulevard-Magazine zeigen, ist für die meisten von uns unerreichbar. Und das, was die Vielen dann doch erreichen können, verliert genau deshalb an Wert. Soziale Knappheit (**) heißt also: Was der Einzelne sich wünscht und als Einzelner auch bekommen kann, kann die Gesellschaft niemals erreichen. (**). Und die Politik hat nun die undankbare Aufgabe, die Menschen mit diesem unaufhebbaren Unterschied zu versöhnen. Das gilt gerade auch für den grünen Blick auf die Umwelt. Denn wenn bestimmte Ressourcen knapp sind, so daß nicht alle Leute genug davon bekommen können, kann eine egalitäre Verteilung zur Katastrophe führen.“ (Ebd., S. 148).

„Daß die Menschen die Vielfalt einer ungeheuren Warensammlung wünschen, ist eine triviale konsumistische Wirklichkeit. Aber die großen Ökonomen haben immer schon gesehen, daß es viel wichtigere Motive des Konsumierens gibt, die alle etwas mit den Fähigkeiten und Handlungen der Menschen zu tun haben. So spricht Alfted Marshall in seinen Grundlagen der Ökonomie vom Begehren nach Unterscheidung. Sehr teure Nahrungsmittel wie z.B. Kaviar oder frische Austern schmecken nicht nur gut, sondern sie befriedigen auch den Wunsch nach sozialer Unterscheidung.“ (Ebd., S. 148).

„Noch wichtiger aber ist das Begehren nach Spitzenleistungen um ihrer selbst willen. Die Leute lieben es, ihre eigenen Fähigkeiten zu stimulieren und zu trainieren. Distinktion und Exzellenz sind die wichtigsten Quellen der Befriedigung. Da sich mein Selbstwertgefühl in der Vorstellung bildet, wie andere mich beurteilen, ist das wichtigste Motiv meines Handelns, etwas zu tun, worauf die anderen angemessen reagieren. »I want to make a difference«, sagen die US-Amerikaner. Ich will einen Unterschied machen, der für andere zählt.“ (Ebd., S. 148-149).

„Schon Aristoteles unterscheidet in diesem Sinne zwischen Bedürfnis und Wunsch. Der Wunsch zielt aufs Überlegensein. Und die Mode befriedigt dieses Begehren nach sozialer Distinktion, die immer knapp ist. Was man Stil nennt, ist die Rivalität um das knappe Gut der Distinktion: immer zu den ersten zu gehören, die wissen, was angesagt ist. Hier handelt es sich eindeutig um ein Nullsummenspiel, denn ich kann nur Trendsetter sein, indem ich eben dadurch die anderen zu Leuten von gestern mache.“ (Ebd., S. 149).

„Je mehr sich der Kapitalismus als der große Gleichmacher der materiellen Lebensbedingungen bewährt, um so mehr drängen sich die nichtmateriellen Aspekte des guten Lebens in den Vordergrund der Aufmerksamkeit: Prestige und Privileg. Das hat unmittelbare Auswirkungen auf das Verhältnis von Einkommen und Status. Zunächst einmal leuchtet unmittelbar ein, daß der Konsum von Positional Goods abhängig vom relativen Einkommen ist; deshalb muß ich mich für die Differenz dessen, was andere mehr verdienen als ich, durchaus interessieren. Vilfredo Pareto hat nun gesehen, daß überall da, wo die Einkommensunterschiede reduziert werden, die Menschen nach Ungleichheit in Macht und Status streben. Es geht dann primär um den Wunsch, anders zu sein und die Ungleichheit zu genießen, also um die Aneignung differenzierender Merkmale, auf die das eigene Selbstwertgefühl gestützt werden kann.“ (Ebd., S. 149).

„Dieses soziologische Motiv der Statusdifferenzierung können Ökonomen, die nur auf Güter- und Geld-Knappheit fixiert sind, nicht verstehen. Doch der Status hat heute einen eigenen, handfesten Marktwert. Je höher nämlich der Status, desto höher der Grenznutzen des Einkommens, denn man hat durch den hohen Status Zugang zu Konsumgütern, die absolut knapp sind: Backstage-Karten für das Rolling-Stones-Konzert zum Beispiel oder Haupttribünenplätze für das Fußballweltmeisterschaftsendspiel. Man bemüht sich vergeblich um die Karten und muß dann immer wieder die gleichen Prominenten im Fernsehen darum beneiden, daß sie »live dabei sein« dürfen. Hier wird das Grundprinzip der freien Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt: daß man etwas bekommt, weil man zahlt.“ (Ebd., S. 149).

„Für die Ungerechtigkeiten der Welt der Positional Goods, über die uns Fred Hirschs Theorie der sozialen Knappheit (**) aufgeklärt hat, gibt es eine Art Kompensation durch die so genannten Procedural Goods. Diesen Begriff hat Robert E. Lane geprägt, und er läßt sich kaum elegant ins Deutsche übersetzen - wir schlagen »prozedurale Güter« vor. Auf diesen Begriff wollen wir die Erfahrung bringen, daß es nicht nur einen Wunsch nach Verteilungsgerechtigkeit, sondern auch einen Wunsch nach Verfahrensgerechtigkeit gibt.“ (Ebd., S. 149-150).

„Die Menschen sind bei Gerichtsverfahren, Verwaltungsmaßnahmen und politischen Entscheidungen nicht nur am Ergebnis interessiert, sondern mindestens genauso an der prozeduralen Gerechtigkeit des Verfahrens. Das gilt auch in wirtschaftlichen Zusammenhängen. Oft ist es den Leuten wichtiger, wie sie behandelt werden, als was sie bekommen. Natürlich ist es entscheidend wichtig, wie hoch mein gegenwärtiges Einkommen ist; aber genauso wichtig sind Fragen wie: Hatte jeder eine faire Chance? Wurde jemand diskriminiert?“ (Ebd., S. 150).

„Die Verteilung der Güter kann durch den Markt oder durch die Regierung bestimmt werden. Der Entscheidungsprozeß, der der jeweiligen Verteilung zugrunde liegt, ist aber selbst das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses. Und für die meisten Menschen ist es am wichtigsten, daß sie diesem Entscheidungsprozeß über das Verteilungsverfahren zustimmen können. Der Entscheidungsprozeß hat also einen Wert in sich selbst. Hauptsache, daß niemand in die freien Kräfte des Marktes eingreift, sagen die einen. Hauptsache, daß die Regierung für Gerechtigkeit sorgt, sagen die meisten. So würden viele ein schwaches, aber durch demokratisches Verfahren erreichtes Ergebnis einem starken, aber durch souveräne Entscheidung erreichten Ergebnis vorziehen.“ (Ebd., S. 150).

„Hegel und Freud haben gezeigt, daß alles Begehren im Kern ein Begehren nach Anerkennung ist. Wir diskutieren dieses Thema heute zumeist unter dem Titel Würde, oder gar Menschenwürde. So schwer es ist, eine nicht-idealistische Definition der Würde zu geben, so deutlich kann ein Beobachter der modernen Gesellschaft doch feststellen, daß Würde sehr stark mit Kontrollchancen korreliert. Hinter dem Anspruch auf die Achtung der eigenen Würde steht der Wunsch, etwas erkennbar zu bewirken, eine Ursache zu sein, einen für alle sichtbaren Unterschied zu machen. Und dem entspricht eben genau, daß es für die meisten Menschen wichtiger ist, wie sie behandelt werden, als was sie bekommen. Die Gerechtigkeit eines Verfahrens ist ihnen mindestens so wichtig wie die Resultate dieses Verfahrens. Es geht hier also um prozedurale Güter; sie sind Würde-Güter.“ (Ebd., S. 150).

„Aus der Logik der prozeduralen Güter folgt auch, daß man den Mangel an Selbstwertgefühl, den die Arbeitslosigkeit verursacht, nicht durch staatliche Transferleistungen kompensieren kann. Der Arbeitslose kann nicht ohne Scham in der Öffentlichkeit erscheinen und kann deshalb auch nicht am Gemeinschaftsleben teilnehmen. Er fühlt sich in seiner Würde gekränkt und deshalb kann er Freiheit nicht als Spitzenwert empfinden. Nicht die Freiheit schützt die Würde, sondern die Kontrolle über die Art und Weise, wie man behandelt wird.“ (Ebd., S. 150-151).

„Wir messen die Legitimität dessen, was uns widerfährt, an der Gerechtigkeit des Verfahrens. Das faktische Ergebnis politischer Entscheidungen über die Verteilung von Geldern und Gütern - also die Frage, was der Einzelne bekommt -, ist für die Betroffenen weniger wichtig als die Frage, wie diese Entscheidungen getroffen worden sind. Die Menschen sind genau in dem Maße, in dem sie an der Entscheidung über die Verteilung von Ressourcen beteiligt sind, mit dem Ergebnis zufrieden. Und gerade für die Arbeitslosen gilt deshalb, daß prozedurale Güter Würde-Güter sind. Denen, die an dem Spiel um »mehr Geld« nicht teilnehmen können, bietet man »mehr Gleichheit«.“ (Ebd., S. 151).

Vom nehmenden zum sorgenden Kapitalismus

„Das liberale Erfolgsgeheimnis des Kapitalismus besteht bis zum heutigen Tag darin, die Frage nach dem Glück nicht mit Umverteilung, sondern mit der Steigerung der Produktion beantwortet zu haben. Produktivität und Kreativität sind Resultate des Wettbewerbs, der natürliche Ungleichheiten nutzt und materielle Ungleichheiten schafft. Spezifisch liberal ist dabei der Trick, durch die Frage nach der Wirtschaftlichkeit von der Frage nach der Gerechtigkeit abzulenken. Wenn man Gerechtigkeit nicht erreichen kann, kann man sie überbieten? Durch wirtschaftlichen Erfolg? Das ist das eigentliche Wirtschaftswunder.“ (Ebd., S. 152).

„Wirtschaftlicher Erfolg ist ein Identitätsangebot, das den Erfolgreichen rasch in eine gewisse Distanz zur Gesellschaft bringt. Denn der wirtschaftlich Erfolgreiche bemißt die Gerechtigkeit der Gesellschaft an der Sicherheit des Eigentums. Und, wie der Soziologe Niklas Luhmann einmal sehr schön bemerkt hat, auf dieser Insel Eigentum ist nicht für alle Platz. Der Eigentümer ist deshalb der natürliche Feind jeder politisch hergestellten Gleichheit. Der Respekt für das Individuum drückt sich - radikal marktliberal betrachtet - in der Differenz von mehr oder weniger Geld, letztlich: von Arm und Reich aus.“ (Ebd., S. 152).

„Gleichheit würde Marktwirtschaft unmöglich machen. Nicht jeder darf die gleichen Bedürfnisse haben, denn die Waren müssen für die Menschen unterschiedlich attraktiv sein. Daß der Nachbar 30000 Euro für ein Auto ausgibt, ist mir unbegreiflich. Und auch das Geld muß ungleich verteilt sein. Die Urlaubsreise, die ich mir gerade noch leisten kann, muß für den anderen unerschwinglich sein. Das ist natürlich davon abhängig, welchen Beruf ich habe; und dabei geht es nicht nur um Einkommensunterschiede, sondern auch um einen der größten Faktoren von Ungleichheit: Arbeit, die Spaß macht. Meistens wird sie auch noch gut bezahlt und verleiht hohen Status.“ (Ebd., S. 152). **


„Die Globalisierung der Wirtschaft hat für den Arbeitsmarkt reicher Länder vor allem den Effekt, daß einfache, unqualifizierte Arbeiten schlecht bezahlt werden. Dadurch wächst die Ungleichheit des Einkommens - oder die Arbeitslosigkeit (für den Fall nämlich, daß die Regierung in den Arbeitsmarkt eingreift und z.B. Mindestlöhne festsetzt).“ (Ebd.).

„Jeder hat andere Talente. Aber einige Talente sind weit verbreitet, andere sind selten. Und man muß sich damit abfinden, daß nicht die Anstrengung oder das Talent an sich belohnt wird, sondern das Resultat auf dem Markt. So weh es auch tut: Man muß lernen, Verdienst und Marktwert zu unterscheiden. Weder Geschäftserfolg noch Prestige lassen sich aus Verdiensten ableiten. Nicht das, was man gut macht, sondern das, was andere gut finden, zählt. Die von der Konkurrenz freigesetzten Chancen und Risiken bilden den Gegenpol zum Gleichheitsprinzip: Ich kann viel mehr bekommen als den gleichen Anteil, wenn ich auf meine riskante Chance setze. So idealtypisch das liberale Credo.“ (Ebd., S. 152-153).

„Das liberale Laisser-faire endete aber eigentlich schon 1873 mit dem Wiener Börsenkrach. Seither beginnen die Regierungen zu regulieren; sie entwickeln Schutz- und Sicherheitspläne, am prominentesten Bismarck mit seiner Erfindung der Sozialversicherungen. Hundert Jahre lang, auch durch die schreckliche Zeit der Weltkriege und des Schwarzen Freitag hindurch, darf sich Regierungshandeln als Aufklärung des Kapitalismus begreifen. Erst in den 1970er Jahren erlischt diese »progressive« Stimmung: »Öl-Schock«, das freie Floaten der Leitwährung Dollar seit Nixon und die Stürme der Studentenbewegung signalisieren, daß wir in eine Welt des beweglichen Ungleichgewichts eingetreten sind, in der nur die Ungewißheit gewiß ist.“ (Ebd., S. 153).

„Verzweifelt und unter ungeheuren Kosten hält der Staat seither die Fassade des Wohlfahrtsstaats aufrecht. Die Nationalökonomen werden zunehmend ratlos, denn nicht die Nationalökonomie zählt, sondern die Dynamik der großen Wirtschaftsregionen. Wichtiger als die traditionellen Produktionsfaktoren, als Güter und Dienstleistungen sind die autonomen Geldflüsse von Kredit und Investment, die weltweiten Transaktionen zwischen Banken. »Realwirtschaft« wird zum heimeligen Sehnsuchtswort. Und daß heute die Manager als Sündenböcke der Bankenktise herhalten müssen, zeigt sehr genau an, daß Management zum entscheidenden Produktionsfaktor geworden ist.“ (Ebd., S. 153).

„Aber gleichzeitig beobachten wir, daß der Kapitalismus auf der Spitze der Modernität »gut« wird. Daß das für einige so schwer zu erkennen ist, hängt mit der Abstraktheit einer vollständig durchmonetarisierten Wirtschaft zusammen. Alles spielt sich im Medium Geld ab - und dieses Medium verliert immer mehr an handfester Greifbarkeit. Nichts ist abstrakter als elektronische Finanztransaktionen. Seit es die elektronische Datenverarbeitung gibt, werden sich Geld und Information immer ähnlicher. Das bedeutet aber, daß die Finanzmärkte der wichtigste Schauplatz für die Kommunikationstechnologien des 21. Jahrhunderts sind: Geldfluß und Datenfluß werden ununterscheidbar.“ (Ebd., S. 153).

„Man spricht heute in diesem Zusammenhang von »Softnomics« und meint damit die neue Computerwirklichkeit des Welt-Geldes. Das gilt schon für die neuen Standards wie Electronic Cash, Electronic Banking, Home Banking. Und wir beobachten heute eine Ablösung des Banking von den Banken. Elektronisches Geld hat keinen eigenen Wert, ja kaum mehr ein Spur physischer Existenz.“ (Ebd., S. 154).

„Mit unseren Kreditkarten schalten wir uns ins Nervensystem der Weltwirtschaft ein. Und diese Plastik-Karten werden immer smarter, d.h. sie verschränken den Geldfluß mit dem Informationsfluß. Mit Recht hat der Trendforscher Alvin Toffler deshalb das Geld der »postmodernen« Welt als supersymbolisch bezeichnet. Auf der Ebene von Zentral- und Weltbanken ist schließlich auch dieses supersymbolische Geld noch zu konkret. Man spricht dann von Verrechnungseinheiten und Sonderziehungsrechten. Das Geld ist hier von jedem Erdenrest entlastet, das heißt, es löst sich in Errechnungen von Errechnungen auf.“ (Ebd., S. 154).

„Man könnte deshalb sagen: Auf der obersten Wirtschaftsebene gibt es Geld nur noch im Aggregatzustand von weltumspannenden Datenflüssen - also in den Computern der Finanzmetropolen. Täglich werden mehr als 1000 Milliarden Dollar umgeschlagen. 90% der Finanztransaktionen an den Weltbörsen haben aber mit dem wirklichen Warenfluß nichts mehr zu tun. Seither hat der Begriff »Realwirtschaft« geradezu romantische Züge angenommen. Die Weltbörsen bilden also einen Cyberspace des Kapitals, in dem virtuose Datenspieler ihre Einsätze machen. Das ist das Geheimnis der Globalisierung, die den Kapitalismus im Innersten verändert hat.“ (Ebd., S. 154).

„Ist die moderne Gesellschaft vor einem ihrer Teilsysteme, nämlich der Wirtschaft, in die Knie gegangen? Regiert das Geld die Welt? Gerade Leute, die nicht genug Geld haben, also die Armen, und Leute, die meinen, nicht genug Geld zu bekommen, also die Intellektuellen, neigen zu dem Glauben, die Wirtschaft beherrsche die ganze Welt. Und genau das hat der Sentimentalismus der Entfremdungskritiker dem Kapitalismus seither zum Vorwurf gemacht. Geld fließt dorthin, wo es sich vermehren kann, nicht dorthin, wo es gebraucht wird. Selbst der nüchterne Max Weber hat die vollkommen durchmonetarisierte Wirtschaft deshalb als den eigentlichen Träger der Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit bezeichnet. Besonders einschlägig sind hier natürlich die Formulierungen des »Kommunistischen Manifests« von Karl Marx, das Marktsystem habe »die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst ... und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹« (Karl Marx, Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, S. 528).“ (Ebd., S. 154).

„Das trifft aber nicht zu. Geld ist universal, aber eben auch nur spezifisch verwendbar - nämlich in der Wirtschaft. Es ist weder total noch absolut. Deshalb kann man nicht sagen, Geld sei, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und das ist natürlich, zumindest für Romantiker, eine gute Nachricht. Man kann Messen lesen lassen, aber nicht das Seelenheil kaufen; man kann Forschung subventionieren, aber nicht Wahrheit kaufen; man kann Bafög zahlen, aber keine Lernbereitschaft kaufen; man kann Politiker korrumpieren, aber nicht Macht kaufen. Und man kann Frauen kaufen, aber nicht Liebe.“ (Ebd., S. 155).

„Doch nicht nur, daß Geld vieles nicht kann, ist die gute Nachricht. Darüber hinaus bringt uns das Geld auch eines der seltenen Lebensstücke realer Gleichheit: die Gleichheit der ausreichenden Kaufkraft. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons hat dafür die ironische Formel gefunden, alle Dollars seien frei und gleich geschaffen. Denn Geld ist auch reale Freiheit. Es funktioniert nämlich unabhängig von seiner Herkunft, und es ermöglicht jedem, der es besitzt, sich von seiner Herkunft befreien zu können.“ (Ebd., S. 155).

„Colin Crouch spricht im Blick auf die westlichen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts von »Postdemokratie« (**). Damit signalisiert er in aller wünschenswerten Deutlichkeit, daß die Nationalstaaten nicht mehr das Heft des Handelns in der Hand haben, daß aber auch die alte Idee eines Weltstaates einer globalisierten Welt völlig unangemessen ist. Globalisierung heißt zunächst einmal politisch: Überforderung der Nationalstaaten. Die Verantwortung für den Stand der Weltdinge geht nun aber nicht in die Hände einer Weltregierung über, sondern in die der Corporate Citizens: der großen Unternehmen.“ (Ebd., S. 155).

„Wenn man heute von Global Governance spricht, meint man also gerade nicht die Regierung eines Weltstaates, sondern das sozial verantwortliche Handeln großer Unternehmen und Organisationen. Neben die Profitmaximierung tritt gleichberechtigt die Aufgabe der Sorge für den blauen Planeten. Sie stützen sich nicht auf die planende Vernunft der Eliten, sondern auf das Wissen der Vielen, das dezentral in der Weltgesellschaft verteilt ist. Friedrich von Hayeks Einsicht, daß alle klüger sind als jeder und daß der Marktmechanismus diese Klugheit technisch implementiert, wird durch die Meinungsmärkte im Internet zur machtvollen Wirklichkeit.“ (Ebd., S. 155).

„Während die Nationalstaaten also zunehmend an Einfluß verlieren, formiert sich heute ein »neues Mittelalter« der Netzwerke und multiplen Autoritäten. Ein neues Mittelalter der Netzwerke wohlgemerkt, nicht der Märkte. Von der »Anarchie« des Marktes unterscheidet sich das Netzwerk durch gemeinsame Werte, und von der formalen Hierarchie unterscheidet sich das Netzwerk durch seinen informellen Charakter. Netzwerke lösen Probleme, die der Einzelne noch nicht einmal formulieren kann. In Netzwerken zeigen Menschen Eigenschaften, die sie nicht mit Wölfen sondern mit Insekten vergleichbar machen; hier zeigen sich die Überrebensvorteile extremer gegenseitiger Abhängigkeit. Wenn uns also die biologische Evolution den Vergleich des Menschen mit einem Wolf nahelegt, so modelliert uns die soziale Evolution den Menschen als Insekt. Damit solche Netzwerke funktionieren, muß ausreichend großes soziales Kapital vorhanden sein. Das ethische Zauberwort des modernen Managements, Commitment, meint genau diese überbrückende Kraft sozialen Kapitals.“ (Ebd., S. 155-156).

„Das sind technische, genauer: medientechnische Möglichkeitsbedingungen eines »guten« Kapitalismus. Doch worin besteht seine Affektstütze? (**). Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns auf die Entstehungsbedingungen des ursprünglichen kapitalistischen Geistes rückbesinnen. Wenn man nach den religiösen Grundlagen des Kapitalismus fragt, stößt man rasch auf zwei sich widersprechende christliche Botschaften: die perfektionistische Botschaft des Neuen Testaments und die pragmatische Botschaft des Puritanismus. Die perfektionistische Forderung lautet: Verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen. Die pragmatische Forderung lautet: Sei aufrichtig und werde reich. Wer wirklich leben will wie Jesus, muß die große Tugend der Caritas praktizieren. Aber diese Forderung überfordert die meisten Menschen.“ (Ebd., S. 156).


„Der Leser wird bemerken, daß wir keine Antwort bieten, sondern ein Problem exponieren. Es gibt heute keine Affektstütze für den Kapitalismus, und man darf nicht von denen, die wenig haben, erwarten, daß sie die zivilisatorische Leistung des Kapitalismus angemessen zu würdigen wissen. Um den Kapitalismus angemessen zu würdigen, müßten der Arbeitslose sein aktuelles Schicksal, der Politiker seine Wahlchancen und die Massenmedien ihre Sendeprinzipein vergessen.“ (Ebd.).

„Und hier hat der Puritanismus einen genialen Ausweg gefunden, nämlich die unpraktizierbare große Tugend durch viele kleine Tugenden zu ersetzen - nämlich harte Arbeit, Mäßigung, Sparsamkeit, Nüchternheit, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Verläßlichkeit, Familiensinn. All diese kleinen Tugenden steigern die Produktivität und damit den Lebensstandard. Das Christentum der kleinen Tugenden ist also die beste Versicherung gegen Armut. Und umgekehrt kann man Armut nun als Sünde verstehen, verursacht durch die kleinen Laster wie Ungezügeltheit, Faulheit und Unehrlichkeit. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott - so lautete die frohe Botschaft der protestantischen Mittelklasse. Der Wirtschaftswissenschaftler Kenneth E. Boulding hat sie »Our Lost Economic Gospel« genannt. (Vgl. Kenneth E. Boulding, Beyond Economics, 1970, S. 203-206). Verloren haben wir diese frohe Botschaft der Mittelklasse durch den Aufstieg der »social gospel«, der Sozialoffenbarung, die wieder an den anti-ökonomischen Affekt des Neuen Testaments anknüpft.“ (Ebd., S. 156).

„Die Frage nach den religiösen Grundlagen des Kapitalismus zielt nicht auf theologische Dogmen, sondern auf die vom Glauben bestimmte Lebensführung. In diesem Sinne hat Max Weber in seinen Kapitalismusstudien Religion als System der Lebensregulierung interpretiert. Denn so wie der Rechtsstaat auf Voraussetzungen beruht, die er nicht selbst garantieren kann - das ist das große Thema der Verfassungsrechtler Böckenförde und Forsthoff -, so beruht auch der liberale Kapitalismus auf Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann. Das ist heute die zentrale Einsicht der Kommunitaristen, die schon Vilfredo Paretos Begriff der »Residuen«, Ferdinand Tönnies' Soziologie der »Gemeinschaft« und dem Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre zu Grunde liegt. Wirtschaftsethik ist die verzweifelte Suche nach dem verlorenen Geist des Kapitalismus. Was kann an die Stelle der innerweltlichen Askese treten?“ (Ebd., S. 157).

„Eine poetische Antwort gibt Diotimas Traum in Musils »Mann ohne Eigenschaften«: die »Vereinigung von Wirtschaft und Seele« (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 1930-'42, S. 108). Die Prosa der Ökonomen kennt diese Sehnsucht als das Adam-Smith-Problem. Wie kann man die Tatsache erklären, daß der Autor des Grundbuchs der Nationalökonomie, »The Wealth of Nations« (1776), auch der Autor einer » Theory of Moral Sentiments« (1759) ist? Was haben moralische Gefühle mit Wettbewerb und Gewinnstreben zu tun? Welche Beziehung gibt es zwischen den Leidenschaften und den Interessen, zwischen der Seele und der Wirtschaft?“ (Ebd., S. 157).

„Albert Hirschman hat sehr schön gezeigt, wie der Kapitalismus die großartige Kulturleistung erbrachte, die Leidenschaften und ihre Ungewißheiten in den Griff zu bekommen. Im System des kapitalistischen Wirtschaftens wurden die Menschen leidenschaftsloser, trockener und berechenbarer - man könnte sagen: sie wurden auf Zivilisationstemperatur gebracht. Das Profitmotiv ersetzte den Thymos, zu Deutsch: Herz, Mut und Gesinnung. »Mehr Geld« statt Ehre. Der Geist des Kapitalismus entstand also durch rationale Temperierung im Gegensatz zur Gier des kapitalistischen Abenteurers. Man kann diese großartige Kulturleistung des Kapitalismus in der Definition resümieren, die Max Weber für den Begriff Verantwortung gefunden hat. Verantwortung verankert Leidenschaft in deren scheinbarem Gegenbegriff: Sachlichkeit.“ (Ebd., S. 157).

„Im Profitmotiv »mehr Geld« liegt der Akzent nicht auf »Geld«, sondern auf »mehr«. Natürlich wollen wir bekommen, was wir uns wünschen, aber mehr noch wollen wir herausfinden, was wir wirklich wollen. So können wir das Leben heute als Erforschung eines Wertefeldes betrachten. Mit dem Sieg des Kapitalismus wurde nämlich der Blick wieder frei auf die nicht-ökonomischen Kräfte - also die sozialen und moralischen Werte, das Begehren nach Anerkennung - und auf die andere Seite der Vernunft -, also Gefühle, Geschichten.“ (Ebd., S. 157-158).

„Wenn man den Begriff der Kultur auf seinen nüchternen Kern reduziert, dann bezeichnet er ein Vorurteil für Werte, eine undiskutierbare Präferenzstruktur. Doch das ist heute wichtiger denn je. Denn wir erleben den Prozeß der Globalisierung als ein Trauma, ein Aus-der-Höhle-treten-müssen. Die Kompensation, die uns darüber hinweg tröstet, ist ein ethisches »Cocooning«, die Geborgenheit in Werten. Werte sind Anweisungen zum Umgang mit Ungewißheit; sie beruhigen uns, wenn wir darüber erschrecken, daß das, was ist, auch anders sein könnte und wahrscheinlich bald anders sein wird.“ (Ebd., S. 158).

„Man muß moralische von sozialen und wirtschaftlichen Werten unterscheiden. Und die Werte des Marktes sind offenbar keine moralischen Werte. Busineß hat zunächst einmal nichts mit Caritas zu tun. Doch wir sehen heute, daß sich ein sorgender Kapitalismus anschickt, diese fein säuberlichen Trennungen zu unterlaufen. Auch ein sorgender Kapitalismus bleibt natürlich Kapitalismus, aber doch als ein durch öffentliche Verantwortung temperiertes System des Profits. Und das bringt uns zu der interessanten dreigliedrigen Unterscheidung: Egoismus - Wirtschaftsethik - universalistische Moral.“ (Ebd., S. 158).

„Die gemeinsamen Werte, die die globalisierte Welt organisieren werden, bilden sich nicht in der Politik, sondern im Busineß. Das setzt aber voraus, daß die Unternehmen von traditionellen Institutionen (Kirche) und erfolgreichen Organisationen (Greenpeace) lernen müssen, wie man soziale Werte glaubwürdig verkörpert. Es geht heute vor allem um Werte wie Authentizität, Vertrauenswürdigkeit, Reputation, Transparenz, soziale Verantwortlichkeit, Nachhaltigkeit, Teamgeist, Fairneß, Respekt, Sorge, Bürgerlichkeit. Ob die organisatorische Verkörperung dieser Werte gelingt, oder nur die Werbe-Rhetorik einer ethischen Plakatwelt geboten wird, entscheiden die Kunden als Bürger, die gerade auch im Akt des Konsums zu Werte-Wählern geworden sind.“ (Ebd., S. 158).

„Die Welt des Luxus ist die Phantasiewelt der absoluten Werte. Und auch wenn sich in Zeiten der Wirtschaftskrise die Aufmerksamkeit wieder von Gucci zu Aldi verschiebt, bleibt doch die Frage nach dem Luxus die lehrreichste. Jahrelang ging das Gespenst des Discount um und hat alle Marktbeobachter blind gemacht für eine tief greifende Veränderung unseres Wirtschaftslebens. Doch sobald die Zeichen wieder auf Aufschwung stehen, verblaßt die Faszination durch die kleinen Preise, und es wird deutlich, daß sich Kunden und Unternehmen des 21. Jahrhunderts mehr als je zuvor an den großen Werten orientieren. Dem geilen Geiz und dem Kult des Saubilligen zum Trotz entscheiden in der globalisierten Welt nicht die Preise, sondern die Werte. Und dabei zählen neben den wirtschaftlichen eben auch soziale und moralische Werte, die sich weltweit Geltung verschaffen.“ (Ebd., S. 158-159).

„Ein erfolgreiches Produkt ist nicht nur technisch-sachlich von hervorragender Qualität, sondern vermittelt auch einen spirituellen Mehrwert. Der moderne Kunde will nicht nur befriedigt und verführt, sondern auch verändert werden. Abraham Maslows Bedürfnishierarchie hat ja eine sechste Stufe: »idealization«, Selbsttranszendenz. Heißt das nicht wieder: sich von einer Aufgabe konsumieren lassen? Und das Unternehmen der Zukunft macht nicht nur Profit, sondern übernimmt auch soziale Verantwortung.“ (Ebd., S. 159).

„Je reicher, desto ethischer! Das ist die erstaunliche Lektion, die uns der sorgende Kapitalismus in den letzten Jahren erteilt hat. Auf der Ebene des Konsums sind wir es ja schon gewohnt, daß Kunden »Ethik-Marken« konsumieren und mit gutem Gewissen genießen wollen. Heute sehen wir, daß auch die Unternehmen und großen Organisationen Profitorientierung und moralisches Handeln nicht mehr als Gegensatz sondern als wechselseitiges Steigerungsverhältnis verstehen. Diese Metapräferenzen des sorgenden Kapitalisten heißen im Management-Jargon »Vision« und »Mission«.“ (Ebd., S. 159).

„Der puritanische Kapitalismus war produktionsfixiert und hatte keinen Sinn für Konsum. Er hat immer nur die Geschicklichkeiten der Produktion kultiviert; darüber sind die Geschicklichkeiten des Konsums verkümmert. Erst Thorstein Veblen hat darauf aufmerksam gemacht, daß man nicht nur konsumiert, sondern den Konsum zugleich auch ausstellt und darstellt. Der Marktplatz ist immer auch ein Schauplatz der Prahlerei. Wir alle spielen Theater - gerade auch, wenn wir konsumieren. Und verkaufen läßt sich deshalb heute nur noch, was einen Inszenierungswert hat.“ (Ebd., S. 159).

„Auch zu sich selbst entwickeln die Menschen ein theatralisches Verhältnis. Das Leben wird zum Stoff eines Kunstwerks; es ist ein permanenter Selbstversuch, der den Konsum als hohe Kunst betrachtet. Diese Kosmetik der Existenz wird um so wichtiger, je unverbindlicher die religiösen Grundlagen der Kultur werden und je mehr der Unwille wächst, das Privatleben allgemeinen Gesetzen zu unterwerfen. Was Not tut, wenn der Glaube schwindet, ist Stil, d.h. der Entwurf einer Ethik als Ästhetik der Existenz. Den fundamentalen Umschaltmechanismus hatte David Riesman schon in den 1950er Jahren erkannt: Die verlorenen Lebensformen werden durch ein Training des Konsumentengeschmacks ersetzt.“ (Ebd., S. 159-160).

„Im System des Konsumismus (**) werden die Wünsche der Kunden nicht erfüllt, sondern geködert. Und das kann auch gar nicht anders sein, denn was man sich eigentlich wünscht, ist nicht zu kaufen. Aber man kann dem Wunsch Anerkennung verschaffen - in einem Produkt. Doch dieses Produkt muß geistig angereichert sein, also einen spirituellen Mehrwert haben. Hier zeigt sich eine Funktionsäquivalenz von Konsumismus und Religion. Die Götter, die aus dem Himmel der Religionen verdrängt wurden, kehren als Idole des Marktes wieder. Werbung und Marketing besetzen die vakant gewordenen Stellen des Ideenhimmels. Düfte heißen Ewigkeit und Himmel, Zigaretten versprechen Freiheit und Abenteuer, Autos sichern Glück und Selbstfindung. Mit einem Wort: Marken besetzen Ideen, um sie schließlich zu ersetzen. Die Marke wird zum Schauplatz Lebenssinn stiftender Kommunikation.“ (Ebd., S. 160).

„Markentreue ist Selbstfestlegung unter Ablehnung anderer Optionen, also ein religiöses Bekenntnis. Wenn der Kunde anders wählt, bekommt er Schuldgefühle. Hier erweist sich der Konsum als eine rituelle Handlung, die aus allgemeinen Waren das individuelle Wahre schafft. Um das zu verstehen, darf man die Güter nicht als Objekte betrachten. Vielmehr bilden sie ein Medium. Das Geheimnis der Ware hat also nichts mit ihrem Gebrauchswert zu tun. Die Waren sind nicht einfach Dinge für den Konsum. Sie befriedigen nicht nur ein konkretes Bedürfnis, sondern sie verkörpern Soziales - analog zum Totem. Das Geheimnis der Ware und das Geheimnis der Religion sind dasselbe.“ (Ebd., S. 160).

„Nicht die Kirchen, sondern die Konsumtempel sind der Ort moderner Religiosität. So vergleicht der Theologieprofessor Harvey Cox die Schaufenster der Warenhäuser mit der Krippenszenerie; das Etikett mit dem Markenzeichen deutet er als säkularisierte Hostie. Das Ideal des Marketing ist die religiöse Ikonenverehrung. Heute kehren die Warenhäuser wieder an ihren Ursprung zurück. Die Pariser Passagen waren die ersten Kathedralen des Konsums. Und die Einkaufszentren der Gegenwart verwandeln sich in Schauplätze einer Wiederverzauberung der Welt, nach der wir uns gerade deshalb sehnen, weil jede Spur von Magie, Aura, Charisma und Zauber aus unserem aufgeklärten Alltag getilgt ist.“ (Ebd., S. 160).

„Der sorgende Kapitalismus und die konsumistische Religion - man muß kein Linksintellektueller sein, um spätestens jetzt den Impuls zu verspüren, aufzuklären, zu entlarven, nein zu sagen. Doch das ist gar nicht so einfach. Die Kulturkritiker werden arbeitslos, weil der Konsum sein schlechtes Gewissen verliert. Kulturkritik war nämlich immer nur die Bußpredigt des Kapitalismus, hinter der letztlich die puritanische Vorstellung stand, Produktion sei die Sache der Erwählten, Konsum aber die Sache der Verdammten. Doch das große Nein negiert nichts mehr, sondern wird unmittelbar vermarktet. Der Außenseiter wird zum Pop-Idol. Und Begriffe wie »Guerillakonsument« machen deutlich, daß Protest heute nur noch als bunter Tupfer auf der Konsumpalette auftaucht. Die Schwierigkeit, nein zu sagen, ist also deshalb so groß, weil das Nein unmittelbar von einem Konformismus des Andersseins vermarktet wird und das Ja längst selbstironisch geworden ist.“ (Ebd., S. 160-161).

„Das System des Konsumismus (**) übergreift also auch die Negation des Konsums durch die Zielgruppen, die sich dadurch definieren, daß sie keine Zielgruppen sein wollen. Offenbar gibt es keine Kritik, aus der die Werbung nicht eine Kampagne machen könnte. Werbung ist nicht mehr nur eine Sphäre der modernen Lebenswelt, sondern ihr Schematismus. Deshalb hat die Werbung es leicht, ihre zentrale Funktion für das System des Konsumismus zu erfüllen, nämlich dem Konsum das schlechte Gewissen zu nehmen.“ (Ebd., S. 161).

„Das ist gerade in unserer Überflußgesellschaft ein entscheidendes Problem. Was unser Gewissen quält, ist ja nicht nur das Wissen vom Elend der Welt, sondern auch das Gefühl, daß unser Wohlstand eine Funktion jenes Elends sei. Die Bußpredigt der Kulturkritik lebt seit Rousseau vom schlechten Gewissen des Konsums. Sie suggeriert uns, Konsum sei Schuld. Angesichts dessen hat die Werbung eine viel wichtigere Aufgabe, als naive Gemüter mit Luxusgütern zu blenden. Werbung verführt nicht nur zum Genuß, sondern erspart ihm auch die Reue. Sie hält die Gegen-Predigt zur Kulturkritik - einen unendlichen Diskurs über den Sinn des Konsums und den Konsum des Sinns.“ (Ebd., S. 161).

„Diese Diskursivierung des Konsums hat bei Markenartikeln dazu geführt, daß jedes Produkt eine Geschichte erzählt. Bekanntlich kann man heute Limonade für eine bessere Welt trinken und den Regenwald retten, indem man Bier trinkt. Das sind triviale Beispiele für den Konsumismus im Zeichen der ökologischen Korrektheit (vgl. dazu: Politische Korrektheit [**|**|**|**|**|**|**|**|**]; Anm. HB), der uns die Möglichkeit verspricht, eine bessere Welt zu kaufen. Das macht vielleicht nicht die Welt besser, aber in jedem Fall die moderne Gesellschaft robuster. Denn so wie die rote Kritik der 68er hat unsere Gesellschaft jetzt auch die grüne Kritik der Ökos in sich hineinkopiert und damit ihre Immunität gestärkt.“ (Ebd., S. 161).

„Die grünen Produkte von Body Shop über den Toyota Prius bis zur Bionade bestücken einen riesigen Markt der Weltverbesserer, der von einer neuen, »grünen« Art der Markentreue getragen wird, die an die Einheit von Genuß, Ethik und Luxus glaubt. Das gute Produkt hat eine hohe sachlich-technische Qualität, es bereitet Freude, es verschafft ein gutes Gewissen und es verschafft Anerkennung. Wir müssen deshalb heute das Shopping als soziales Handeln und als Medium einer Sakralisierung des Alltags begreifen. Das us-amerikanische Akronym LOHAS, das für einen Lebensstil der Gesundheit und Nachhaltigkeit steht, signalisiert die Wiederkehr der sektenhaft organisierten methodischen Lebensführung. Und das ist für unsere Leitfrage nach dem Geist des Kapitalismus von größter Bedeutung: Konsumethik ersetzt die Arbeitsethik.“ (Ebd., S. 162).

„Peter Koslowski und Birger P. Priddat resümieren zum Thema Konsumethik: »Konsum ist schon lange nicht mehr nur das Konsumieren von Waren. Menschen definieren sich zunehmend über das, was sie konsumieren. Nicht mehr allein, was man produziert und welcher Arbeit man nachgeht, sondern auch das, was man konsumiert und welchen »lifestyle« man verfolgt, bestimmen die Identität des zeitgenössischen Wirtschaftsbürgers. Konsumentenstile werden zu Lebensstilen. Güter zu Definitionsknoten des Selbstentwurfs.« (Peter Koslowski / Birger P. Priddat, Ethik des Konsums, 2006, S. 7). Reine Konsumgüter genügen diesen ethischen Erwartungen nicht mehr; man muß den Kunden, die sich heute eben nicht mehr als bloße Konsumenten, sondern viel mehr als Bürger verstehen, Partizipationsgüter anbieten. Das Unternehmen und der Kunde kreieren das Produkt gemeinsam. Man ist versucht, auf dieses Verhältnis ein schönes Wort des Romantikers Novalis anzuwenden: »Sympraxis«.“ (Ebd., S. 162).

„Ob wir tatsächlich von einer Wiederkehr des Geistes im Kapitalismus sprechen können, hängt letztlich von der Konsistenz der Lebensführung seiner dominierenden Schichten ab. Und hier stoßen wir auf eine interessante Paradoxie: Die neue Elite hat egalitäre Ideale. Sie propagiert die Gesamtschule, steckt ihre eigenen Kinder aber in Privatschulen. Das kann man Heuchelei nennen, aber dahinter steckt eben eine charakteristisch veränderte Werteorientierung. Status gewinnt man heute nur im Kampf gegen die Statussymbole.“ (Ebd., S. 162).

„Wie gibt man viel Geld aus, ohne zu protzen? Man investiert es in den eigenen Körper, in Küche und Bad, in kleine Dinge; man trinkt Wasser , das so teuer ist wie ein Wochenendeinkauf bei Aldi; man trägt Kleider, die lässig und nach Freizeit aussehen, aber aus unglaublich kostbarem Stoff gemacht sind; man macht Öko-Urlaub in garantiert touristenfreien Naturschutzgebieten. Statusinversion hat David Brooks das genannt. Die Erfolgreichen geben für die einfachsten Dinge des Lebens wie Kaffee, Nudeln und Seife ungeheuer viel Geld aus. Über dem Leben der Reichen liegt heute eine Patina der Einfachheit.“ (Ebd., S. 162-163).

„Den höchsten Status haben diejenigen, die auf dem Markt gegen den Markt erfolgreich sind; Freigeisterei wird hier zum Busineßmodell. Der postmaterialistische Status hängt also an der Negation der bisherigen Statussymbole, an der sozial anerkannten Abweichung. Sich tätowieren zu lassen, ist ein schönes Beispiel dafür, wie man sich heute durch ein Anti-Status-Symbol soziale Anerkennung verschaffen kann. So triumphiert die Boheme im Herzen der neuen Bürgerlichkeit, und fast alle nehmen teil am Kult des Anti-Erfolgs. Die Verlierer zelebrieren ihn, die Gewinner machen daraus ein Geschäftsmodell. Dabei wird das Schuldbewußtsein der Privilegierten durch einen Kult der Unterprivilegierten betäubt. Man erzählt die Legende vom »reichen« Leben der armen Leute, von denen wir so viel »lernen« können.“ (Ebd., S. 163).

„Gesellschaftskritiker sind dankbar für große Wirtschaftskrisen wie das Platzen der us-amerikanischen Immobilienblase im Jahre 2008 (**). Denn dann kann man den Kapitalismus noch einmal als Feind erkennbar machen - als Raubtier oder Monster. Der neoliberale Turbokapitalismus ist aber ein Phantomgegner, an dem lediglich der politische Kampfbegriff der »sozialen Gerechtigkeit« (**) Profil gewinnen soll. In Wahrheit hat sich das Gesicht des Kapitalismus aber längst zur Unkenntlichkeit gewandelt. Wir haben es nicht nur mit einem Massenkapitalismus der Kleininvestoren und, wie man angesichts der wachsenden Bedeutung der Pensionsfonds zu Recht gesagt hat, einem Kapitalismus ohne Kapitalisten zu tun, sondern auch mit einem prinzipiellen Wechsel vom nehmenden zum gebenden Kapitalismus.“ (Ebd., S. 163).

„Als der Philosoph Alexandre Kojève 1957 den Begriff »gebender Kapitalismus« in einem Vortrag präsentierte, wurde ihm entgegengehalten, niemand könne geben, ohne zuvor zu nehmen. Der Einwand bleibt natürlich richtig, und auch in Zukunft wird es Altruismus auf wirtschaftlicher Ebene nur geben, wenn er die Fitrneß eines Unternehmens steigert. Und dennoch hat Kojève etwas Entscheidendes gesehen. Ein neueres us-amerikanisches Kunstwort ... lautet Philanthrepreneurship, d.h. Unternehmertum als Menschenfreundlichkeit.“ (Ebd., S. 163).

„Es geht hier um das Ende des eindimensionalen Kapitalismus, der jedes Geschäft mit der Frage nach der Organisation und dem Profit begonnen hat. Ganz anders der gebende - oder wie wir sagen: der sorgende Kapitalismus. Er hat von den Non-Profit- und den Non-Governmental-Organizations gelernt, daß man mit einer Mission, einer Vision, der Umwelt, der Gemeinschaft und dem Kunden beginnen muß. Die dialektische Pointe des sorgenden Kapitalismus besteht also darin, daß Profit und Non-Profit keinen Gegensatz mehr darstellen, sondern Non-Profit als Portal zum neuen Profit verstanden wird. Längst ist der Non-Profit-Sektor der größte us-amerikanische Arbeitgeber.“ (Ebd., S. 163-164).

„Während sich gerade die Intellektuellen in den vergangenen zwei Jahrhunderten daran gewöhnt hatten, das westliche Wirtschaftssystem mit Entfremdung, Gier und Kälte zu assoziieren - die Bankenkrise 2008 (**) gab dazu wieder ausreichend Gelegenheit -, melden sich in jüngster Zeit immer häufiger die Stimmen eines sich um die Welt sorgenden Kapitalismus. Die Unternehmen arbeiten heute an einem Kapitalismus mit gutem Gewissen. Idealismus verkauft sich nämlich gut. Waschmittel sollen ethischen Standards entsprechen; an die Stelle von Ausbeutung soll der Fair Trade mit Entwicklungsländern treten. Grüner Punkt und das Siegel »umweltfreundlich« genügen nicht mehr - es entstehen »Ethik-Marken«. Schon vor Jahren trat Body Shop auf, als sei es kein Unternehmen, das Waren verkaufen will, sondern eine Philosophenschule, die uns das wahre Leben lehrt.“ (Ebd., S. 164).

„Die Warenproduktion zeigt heute immer deutlicher eine publizistische Dimension; Idealgüter drängen auf den Markt. Mit anderen Worten: Der Produzent inszeniert sich als Publizist, der Unternehmer als Politiker - Berlusconi und Benetton waren bisher die bekanntesten Beispiele. Das Politisch-Soziale wird zum Schauplatz des Marketing. Unternehmen adressieren ihre Brands an den »mündigen Bürger« und begreifen sich zunehmend als quasi-politische Institutionen, als Treuhänder der Bildung, ja als Bürgerinitiative. Sponsoring wird zur bevorzugten Form der Selbstdarstellung, und d.h.: Unternehmen kommunizieren nicht nur ihre Produkte, sondern auch ihre Haltungen und Identitäten. Sehen wir genauer zu.“ (Ebd., S. 164).

„Der sorgende Kapitalismus kümmert sich um die Umwelt. Neben die Profitmaximierung tritt scheinbar gleichberechtigt die Aufgabe des globalen Hüters und Hirten auf dem blauen Planeten. Peter Huber hat dieses Programm gegen die fundamentalistischen Umweltneurotiker der Grünen Parteien auf den Begriff Hard Green gebracht. Gemeint ist die mit der Ökologie versöhnte Ökonomie - die Überzeugung, daß wirtschaftliche Entwicklung der beste Umweltschutz ist. Nur dieses Denken ist wohl in der Lage, das Gespenst zu verscheuchen, das heute in Europa umgeht, nämlich den öko-feministischen Radikalismus. Der grünen Erlösungsreligion der Sektierer stellt der sorgende Kapitalismus sein hartes Grün gegenüber.“ (Ebd., S. 164-165).

„Der sorgende Kapitalismus kümmert sich um die Notleidenden. Damit stellt er sich der modernitätsspezifischen Tatsache, daß es keine Integration ohne Exklusion, keinen Fortschritt ohne Abweichungsverstärkung, keine Globalisierung ohne Opfer gibt. Der sorgende Kapitalismus begnügt sich aber nicht mehr mit Almosen. Seine Hilfsbereitschaft steht unter dem Motto »Change, not Charity!«.  Solche verwandelnde Hilfe macht aus der Menschenfreundlichkeit ein Geschäftsmodell. Während die Gelder der politischen Entwicklungshilfe nach wie vor im Sumpf der Korruption versickern, eröffnet der sorgende Kapitalismus den Markt der Armen - etwa durch die nobelpreisgeehrte Mikro-Kredit-Bewegung, oder durch die Finanzierung von Start-ups in der Dritten Welt. Auch das sind Fälle von Moralität aus wohlverstandenem Eigeninteresse, die stets viel stabiler ist als die gute Gesinnung. Jede Sorge um die Armen und Benachteiligten bleibt nämlich so lange maßlos und labil, solange man sich nicht klar macht, daß sie nicht nur aus dem weichen Motiv des Mitleids entspringt, sondern auch aus einem ganz harten Motiv: der Selbstverteidigung der Gesellschaft.“ (Ebd., S. 165).

„Der sorgende Kapitalismus kümmert sich um die öffentlichen Güter. Je größer eine Gruppe ist, desto geringer sind die Realisationschancen für gemeinsame Interessen, weil der Beitrag des Einzelnen kaum wahrnehmbar ist. Und öffentliche Ressourcen werden rasch von allen ausgebeutet, weil jeder der Mäßigung des anderen mißtraut. Das ist die Tragödie der öffentlichen Güter, die gerade die moderne Gesellschaft kennzeichnet. Dagegen kämpft der sorgende Kapitalismus mit einer privaten Produktion öffentlicher Güter an - das ist die einzig denkbare Lösung der Tragödie der öffentlichen Güter. Hinzu kommt, daß die Globalisierung den Nationalstaat systematisch überfordert; und hier springen eben die Global Players ein. Der erfolgreiche Unternehmer besetzt heute die vakante Stelle des Großen Mannes und stellt durch private Initiative öffentliche Güter zur Verfügung, die man bekanntlich nicht nicht konsumieren kann. Mit der Milliardenspende Warren Buffets an die Stiftung seines milliardenschweren Freundes Bill Gates hat sich der sorgende Kapitalismus ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt.“ (Ebd., S. 165).

„Der sorgende Kapitalismus kümmert sich um die Mitarbeiter der Unternehmen und ihre Kunden. Ganz selbstverständlich erwartet man heute einen familienfreundlichen Arbeitgeber, der den Mitarbeitern eine »Balance« zwischen Arbeit und Leben ermöglicht. Und im Blick auf die Umwelt des Unternehmens zielt das Marketing nicht mehr nur auf die Kommunikation mit den Kunden, sondern auf ein verantwortungsbewußtes Verhalten gegenüber den Bürgern. Das erfolgreiche Produkt des 21. Jahrhunderts definiert sich nicht mehr nur sachlich über seinen Gebrauchswert, sondern vor allem auch sozial über seinen Verknüpfungswert. Der soziale Mehrwert der Ware steht deshalb im Zentrum aller Strategien des neuen Marketing.“ (Ebd., S. 165-166).

„Und schließlich kümmert sich der sorgende Kapitalismus um die Bürger der Zivilgesellschaft. Im gemeinnützigen Engagement der Unternehmen tritt jede Firma als Großer Bürger auf. Der sorgende Kapitalismus bietet Dienstleistungen für die Gemeinschaft an und schöpft dabei die wichtigste Ressource des 21. Jahrhunderts aus: Commitment. Man könnte diesen zentralen Begriff ganz spröde mit »freiwillige Wertbindung« übersetzen. Aber gemeint ist einfach: Ich bringe mich ein; oder prägnanter, aber unübersetzbar us-amerikanisch: »I want to make a difference«. Hier geht es um die Rettung der Bürgerlichkeit vor dem Fürsorgestaat in einer Kultur der Freiwilligen und Ehrenamtlichen. In den USA ist das eine Selbstverständlichkeit. Aber auch in Europa wollen immer mehr Menschen »einen Unterschied machen«. Es geht um die Freude, eine Ursache zu sein.“ (Ebd., S. 166).

„So tritt in der modernen Gesellschaft neben den Wunsch, umsorgt zu werden, der Wunsch, sich zu sorgen. Noch deutlicher: In der Welt von Wohlstand und Fürsorge wächst der Wunsch, sich um jemanden oder etwas zu sorgen. Traditionell sorgte man sich um die Kinder und die Alten; das grün gefärbte Bewußtsein sorgt sich um »die Natur«; das schlechte soziale Gewissen sorgt sich um »die Armen« der Welt; die Unpolitischen, denen Kinder oder Senioren zu anstrengend und soziale oder Umweltprobleme zu komplex sind, sorgen sich um Haustiere; die »Fit-for-Fun«-Generation sorgt sich um den eigenen Körper; einsame Kinder sorgen sich um ihren Roboterhund. Und dieser Wunsch, sich zu sorgen, gründet in dem Wunsch, gebraucht zu werden. Mit den genauen Worten von Milton Mayeroff: Was mir fehlt ist, daß ich jemandem fehle.“ (Ebd., S. 166). **


„Andras Angyal hat schon in den 1950er Jjahren betont, daß wir gebraucht sein wollen; das Gebrauchtwerdenwollen ist eines der stärksten Motive unserer Lebensgestaltung. Oder in der erhellend paradoxen, ökonomisch kalten Formel: »demand for giving« (Gary S. Becker, The Economic Approach to Human Behavior, 1976, S. 275).“ (Ebd.).

„Zug um Zug hat die moderne Gesellschaft die Forderungen der französischen Revolution verwirklicht (**|**|**): Die Forderung nach Freiheit wurde im Liberalismus des 19. Jahrhunderts erfüllt; die Forderung nach Gleichheit erfüllte der Sozialstaat des 20. Jahrhunderts (in Deutschland bereits seit 1871; Anm. HB); und die Idee der Brüderlichkeit wird der sorgende Kapitalismus des 21. Jahrhunderts verwirklichen. (**). Dieser Begriff bezeichnet eine tief greifende Spiritualisierung der Wirtschaft. Die gemeinsamen Werte, die die globalisierte Welt organisieren, bilden sich heute nicht mehr in der Politik, sondern im Busineß. Gerade deshalb sind wir so empört über Enron, Siemens, Zumwinkel, Lehman Brothers und die Sachsen LB.“ (Ebd., S. 166-167).

„Wir haben in diesem Zusammenhang von freiwilliger Wertbindung, prägnanter: Commitment, gesprochen. Worte genügen aber nicht, um ein Commitment zu kommunizieren - man muß handeln und sich dann dem Urteil der Welt stellen. Deshalb wird es immer wichtiger, welches Bild ein Unternehmen in der Öffentlichkeit hinterläßt. Gezeichnet wird es von der unsichtbaren Hand der Reputation. »Karma« nennt die Internet-Welt diesen Inbegriff von Empfehlungen und Ansehen. Er macht heute den eigentlichen Eigenwert eines Unternehmens aus.“ (Ebd., S. 167).

„Und wehe dem, der sich diesem neuen Zeitgeist entziehen will. Er wird abgestraft von Kunden, die als mündige Bürger konsumieren. Auch dafür hat man schon einen schönen neuen Begriff gefunden: Ethical Shopping. Statt wählen zu gehen, drücken die Bürger ihre politische Meinung durch ihr Kaufverhalten aus. Kunden bestrafen unmoralische Unternehmen. Und das ist möglich, seit sich die öffentliche Weltmeinung online bildet - Globalisierung prägt nun auch die Dynamik sozialer Bewegungen. Der Bürger, der sich heute politisch engagieren, also einen Unterschied machen will, geht nicht mehr in die Politik, die viel zu komplex geworden ist, sondern er geht auf den Markt der Sorge, der so kleinteilig und einfach ist, daß man mit jedem Konsumakt und jeder Spende die Welt verbessern kann.“ (Ebd., S. 167).

„Den Gegenpol zum Bionade-Trinken bilden die so genannten »Divestment«-Bewegungen auf dem Aktienmarkt. Hier ein Beispiel. Dafur in Sudan assoziiert heute jeder mit Völkermord. Große us-amerikanische Investoren wie Pensionsfonds reagieren mit ökonomischem Druck auf internationale Konzerne, die im Sudan Geschäfte machen, d.h. sie stoßen deren Aktien ab. In solchen »Divestment«-Bewegungen gewinnen also Menschenrechte Einfluß auf Aktienkurse. So wie der soziale Unternehmer nicht einfach nur ein guter Mensch ist, sondern erkannt hat, daß in jedem sozialen Problem ein Geschäftsmodell steckt, so gilt heute auch umgekehrt: Soziale Bewegungen entpuppen sich als Unternehmer, die neue Probleme auf dem Markt der Aufmerksamkeit verkaufen.“ (Ebd., S. 167).

„Auch aus sozialen Bewegungen kann man nämlich ein Geschäft machen: die Monetarisierung des Protests. Das ist die Serviceleistung von Banken, die wütenden, protestbereiten Kunden ein Management ihres individuellen Protest-Portfolios anbietet. Das klingt komplizierter als es ist. Das Geschäftsmodell solcher Karma-Banken sieht folgendermaßen aus: Hedge-Fonds stecken ihr Geld dorthin, wo es Boykott gibt - d.h. sie wetten gegen den Erfolg sozial unverantwortlicher Unternehmen. Und sie nutzen dabei die Ressource des globalen Konsumentenprotests. Formelhaft gesagt: die Hedge-Fonds steuern das Geld bei, die Protestbewegungen den Boykott. Sie nutzen die Ressource des globalen Widerstands. Man könnte also von der Geburt des sorgenden Kapitalismus aus dem Geist des Protests sprechen (**).“ (Ebd., S. 167-168).

„Skeptiker werden einwenden, das alles sei nur Fassade. Und wenn bisher von der Ethik des Kapitalismus die Rede war, hatten Zyniker stets die Formel von Groucho Marx zur Hand: Der Schlüssel zum geschäftlichen Erfolg sind Ehrlichkeit und fairer Handel. Wenn Du das vortäuschen kannst, hast Du's geschafft. Doch ist Moral in der Wirtschaft tatsächlich bloßer Schein? Der sorgende Kapitalismus kann sich auf zwei objektive Faktoren stützen: erstens die Moral der Kooperation und zweitens die Logik der Netzwerke.“ (Ebd., S. 168).

„Die Evolutionstheorie hat uns gelehrt, daß es Altruismus nur geben kann, wenn er die Fitneß steigert. Und genau das verbirgt sich hinter der modernen Tugend der Lernbereitschaft. Es handelt sich dabei um den schwachen Altruismus des aufgeklärten Selbstinteresses, der für den sorgenden Kapitalismus so charakteristisch ist. Die Kraft, die dessen Moral wachsen läßt, steckt in den dauerhaften, weltweit vernetzten Geschäftsbeziehungen. Kooperation erzeugt Moral. Daß Menschen miteinander kooperieren, weil sie Vertrauen ineinander haben, ist für unser Thema mithin völlig uninteressant. Uns interessiert umgekehrt, wie Kooperationsangebote Vertrauen schaffen, und Vertrauen dann die Transaktionskosten reduziert.“ (Ebd., S. 168).

„Raubtierkapitalismus dagegen ruiniert sich selbst. Wer Erfolg hat, indem er die Dummheit und Schwäche der anderen ausnutzt, zerstört damit die Umwelt, in der er Erfolg haben kann. Räuberische Strategien zerstören also ihre eigenen Erfolgsbedingungen. Und genau umgekehrt ist das Programm des sorgenden Kapitalismus eines, das gewinnt, ohne andere zu besiegen. Es begreift den Erfolg des anderen als Bedingung des eigenen. Erfolg habe ich demnach nicht durch Schwächung des anderen, sondern durch Stärkung der gegenseitigen Interessen. Erfolg hat, wer mit Erfolgreichen kooperiert.“ (Ebd., S. 168).

„Es geht also darum, Moral nicht ethisch, sondern ökonomisch zu begründen - nämlich aus der Evolution der Kooperation. Es ist intelligent, nett zu sein. Wer dagegen Erfolg sucht, indem er die Dummheit der anderen ausnutzt, zerstört damit die Umwelt, in der er Erfolg haben kann. Je komplexer das Wirtschaftssystem, um so mehr hängt der eigene Erfolg vom Erfolg des anderen ab. Zusammenarbeit und Wettbewerb sind kein Gegensatz, sondern die zwei Seiten derselben Medaille. Das verträgt sich sehr gut mit der Logik des Marktes, der ja soziale Koordination durch wechselseitige Anpassung erreicht. Der moderne Markt ist nämlich ein Netz von Transaktionen - und damit dem Internet ähnlich. Genauer gesagt: Jeder Marktteilnehmer ist mit Millionen anderer Marktteilnehmer kooperativ verknüpft, steht aber nur mit relativ wenigen in unmittelbarem Wettbewerb.“ (Ebd., S. 168-169).

„Deshalb reden heute alle von strategischer Allianz, symbiotischer Konkurrenz, aber auch Ko-Evolution von Unternehmen und Kunden. In diesen Begriffen verbirgt sich die Unternehmensphilosophie des sorgenden Kapitalismus, daß Erfolg gerade nicht in der Vernichtung des Konkurrenten besteht. Open Source ist dafür ein gutes Beispiel: Jeder nutzt es, keinem gehört es, jeder kann es verbessern. Die Gelegenheiten, die Netzwerke bieten, erzeugen die nötige Motivation. Deshalb kann man auch von der Geburt des sorgenden Kapitalismus aus dem Geist der Netzwerke sprechen (**).“ (Ebd., S. 169).

Eine mögliche Gerechtigkeit

„Die Gleichheit der Menschen ist eine Abstraktion. Sobald man betrachtet, wie sie in Geschichten und Kausalitäten verstrickt sind, drängen sich die Ungleichheiten auf; so wie Bauern im Schachspiel abstrakt betrachtet gleich stark sind, im Spielverlauf aber höchst unterschiedliche Wichtigkeit bekommen.“ (Ebd., S. 170).

„Menschen respektvoll zu behandeln heißt deshalb nicht, sie gleich zu behandeln. Und wie wir gesehen haben, führt der Wunsch nach Gleichheit gerade nicht zur Erfahrung der Anerkennung.“ (Ebd., S. 170).

„In seiner Schrift über den mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte nennt Kant die Ungleichheit unter Menschen die »reiche Quelle so vieles Bösen, aber auch alles Guten.« (Immanuel Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, 1786, A 20f., in: Werke, Band XI, S. 97). Vor allem die Geschichte der Wirtschaftssysteme zeigt, daß Produktivität und Kreativität Resultate des Wettbewerbs sind, der natürliche Ungleichheiten nutzt und materielle Ungleichheiten schafft. Formen von Gleichheit können deshalb immer nur die ultimativen Luxusartikel einer freien Wohlstandsgesellschaft sein. Arme Gesellschaften können sich Gleichheit gar nicht leisten.“ (Ebd., S. 170).

„Der Neuerer und der Erfolgreiche machen sich ungleich. Zurecht berufen sie sich auf die us-amerikanische Verheißung, daß jeder nach seinem Glück streben darf. Frei und gleich sollten ja alle US-Amerikaner, alle Menschen sein. Doch Glück kann es nur geben, wenn es ungleich verteilt ist. Deshalb gehört zum Leben in Freiheit die Fähigkeit, den Neid auf den Erfolgreicheren zu zügeln. Niklas Luhmann hat sie »Reichtumstoleranz« genannt. (vgl. Niklas Luhmann, Aufsätze und Reden, S. 49). Nicht die Ungleichheit soll man bekämpfen, sondern die Privilegien - das war schon immer die liberale Position des Kapitalismus und seiner Idee einer demokratischen Gleichheit, die Differenzierung nicht ausschließt; aber diese Unterschiede müssen kontingent sein, also auch anders möglich. Bürgerliche Gleichheit heißt: Jeder hat die gleiche Chance, ungleiche Beträge zu akkumulieren. In der Aristokratie gab es ungleiche Chancen, ungleich zu werden. In einer Demokratie gibt es gleiche Chancen, ungleich zu werden. Jeder muß die gleichen Chancen haben, ungleich zu werden.“ (Ebd., S. 170).

„Die sozialistische Kritik des Kapitalismus ist genau dann wahr, wenn sie nicht auf Gleichstellung aller pocht - denn Ergebnisgleichheit zerstört gerade die Chancengleichheit -, sondern wenn sie darauf hinweist, daß es für viele Menschen gar keine Chancen gibt - z.B. einen Arbeitsplatz zu finden. Wer keine Arbeit findet, oder wer bereit ist, jede Arbeit zu übernehmen, gehört eigentlich nicht mehr zum System der Wirtschaft. Er toleriert es nur aus Ohnmacht. Die wirklich Armen sind, wie der Dichter Peter Handke es einmal formulierte, »wunschlos unglücklich«. Es fehlt ihnen der Mut, viel zu begehren.“ (Ebd., S. 171).

„Die Politik antwortet auf Ungleichheit mit Umverteilung. Sie tut das auf drei Ebenen. Zum einen bietet sie öffentliche Güter und Dienstleistungen an, also Dinge, die der einzelne Kunde nicht auf dem Markt kaufen kann: militärische Verteidigung, polizeiliche Ordnung, Infrastruktur, öffentliche Verkehrsmittel, Umweltschutz, Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz. Zum zweiten sorgt die Politik für die Chancengleichheit der Bürger in den Bereichen Recht, Gesundheit und Bildung. Das ist die eigentliche Ebene der sozialen Inklusion, d.h. der Anerkennung eines jeden als Bürger. Und schließlich gibt es, drittens, Transferleistungen für die Alten, die Armen und die Arbeitslosen.“ (Ebd., S. 171).

„Nüchtern betrachtet, kann Gleichheit unter modernen Lebensbedingungen nur heißen: Inklusion, die Möglichkeit der Teilnahme aller an den sozialen Systemen. Und wer alle integrieren will, muß auf die Gleichheit aller verzichten. Egalitarismus ist eine Anleitung zum Unglücklichsein. Wir können das gute Leben, das uns die moderne Gesellschaft ermöglicht, nicht leben, solange wir noch an Rousseau glauben. Und wir haben in den vergangenen Kapiteln deutlich gesehen: Die größte Gefahr für die moderne Gesellschaft geht nicht von denen aus, die asozial sind, sondern von denen, die zu sozial sind.“ (Ebd., S. 171).

„Gleichheit ist in unserer Kultur zunächst einmal ein schöpfungstheologischer Begriff. Wir sind gleich vor Gott, d.h. in unserer Kreatürlichkeit. (**). Der christliche Tod markiert die unerschütterliche Gleichheit von arm und reich, klug und dumm, mächtig und abhängig; er dreht uns aus der Horizontalen der Weltlichkeit in die Vertikale des Gottesbezugs. Gleich vor Gott sind wir als Sünder. Und ein Theologe müßte sagen: Nur vor Gott sind alle Menschen gleich - alles andere sind Säkularisationen und Dummheiten.“ (Ebd., S. 171).


„Obwohl die Gleichheit vor Gott aus dem Neuen Testament kaum ableitbar ist; offenbar ist diese Egalitätsidee jüdischen Ursprungs.“ (Ebd.).

„Daß Gott die Menschen frei und gleich geschaffen hat, heißt gerade nicht, daß sie als soziale Wesen gleich wären. Gleich sind die Menschen nur im Blick auf etwas, was außerhalb, oberhalb oder unterhalb des gesellschaftlichen Lebens ist. Gleich sind die Menschen zum Beispiel, wenn man sie mit dem Tier vergleicht - oder auf Gott bezieht. Säkularisiert und modern: im Blick auf die Gesellschaft. Die ursprünglich christliche Gleichheit der Menschen war eine Gleichheit der Schöpfung und der gläubigen Gottesnähe - »eines in Christo Jesu«, wie Paulus sagt (vgl. Paulus, Gal., 3,28) -, die soziale Ungleichheit hinnimmt! Sobald aber die Gleichheit nicht mehr religiös begründet wird, muß das rein biologische Gattungsleben der Menschen verabsolutiert werden.“ (Ebd., S. 171-172).

„Der Gleichheit vor Gott folgt die Gleichheit vor dem Gesetz. Gleichheit heißt hier, daß das Recht blind ist für die Ungleichheit. Das legt den Fehlschluß von den gleichen Rechten auf die wesensmäßige Gleichheit aller Menschen nahe. Doch daß wir in einer Gesellschaft von Individuen leben heißt eben, daß wir nicht in einer Gesellschaft von Gleichen leben. Diese Individuen werden vom Staat und vor dem Gesetz gleich behandelt. Aber man darf von der Gleichbehandlung - und dem berechtigten Anspruch darauf - nicht auf Gleichheit schließen. Die Gleichheit vor dem Gesetz schließt nicht Ungleichheit aus, sondern Willkür.“ (Ebd., S. 172).

„Im sozialen Leben gibt es immer nur Gleichheit als ob, denn Menschen sind nur als Personen gleich. Wir müssen also zwischen »gleich sein« und »gleich behandelt werden« unterscheiden. Die Geselligkeit einer »massendemokratischen« Kultur hat deshalb immer etwas Künstliches. Sie entwickelt sich nicht aus einer natürlichen Gleichheit der Menschen heraus, sondern umgekehrt entsteht Gleichheit nur im Ausdruck von Geselligkeit. Man kann es auch so sagen: Geselligkeit ist ein Spiel, in dem man so tut, als ob alle gleich wären und als ob alle gleichermaßen wertgeschätzt würden. In jedem Spiel lernt man ja Gleichheit, sofern sich jeder gleichermaßen Regeln unterwirft, über die sich alle Beteiligten einig sind. Das ist eine sehr tiefe Einsicht der Soziologen Georg Simmel und - auf dessen Spuren - Hugh D. Duncan: Nicht nur das Befehlen und das Gehorchen müssen Menschen lernen, sondern sie müssen auch lernen, gleich zu sein. Und hier haben wir gar keine Wahl. Wir müssen gleich sein können, wenn wir Freunde und Kollegen haben wollen.“ (Ebd., S. 172).

„Auch im Blick auf Gleichheit muß gelten, was Herbert Simon »satisficing« genannt hat. Wir sollten zufrieden sein mit dem, was gut genug ist, statt mit absurdem Aufwand nach der optimalen Lösung zu suchen. Soziales Satisficing würde dann besagen: genug statt gleich viel. Das hat nichts mit Bescheidenheit sondern lediglich mit der Einsicht in den sinkenden Grenznutzen aller Gleichstellungsbemühungen zu tun. Die Schwierigkeit liegt allerdings darin, daß sich »gleich viel« vielleichter berechnen läßt als »genug«. Und genug heißt heute: genug für ein gutes Leben.“ (Ebd., S. 172-173).

„Man sollte unterscheiden zwischen der vernünftigen Forderung, daß jeder genug haben soll, und der utopischen Forderung, daß jeder gleich viel haben soll. Daß es einem schlechter geht als anderen, kann immer noch heißen, daß es einem gut genug geht. Wenn man viel von etwas hat, dann ist es moralisch unerheblich, daß andere noch mehr davon haben. Man kann weniger haben, ohne wenig zu haben. Wenn man einen schönen Garten hat, dann sollte es gleichgültig sein, daß der Nachbar einen Park hat. Wer ein gutes Leben führt, will es nicht maximieren. Ein beftiedigendes Maß an Befriedigung genügt. Es kann mir schlechter als anderen gehen, ohne daß es mir schlecht geht.“ (Ebd., S. 173).

„Wer dagegen auf Gleichheit fixiert ist, bemißt seine Lebenszuftiedenheit nicht an dem, was ihm selbst zur Verfügung steht, sondern an dem, was anderen zur Verfügung steht. Die Sorge um die Gleichheit lenkt ihn ab von der Sorge um sich, also von der Frage, was wirklich wichtig ist. Das soziale Satisficing berührt also die zentralen Fragen moderner Lebenskunst. Und daß es sich hier tatsächlich um eine Kunst handelt, beweisen die vielen Leute, die unfähig sind, sich an den Dingen des Lebens zu freuen, obwohl es ihnen »gut genug« geht. Offenbar funktioniert ihr Gerechtigkeitsbegriff wie eine Anleitung zum Unbehagen.“ (Ebd., S. 173).

„Seit der Antike ist die westliche Kultur von einem Gerechtigkeitsbegriff geprägt, der die blinde Justitia buchstäblich nimmt. Gerechtigkeit ist leidenschafts- und vorurteilslos und schützt die universalen Rechte des Individuums ohne Ansehen der Person und der Umstände. Diese Gerechtigkeit ist im Kern eine auf Rechten basierte Unparteilichkeit. Bekanntlich verkaufen sich heute, außer der »Linken«, alle politischen (= politisch korrekten; Anm. HB) Parteien als Partei der Mitte (in Wirklichkeit sind sie eine Partei der Linken, der linken Mitte und der Mitte **). Der Begriff würde einen guten Sinn haben, wenn er nicht am Parteienspektrum, sondern an Aristoteles orientiert wäre. So heißt es in der »Nikomachischen Ethik«: »Die Gerechtigkeit ist also eine Mitte, freilich nicht auf dieselbe Art wie die übrigen Tugenden, sondern weil sie die Mitte schafft. Die Ungerechtigkeit dagegen schafft die Extreme.« (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1133b32f, und 1137b12). Großartig ergänzt wird diese Konzeption durch Aristoteles' Definition der Billigkeit »als Korrektur des gesetzlich Gerechten«; gemeint ist die Nachgiebigkeit dessen, der im Recht ist.“ (Ebd., S. 173).

„Ganz anders steht es aber um die alttestamentarische Gerechtigkeitsvorstellung des jüdischen Gesetzes. Die prophetische Ermahnung, gerecht zu handeln, hat sehr viel mit Umständen und Leidenschaften zu tun. Gerechtigkeit zielt hier auf sozialen Zusammenhalt und Frieden; sie ist orientiert an den Bedürfnissen der Armen, Kranken und Fremden. Und indem der Gerechte die Unterdrückten befreit, die Hungernden speist und den Heimatlosen ein Obdach gibt, fördert er sein Selbstgefühl persönlicher Ganzheit. Das klingt verblüffend aktuell.“ (Ebd., S. 173-174).

„Die paulinische Umwertung der Werte liegt nun darin, daß Gott die menschliche Gerechtigkeit nicht anerkennt. Das Gesetz der Juden verhüllt die Gerechtigkeit Gottes, die sich nur zeigt aus Glauben zum Glauben. Daraus folgt aber, daß der menschliche Kampf gegen die Ungerechtigkeit nicht selbst der Weg zur Gerechtigkeit Gottes ist. Deshalb sagt Paulus den Korinthern: »Zieht nicht am fremden Joch mit den Ungläubigen. Denn was hat die Gerechtigkeit zu schaffen mit der Ungerechtigkeit?« (Paulus, 2 Kor., 6,14).  Richtiger heißt es in der Einheitsübersetzung: »Was haben denn Gerechtigkeit und Gesetzwidrigkeit (anomia) miteinander zu tun?«  Die Kritik der Gesetzwidrigkeit führt nicht zur Gerechtigkeit. Aber Paulus geht noch einen Schritt weiter in dem ungeheuerlichen Verdacht, daß die menschlichen Werke der Gerechtigkeit des Teufels sein könnten. Denn wie sich Satan als Engel des Lichts tarnt, so verstellen sich seine Handlanger als Diener der Gerechtigkeit. (Vgl. Paulus, 2. Kor., 11,15)“ (Ebd., S. 174).

„Fast jeder erkennt Ungerechtigkeit, wenn er sie sieht oder erlebt, aber fast niemand kann sagen, was Gerechtigkeit ist. Die Theorie der Gerechtigkeit ist die negative Theologie des Rechts; auch die Jurisprudenz hat also ihren verborgenen Gott. Natürlich ist die göttliche Gerechtigkeit des paulinischen Christentums ein extremer Fall der Sakralisierung. Doch bei Lichte betrachtet, sakralisiert jede Gesellschaft ihre Gerechtigkeitsprinzipien - und wehrt sich deshalb gegen ihre Analyse. Daß es sich dabei um Notwehr handelt, kann man sich an einer Analyse des Staatsrechtlers Carl Schmitt vergegenwärtigen, die eine Dreifachübersetzung des griechischen Urworts Nomos als Nehmen, Teilen und Weiden anbietet.“ (Ebd., S. 174).

„Dieser Übersetzungsvorschlag sieht zunächst nach reiner Philologie aus, gewinnt aber rasch eine ungeheure Brisanz. Die einfache Pointe liegt darin, daß man nur teilen kann, was man vorher genommen hat. Das wird vergessen, wenn rechts- und staatsphilosophisch von der ursprünglichen Teilung die Rede ist, in der die Gerechtigkeit sich zeigt, indem jeder das Seine erhält und so das Recht an Eigentum knüpft. Weiden schließlich meint Wirtschaften, also Produktion und Konsum. »Das Teilen bleibt stärker im Gedächtnis als das Nehmen.« (Carl Schmitt, Nehmen, Teilen, Weiden, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, 1958, S. 101). Doch wenn man radikal denkt, also die Sache an der Wurzel packt, stößt man immer wieder auf den Vorrang des Nehmens: Landnahme, Eroberung, Kolonisierung, Imperialismus, Migration.“ (Ebd., S. 174-175).

„Die drei Bedeutungen des Wortes Nomos treten sehr deutlich auseinander, wenn man die drei großen Antworten auf die »soziale Frage« miteinander vergleicht. Der Liberalismus löst die soziale Frage durch das Weiden, also durch die Steigerung von Produktion und Konsum. Der Sozialismus löst die soziale Frage durch das Teilen, nämlich durch radikale Umverteilung der Güter. Hier knüpft der moderne Staat an, dessen Funktion im wesentlichen darin besteht, das Bruttosozialprodukt umzuverteilen. Der Imperialismus löst die soziale Frage durch das Nehmen, also durch koloniale Expansion. Und Carl Schmintt sagt sehr schön: »Das Odium des Kolonialismus, das heute die europäischen Völker trifft, ist das Odium des Nehmens.« (Carl Schmitt, Nehmen, Teilen, Weiden, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, 1958, S. 111).“ (Ebd., S. 175).

„Auch in der Geschichte des Sozialismus kann man mit Hilfe der dreifachen Bedeutung des Wortes Nomos eine interessante Differenzierung anbringen: Charles Fourier setzt utopisch auf das Weiden, Proudhon setzt moralisch auf das Teilen, und Karl Marx setzt geschichtsphilosophisch auf das Nehmen. Das sind unvermeidliche Theorie-Entscheidungen. Um handeln zu können, brauchen wir nämlich ein Modell von der Wirklichkeit. Und in jedem Modell steckt ein Vorurteil, das Folgen für die Art hat, wie wir handeln. Deshalb unterscheiden sich Wirklichkeitsmodelle nicht nur in ihrer Korrektheit sondern auch in ihrer Attraktivität. Und nicht immer sind die wünschenswertesten Handlungen das Resultat wirklichkeitsnaher Modelle. Der Organisationssoziologe James March spricht deshalb von gerechten Modellen, wenn sie Handlungen hervorrufen, die die Menschen und die Welt besser machen. Insofern kann man den Wahrheitswert eines Wirklichkeitsmodells von seinem Gerechtigkeitswert unterscheiden. Sollte man deshalb im Zweifelsfall auf etwas Wahrheit verzichten, um etwas mehr Gerechtigkeit zu erreichen? So jedenfalls könnte sich ein Politiker von der Wissenschaft emanzipieren.“ (Ebd., S. 175).

„Von allen Gerechtigkeitsvorstellungen hat die an der Wechselseitigkeit des Tauschs orientierte auf den ersten Blick die größte Evidenz. So ist das Prinzip des Handels, Wert um Wert, für Ayn Rand das Prinzip der Gerechtigkeit. Diese Theorie mag us-amerikanisch naiv sein - in ihrer Kritik des kollektivistischen Altruismus und der Selbstlosigkeit als Goldstandard des Guten ist sie gerade heute eine der wichtigsten Stimmen einer Freiheit, die differenziert. Die sozialen Unterschiede sind der Preis, den wir für die Freiheit in der modernen Gesellschaft bezahlen müssen. Sie sind erträglich, so lange jedem die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs offen steht; so lange die Konflikte zwischen den sozialen Klassen nicht in Feindschaft sondern in »Partnerschaft« ausgetragen werden; und so lange der Staat die Rahmenbedingungen des Daseins garantiert.“ (Ebd., S. 175-176).

„Ayn Rand kämpfte gegen das Bild vom Menschen als opferndem Tier, das sich heute sehr deutlich in den Ritualen der Umweltbewegung zeigt. Hinter den grünen Lebensformen steckt nämlich das religiöse Bedürfnis, zu opfern und andere zum Opfer zu zwingen. Umweltschutz als Opferritual ist ein Seelenrettungszwangsangebot. Bedenkenswert ist vor allem Rands Mahnung, den damit einhergehenden Altruismus nicht mit Freundlichkeit und dem Respekt vor den Rechten anderer zu verwechseln. Doch so sehr diese Theorie auch heute noch dynamische junge Unternehmerseelen in den USA beschwingt - der Komplexität der modernen Gesellschaft wird sie nicht gerecht. Seit die Gesellschaft nicht mehr reziprok, also tauschförmig funktioniert, gibt es überhaupt keinen plausiblen Begriff von Gerechtigkeit mehr. Jedem das Seine - was sollte das sein?“ (Ebd., S. 176).

„Gerechtigkeit kann man rein theoretisch durch Reziprozität sehr gut veranschaulichen. Aber in der modernen Gesellschaft sind die Funktionsbeziehungen so weit auseinander gezogen, daß ein Ausgleich nur noch auf Umwegen möglich ist - etwa der Ausgleich dafür, daß die Besserverdienenden »progressiv« besteuert werden. Es gibt hier keine direkte Reziprozität der Leistungen mehr, keine Balance zwischen Geben und Nehmen, zwischen Berechtigung und Verpflichtung. Niklas Luhmann hat das polemisch in dem Satz zugespitzt: »Das subjektive Recht ist das ungerechte Recht.« (Niklas Luhmann, Die Ausdiffernzierung des Rechts, 1981, S. 365).“ (Ebd., S. 176).

„Unser Zwischenfazit lautet deshalb: Gerechtigkeit als Perfektionsformel paßt nicht mehr in die moderne Welt. Was man stattdessen allenfalls noch erwarten kann, ist Rechtssicherheit. Wenn wir zwischen Recht und Unrecht unterscheiden, ist damit noch nichts über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gesagt. Stattdessen verschiebt sich der Akzent auf die Rechtssicherheit. Je komplexer das Recht, desto wertvoller die Rechtssicherheit. Vor diesem Hintergrund kann dann Gerechtigkeit nur noch (nur noch!) als Konsistenz des Entscheidens und damit als Redundanz des Rechts erscheinen. Eine mögliche Gerechtigkeit wäre also nicht ein Wert, sondern die Reflexivität des Wertens, die Wertung der Wertung. Das bedeutet aber auch, daß das, was im Innern des Systems als kanonisch gilt, von außen betrachtet als kontingent erscheint.“ (Ebd., S. 176).

„Wer nun dennoch an einem emphatischen Gerechtigkeitsideal festhalten will, muß es nicht mehr im Recht sondern in der Moral und der Politik verorten. Soziologisch betrachtet, gilt: Es gibt keine gerechte Gesellschaft (**). Aber politisch betrachtet, scheint es unerträglich, daß Gerechtigkeit zu einem formalen Sonderwert des modernen Rechtssystems kondensiert werden soll. Mit anderen Worten, die Frage: »Wieviel Gerechtigkeit kann eine Gesellschaft sich leisten?« (Niklas Luhmann, Die Ausdiffernzierung des Rechts, 1981, S. 417) darf nicht gestellt werden. An diesem Tabu scheiden sich die Geister in Utopisten und Funktionalisten, in Egalitaristen und Bürgerliche.“ (Ebd., S. 176-177).

„Um die Grenzen der möglichen Gerechtigkeit zu erkennen, braucht man die Tapferkeit der Bürgerlichkeit. Sie besteht darin, auf ein Konzept von Glück als Wunscherfüllung zu verzichten. Niemand war hier konsequenter als Kant, der in seiner Ethik das Glück/Unglück-Problem systematisch ausschaltete - im Namen der Pflicht. Max Weber hat dieses Thema dann großartig orchestriert, indem er die Tapferkeit der Bürgerlichkeit als Quintessenz der Lebensweisheit von Platon bis Goethe herauspräpariert hat. Sein Vortrag über den Beruf zur Wissenschaft endet bekanntlich mit der Ermahnung, wir alle sollten nicht auf das Heil warten, sondern »an unsere Arbeit gehen und der ›Forderung des Tages‹ gerecht werden - menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.« (Max Weber, Soziologie, S. 339).“ (Ebd., S. 177).

„Diese Ermutigung zur Bürgerlichkeit stützt sich auf den Mythos von der Spindel der Norwendigkeit, den Platon auf den letzten Seiten seines Buches über den Staat etzählt. Jeder wählt sich seinen Dämon und verharrt dann in der gewählten Lebensbahn. Jeder wählt sein Los, nimmt das ihm Zufallende auf und ist alleine schuld an der Wahl. Gerade weil es keine Taxis der Psychen, keine Rangordnung der Seelen gibt, kommt alles darauf an, gute und schlechte Lebensweisen unterscheiden zu können. Denn die besseren Lebensweisen machen eine gerechte Seele. Max Weber übersetzt nun diese Wahl des eigenen Dämons durch bürgerliche Pflichterfüllung, so wie Goethe sie in seiner berühmten Betrachtung über die Grenzen der Betrachtung definiert hat: »Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist. Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages.«, (Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 442f.).“ (Ebd., S. 177).

„Statt des Glücks sucht der Bürger die Würde. Sie ist eine Sache von Symbolen, Gesten und Institutionen. »Sich von den Institutionen konsumieren zu lassen gibt einen Weg zur Würde für jedermann frei, und wer seine Pflicht tut, hat ein Motiv, das von jedem anderen her unbestreitbar ist.« (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 75). Das ist die moderne, säkularisierte Form der Bewährung. Mit wunderbarer Ironie akzeptiert Arnold Gehlen hier den Vorwurf, dieser Dienst an den Institutionen sei Entfremdung, denn Entfremdung ist genau das, was die Menschen brauchen, um Distanz zu sich selbst zu bekommen - Selbstverwirklichung durch Selbstentfernung. Das ist Gehlens große Einsicht: die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung. Vom Egalitarismus bedroht, sucht diese Freiheit Schutz in den Ritualen, Institutionen und Systemen.“ (Ebd., S. 177-178).

„Die Tapferkeit des Bürgers bewährt sich darin, daß er seine Identität in der rituellen Aufrechterhaltung der sozialen Situation sucht, seine Würde im Konsumiertwerden durch die Institutionen findet und in der Funktionsfähigkeit der sozialen Systeme das moderne Äquivalent für Gerechtigkeit anerkennt. In der modernen Gesellschaft kann sich die Ethik nicht mehr am richtigen, guten Handeln des Individuums orientieren, weil wir in ihr nur als Träger von Rollen agieren, die so, aber auch anders verteilt sein können. Wie man je und je handeln muß, kann man also nicht mehr an Ideen und Prinzipien ablesen. Deshalb hat Arnold Gehlen gefordert, daß die Menschen mit Haut und Haaren in ihre Institutionen hineingehen und sich von ihnen konsumieren lassen. Und genau so denkt es auch Niklas Luhmann - nur daß er nicht mehr von Institutionen, sondern von Systemen spricht. »Unsere Existenz hängt von funktional differenzierten Großsystemen der Informationsverarbeitung ab. Deren Erhaltung im Transzendieren aller ontischen Faktizität ist das, was wir als Menschen leisten. In ihnen und durch sie müssen wir uns auf die Welt beziehen.« (Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 180).“ (Ebd., S. 178).

„Modernisierung erscheint hier als ein Prozeß, der die Menschen zwingt, vom alten Perfektionsideal der Gerechtigkeit Abschied zu nehmen und sich zunächst mit der Rechtssicherheit, schließlich aber nur noch mit der Funktionsfähigkeit der sozialen Systeme zu begnügen. Die Ordnung des Rechts, das diese moderne Gesellschaft sichert, nennt Luhmann »das Gerechte«. Mit der Säkularisierung der Gerechtigkeit zur gesicherten Funktionsfähigkeit der Gesellschaft wehrt der Soziologe jeden Wertbegriff der Gerechtigkeit ab. Und gerade damit hält er der antiken Gerechtigkeitsidee die Treue. Der Blick zurück auf die Griechen befreit von den Wertphantomen, die den Blick auf die moderne Gesellschaft verstellen. »Gerechtigkeit war nie und nimmer ein ›Wert‹. Sie war vielmehr gedacht als Maß der Besinnung gegenüber den exzessiven Ansprüchen aller Werte. Falls es unserer Zeit vergönnt sein wird, das Gerechte in ursprünglicher Weise selbst zu denken, wird dieses Denken sich nicht auf das Maß des Gleichen richten, sondern auf die Technik der Systeme.« (Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 181).“ (Ebd., S. 178).

„Wie der Philosoph das Sein muß der Jurist die Gerechtigkeit im Horizont der Zeit denken. Wer einen Wert verwirklicht, verwirkt einen anderen - der dann später verwirklicht werden kann. Ein Wert imponiert immer nur auf Kosten eines anderen, und die Präferenzen wechseln immer rascher. Schon deshalb kann Gerechtigkeit kein Wert sein, sondern nur das Maß des Opportunismus im Umgang mit den Werten.« (Vgl. Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 215). Mit anderen Worten: Daß die Systeme funktionieren, ersetzt das Perfektionsideal der Gerechtigkeit. Modern setzen wir also nicht auf eine gerechte Gesellschaft, sondern auf eine funktionsfähige.“ (Ebd., S. 179).

„Für unsere Überlegungen zu einer möglichen Gerechtigkeit gibt es wohl keinen besseren Anknüpfungspunkt als die große, mit Leidenschaft und Augenmaß geführte Diskussion der frühen 1950er Jahre über das Bonner Grundgesetz und seinen Begriff des sozialen Rechtsstaats. Es geht seit 1950 um die Einheit des Gegensatzes von Rechts- und Sozialstaat. Wir sind nämlich gleich als Staatsbürger, aber ungleich im Sozialen. Der Sozialstaat, der austeilt, indem er umverteilt, richtet seine polemische Spitze gegen die Liberalen. Der Rechtsstaat richtet sich ausdrücklich gegen den links- und rechts-sozialistischen Unrechtsstaat. Und der Begriff »sozialer Rechtsstaat« ist der Versuch, der Brüderlichkeit der französischen Revolution Verfassungsrang zu geben.“ (Ebd., S. 179).

„Geistesgeschichrlich geht der Rechtsstaat auf Kant, der Sozialstaat auf Lorenz von Stein zurück. Der Rechtsstaat betont die Verfassung, ihre Gewährleistungen und privilegiert den Sratus quo. Der Sozialstaat zielt auf die Verwaltung, ihre Gewährungen und fördert die Reformen. Der Rechtsstaat garantiert Freiheit und die Möglichkeit zur Entfaltung der Persönlichkeit; der Sozialstaat verspricht Sicherheit und Teilhabe. Der Sozialstaat entsteht bei Lorenz von Stein aus der Dialektik von Gleichheit (vor dem Gesetz) und Ungleichheit (im gesellschaftlichen Leben). Und wo er von der »Verwaltung des gesellschaftlichen Fortschritts« spricht, hat er eigentlich schon die Daseinsvorsorge als eigentliche politische Gestaltungsdimension bestimmt. (Vgl. Lorenz von Stein, Handbuch der Verwaltungslehre, 1870, S. 440).“ (Ebd., S. 179).

„In der Diskussion des 20. Jahrhunderts ist der Begriff »sozialer Rechtsstaat« zunächst von Hermann Heller und später dann von Carlo Schmid eingesetzt worden - eingesetzt, nicht entwickelt. Christian-Friedrich Menger hat über den Begriff »sozialer Rechtsstaat« gesagt: habent sua fata leges!  Gerade weil nicht klar ist, was es besagt, hat dieses Gesetzeswort sein eigenes Schicksal. Nach dem Grundgesetz leben wir in einem sozialen Rechtsstaat, doch Rechtsstaat und Sozialstaat stehen nicht in prästabilierter Harmonie. Der Rechtsstaat gewährleistet, der Sozialstaat gewährt.“ (Ebd., S. 179).

„Die dialektische Argumentation von Christian-Friedrich Menger geht dahin, daß gerade derjenige, der den totalitären Wohlfahrtsstaat verhindern will, den vorsorgenden Sozialstaat fordern muß, weil nur die staatliche Daseinsvorsorge das Entstehen jener sozialen Fragen verhindert, auf die der Wohlfahrtsstaat die einzig mögliche Antwort zu sein scheint. Freiheit kann demnach nur der Leistungen gewährende Sozialstaat gewährleisten, weil wirtschaftliche Sicherheit die Bedingung realer Freiheit ist. Nach diesem dialektischen Takt schlägt noch heute das Herz der Sozialdemokratie.“ (Ebd., S. 180).

„Für einen Liberalen ist eine solche Freiheit vor dem Hintergrund gleicher Lebenssicherheit natürlich gar keine echte Freiheit. Der Kern der echten Freiheit steckt in der »Möglichkeit des Lebens auf eigenes Wagnis« - so die prägnante Formel von Ernst Rudolf Huber. (Vgl. Ernst Rudolf Huber, Rechtsstaat und Sozialstaat, in: Ernst Forsthoff [Hrsg.], Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 181). Doch das Bedürfnis nach Sicherheit wiegt schwerer als dieser Wunsch nach Freiheit. Deshalb haben liberale Parteien immer einen schweren Stand; und deshalb setzt sich das sozialdemokratische Denken auch in Parteien durch, die ganz andere Namen tragen. Alle verbürgten Sozialleistungen gehen auf Kosten der Freiheit.“ (Ebd., S. 180).

„Um den Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates zurückzuweisen, müßte eigentlich schon die Erinnerung an die einfachen, plausiblen Überlegungen genügen, die John Stuart Mill in seiner Schrift über Freiheit angestellt hat. Der Staat darf gegen einen Bürger nur Macht ausüben, um ihn an der Schädigung anderer zu hindern. Über den eigenen Körper und Geist ist das Individuum souverän. Das eigene körperliche und moralische Wohl des Bürgers ist also kein Grund zur staatlichen Intervention. »Er kann nicht rechtmäßig gezwungen werden, etwas zu tun oder zu unterlassen, weil es für ihn besser wäre, so zu handeln, weil es ihn glücklicher machen würde, weil so zu handeln nach der Meinung anderer klug oder sogar richtig wäre.« (John Stuart Mill, Über Freiheit, 1859, S. 16)“ (Ebd., S. 180).

„Doch Mill hatte eben noch keine Vorstellung von dem, was Arnold Köttgen dann die Anlehnungsbedürftigkeit der Menschen an den Staat genannt hat. Der Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates wird ihnen nicht nur aufgezwungen - sie begehren ihn, denn er entlastet sie von der Bürde der Freiheit. Die verwaltete Welt ist für viele eine Wunscherfüllung. Walter Erbe hat deshalb dem modernen Menschen prinzipiell die Disposition zur Freiheit abgesprochen; deshalb füge er sich so widerstandslos der Vorsorge des Sozialstaates. »Leider entspricht der Krankheit des Verwaltens eine kaum minder verbreitete Krankheit des Verwaltet-werden-Wollens.« (Walter Erbe, Die Freiheit im sozialen Rechtsstaat, in: Ernst Forsthoff [Hrsg.], Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968,, S. 313).“ (Ebd., S. 180).

„Schon Dostojewskijs Großinquisitor wußte, daß man die Freiheit besiegen muß, um die Menschen glücklich zu machen. Nur allzu schnell lernen die Rebellen den Gehorsam und suchen den, dem sie folgen dürfen. Aber sie alle ertragen das Glück der Schwachen, die Befreiung vom Grauen der Freiheit durch Unterwerfung nur, wenn alle dasselbe anbeten. Der Großinquisitor spricht hier sehr schön vom »Bedürfnis nach einer Allgemeingültigkeit der Anbetung« (Fjodor Dostojewski, Die Brüder Karasamov, 1879-'80, S. 409 und S. 417), das die Geschichte in eine Geschichte verschiedener Formen des Götzendienstes verwandelt, in dem die Menschen sich von der Last der Freiheit befreien. Heute tanzen sie um das Goldene Kalb des Sozialen.“ (Ebd., S. 181).

„Wir haben aber schon gesehen, daß man der verwalteten Welt, dem Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates und der erlernten Hilflosigkeit der Anlehnungsbedürftigen nicht mehr einfach mit der Parole »Freiheit oder Sozialismus« (**) entgegentreten kann. Betreuung ist nicht mehr das einfache Gegenteil der Selbständigkeit. Modernes Leben steht nämlich unter dem Motto: je freier, desto abhängiger. Um selber mehr leisten zu können, macht man sich von fremden Leistungen abhängig. Man verzichtet auf Herrschaft, um besser steuern zu können. Mit Ernst Forsthoffs prägnanter Formulierung: »Dieser Schrumpfung des beherrschten Lebensraums steht die außerordentliche, durch die technischen Mittel ermöglichte Ausweitung des effektiven Lebemraums gegenüber.« (Ernst Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaats, in: Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 146). Abhängigkeit von staatlichen Leistungen und Spielräume der Existenz wachsen miteinander. Das verkennt Helmut Schelskys berühmte Gegenüberstellung des betreuten und des selbständigen Menschen. Aber sie macht eine wichtige Gegenrechnung auf. Gegen die Abhängigkeit vom leistenden, gewährenden Staat bietet die Rechtsstaatlichkeit keinen rechten Schutz mehr. Deshalb droht uns ständig, durch Betreuung beherrscht zu werden - erst betreut, dann abhängig, dann gebeugt.“ (Ebd., S. 181).

„Wenn wir uns vor diesem Hintergrund den gewährenden und umverteilenden Steuerstaat anschauen, der sich seit über einem halben Jahrhundert als das tertium comparationis von Rechtsstaat und Sozialstaat objektiviert hat, so zeigt sich zwar keine ernst zu nehmende Alternative, aber doch die Möglichkeit einer veränderten Stellung des Gedankens zu dieser Objektivität. Man könnte begreifen, daß das Wort »sozial« selbst keinen juristischen Sinn hat, sondern ein rein politischer Zielbegriff ist, der vor allem auf die Güterverteilung bezogen ist. Der Kern des Rechtsstaats ist die Verfassung, die gewährleistet, der Kern des Sozialstaats ist die Verwaltung, die gewährt. Diese Spannung kann man nicht abbauen, sondern nur institutionalisieren. Und aus all dem folgt für unser Thema: Man sollte die Entzweiung von Rechtsstaat und Sozialstaat positivieren, statt sie durch den Tabubegriff der »sozialen Gerechtigkeit« (**) zu verdecken. An der Gerechtigkeit muß man arbeiten wie an einem Mythos. Und - um im mythischen Bild zu bleiben - es ist das große politische Abenteuer unserer Zeit, zwischen der Szylla des Laisser-faire und der Charybdis des Egalitarismus hindurchzusteuern.“ (Ebd., S. 181-182).

Die politische Rechte steht für Bürgerlichkeit (in: Der Tagesspiegel, 13.08.2010)

„Im politischen Spektrum Deutschlands gibt es seit den Tagen des schwarzen Riesen Helmut Kohl ein Vakuum auf der Rechten. Angela Merkel hat aus der CDU endgültig eine sozialdemokratische Partei gemacht. Das bezeugt nicht nur seit Jahren die Krise der SPD, sondern neuerdings auch der spektakuläre Rückzug Konservativer CDU-Fürsten aus der politischen Verantwortung. Die vernünftige Anpassung der SPD an die moderne, globalisierte Welt hat zur Abspaltung der »Linken« geführt, die dem Ressentiment der Zukurzgekommenen und DDR-Bonzen den Sozialismus von vorgestern als Patentrezept anbietet. Könnte die Anpassung der CDU an den sozialdemokratischen Zeitgeist heute nicht auch zur Abspaltung einer »Rechten« führen, die den Erfolgreichen, denen man bisher erfolglos den Namen »Leistungsträger« angedient hat, eine neue geistige, nämlich konservative Heimat anbietet?“  (Ebd.).

„Das größte Potenzial für eine rechte Partei steckt natürlich in den frustrierten Unionswählern. Die Werte, um die es hier geht, lassen sich genau benennen. Die Rechte ist gegen den Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates, für mehr Selbstverantwortung und den unzweideutigen Schutz des Eigentums. Die Rechte ist für einen fröhlichen Patriotismus und eine christliche Leitkultur. Die Rechte hält am Vorrang der traditionellen Familie und an einem mehrgliedrigen Bildungssystem fest. Mit einem Wort: Die politische Rechte steht für Bürgerlichkeit. Wenn es ihr gelingen sollte, sich als Partei zu formieren, wäre unsere Gesellschaft endlich auch parlamentarisch balanciert. Die neue politische Struktur würde dann so aussehen: Linke-SPD-Grüne-FDP-CDU-Rechte (aber leider sind alle »etablierten Parteien« nach links verrückt [**|**|**|**|**]! HB).“ (Ebd.).

„Die erste Aufgabe einer anspruchsvollen politischen Rechten wäre, zu sagen, was die Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) der Medienlinken zu sagen verbietet. Mehr noch als Ideen braucht man dazu Mut, denn in unserer Öffentlichkeit herrscht keine Waffengleichheit. Die Medienlinke hofiert die Linken und denunziert die Rechten. Auf der Kommunistischen Plattform darf man fröhlich tanzen. Aber wehe, wenn man der »Jungen Freiheit« ein Interview gibt. Gerechtfertigt wird das mit der alten deutschen Selbstverständlichkeit, das Herz schlage links und der Geist wehe links.“ (Ebd.).

„Viele Akademiker, Journalisten und Intellektuelle sind aber gar nicht links, sondern maskieren sich nur so, um in ihren Institutionen überleben zu können. Wer einen »rechten« Satz sagt oder schreibt, bekommt viel Zustimmung – hinter vorgehaltener Hand. Das ist das Sarrazin-Syndrom: Du hast ja recht, aber das kann man doch nicht sagen .... Hier zeigt sich besonders deutlich, daß sich der nachträgliche Kampf gegen die Nazis in den letzten fünfzig Jahren zu unserer größten Denkblockade entwickelt hat. Sie besteht in der grotesken Gleichung: konservativ=reaktionär=faschistisch. Diese Keule schwebt über jedem, der versucht, sich seines eigenen Verstandes ohne Anleitung der »Gutmenschen« zu bedienen.“ (Ebd.).

„Eine rechte Partei des selbstbewussten Konservativismus kann natürlich keine Kopfgeburt sein, sondern müßte aus dem »Volk« hervorgehen. Dennoch haben die Intellektuellen hier eine Schlüsselstellung. Denn das mächtige Tabu über einer politischen Rechten könnte nur durch ein Coming-out der Starintellektuellen gebrochen werden: »Ich bin gar nicht rot-grün. Ich bin konservativ – und das ist gut so!“  (Ebd.).

„Und gerade auch die Linksintellektuellen müßten ein großes Interesse am Erstarken einer geistigen Rechten haben, um wieder das eigene Profil schärfen zu können. Es gibt ja heute keinen einzigen deutschen Linksintellektuellen von Format – und das liegt eben daran, daß die öffentlichen Gegenstimmen fehlen.“ (Ebd.).

Die neuen Jakobiner (in: Focus, 13.09.2010)

„Für einen guten Europäer gibt es nichts Wertvolleres als die Meinungsfreiheit. Das Recht auf Meinungsfreiheit und Redefreiheit stellt aber gerade die abweichende Meinung, den Dissens, ins Zentrum der Freiheitsidee. Von dieser Einsicht ist die Elite der Berliner Republik unendlich weit entfernt. Abweichende Meinungen werden heute schärfer sanktioniert als abweichendes Verhalten. Diese Sanktionen laufen zumeist nicht über Diskussionen, sondern über Ausschluß.“ (Ebd., S. 64).

„Nun könnte man denken, daß ja immerhin noch die Gedanken frei sind. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, daß derjenige, dem man das Sprechen und Schreiben beschneidet, noch frei denken könne. Es gibt keine Freiheit des Denkens ohne die Möglichkeit einer öffentlichen Mitteilung des Gedachten. Und das gilt nicht nur für die wenigen Schreiber, sondern gerade auch für die vielen Leser. Gedankenfreiheit bedeutet für die meisten Menschen nämlich nur die Möglichkeit, zwischen einigen wenigen Ansichten zu wählen, die von einer kleinen Minderheit öffentlich Redender und Schreibender verbreitet worden sind. Deshalb zerstört das Zum-Schweigen-Bringen abweichender Meinungen die Gedankenfreiheit selbst.“ (Ebd., S. 64).

„In der massendemokratischen Öffentlichkeit können sich die Meinungen der Einzelnen kaum zur Geltung bringen. Um so stärker ist der Druck der öffentlichen Meinung auf den Einzelnen und sein Meinen. Aus Angst vor Isolation beobachtet man ständig die öffentliche Meinung. Und öffentlich heißt eben: die Meinung, die man ohne Isolationsangst aussprechen kann. Wir fürchten also nicht, eine falsche Meinung zu haben, sondern mit ihr allein zu stehen. Die Isolationsangst regiert die Welt.“ (Ebd., S. 64).

„Wer den Zorn der anderen fürchtet, schließt sich leicht der Meinung der scheinbaren Mehrheit an, auch wenn er es eigentlich besser weiß. Er bringt sich selbst zum Schweigen, um seinen guten Ruf nicht aufs Spiel zu setzen. Das ist der Ansatzpunkt für eine Dynamik, die Elisabeth Noelle-Neumann »Schweigespirale« genannt hat. Sie wird heute von der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) genutzt. Sie ist zum einen durch die Verschmelzung von Thema und Meinung gekennzeichnet - man darf zu bestimmten Themen nur eine Meinung haben.“ (Ebd., S. 64).

„Zum anderen haben wir es mit einer Moralisierung am Medienpranger zu tun - dem »Politisch-Unkorrekten« wird der Schauprozeß gemacht (siehe z.B. die Hexenverfolgungen und Schauprozesse im medialen »Volksgerichtshof« gegen Eva Herman und Thilo Sarrazin; HB [**|**|**|**|**|**]). Hier dominiert vor allem bei den »engagierten« Journalisten eine blasierte moralistische Selbstgerechtigkeit. Vergeblich würde man sie daran erinnern, daß Journalisten nicht belehren, sondern berichten sollen.“ (Ebd., S. 64).

„All das schüchtert ein. Aus Angst davor, sich mit der eigenen Meinung zu isolieren, beobachtet man ständig die öffentliche - was man so sagt und meint. Doch was man so sagt, ist zumeist die Meinung gut artikulierter Minderheiten. Mit anderen Worten: In der Mediendemokratie werden die Menschen durch eine Sprache versklavt, die als die unwiderrufliche der Mehrheit auftritt, in Wahrheit aber von gut organisierten Minderheiten geprägt wird. Die öffentliche Meinung verhilft also immer häufiger nicht der Majorität, sondern der Orthodoxie zum Ausdruck. Diese Orthodoxie heißt heute Politische Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**).“ (Ebd., S. 64).

„Wohlgemerkt: Die Mehrheit kann durchaus abweichender Meinung sein, aber sie täuscht sich oft über die Mehrheit, denn niemand kann wissen, ob eine Meinungsäußerung der Ausdruck eines unabhängigen Urteils, einer Informationskaskade oder der Selbstzensur ist. Es fällt uns ja schwer zu akzeptieren, daß wir unfähig sind, eine eigene Meinung zu Afghanistan oder zur Pflegeversicherung zu haben. Und deshalb sind wir anfällig für Propaganda - die Meinung von der stange. Es wäre naiv, von den Politikern mehr Zurückhaltung zu erwarten. Aber genau hier liegt eben die Verantwortung des echten Journalisten.“ (Ebd., S. 64-65).

„Wenn die öffentliche Meinung in unserer Gesellschaft gesprochen hat, bringt kaum mehr jemand den Mut zum Widerspruch auf. Ihr Druck ist so groß, daß gesetzlicher Zwang vielfach überflüssig wird. Und so breitet sich ein ewiger Friede des Intellekts aus. Niemand wagt es, einem unabhängigen Gedankenzug zu folgen. Deshalb gibt es auch keine großen Denker mehr.“ (Ebd., S. 65).

„Abweichende Meinungen, die sich doch noch aus der Deckung wagen, werden sozial bestraft. Die soziale Intoleranz fügt heute zwar niemandem mehr körperlichen Schaden zu, aber wer anders denkt, muß seine Meinung maskieren oder auf Publizität verzichten.“ (Ebd., S. 65).

„Längst haben die Funktionäre der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) die Stellen der sozialen Kontrolle dessen besetzt, was als diskutabel gilt. Damit koppeln sie die Moral vom gesunden Menschenverstand ab. Der Politischen Korrektheit geht es nicht darum, eine abweichende Meinung als falsch zu erweisen, sondern den abweichend Meinenden als unmoralisch zu verurteilen. Man kritisiert abweichende Meinungen nicht mehr, sondern haßt sie einfach. Wer widerspricht, wird nicht widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht. “ (Ebd., S. 65).

„Die beste Definition der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) findet sich übrigens schon in Thomas Manns 1918 erschienenem Großessay »Betrachtungen eines Unpolitischen« dort schreibt er von der »Auferstehung der Tugend politischer Gestalt, das Wieder-möglich-Werden eines Moralbonzentums sentimental-terroristisch-republikanischer Prägung, mit einem Worte: die Renaissance des Jakobiners«.“ (Ebd., S. 65).

„Unsere Gesellschaft, die sich weder an Religion noch an bürgerlicher Tradition und gesundem Menschenverstand orientieren kann, wird zum willenlosen Opfer eines Tugendterrors, der in Universitäten, Redaktionen und An tidiskrimini erungsäm tern ausgebrütet wird. Luther predigte noch spirituelle Freiheit in politischer Knechtschaft; wir haben heute spirituelle Knechtschaft in politischer Freiheit.“ (Ebd., S. 65).

„Die neuen Jakobiner berufen sich darauf, daß viele Meinungsäußerungen Ehre, Scham und Anstand verletzen. Mit dem Vorwurf der Volksverhetzung (**|**|**) ist man in Deutschland sehr rasch bei der Hand. Doch auch die Immoralität einer Meinung ist kein Grund dafür, ihr Bekenntnis und ihre Diskussion zu beschneiden. Auch wenn nur ein Einziger eine abweichende Meinung hat, gibt das der überwältigenden Mehrheit nicht das Recht, ihn zum Schweigen zu bringen.“ (Ebd., S. 65).

„Wer eine Diskussion zum Schweigen bringt, beansprucht für sich selbst Unfehlbarkeit. Im Anspruch auf Unfehlbarkeit steckt aber die Unfähigkeit, einen Irrtum zu korrigieren -und irren ist menschlich. Zur Korrektur eines Irrtums reicht Erfahrung nicht aus; man muß die Erfahrung auch interpretieren, und dazu braucht man die Diskussion. Deshalb darf es keine Einschränkung der Freiheit zum Widerspruch und zur abweichenden Meinung geben. Nur dann, wenn ich weiß, daß die anderen die Freiheit zum Widerspruch haben, kann ich mich auf meine eigene Meinung verlassen, als ob sie die Wahrheit wäre. “ (Ebd., S. 65).

„Dagegen mobilisieren die neuen Jakobiner Zauberwörter wie »Multikulturalismus«, »Respekt« und neuerdings »Diversität«. Diese Begriffe leben davon, daß sie undurchdacht bleiben. Denn nur wenn es eine Leitkultur gjbt, kann man multikulturell eingestellt sein. Man kann nicht tolerant sein, wenn man keine eigenen Werte zu verteidigen hat. Man kann nicht offen sein, wenn man nicht selbstbewußt ist. Ich stehe zu meinen überzeugungen -im vollen Bewußtsein der Alternativen. Und ich muß nicht respektieren, was ich toleriere. Toleranz ist nämlich das Klima der Koexistenz von Andersgläubigen. Friedliche Koexistenz gjbt es nur durch Verzicht auf Konsens.“ (Ebd., S. 65).

„Es ist deshalb eine Schicksalsfrage für jeden Liberalen, daß er in den neuen Jakobinern seine natürlichen Feinde erkennt. Von der FDP kann man das leider nicht behaupten; gerade hat Westerwelle vor der Politischen Korrektheit (**|**|**|**|**|**|**|**|**) kapituliert. Freiheit ist für den Liberalen das selbstverständliche Recht, anders zu sein, ohne dafür bestraft und an den Pranger gestellt zu werden. Liberal ist ein Mensch, der nicht dem Impuls nachgibt, denjenigen, der eine andere Meinung hat, zu maßregeln und zu bestrafen. Mit einem Wort: Feindschaft fällt dem Liberalen schwer. Aber in der Konfrontation mit den neuen Jakobinern muß er erkennen, daß er in seiner Existenz in Frage gestellt wird.“ (Ebd., S. 65).

Die fröhlichen Sklaven (in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.2012)

„Entmündigung droht dem Bürger auch durch den Sozialstaat: Er kauft den Bürgern Freiheit ab - für das Versprechen der Sicherheit und Gleichheit.

Freiheit und Ordnung stehen in einem wechselseitigen Steigerungsverhältnis. Paradox formuliert: je freier, desto abhängiger. Dieses empfindliche Gleichgewicht zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit kann jederzeit in neue Formen freiwilliger Knechtschaft umschlagen. Es gibt nämlich eine dunkle Rückseite jener Paradoxie. Man kann zwar Freiheit nur wahrnehmen, wenn man gesichert ist. Und es ist eine Trivialität, daß Freiheit an ganz profane Bedingungen geknüpft ist: im wesentlichen an Geld und Bildung. Aber die berechtigte Sorge um die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit hat uns die Freiheit selbst vergessen lassen und ein soziales Gefängnis errichtet, das heute vorsorgender Sozialstaat heißt.

Dieses Gefängnis braucht keine Ketten und Schlösser. Die Angst vor der Freiheit schließt die Menschen ein. Denn nicht Freiheit wollen die meisten, sondern das Glück der Sicherheit und der Bequemlichkeit. Freiheit dagegen ist anstrengend; man muß sie in heller, wacher Lebensführung leisten. Die verwaltete Welt ist deshalb für viele eine Wunscherfüllung. Der Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates wird ihnen nicht nur aufgezwungen, sondern sie begehren ihn auch, denn er entlastet sie von der Bürde der Freiheit.

Infantile Haltung der Bürger gegenüber dem Staat

Die Gefühlslage des Einzelnen ist also ambivalent. Mit dem Terror seiner Wohltaten rückt uns der vorsorgende Sozialstaat derart auf den Leib, daß die Distanz der Kritik eingezogen wird. Wir haben es dann mit Menschen zu tun, die den Politikern zutiefst mißtrauen und zugleich alles vom Staat erwarten. Das bedeutet aber: Nicht die »Politikverdrossenheit« ist das Problem der Massendemokratie, sondern die infantile Haltung der Bürger gegenüber dem Staat.

Wohlfahrtsstaatspolitik erzeugt Unmündigkeit, also genau den Geisteszustand, gegen den jede Aufklärung kämpft. Und so wie man Mut braucht, um sich des eigenen Verstandes zu bedienen, so kann man nur mit Stolz das eigene Leben selbständig leben. Für den Wohlfahrtsstaat ist persönlicher Stolz die größte Sünde. Vater Staat will nicht, daß seine Kinder erwachsen werden. Für ihre Daueralimentierung bezahlen die mit ihrer Würde. An die Stelle von Freiheit und Verantwortung treten Gleichheit und Fürsorge. Der demokratische Despotismus ist die Herrschaft der Betreuer, die das Leben der vielen überwachen, sichern und vergnüglich gestalten. Dieser demokratische Despotismus entlastet den Einzelnen vom Ärger des Nachdenkens genauso wie von der Mühe des Lebens. Ein Netz präziser, kleiner Vorschriften liegt über der Existenz eines jeden und macht ihn auch in den einfachsten Angelegenheiten abhängig vom vorsorgenden Sozialstaat. Diese Überregulierung des Alltags verwandelt die Befolgung des Gesetzes aus einem Sollen in ein Gehorchen. Ein guter Test dafür ist das Steuernzahlen. An die Stelle bürgerlichen Rechtsbewußtseins ist soziale Kontrolle getreten.

Schutz vor der Freiheit zum »Schlechten«

Das paternalistische Staatshandeln »im Interesse der Bürger« ignoriert aber das Interesse der Bürger. Jeder Paternalismus behandelt nämlich Menschen als Material. Das gilt auch für die wohlmeinenden Reformer, die Belohnungen und Strafen zu einer Technik der Fremdbestimmung organisieren. Ihr Erfolgsprodukt sind die Gutmenschen. Mittlerweile benutzen sie sogar schon das Glück der Ungeborenen, um uns die Freiheit zu rauben. Wir sollen Energie sparen, den Müll trennen, sozial sein und nicht rauchen. So schützt uns der Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates vor der Freiheit zum »Schlechten« - und verkauft das als Befreiung.

Der Wohlfahrtsstaat hat den Bürgern die Freiheit abgekauft, nämlich für das Versprechen der Sicherheit und Gleichheit. In der Tat bringt die fröhliche Sklaverei unter kapitalistischen Bedingungen fast allen einen akzeptablen Lebensstandard und hohe Lebenssicherheit. Der vorsorgende Sozialstaat ist deshalb die Hoheitsverwaltung der Hilflosen. Die moderne Gesellschaft zerfällt nicht mehr in Arbeiter und Kapitalisten, sondern in Betreute und Betreuer. Dabei entwickelt sich auf beiden Seiten eine unheilvolle Eigendynamik. Die Betreuer und Sozialarbeiter haben ein Interesse an der Hilflosigkeit ihrer Klientel, während diejenigen, die es gelernt haben, sich hilflos zu fühlen, nur noch mit der entlastenden Erklärung ihrer Unfähigkeit beschäftigt sind.

Diese Tendenzen sind überall in der westlichen Welt zu beobachten. .... Die Gleichheit durch das Gesetz ersetzt heute die Gleichheit vor dem Gesetz. Um die Dramatik dieses Vorgangs zu verstehen, genügt ein Minimum an Freiheitsempfindlichkeit. Wem sich aber bei dem Wort Gleichstellungspolitik nicht die Nackenhaare sträuben, der wird die Idee der Freiheit nie begreifen.

Die Krankheit des Verwaltet-werden-wollens

Auch in modernen Massendemokratien wollen die Menschen natürlich Freiheit. Aber das Freiheitsverlangen tritt immer gemeinsam mit zwei ihm feindlichen Leidenschaften auf: dem Wunsch nach Gleichheit und dem nach Führung. Rasch überlagert dann das Interesse daran, daß es dem anderen nicht besser geht als mir, die Chance, daß es mir selbst gut geht.

Die Krankheit des Verwaltet-werden-wollens hat auch eine aggressive Außenseite. Mit der Freiheit verlieren die vielen den Mut - und mit dem Mut die Motivation. Dann weckt die Freiheit anderer nur noch eine Wut, die sich zum Ressentiment einer hartnäckigen Knechtsgesinnung verfestigt. Dieses Ressentiment der fröhlichen Sklaven hat eine raffinierte Dialektik ausgebildet. Wer die Freiheit als eigene Möglichkeit versäumt hat, haßt die Freiheit der anderen. Aber dieser Haß verkleidet sich als paternalistische Wohltat. Das ist der Kern aller sozialpolitischen Kontroversen.

Der vorsorgende Sozialstaat entzieht seinen Bürgern Freiheiten, um sie zu bessern und vor sich selbst zu schützen. Dieser Paternalismus erscheint denen gerechtfertigt, die glauben, man müsse die Menschen vor der eigenen Willensschwäche schützen. Die Betreuer gehen davon aus, daß tatsächliche Freiheit durch eine beschränkte Wahlfreiheit für Inkompetente ersetzt werden muß: Sie streben eine Sozialvormundschaft im Namen der Mündigkeit an.

Benutzerfreundliches Design des Sozialen

Wenn es um Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge geht, hilft es den Menschen nicht, wenn man ihnen eine Fülle von Wahlmöglichkeiten anbietet. Je komplexer die gesellschaftliche Lage, desto wichtiger wird ein Sozialdesign, das Bürger und Kunden in die richtige Richtung schubst. Der Paternalismus schützt mich vor Willensschwäche und Irrationalität. Die Leute, die nicht wissen, was gut für sie ist, brauchen also »Wahl-Helfer« im wortwörtlichen Sinne, kompetente Menschen, die ihre Entscheidungen wohltätig beeinflussen.

Die modernen Paternalisten gehen also davon aus, daß einige den legitimen Anspruch haben, das Verhalten anderer Leute so zu beeinflussen, daß diese länger, gesünder und besser leben. Ihr Ziel ist ein benutzerfreundliches Design des Sozialen. Es wird ein allgemeiner Konsens mit dem politisch korrekten (**|**|**|**|**|**|**|**|**) Verhalten unterstellt, jedes abweichende Verhalten muß ausdrücklich deklariert werden: Ich will keine Riester-Rente. Ich will meine Organe im Todesfall nicht spenden.

Der vorsorgende Sozialstaat versteht das Glück als universalisierbaren Wert. Deshalb kann sich die Wohlfahrtspolitik der roten, grünen und schwarzen (und gelben, Herr Bolz! Anm. HB) Sozialdemokraten als Entwicklungshilfe eines sich selbst bestimmenden Einzelnen begreifen. Eine schöne Paradoxie: Der Staat betreibt Mitbestimmung bei der Selbstbestimmung des Einzelnen. So wird Politik zum Glückszwangsangebot.“ (Ebd.).

Weitere Zitate =>

Zitate: Hubert Brune, 2009 (zuletzt aktualisiert: 2009).

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- Literaturverzeichnis -