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Alain de Benoist (*1943)
- Die Indogermanen (1965) -
- Nouvelle Ecole (Zeitschrift; seit 1968) -
- Konrad Lorenz und die moderne Ethologie (1977) -
- Nietzsche: Moral und große Politik (1981)-
- Moeller van den Bruck (1981) -
- Demokratie: Das Problem (1982) -
- Heide sein zu einem neuen Anfang (1982) -
- Aus rechter Sicht (1983-1984) -
- Metapolitik - was ist das? (1984) -
- Kulturrevolution von rechts (1985) -
- Krisis (Zeitschrift; seit 1988) -
- Die Religion der Menschenrechte (1988) -
- Ernst Jünger und „Der Arbeiter“ (1995) -
- Ernst Jünger (1997) -
- Aufstand der Kulturen (1999) -
- Die USA ernten die Früchte ihres Staatsterrors -

- Schöne vernetzte Welt (2001) -
- Totalitarismus (2001) -
- Die Wurzeln des Hasses (2002) -
- Die Schlacht um den Irak (2003) -
- Carl Schmitt (2003) -
- Kritik der Menschenrechte (2004) -
- Phantom „Neue Rechte“ (2005) -
- Carl Schmitt und der Krieg (2007)
- Ökologie bis zum Ende denken (2007) -
- Wir und die anderen (2008) -
- Abschied vom Wachstum (2009) -
Benoist-Zitate. Da ich Alain de Benoist für einen großartigen Kenner des Totalitarismus halte, möchte ich ihm
eine separate Seite widmen und aus einigen seiner Werke zitieren:    

 

- Kulturrevolution von rechts -
- Die Religion der Menschenrechte -
- Totalitarismus -
- Kritik der Menschenrechte -

 

 

Kulturrevolution von rechts (1985)

„Ich nenne hier - aus reiner Konvention - die Haltung rechts, die darin besteht, die Vielgestaltigkeit der Welt und folglich die relativen Ungleichheiten, die ihr notwendiges Ergebnis sind, als ein Gut und die fortschreitende Vereinheitlichung der Welt, die durch den Diskurs der egalitären Ideologie der seit zweitausend Jahren gepredigt und verwirklicht wird, als ein Übel anzusehen.“ (Ebd., 1985, S. 14).

„Es gibt zahlreiche Ungleichheiten, die ganz und gar ungerecht sind. .... Ich billige keinerlei Kastenprivileg. Ich mache die Chancengleichheit zu einer Forderung jeder Sozialpolitik. Ohnehin heißt eine antiegalitäre Lebensauffassung zu vertreten nicht, die oft verabscheuungswürdigen Ungleichheiten verstärken zu wollen ....“ (Ebd., 1985, S. 15).

„Ich sehe rechts wie links Ideen, die dem entsprechen, was ich denke .... Die Wörter sind schließlich nicht die Dinge selbst.“  (Ebd., 1985, S. 27).

„Im einen Fall ist die Menschheit die Summe aller Individuen, in jedem besonderen menschlichen Wesen gleichermaßen repräsentiert: man ist zunächst 'Mensch' und erst in zweiter Linie, wie zufällig, Angehöriger einer bestimmten Kultur oder eines bestimmten Volkes. Im anderen Fall ist die Menschheit nur die Gesamtheit der Kulturen und Volksgemeinschaften: das Individuum ist lediglich bestimmt durch seine organische Zugehörigkeit zu ihr. .... Der Einzelmensch besteht nach unserer Auffassung nur in Verbindung mit den Gemeinschaften, in die er eingeschlossen ist (und bezüglich deren er sich als Einzelwesen abhebt). Jede individuelle Tätigkeit stellt einen Akt der Teilnahme am Leben eines Volkes dar. Dem Interesse des Einzelnen kommt, »an sich« keine Wertschätzung zu.“ (Ebd., 1985, S. 133).

Die Religion der Menschenrechte. (in: Mut zur Identität - Alternativen zum Prinzip der Gleichheit, Hrsg.: Pierre Krebs; 1988)

 – Einleitung
 – Von der Freiheit zur Schreckensherrschaft
 – Die Kulturen sind in Gefahr
 – Im Dienst des Liberalkapitalismus
 – Rückkehr zum bürgerlichen Humanitarismus

ä Einleitung

„Um die abstrakten Rechte eines Menschen an sich wissen wir aber nichts - und können auch nichts wissen. Der »universale« Mensch existiert nicht.“ (Ebd., 1988, S. 44).

„Was allerdings existiert, ist eine zoologische Einheit des Menschengeschlechts; im strengen Sinne macht die Art Mensch die »Menschheit«aus. Ein solcher Begriff hat aber eine rein biologische Bedeutung. Nun glauben wir nicht, daß der Mensch sein Wesen aufgrund seiner biologischen Merkmale bestimmen kann. Wir sind vielmehr der Ansicht, daß das Spezifische am Menschen, d. h. was den Menschen-als-Menschen gründet und ausmacht, aus der Kultur und der Geschichte hervorgeht.“ (Ebd., 1988, S. 44-45).

„Auf kultureller Ebene gibt es aber kein Muster für die gesamte Menschheit. Historisch gesehen entfalten sich die Kulturen immer in der Mehrzahl. In einem kulturellen rein menschlichen Sinne von »Menschheit« zu sprechen heißt nichts anderes, als die Kultur zur Natur zurückzuführen, als die Geschichte auf die Biologie zu reduzieren. Es ist durchaus bemerkenswert, daß die Anhänger der Ideologie der Menschenrechte gerade in diesen »biologischen Reduktionismus« verfallen, indem sie ein moralisches Gebot aus einem Umstand folgern, der nur mit Zoologie zu tun hat.“ (Ebd., 1988, S. 45).

„Es gibt ebensowenig »ewige Ideen« wie das »Gute« oder das »Wahre« an sich.“ (Ebd., 1988, S. 46).

„Wir ... möchten ... daran erinnern, daß der Mensch ... keine andere Natur hat als die Kultur, kraft deren er sich selbst aufbaut. Wird der Mensch allein, in abstracto, außerhalb jeglicher Gelegenheit, sich in Form zu setzen, aufgefaßt, so ist er weder gut noch böse. Nur der durch die historischen Institutionen und Verwirklichungen in Form gesetzte Mensch existiert als Mensch.“ (Ebd., 1988, S. 47).

„Wie Max Weber es nachwies, ist das »Naturrecht« grundsätzlich revolutionär, denn die gesellschaftliche Ordnung wird immer in seinem Namen in Frage gestellt, und zwar dadurch, daß eine vermeintliche Legitimität einer feststehenden Legalität entgegengehalten wird. (Vgl. Max Weber, Rechtssoziologie, S. 266).“ (Ebd., 1988, S. 48).

„Die Ideologie der Menschenrechte ist nicht nur unfähig, die individuellen Freiheiten bei den anderen zum Erstarken zu bringen; sie trägt auch dazu bei, daß die zivilen Freiheiten bei uns verkümmern. Indem sie die Rechte des abstrakten Einzelnen über die konkreten Zugehörigkeiten stellt, neigt die Ideologie der Menschenrechte ebenso wie der Liberalismus dazu, im Namen einer fortwährenden Gegenwart die Vergangenheit wegzuradieren und die Zukunft zurückzusetzen.“ (Ebd., 1988, S. 48-49).

„Als profane Übertragung der mosaischen Gesetze und der noachidischen Gebote kann die Ideologie der Menschenrechte eigentlich nur eine Reduzierung oder eine Homogenisierung bewirken (und wahrscheinlich auch bezwecken). »Jene vereinheitlichende Funktion des Dekalogs gegenüber dem Volk Moses«, schreibt Ghislaine R. Cassin ferner, »soll die Allgemeine Erklärung diesmal gegenüber der gesamten Menschheit ausüben.« (Ghislaine R. Cassin, in: L’Action gaulliste, 30.04.1980). Zu diesem Zweck gilt es, auf die Rechte des Menschen an sich hinzuweisen, und zwar gegen die konkreten Rechte der konkreten Menschen innerhalb ihrer konkreten Gemeinschaften. Der Mensch, den die Ideologie der Menschenrechte beschützt, ist ein nicht-bodenständiger. Er hat kein Erbe und keine Zugehörigkeit - oder er will beide zerstören. Dieser Mensch möchte gern, daß die anderen ebenfalls ungebunden werden. Er würde gern zusehen, wie sie ihr eigenes Erbe abtreten und zu Nachtwandlern werden. Dieses Schreckgespenst berührt uns aber nicht.“ (Ebd., 1988, S. 49).

ä Von der Freiheit zur Schreckensherrschaft

„Es besteht ... ein großer Unterschied »zwischen den tatsächlichen Freiheiten, die als Privilegien erfochten wurden, und der prinzipiellen, als Recht geforderten Freiheit.« Auch Edmund Burke hält der Ideologie der Menschenrechte ihr potentiell antidemokratisches Wesen vor und äußert die Überzeugung, daß sie die Freiheiten des Volkes gefährdet zugunsten der als »metaphysischer Entität« aufgefaßten Freiheit, die auf einer falschen Auffassung von »Natur« und »Vernunft« beruht und den Arm des erstbesten Tyrannen stärken kann. »Hat man ein Recht auf alles«, schreibt er, »so vergißt man alles.« Er fügt hinzu: »Der Zwang gehört ebensowie die Freiheit zum Recht der Menschen .... Alle vermeintlichen Rechte jener Theoretiker sind extrem; und so wahr sie metaphysisch auch sein mögen, so falsch sind sie moralisch und politisch.«“ (Ebd., 1988, S. 50).

„Damit stellen wir erneut fest, wie die widersprüchlichsten Absolutheiten zueinander stoßen können. Indem die Ideologie der Menschenrechte Recht und Freiheit auf Universalien, auf eine »abstrakte Vollkommenheit« gründet, untergräbt sie die Freiheiten und die konkreten Rechte der Individuen und Gemeinschaften. Indem sie verschiedene Quellen des Rechts homogenisiert, d.h. vermischt, schafft sie die (für moderne Gewaltherrschaften günstigen) Voraussetzungen zu einer ständigen Aufhebung der besonderen, differenzierten Rechte im Namen eines »Universal- und Naturrechts«.“ (Ebd., 1988, S. 50).

„Was bedeutet Freiheit für die Anhänger der Menschenrechte? Blandine Barret-Kriegel antwortet: Es ist »die Zerstörung aller Disziplin.« Deutlicher geht es nicht. In diesem Sinne wird die Freiheit als ein Naturzustand des Menschen wahrgenommen, der u.a. der Gesellschaft, der Regierungsherrschaft, der sozialen Ordnung entfremdet ist. Es ist eine »unbegrenzte Freiheit«, die dem eigentlichen Wesen des Menschen bei Rousseau entspricht; eine Freiheit, die den Menschen aufgrund ihres individuellen, als souverän aufgefaßten Willens rechtmäßig innewohnt (souverän, sofern er mit einer absoluten Souveränität verwandt ist, die vor der Gesellschaft bestanden hat.) Diese Freiheit muß von der Regierungsmacht als eine axiomatische (unanzweifelbare) Freiheit, als eine Berechtigung anerkannt werden. Da sie einer »Befreiung« gleichkommt, führt sie zur Verwerfung der Zugehörigkeit und der Disziplin. Sie arbeitet der Notwendigkeit entgegen; sie bedeutet Erlösung von der Notwendigkeit. »Frei« ist das Individuum, dem das Recht zuerkannt wurde, sich von jedem Zwang zu befreien - das Individuum, dessen individuelles, angeborenes Recht über das aus einer geschichtlichen Tat hervorgehende kollektive Recht gestellt wurde. Die Auffassung der Freiheit, der wir uns anschließen, ist eine ganz andere. In dieser Auffassung »gibt es keine allgemeine abstrakte Freiheit, sondern Freiheiten, die dem eigentlichen Wesen des Menschen gemäß zum Ausdruck kommen.« (Julius Evola). Ein freier Wille existiert nämlich nicht im Abstrakten; es gibt nur Willen, die von Kräften getrieben und mit Projekten verknüpft werden. Der Freiheitsbegriff ist kein philosophischer oder moralischer, sondern ein praktischer und politischer. Die Freiheit ist dem Menschen nicht präexistent, wie ein metaphysisches Recht, das er sozusagen im Wasserzeichen seiner »Person« besäße. Sie muß vielmehr erobert werden. Sie hat keine »spontanen Nutznießer«, sondern nur Stifter und Bürgen. Frei wird niemand geboren, aber manche werden es. Die Freiheit geht nämlich aus der Unternehmung hervor, sie einzuführen oder zu erobern. Eine solche Unternehmung können sowohl Individuen als auch Gemeinschaften geplant haben. Innerhalb der Gesellschaft muß eine eroberte Freiheit vom Staat gewährleistet werden - gegen eine staatsbürgerliche Verpflichtung seitens der Gesellschaftsmitglieder. Die Freiheit an sich« ist nicht in der gesellschaftspolitischen Ordnung zu beobachten. Zu beobachten ist lediglich ein Netz von bestimmten Rechten und Pflichten, die einer Tradition entstammen und deren Gewähr weniger in Prinzipien als in dem Vorhandensein einer wirklichen politischen Kraft enthalten ist. Die politische Freiheit, schreibt Julien Freund, »eben weil sie politisch ist, kann sich den Voraussetzungen des Politischen nicht entziehen .... Mit anderen Worten: die politische Freiheit ist nicht nur im Staat, aber man braucht einen Staat, damit sie sich äußern kann.«“ (Ebd., 1988, S. 50-51).

„»Freiheit«, schreibt der Dichter Rudolf G. Binding, »ist die freiwillige Einfügung oder Einordnung in eine höchste unter Menschen geltende Ordnung. Anders wäre Freiheit Unordnung und Anarchie. Fühle, daß sie das nicht sein kann. Wir leben unter dem Gewölbe der Freiheit wie unter einem weit gespannten Himmel, der über uns steht; aber wir ständen im Leeren und entfielen allen menschlichen hohen Gesetzen und Rechten, wenn wir den Himmel durchstießen.« (Rudolf G. Binding, Von Freiheit und Vaterland). “ (Ebd., 1988, S. 51-52).

„In Sachen Freiheit haben die Erben der europäischen Kultur übrigens von niemandem etwas zu lernen. Der Begriff der politischen Freiheit entstand im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in Athen. Bei den Kelten und den Germanen nahm das gesamte Volk an den politischen Entscheidungen teil. (Dort wurde auch die Frau immer als Person angesehen.) Die konkreten Freiheiten entstanden in Rom aus dem System der gegenseitigen Leistungen, innerhalb dessen Verpflichtungen und erhaltene Dienste sich die Waage hielten. Und nicht zu Unrecht rühmte Montesquieu - bei seinem Vergleich zwischen den alten europäischen Demokratien und den orientalischen Despotismen - gerade jene aus dem Norden stammenden »tapferen Völker, die aus ihrem Land ausziehen, um Tyrannen und Sklaven zu vernichten.« (Charles-Louis de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1748, 17, 5). Wir könnten sogar der Frage nachgehen, ob die öffentlichen Freiheiten wegen dieses Erbes, dieser Tradition der gemeinschaftlichen Freiheiten, heutzutage noch (relativ) besser in Nordeuropa geschützt sind als in den südlichen Ländern.“ (Ebd., 1988, S. 52).

„Denn die Freiheit besteht ja eigentlich in der Unabhängigkeit« und »Autonomie«. Die »Befreiung« und die »Emanzipierung«, werden sie einmal von der Unabhängigkeit und der Autonomie getrennt aufgefaßt, haben nichts mehr mit dem Kampf um Freiheiten, sondern nur noch mit Kulturpathologie zu tun. Sich von seinen Zugehörigkeiten »emanzipieren« zu wollen heißt, sich selbst vernichten und verleugnen. Keine Gesellschaft darf zulassen, daß in ihr im Namen der »Freiheit« sich Mitglieder absondern und sie zerstören.“ (Ebd., 1988, S. 53).

„Abgesehen davon, daß die Behauptung eines solchen Rechts auf »Emanzipation« den Individuen keineswegs mehr an realer Freiheit einbringt, ist sie auch dazu geeignet, die schlimmsten Gewaltherrschaften zu nähren. Wenn die Freiheit nur eine zurückzuerobernde »Natur« ist, kann diese Zurückeroberung als ein entferntes Ziel hingestellt werden, dessen Zielsetzung die sofortige Negierung der konkreten Freiheiten rechtfertigt. Die Revolution von 1789 mündete somit durchaus folgerichtig in die Schreckensherrschaft von 1793. ... Die Erhöhung einer abstrakten Freiheit führt immer zur Negierung der konkreten Freiheiten, so wie die Erhöhung des »Menschen an sich« immer auf Kosten der Einzelnen geschieht. Das »Universalrecht« ist der allerschlimmste Feind der Privatrechte.“ (Ebd., 1988, S. 53).

ä Die Kulturen sind in Gefahr

„Der mit dem Monotheismus zusammenhängende Monohumanismus führt logischerweise zu jener besonderen Erscheinungsform des Rassismus, die auf dem Ethnozentrismus gründet. Zu behaupten, daß es grundsätzlich nur »einen« Menschen gebe, heißt letzten Endes nämlich alle Menschen nach denselben Kriterien beurteilen, sie durch das gleiche Sieb schütten. Völlig objektive Kriterien kann es allerdings nicht geben - umso weniger, als es auf kultureller und geschichtlicher Ebene kein Muster für die gesamte Menschheit gibt. Die Menschen als gleich, die Kulturen als zusammengehörig zu betrachten, ihnen die gleichen Bestrebungen und Rechte zuzuschreiben heißt, sie immer von einem einzelnen Standpunkt aus betrachten, dem gegenüber sie nicht gleich sein können. »Für den Durchschnittsmenschen«, schreibt Edmund Leach, »bezeichnet der Begriff Mensch »unseresgleichen, Leute unseres Schlages«, und oft ist der Anwendungsbereich einer solchen Kategorie äußerst begrenzt. Daraus folgern wir, daß es eine effektive Menschengesellschaft, innerhalb deren alle Individuen, selbst nur annähernd und in irgendeinem Sinne, untereinander gleich sind, nie gab und nie geben wird - außer daß sie winzigen Ausmaßes wäre.« (Edmund Leach, a.a.O., 1960, S. 365). Mit anderen Worten, der Egalitarismus besteht darin, alle Menschen als gleich zu betrachten, »unter der Bedingung allerdings, daß sie meine moralischen Werte akzeptieren.« (Ebd., 1960, S. 382).“ (Ebd., 1988, S. 53-54).

„Und Leach schließt mit den Worten: »Möglicherweise wird eine künftige Generation aufdecken, was der verheerende Trugschluß unserer Zeit war: nachdem wir mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Methoden entdeckt hatten, daß der Mensch als zoologische Art tatsächlich einzig ist, waren wir - mit Zwang und politischer Propaganda - bestrebt, dem Menschen als Kulturwesen und moralischer Person eine ähnliche Einheitsbedeutung aufzuerlegen, die dem eigentlichen Wesen unserer menschlichen Natur widerspricht.« (Ebd., 1960, S. 388).“ (Ebd., 1988, S. 54).

„Die Ideologie der Menschenrechte liefert das beste Beispiel für diesen »okzidental-biblischen« Ethnozentrismus. An der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« fällt nämlich am meisten auf, daß sich das »Allgemeine« auf ihre Anmaßung, es zu werden, beschränkt. In den Werten einer besonderen Religion, dem jüdisch-christlichen Monotheismus, gründend, ist sie nach den Worten Marcel Boisards »ein Synthese-Kompromiß zwischen dem westlichen Liberalismus, der gegenüber der Gesellschaft abstrakte Persönlichkeitsrechte definiert, und dem Marxismus, der das Individuum durch die Bindung an die Sozialgruppe zu schützen trachtet.« (Marcel Boisard, a.a.O., 1980). Ebenso bemerkenswert ist übrigens, daß kein einziger Vertreter der Dritten Welt in der achtköpfigen Kommission zu finden war, die mit der Ausarbeitung dieser Allgemeinen Erklärung beauftragt worden war.“ (Ebd., 1988, S. 54).

„Gibt es etwa auf der ganzen Erde nur eine Einheitskultur, deren Modell überall durch ein nach westlichen Kriterien zivilisiertes« Schulsystem gelehrt werden müßte? Besteht nicht in manchen Kulturen auch eine traditionelle Schulung, die außerhalb der Schule geschieht? Der Westen versucht, der ganzen Menschheit eine einheitliche Form des Unterrichts und der Wissensübertragung, folglich auch eine einheitliche Kultur und Weltanschauung aufzuzwingen. Was ist andererseits unter »Sklaverei« zu verstehen? Nach Auffassung der Ideologie der Menschenrechte hört die Sklaverei auf, sobald die Arbeit mit Geld entlohnt wird. Würde aber nicht die Einfuhr einer billigen fremdländischen Arbeitskraft nach Europa - aus der Sicht eines Irokesen zum Beispiel - als neue Form der Sklaverei erscheinen? Und überhaupt: Hat die westliche Welt nicht etwa neue Formen der »Sklaverei« und der kollektiven Unterdrückung geschaffen, und zwar durch den wirtschaftlichen Imperialismus, die kulturelle Beherrschung und die »Diktatur der Medien«?“ (Ebd., 1988, S. 55).

„Auf diese Weise erkennen wir die Gefahr, welche die »universalen« Prinzipien in sich bergen. Sie schließen nämlich in juristischen Bezeichnungen sowie in typisch okzidentalischen Vorstellungen Begriffe ein, die von jeder Kultur unterschiedlich wahrgenommen werden. Mit der gesamten christlichen, dann rationalistischen Philosophie ... münden sie in dieselbe Illusion ein: sie geben vor, eine juristische und philosophische Sprache für den ganzen Planeten freizulegen. Sie wollen einen einzigen Signifikanten (Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens) für alle Signifikate (Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens) finden.“ (Ebd., 1988, S. 55).

„Diese Verfahrensweise stößt auf allerlei Hindernisse. Die islamischen Länder zum Beispiel weigern sich, die 1962 verabschiedete Konvention über die freie Partnerwahl, das Heiratsmindestalter und die Registrierung der Eheschließung zu unterzeichnen. In dem bereits erwähnten Artikel geht Marcel Boisard übrigens der Frage nach, ob es eine typische islamische Auffassung der Menschenrechte gebe. Er stellt insbesondere fest, daß in den Ländern islamischer Kultur »die Pflicht des Individuums vor seinem Recht geht. Die soziale Qualität in höchstem Grad ist eher kollektiv als interindividuell. Jener traditionelle Gegensatz, den die abendländische Philosophie zwischen persönlichem Vorteil und Gemeingut aufstellte, ist im islamischen sozialen Denken somit theoretisch nicht anzutreffen.« »Da Welt, Gesellschaft und Individuum alle, auf verschiedenen Ebenen, moralische Gebote darstellen, besteht das höchste Wohl folglich in der harmonischen Anpassung an diese Gebote.« Die »Rechte Gottes« durch die Menschenrechte ersetzen zu wollen kann dem Islam nur widersinnig vorkommen. Der Artikel 29 der »Allgemeinen Erklärung« von 1948, der einzige übrigens, in dem es um die Pflichten des Individuums gegenüber der Gemeinschaft geht, erscheint in juristischer Hinsicht besonders widersprüchlich und verworren (**). Der Rechtsphilosoph John Finnis beurteilt ihn als »unklar« und »vieldeutig«. Um welche Gemeinschaft« handelt es sich eigentlich? Um die Familie, die Nation, die Firma, den Stamm? Die Erklärung hält anscheinend für eine Tatsache (oder für wünschenswert), daß alle Menschen in einer gleichartigen Sozialgruppe leben, die nach westlichem Vorbild rationell und juristisch organisiert ist. Zu den im besagten Artikel erwähnten »Pflichten« gehört die Berücksichtigung »der Moral, öffentlichen Ordnung und allgemeinen Wohlfahrt in einer demokratischen Gesellschaft«. Die Rechte und Pflichten, die mit der wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Unabhängigkeit der Nationalgruppen zusammenhängen, werden dagegen in keiner Weise erwähnt.“ (Ebd., 1988, S. 55-56).

„Es gilt lediglich das »demokratisch«-liberal-kapitalistische Modell, das auf dem westlichen Universalismus und dem bürgerlichen Individualismus gründet, in Achtung zu bringen. Was können aber außerhalb jeder kulturellen Norm die Begriffe »Moral« und »öffentliche Ordnung« überhaupt bedeuten? Letzterer Ausdruck hat nicht einmal die gleiche Bedeutung im Englischen wie im Französischen! Der Versuch, für die gesamte Menschheit die psychischen Normen der allgemeinen Wohlfahrt« (general welfare) nach dem Hedonismus Benthams zu bestimmen, kann auf juristischer Ebene ebensowenig ernstgenommen werden.“ (Ebd., 1988, S. 56).

„Indem sie das Schwinden der ethisch-kulturellen Eigentümlichkeiten legitimiert, bekräftigt die Ideologie der Menschenrechte die Erhöhung des Lebensniveaus - die jedem »gebührt« - als allgemeingültiges Ideal und wesentliches »Erfolgs«-Kriterium für die einzelnen Staatsformen. In diesem Sinne ist beispielsweise der 1966 geschlossene »Pakt über wirtschaftliche und soziale Rechte« zu verstehen. Ein solches durchaus antihistorisches Ideal ist nichts anderes, wie Jürgen Habermas es treuherzig formulierte, als eine Perspektive auf Ruhe und Befriedigung im Leben. Es steht aber keineswegs fest, ob diese Aussicht dem Wunsch aller Menschengruppen entspricht oder entsprechen muß. Das Glück hat nämlich nicht nur mit Materiellem zu tun. Es besteht auch in dem zwangsläufig besonderen Schicksal, das sich die Völker verleihen wollen.“ (Ebd., 1988, S. 56-57).

„Die Ideologie der Menschenrechte kann sich als eine aus dem Westen importierte Lehre nur verheerend auf die Rechts- und Verfassungssysteme der Dritte-Welt-Länder auswirken. In manchen Gesellschaften bedeutet das Auseinandernehmen der Hierarchien nichts anderes, als mühevoll errungene Gleichgewichte zu zerstören. Der Verfall der Gewohnheitsrechte, die Abschaffung jener zum Schutz der Gemeinschaften gedachten Vorrichtungen erweisen sich als ebenso verhängnisvoll. Die Verfasser der »Allgemeinen Erklärung« von 1948 konnten sich offenbar nicht vorstellen, daß ein persönliches Recht für einen afrikanischen Bauern nicht unbedingt die gleiche Bedeutung hat wie für einen wohlhabenden Bürger aus New-York. »Das Individuum zu schützen« bedeutet nicht, daß man ihm überall die Vorrechte zuweist, die im christlichen kanonischen Recht oder im angelsächsischen Jusnaturalismus verankert sind. In den ländlichen Demokratien Südamerikas führt das in ein parlamentarisches Repräsentativsystem mündende Wahlrecht dazu, das Wahlgangstertum zu fördern und das Volk der Tyrannei feudaler Politiker zu unterwerfen. In manchen afrikanischen Gesellschaften kann die »Bewegungsfreiheit« den Zusammenbruch der traditionellen Strukturen sowie die »wilde« Proletarisierung eines nicht unwesentlichen Teils der Bevölkerung hervorrufen usw.. »Im Namen der Menschenrechte«, bemerkt Gilles Anquetil, »kann man ohne weiteres und ungeprüft die islamisch geprägte Rechtspflege, das Kastensystem in Indien oder unzählige afrikanische Gesellschaftsriten in den Bereich der Barbarei zurückwerfen, ohne dabei die von solchen gesellschaftlichen Vorschriften übertragenen Werte zu berücksichtigen, die eine authentische Weltordnung organisieren.« (Gilles Anquetil, a.a.O., 06.03.1980).Wir sind aufgrund der bisherigen Ausführungen nun berechtigt, die Verbreitung der Philosophie der Menschenrechte in den Dritte-Welt-Ländern als ein (wenigstens zum Teil) Phänomen der politisch-juristischen Akkulturation auszulegen sowie als Verzicht auf Normen authentischen Rechts zugunsten abstrakter »universaler« Normen, die im kulturellen Erfahrungsgut der betroffenen Länder auf nichts verweisen. Diese Akkulturation stellt ohne Zweifel eine Form des Neokolonialismus dar, die im unmittelbaren Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht der Völker steht, im Namen dessen sich die Entkolonisierung gerechterweise vollzog.“ (Ebd., 1988, S. 57-58).

„»Die Ideologie der Menschenrechte«, schreibt Gilles Anquetil ferner, »postuliert in ihrem Universalismus und durchaus Kantischen Rigorismus, daß alle Menschen den gleichen Bezug zum Leben und zum Tod haben und daß man ohne Bedenken von den kulturellen und religiösen Traditionen absehen kann, die diesen Bezug bestimmen.« (Gilles Anquetil, a.a.O., 06.03.1980). Und dennoch, »so schockierend es uns erscheinen mag, müssen wir uns damit abfinden, daß ein afghanischer Untergrundkämpfer nicht nur ausschließlich für den Triumph dessen kämpft, was wir als Menschenrechte bezeichnen. Er kämpft, um eine kulturelle Ordnung zu verteidigen, in der das Verhältnis zum gegebenen oder erhaltenen Tod, die moralischen Werte, die Zeit und das Gesellschaftsprojekt in keiner Weise dem entsprechen, worum die Abendländer kämpfen.« (Ebd., 1988, S. 58).

ä Im Dienst des Liberalkapitalismus **

„In Technik und Wissenschaft als »Ideologie« (1968) weist Jürgen Habermas darauf hin, daß die liberalistische Gesellschaft ... durch die Erweiterung von »Sub-Systemen zweckrationalen Handelns« gekennzeichnet ist.“ (Ebd., 1988, S. 59).

„Max Weber weist seinerseits nach, daß in einer solchen Gesellschaft die Kohäsion nicht mehr durch politische Führung erfolgt, sondern durch eine dezentralisierte Selbstregulierung technokratischen Wesens. Der Konsens beruht dann auf der praktischen Einwilligung der Individuen in eine Lebensweise, auf die sie nicht mehr verzichten können; diese Einwilligung geschieht auf der Ebene der Sub-Systeme, und nicht mehr auf allgemeiner Ebene. (Diese integrierenden Sub-Systeme können u. a. der Betrieb, die Berufssphäre, die Vereinstätigkeit, die Welt des Autos, die häusliche Sphäre sein.) Um seine Herrschaft zu behaupten, braucht das System folglich keinen politischen Diskurs und keine nationalen mobilisierenden Mythen mehr. Aus dieser Tatsache ergibt sich eine Entpolitisierung und Entnationalisierung der bürgerlichen Gesellschaft - was Max Weber als deren Säkularisierung« bezeichnete. Die Legitimation der gesamten Gesellschaftsstruktur durch politische Argumentation oder »fraglose Traditionen« weicht einer Legitimation durch wirtschaftliche Ideologien oder durch private Ethiken, die eine materielle Lebensauffassung rechtfertigen (und sich selbst an dem mechanistischen und ökonomistischen Aspekt des internationalen zu legitimierenden Systems orientieren).“ (Ebd., 1988, S. 59).

„So unterschiedlichen Autoren wie Max Weber, Arnold Gehlen, Helmut Schelsky oder Martin Heidegger zufolge beruht das allgemeine System der liberalkapitalistischen Gesellschaft letzten Endes auf einer Deutung der Wissenschaft und der Technik als Tätigkeiten, die dem Einzelnen zweckrational zu seinem ökonomischen Glück verhelfen sollen. Es kommt also darauf an, über eine Theorie zu verfügen, die eine Synthese der beiden Schlüsselbegriffe Glück und Rationalität in höchstem Maße bestätigt. Die Theorie ist die Ideologie der Menschenrechte.“ (Ebd., 1988, S. 59-60).

„Aus der Sicht ihrer Urheber weist die Ideologie der Menschenrechte mehrere Vorteile auf. In erster Linie besitzt sie ein moralisches Wesen, kraft dessen sie zumeist auch dort annehmbar ist, wo ein rein technokratischer« Diskurs unter Umständen schlecht angenommen werden würde. »Die Lösung technischer Aufgaben«, schreibt Habermas, »ist auf öffentliche Diskussion nicht angewiesen, öffentliche Diskussionen könnten vielmehr die Randbedingungen des Systems, innerhalb dessen die Aufgaben der Staatstätigkeit als technische sich darstellen, problematisieren.« Außerdem verdeckt diese Ideologie die Macht- und Bedeutungslosigkeit des politischen Diskurses einer führenden Klasse, die - da sie eine immer mehr durchökonomisierte Gesellschaft »auf Sicht« steuert - jeglichen legitimierenden ideologischen Diskurs vom herkömmlichen Typ entbehrt. Mit anderen Worten: In dem Augenblick, da die moderne Zivilisation, die ja auf allen Ebenen ihrer Sub-Systeme - mit Ausnahme der Erfahrungsebene - umstritten ist, keine politische Ideologie zu deren Legitimation findet, vermag nur noch die Lehre der Menschenrechte einen Konsens zu schaffen, und zwar in der (etwas lockeren) Form des kleinsten gemeinsamen ideologischen Nenners.“ (Ebd., 1988, S. 60).

„Daß die Ideologie der Menschenrechte größtenteils als eine us-amerikanische Ideologie hervortritt, ist unter diesen Bedingungen folgerichtig. Es ist nämlich kein Zufall, wenn die Vereinigten Staaten gleichzeitig die größten Anhänger des liberalkapitalistischen Gesellschaftsmodells sind; und wenn die zentralen Begriffe der liberalistischen Rechtsphilosophie zur Theorie der us-amerikanischen kapitalistischen Praxis wurde - oder genauer zum legitimierenden Kodex eines Signifikats, das nichts anderes als der Handelsaufschwung der USA ist.“ (Ebd., 1988, S. 60).

„Das hauptsächlich biblische Wesen der us-amerikanischen Ideologie der Anfänge erwies sich in dieser Hinsicht als prädisponierendes Element. »Die dialektische Verwandtschaft des amerikanischen Grundgesetzes mit dem mosaischen Gesetz drängt sich einem beinahe auf«, schreibt Pol Castel. Dem fügt er hinzu: »Es ist kein Zufall, wenn die amerikanische Demokratie so viele Ähnlichkeiten mit der ersten hebräischen Regierung aufweist, denn die Founding Fathers waren mit der biblischen Welt hinlänglich bekannt« (Le Monde, v. 4. Juni 1979).“ (Ebd., 1988, S. 60).

„Die 1776 in Philadelphia unterzeichnete Unabhängigkeitserklärung von Amerika postuliert: »Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören« daß zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden.« Es ist wahrlich schwierig, in so wenig Sätzen soviel Unsinn auszusprechen. Daß »alle Menschen gleich geschaffen sind«, stimmt nicht - und die Überlegung, ob es gut ist, daß sie es werden, kann nur subjektiv sein: Nur der Mensch ist wirklich Schöpfer, und er kann nicht von »Natur aus« mit irgendeinem Recht oder irgendeiner Pflicht ausgestattet worden sein. Die Regierungen wurden nicht nur eingesetzt, um die persönlichen Rechte zu sichern; sie setzten sich vielmehr selbst ein, um verschiedenen Verpflichtungen nachzukommen, allen voran der Pflicht, den Völkern ein Schicksal zu verleihen. Was die »selbstverständlichen Wahrheiten« betrifft, sind sie ebenso wenig wirklich und »selbstverständlich« wie die goldenen Berge oder die sechsfüßigen Einhörner. Aber die ganze Ideologie der Menschenrechte » keimt« bereits in diesen Behauptungen.“ (Ebd., 1988, S. 61).

„Es sei in diesem Zusammenhang festgestellt, daß die im Schoße der französischen Revolution von 1789 entstandene Philosophie der Menschenrechte — eine rousseauistische, wenig ökonomistische und mehr politische Philosophie - von der us-amerikanischen stark abweicht. Sie ist weniger individualistisch, weniger universalistisch und drückt nicht gleich ein und denselben Wunsch nach einem Abschluß der Geschichte aus. Neben ihrer Theorie über den »Menschen an sich« weist sie dem positiven Begriff des Staatsbürgers eine große Bedeutung zu. Vielleicht deshalb berufen sich die bedeutendsten Theoretiker der Menschenrechte heute eher auf die us-amerikanische als auf die französische Revolution. Hannah Arendt zum Beispiel, deren Lebensweg sie in die Nähe des Marxismus brachte und die schließlich die us-amerikanische Auffassung der Menschenrechte verteidigte (**), lehnt die Praxis der französischen Revolution entschieden ab. Freiheit mit revolutionärer Gewalt zu sichern, ist für sie unannehmbar. Die Freiheit muß auf einem ununterbrochenen Gesellschaftsprozeß gegründet sein. Dadurch daß sie sich von vornherein Lockes Bourgeoisismus und Benthams Utilitarismus (u.a. Ablehnung der historisch gründenden Revolutionen; Wille, die Menschenrechte auf »eine spontane gesellschaftliche Organisation« und nicht auf einen politischen Bruch zu gründen) anschließt, verwirft H. Arendt den polemischen Begriff der Gesellschaftsklasse; und das führt sie dazu, das Problem der wirtschaftlichen Beherrschung und der sozialen Entfremdung nahezu völlig zu vertuschen. »In den Vereinigten Staaten von 1776«, schreibt sie, »behielt der Begriff »Volk« (people) die Bedeutung der Vielzahl, deutete die unendliche Mannigfaltigkeit einer Vielheit an, deren Größe in ihrer Pluralität bestand.« Diese Andeutung ist ebenfalls aufschlußreich. Die »Vielheit« ist nichts anderes als die heterogene und »individualisierte« Menge, wo jedem frei steht, »glücklich zu sein« und wo der ideale gesellschaftliche Raum der konsumierenden Kundschaft entsteht, auf die der Liberalkapitalismus angewiesen ist. Hannah Arendt wird somit dazu gebracht, aus der Ideologie der Menschenrechte das Instrument einer Klassenkollaboration zu machen, und bekräftigt gleichzeitig das Interesse, das die us-amerikanischen Wirtschaftskreise dieser Philosophie entgegenbringen.“ (Ebd., 1988, S. 61-62).

„Die Verwirklichung der weltbürgerlichen Ideologie der Menschenrechte führt ... zu einer Einschränkung der politischen Souveränität der nationalen Staaten. Mit Bezug auf Montesquieu befürwortete Jean-Marie Benoist noch vor kurzem eine Art »Richterregierung« für Europa. Nationale oberste Gerichtshöfe, die einem europäischen obersten Gerichtshof unterstünden, müßten auf alle Hemmnisse aufmerksam machen, mit denen die Regierungen den vollen Genuß der Menschenrechte erschweren könnten. Solche auf dem zweideutigen Prinzip der »Gewaltenteilung« gründenden Auffassungen könnten nur zur Einsetzung eines Obersten Weltgerichtshofes führen - eines ungeheuren, gegen die nationalen Mächte und Regierungen ... gerichteteten Gleichschaltungsapparat ....“ (Ebd., 1988, S. 62).

„Der Vorrang der individuellen Rechte vor den nationalen Souveränitätsrechten ruft gegenwärtig eine gefährliche Erscheinung hervor: die Ablösung der politisch-exekutiven Kategorie durch die juristische. Indem sie im Namen einer moralischen »Weltinstanz« die Macht der nationalen Staaten einschränkt, zielt die Ideologie der Menschenrechte darauf ab, das Politische um seine Vorrechte zu bringen und es einer höheren juristischen Entscheidungsinstanz zu unterwerfen. Daß das Politische und sein Wesen den zersetzenden Praktiken eines metaphysischen, abstrakten Rechtswesens untergeordnet wird, führt zur Diktatur der Juristen über die Regierenden. Diese Unterordnung schließt die Absetzung der Staatsräson in sich; sie bekräftigt den Untergang des Politischen. Der eigentliche Begriff der »menschlichen Person«, auf den die Ideologie der Menschenrechte so großen Wert legt, ist ein juristischer: das Recht ist die »natürliche« Quelle einer Theorie der Person, die das Individuum in erster Linie als Besitzer von Rechten kennzeichnet.“ (Ebd., 1988, S. 63).

„Schon in frühgeschichtlicher Zeit versuchte man in dem einen oder anderen Fall durch Einsetzung einer Nomokratie zu verhindern, daß die politische Macht sich für »allmächtig« erklärt und mit »Gott wetteifert«. Moses war der erste, der die Trennung zwischen dem Politischen und dem Richterlichen sowie die Unterordnung des ersten unter das zweite befürwortete. In Kanaan ist der Richter oberster Führer in Frieden und Chef der Exekutive in Kriegszeiten. Die Regierungsmacht müßte demnach dem Gesetz untergeordnet sein und das Gesetz müßte das Abbild von Jahwes Gesetz sein. Dieses Thema wird heutzutage nach allen Seiten ausgebeutet. Das Recht drückt dann, wie Nietzsche es treffend darlegte, nichts anderes als einen »Willen zur Macht« aus: es dient dazu, die politisch-exekutive Souveränität zugunsten derjenigen Macht zu vernichten, die sich ihrer zu bemächtigen versucht. Zur Zeit des Augustinus und Gregors VII. hatte schon die Kirche die christliche Theorie der Menschenrechte dazu benutzt, sich von der politisch-exekutiven Macht zu emanzipieren. Die im 18. Jahrhundert auf ideologischer Ebene erneut aufgetretene Unterordnung des Politischexekutiven - gegenüber dem Juristischen - nahm im vorigen Jahrhundert mit dem Konstitutionalismus zu. Die politische Tätigkeit wurde immer auf die gesetzgebende reduziert; jeder politische Konflikt unterstand dem gerichtlichen Beschluß usw.. Diese Entwicklung führte zum heutigen sogenannten Rechtsstaat. »Nicht nur, daß das gesamte Recht mit dem Gesetz völlig übereinstimmt; das Gesetz gilt außerdem als politische Tätigkeit bzw. als politisches Tätigkeitsfeld.« (Julien Feund, a.a.O., 1965, S. 242). Die Verrechtlichung des internationalen Menschenrechtsschutzes wurde mit der Gründung des unheilvollen Völkerbundes (1919) konkretisiert, der 1945 von der Organisation der Vereinten Nationen abgelöst wurde. Die Rechtstheorie, an die sich die Ideologie der Menschenrechte anschließt, ist selbstverständlich die »Naturrechtstheorie«. Wir legten bereits dar, weshalb wir diese Theorie als irrig betrachten. (**). Wir sind nämlich der Überzeugung, daß es keinen extrinsischen (außen liegenden) Rechtsdeterminismus gibt, keine rechtliche Verbindlichkeit, die sich aus einer dem Menschen fremden Ordnung ergibt. Die vom Recht gegründete Ordnung ist ursprünglich immer eine gewollte und konventionelle; sie wird durch stillschweigende oder ausdrückliche Übereinkunft eingesetzt. Sie ist also beliebig veränderbar und modifizierbar, je nach dem Willen und den Wahlentscheidungen der Menschen. Das Recht ist im eigentlichen Sinne etwas Künstliches; und hierin ist es rein menschlich. Demnach kann von Rechtsgültigkeit nur innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft die Rede sein. »Das Gesetz im juristischen Sinne ist nicht universal«, unterstreicht Julien Freund. »Es gilt räumlich und zeitlich nur innerhalb der territorialen Grenzen der politischen Autorität, die den unmittelbaren Zwang ausüben kann. Seine Gültigkeit ist auf eine politische Einheit beschränkt.« (Julien Feund, a.a.O., 1972, S. 7). Außerdem bezweckt das Recht nicht etwa die »Gerechtigkeit an sich«, sondern die konkrete Rechtlichkeit in einer Reihe von bestimmten Fällen. »So wie das Recht Vermittlung ist und die Verhältnisse zu den anderen bestimmt, so stellt die Rechtlichkeit keine Gerechtigkeit an sich dar, sondern eine Haltung, die die Freiheit und die Interessen eines jeden achtet.« (Ebd., S. 92). Wir geraten deshalb nicht in den juristischen Positivismus, dem zufolge das Recht einzig das Ergebnis des Willens ist, der es gründet. Das hieße letztlich die Ansicht vertreten, daß alles, was eine konstituierte Behörde entscheidet, gerecht ist; das Recht würde nicht mehr die (zur Ordnung beitragende) Rechtlichkeit bezwecken, sondern lediglich die Ordnung. Das hieße ebenfalls, auf andere Art in die Vormachtstellung des Gesetzes zurückfallen, über das bereits Platons Hippias aussagte, es könne zum »Tyrannen des Menschen« werden (Protagoras). Das Recht enthält auch eine Wertkomponente: ein Gesetz muß, um gerecht zu sein, den spezifischen Werten der Kultur oder des Volkes entsprechen, in dem und für das es geschaffen wurde.“ (Ebd., 1988, S. 63-64).

„Von daher ist es offensichtlich, daß die Destrukturierung der politischen Macht den Zusammensturz des Rechts insofern hervorruft, als dieses nicht mehr anwendbar ist. Das Recht hat nämlich kein ureigenes Wesen. Tritt es einmal zutage, so gibt es Anlaß zu einer autonomen Tätigkeit, deren spezifisches Mittel das Prozeßverfahren ist, aber es vermag nicht, sich selbständig zu konstituieren. »Das Recht hat nur dann einen Sinn, wenn ein politischer Wille die Gesellschaft in Kenntnis setzt, daß sie sich konstituiert, sich eine Regierungsform verleiht, das heißt ihre Ordnung bestimmt.« (Julien Feund, a.a.O., 1972, S. 88). Deshalb kann das Gesetz als Instrument der Ordnung diese nicht aus sich heraus stiften oder sie allein aufrechterhalten. »Gesetze bestehen nur dort, wo es eine gegründete Republik gibt«, schrieb Hobbes. Das liegt daran, daß der zur Verwirklichung der Gesetze notwendige Zwang dem Recht nicht innewohnen kann; er wird ihm von außen beigefügt. Das an sich normende und vorschreibende Recht besitzt weder die Mittel noch die Macht, das, was es verordnet, aufzuzwingen oder einhalten zu lassen. Das bedeutet aber nicht, daß das Politische das Vollstreckungsmittel des Rechts ist. Das heißt vielmehr, daß sich das Politische das Recht gefügig macht, sofern nur jenes dieses verbürgern kann. So wird jener alte Gegensatz von Macht und Gesetz gelöst. Die politische Macht darf nicht an die Stelle des Rechts treten: es wäre die Willkür. Oder auch das Recht darf nicht die politische Macht ersetzen: es wäre die Ohnmacht. »In einem Rechtsstaat, wo ausschließlich das Gesetz regieren würde«, schreibt ferner Julien Freund, »wäre das Recht machtlos und die Politik gelähmt.« (Ebd., S. 10).“ (Ebd., 1988, S. 64-65).

„Auch die von den Verfechtern der Menschenrechtsideologie häufig vertretene Auffassung, wonach das Recht die Macht ausschließe, wonach der Rechtsstaat den Frieden sichere (da der Rückgriff auf das Gesetz genüge, den Konflikt auszuschließen) ist reine Absurdität: die Konflikte rühren nämlich aus der Unterschiedlichkeit von Kräften, die das Recht nur dann zügeln kann, wenn es sich selbst auf eine Macht stützt. Deshalb ist »Friede eine in erster Linie politische Sache, keine juristische. Erst wenn das Politische es vermag, die Gewalt sowohl innen als auch außen zunichte zu machen, kann es Lösungen auf dem rechtlichen Weg erzwingen«. (Julien Feund, a.a.O., 1972, S. 10). Der tatsächliche Schutz der Freiheiten kann nur dann erfolgreich sein, wenn er auf politischer Ebene vorgenommen wird. Die Sicherung der Freiheiten setzt ein Kräfteverhältnis voraus, das für denjenigen, der sie schützen will, vorteilhaft ist. Ganz anders verhält es sich natürlich mit der Ideologie der Menschenrechte, die sich von vornherein auf der moralisch-juristischen Ebene definiert, die das Recht dazu führt, seine eigene Sphäre auf Kosten des Politischen zu verlassen. Je mehr sich das Recht aber ausdehnt, umso mehr verdünnt es sich. Je mehr vom Recht »die Rede« ist, umso mehr sieht es seine Macht dahinschwinden. Für die Menschen wie für die Nationen sind begrenzte, genau beschriebene und gekennzeichnete Rechte besser als ein anspruchsvolles, egalitäres, »universales Recht«, Im dessen Anwendung keine Einschränkung, keine historische Tradition bürgen. Das Recht, das einem Menschen nur deshalb zugesprochen wird, »weil er ein Mensch ist«, ist nichtig; wird dieses Recht nicht anerkannt, und schon kann keiner den Vorteil davon genießen. Nur diejenigen Rechte, die von einer politischen Macht geschützt werden oder die zu schützen sich eine politische Macht entschließt, können effektiv anerkannt und verwirklicht werden.“ (Ebd., 1988, S. 65-66).

„Schon ein kurzer Blick auf die jüngste Vergangenheit zeigt, daß sich die Ideologie der Menschenrechte beim Schützen der konkreten Freiheiten als völlig wirkungslos erwies. Sie ist freilich bestens darauf eingestellt, die westlichen Länder, in denen sie ins Leben trat, zu destrukturieren; es gelang ihr aber andererseits nicht, z.B. mehr reale Freiheit in den Ländern einzuführen, die unter sowjetischer Herrschaft stehen. Kurz nach dem russischen Einfall in Afghanistan sabotierte sie 1980 die Olympischen Spiele von Moskau im Namen des »Weltgewissens« und zur »Sanktion«: sie trug letzten Endes nur dazu bei, den olympischen Geist zu vernichten. In einzelnen Fällen konnten die Verfechter der Menschenrechte die Medien auf das Schicksal des einen oder anderen »Dissidenten« aufmerksam machen. Diese Proteste halfen dennoch nichts (außer wenn die UdSSR es für politisch einträglich hielt, »eine Geste zu machen«).“ (Ebd., 1988, S. 66).

„Das gute Gewissen des Humanitarismus beklagt arglos, daß »die Menschenrechte seit ihrer juristischen Verankerung in höherem Maße verunglimpft werden.« Wir möchten aber darauf hinweisen, daß die konkreten Freiheiten eines jeden Volkes zwangsläufig von dem Augenblick an zurücktreten mußten, da man sie durch ein »universales Recht« und eine abstrakte »Freiheit« zu ersetzen versuchte, die viel leichter zu verletzen waren. Indem die Ideologie der Menschenrechte so unklare Begriffe wie das »Gemeinwohl«, die »Demokratie«, das »Sanitätswesen« oder die »Moralität« als Prinzipien aufstellt, verhilft sie den tyrannischen Regierungen dazu, alle Hemmnisse zu überwinden, die die Gewohnheits- und Lokalrechte für sie darstell(t)en. Die neue chinesische Verfassung, die das »Recht der freien Meinungsäußerung« und des »freien Schriftverkehrs« garantiert, konnte beispielsweise das (konkrete) Recht zum Anschlagen der dazibaos dadurch aufheben, daß sie sich auf die Theorie der Menschenrechte stützte.“ (Ebd., 1988, S. 67).

„Einige schwarzafrikanische Staaten der nachkolonialen Zeit, die die »Allgemeine Erklärung« von 1948 unterzeichnet hatten, verzichteten gleichzeitig auf ihr herkömmliches Gewohnheitsrecht - da sie es viel lieber hatten, nur noch an drei Seiten eines philosophischen und moralisierenden Diskurses gebunden zu sein. Und wir sprechen hier lediglich von den politischen Freiheiten des klassischen Typs: den sprachlichen, kulturellen u.a. Freiheiten ist die Ideologie der Menschenrechte bekanntlich völlig gleichgültig, wenn nicht feindlich gesinnt.“ (Ebd., 1988, S. 67).

„Daß die juristischen Begriffe des angelsächsischen biblischen Demokratismus weltweit übernommen werden, erweist sich nicht nur als völlig fruchtlos für die Besserung der Verhältnisse; diese Entwicklung kennzeichnet unseres Erachtens auch einen eindeutigen Verfall des Rechts, der übrigens auch mit dem Rückgang des Politischen zusammenhängt. Da das Recht allmählich aufhört, praxisbezogen zu sein, an Bräuche oder an überlieferte und vererbte Rechtsprechungen gebunden zu sein, wird es moralisch und ideologisch. Zum Thema wissenschaftlicher Abhandlungen umgewandelt, der Unaufgeklärtheit von Journalisten und Meinungsmachern zur Speisung gegeben, erweist es sich als völlig unfähig, seiner Aufgabe in aller Form gerecht zu werden. Damit die Völker und die Sozialgruppen sich von der wirtschaftlichen Herrschaft und der — auf die liberalkapitalistische Gesellschaftsform zurückgehende - soziokulturellen Entfremdung freimachen, müssen sie eine antiindividualistische Ideologie und Strategie übernehmen, wo die Widerstandsräume möglichst von einem Befreiungswillen beherrscht sowie strukturiert werden, der nur souverän und politisch sein kann. Zu einer entgegengesetzten Haltung drängt leider die Ideologie der Menschenrechte, deren pseudo-befreiender Diskurs sich letzten Endes für das gesamte System verbürgt, indem er dieses anscheinend nur punktuell, auf der oberflächlichen unwesentlichen Ebene der formalen Semiologie anficht.“ (Ebd., 1988, S. 67-68).

ä Rückkehr zum bürgerlichen Humanitarismus

„Die Ideologie der Menschenrechte bildet heute den Sammelpunkt aller egalitären, sowohl religiösen wie auch weltlichen Strömungen nicht nur, weil die jetzige »egalitäre Zivilisation« eine theoretische Legitimation im höchsten Grad braucht, sondern auch, weil das Thema der Menschenrechte sozusagen eine gemeinsame Entwicklungsschicht innerhalb ihres Diskurses ausmacht. Liberale und Rationalisten westlicher Tradition, gemäßigte Sozialisten, Kantianer, Marxisten, Anhänger der christlich-sozialen Bewegung, ja sogar traditionalistische Christen, alle erlebten irgendwann im Verlauf ihrer »ideologischen Geschichte« den rationalen Idealismus der Menschenrechte. Und aus diesem Grunde eignet sich dieses Thema besonders dazu, sie ökumenisch zusammenzubringen, zu einem Zeitpunkt, wo sie es am meisten nötig haben.“ (Ebd., 1988, S. 68).

„Nur die Ideologie der Menschenrechte war nämlich in der Lage, auf einer breiten Rückzugstellung eine westliche Intelligenzia neu zu gruppieren, die seit etwa zehn Jahren durch das Abbröckeln ihres theoretischen Diskurses sowie den wiederholten Zusammenbruch ihrer politischen und gesellschaftlichen Modelle völlig ratlos geworden war. Daß heute Marxisten und revolutionäre Sozialisten, deren Lehrgebäude einst den »kleinbürgerlichen Idealismus« (Lenin) und den »Formalismus« zu überwinden begehrte, erneut zum Schutz der Menschenrechte ansetzen, zeugt von einem unbestreitbaren theoretischen Rückzug des egalitären Denkens. Dieser Rückzug, dieser ideologische Widerruf fällt mit der Entwicklung des Egalitarismus, von einer dialektischen Phase zu einer soziologischen, zusammen. Die im 18. Jahrhundert eingeleitete dialektische Phase zeichnete sich durch intellektuelle Findigkeit aus: die Formulierung der Ideen ging ihrer politischen und gesellschaftlichen Umsetzung voraus. In der soziologischen Phase läuft die massive Verbreitung der egalitären Lebensformen sowie der Triumph des bürgerlichen Typus parallel zum Rückgang der revolutionären ideologischen Formulierungen und zum erneuten Aufkommen einer pseudo-humanitären Sensibilität: dann steuert das soziale Geschehen die Ideen, und nicht umgekehrt. Die egalitäre Ideologie hört damit auf, erfinderisch zu sein. Sie beschränkt sich auf »bescheidene« Formeln. Sie zielt auf Homogenisierung und Vermassung hin. Die Ideologie der Menschenrechte, als Diskurs eines Weltbürgertums und Sinn dieses Projekts, bildet die Axialform dieser »Vermassung« der Ideen.“ (Ebd., 1988, S. 68-69).

„Auf Seiten der Christen ist die Entwicklung besonders bemerkbar. Vor allem das katholische Christentum bekämpfte lange Zeit die Philosophie der Menschenrechte - zu deren Gründung es dennoch in hohem Maße beigetragen hatte -, als diese Philosophie dazu überging, das »Naturrecht« nicht mehr auf einer geoffenbarten Moral, sondern auf westlichen Prinzipien zu gründen. Heute aber muß das - einen Teil der Vergangenheit übersehende - Christentum sich nicht verweltlichen, um im Evangelium eine zivile Moral zu finden, die auf dem »Naturrecht« und auf dem Vorrang des Individuums gründet. Pater Michel Lelong durfte vor wenigen Jahren sogar schreiben, daß die Einwilligung in die Philosophie der Menschenrechte ein wichtigeres Kriterium zur Beurteilung der einzelnen Lehrgebäude darstelle als die Haltung zum Apostolischen Glaubensbekenntnis. Die ... Vereinigung »Rechte des Menschen und Solidarität« äußerte unlängst den Wunsch, unter diesem Motto Katholiken und Freimaurer zusammenzubringen. Was Papst Johannes Paul II., den würdigen Fortsetzer des Verhaltens von Papst Paul VI., betrifft, tritt er auf seinen Reisen ebenfalls immer wieder für die Menschenrechte« ein. (**).“ (Ebd., 1988, S. 69-70).

„In der streng-marxistischen Tradition, die zwischen »formalen« (bürgerlichen) Freiheiten und »realen« (sozialistischen) Freiheiten unterschied, wurde die Ideologie der Menschenrechte noch vor einiger Zeit verworfen, weil sie einer historisch überholten Phase entspreche. Im Manifest der Kommunistischen Partei (1848) sprach Marx seinen berühmten Fluch aus: »Aber streitet nicht mit uns, indem ihr an euren bürgerlichen Vorstellungen von Freiheit, Bildung, Recht usw. die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums meßt. Eure Ideen selbst sind Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, wie euer Recht nur der zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse ist.« Unter den heutigen, mehr auf humanistischen Anstand bedachten Marxisten sind es immer weniger, die auch das bürgerliche Recht als Diskurs wirtschaftlicher Legitimation verwerfen - obwohl diese Verwerfung einen der interessantesten Aspekte der marxistischen Analyse darstellt. Man könnte diese Analyse übrigens wiederaufnehmen und dabei nachweisen, daß sich die Legitimation weniger auf eine Klasse bezieht als auf eine Funktion: auf die ökonomische und kaufmännische Funktion. Die Kritik am bürgerlichen humanitären Recht« ziemt sich heute nicht mehr, seitdem die Revolution in Verdacht gekommen ist, sich dem »Glück« zu widersetzen.“ (Ebd., 1988, S. 70).

„Der Verzicht auf den Antihumanismus geht nicht auf die Stimmungen eines Roger Garaudy zurück. In Wirklichkeit läutete die Frankfurter Schule schon vor dem 2. Weltkrieg die enttäuschte und schmerzvolle Rückkehr zur Ideologie der Menschenrechte ein, der sich ein großer Teil der heutigen Linksintellektuellen mittlerweile angeschlossen hat. Ernst Bloch war einer der ersten, die die Rückkehr zur Bibel und den Verzicht auf jegliche revolutionäre Perspektive priesen.“ (Ebd., 1988, S. 70).

„Die Ideologie der Menschenrechte bildet nunmehr den Treffpunkt all derjenigen, die der Egalitarismus enttäuschte; den Ort, wo sie zugleich ihre Irrfahrten gestehen, ihre Pleiten zugeben, ihre Grundbestrebungen beibehalten und nach wie vor ein gutes Gewissen haben können. Sie ist der ideologische Raum, in den alle gegenwärtigen Universalismen, alle der monotheistischen Mentalität entsprungenen Systeme hineinfließen werden. Sie ist die Religion des ausgehenden 20. Jahrhunderts (und des gesamten 21. Jahrhunderts; Anm. HB).“ (Ebd., 1988, S. 71).

Totalitarismus. Kommunismus und Nationalsozialismus - die andere Moderne. 1917-1989 (2001)

 – Vorwort von Ernst Nolte (S. 5-15)
 – Einführung (S. 17-21)
 – Der Totalitarismus - Kapitel 1-25 (S. 23-171)

ä Vorwort (von Ernst Nolte)
„Alain de Benoist ist in der großen Öffentlichkeit Deutschlands nur wenig bekannt, obwohl seit kurzem die Übersetzung eines seiner wichtigsten Bücher unter dem Titel Aufstand der Kulturen vorliegt. Am ehesten weiß man von ihm, daß er als der Hauptvertreter der »Neuen Rechten« in Frankreich gilt, daß diese intellektuelle Richtung eine umfangreiche Publikationstätigkeit entfaltet und über einige Zeitschriften ... verfügt, die aus dem geistigen Leben von Paris und Frankreich kaum wegzudenken sind. Wenn irgendeine Gruppierung von Menschen sich als »Rechte« bezeichnet, muß sie damit rechnen, daß von der politischen und der intellektuellen »Linken« die »Faschismuskeule« gegen sie geschwungen wird, und auch de Benoist hat diese Erfahrung gemacht. Aber er hat Vorwürfe dieser Art immer mit Entschiedenheit und guten Argumenten zurückgewiesen. Wenn man sein überaus umfangreiches und vielfaltiges Werk auf einen einfachen Begriff bringen kann, so ist es derjenige des »Ethnopluralismus«, d.h. die Auffassung, daß »Völker«, Ethnien, Nationen, aber auch Kulturen fundamentale Realitäten des geschichtlichen Daseins darstellen und durch eine Selbstachtung charakterisiert sein sollten, welche die Achtung vor den anderen Völkern und Kulturen einschließt. Das bedeutet eine nachdrückliche Absage an den »Nationalismus« und dessen Selbstbezogenheit, der so häufig einen Herrschaftsanspruch gegenüber anderen Völkern erhebt, ja, der im Extremfall sogar die Versklavung oder Vernichtung benachbarter Nationen ins Werk setzt, wie es besonders am Beispiel des deutschen Nationalsozialismus deutlich geworden ist. Aber diese Verneinung bedeutet ebenfalls die Kritik an jener übergreifenden Tendenz, die man heute meist »Globalisierung« nennt und die nach der Meinung de Benoists einen völkervernichtenden und kulturzerstörenden Charakter hat. Sie wurde einst unter dem Namen »Weltrevolution« von der radikalen Linken zur obersten Zielsetzung erhoben, und sie wird heute vom Neoliberalismus ebenfalls sowohl als Tatbestand wie auch als Norm verstanden. Mit ebenso großer Entschiedenheit wie gegen den Nationalsozialismus muß sich de Benoist daher gegen den Kommunismus, aber auch gegen einen Liberalismus wenden, der in seiner »mondialistischen« und ökonomistischen Ausrichtung sogar die repräsentative Demokratie der Nationalstaaten in Gefahr bringt. Alain de Benoist kann also mit Recht den Begriff des »Totalitarismus« übernehmen und seine »antifaschistischen« Gegner in die Schranken weisen, denn selbst der italienische Faschismus war totalitär, doch er sieht sich weiterhin dem Vorwurf ausgesetzt, sein Begriff der staatlichen und kulturellen Gemeinschaft sei »organizistisch« und auch der »völkische« Flügel des Nationalsozialismus habe Hitlers Ausgriff über die deutschen Grenzen hinaus abgelehnt. Aber lassen sich nicht ebenfalls Gemeinsamkeiten mit dem Kommunismus aufweisen, den er doch mit so viel Nachdruck ablehnt, etwa die negative Einstellung zu dem »kapitalistischen« Globalismus und die Kritik an der »Abstraktheit« der modernen Gegenwart? Triviale und parteiliche Polemik ist de Benoist gegenüber also nicht berechtigt, und von seinem Ausgangspunkt her ist er vorzüglich legitimiert, den Kommunismus und den Nationalsozialismus gleichzeitig zum Thema zu machen.“ (Ebd., 2001, S. 5-8).

„Eben das tut er in dem vorliegenden Buch .... Es handelt sich ... nicht etwa um eine historische Darstellung, in welcher der Kommunismus und der Nationalsozialismus als die Hauptakteure fungieren, und auch nicht um eine politologische Abhandlung, die eine neue Theorie des Totalitarismus zu entwickeln versucht, sondern um eine Anzahl von »Reflexionen«, welche das Nachdenken über die Phänomene fördern sollen - die Kenntnis von grundlegenden historischen und politologischen Werken wie etwa der Efemente und Ursprünge des Totalitarismus von Hannah Arendt und François Furets Ende einer Illusion wird dabei vorausgesetzt. Aber das Büchlein ist weit mehr als eine Sammlung von kleinen Essays, denn ein ziemlich umfangreicher Anmerkungsteil stellt unter Beweis, wie gründlich sich der Autor mit seinem Gegenstand beschäftigt hat, und zwar unter Einbeziehung von nicht ganz wenig an deutscher und italienischer Literatur.“ (Ebd., 2001, S. 9).

„Der deutsche Leser dürfte jedoch gerade aus denjenigen Abschnitten besonderen Gewinn ziehen, die sich mit den Stellungnahmen französischer, meist linksgerichteter Autoren zu der Frage der Ähnlichkeit oder des Gegensatzes zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus befassen. Frankreich ist ja das Land, in dem bald nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten Hinweise auf die Existenz des sowjetischen »Gulag« die größte Empörung auslösten und zu einem berühmten Gerichtsverfahren führten, und es ist das Land, wo das intellektuelle Leben bis 1956, ja weit darüber hinaus, von der marxistischen Ideologie fast vollständig beherrscht wurde. Eben hier führte allerdings die Veröffentlichung von Alexander Solschenizyns Archipel Gulag (1973) die spektakulärste Veränderung des Denkens herbei, und hier erschien 1997 das vom ehemaligen Maoisten Stephane Courtois herausgegebene Schwarzbuch des Kommunismus (**), das zwar keinen ausdrücklichen Vergleich zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus vornahm, das aber die Zahl der von den kommunistischen Regimen verursachten Todesopfer so viel höher ansetzte als diejenige der Opfer des nationalsozialistischen Regimes, daß ein Vergleich sich aufdrängte. Frankreich ist jedoch gleichwohl das Land, dessen sozialistischer Premierminister sagen konnte, er sei stolz auf die kommunistischen Mitglieder seiner Regierung, ohne daß er dasjenige hinzugefügt hätte, was man eigentlich hätte erwarten müssen: daß er der schärfste Gegner dieser Partei sein würde, wenn sie jemals wieder ihren alten Anspruch auf die Alleinherrschaft erheben sollte. Es ist daher im heutigen Frankreich, nicht anders als im heutigen Deutschland, wenngleich aus verschiedenartigen Gründen, von einem »Tabubruch« nicht weit entfernt, wenn ein Autor es unternimmt, Kommunismus und Nationalsozialismus miteinander zu vergleichen, ohne in erster Linie die Verschiedenheit herauszustellen. Für den deutschen Leser ist es daher von hohem Interesse, aus dem Buch von de Benoist nicht wenige derjenigen Argumente kennenzulernen, mit denen in Frankreich der in kritischer Absicht und unter Verwendung des Begriffs »Totalitarismus« vorgenommene Vergleich zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus zurückgewiesen worden ist. So behauptete ein Autor, die Wurzel des Nationalsozialismus sei der Menschenhaß gewesen, die Grundlage des Kommunismus aber die Menschenliebe; ein anderer schrieb, man sei aus »Haß gegen das Menschengeschlecht« Nazi geworden, Kommunist aber aus dem entgegengesetzten Grunde. Ein dritter meinte, der aus Berufung verbrecherische Nationalsozialismus habe mit der Vernichtung von Menschen sein Programm in die Tat umgesetzt, während der sozusagen aus Versehen verbrecherische Kommunismus dagegen das seine verraten habe. Die Ehrenvorsitzende der Liga für Menschenrechte brachte das Argument vor, wenn man behaupte, Kommunismus sei gleich »Nazismus«, vergesse man, »daß die UdSSR niemals den Ausschluß einer Menschengruppevom Staatsgrundgesetz« organisiert habe (3 [S. 35-38]). Wie immer diese undurchsichtige Wendung näher zu verstehen ist, miissen in der Tat jedem Kenner die Haare zu Berge stehen, wenn er sieht, wie sehr hier ein Regime »verharmlost« wird, das schon in seiner Friihzeit große Gruppen von Menschen für »vogelfrei« erklärte und wenig später imstande war, der Witwe eines verstorbenen Popen als einer »Klassenfeindin« die Lebensmittelkarten zu verweigern. Alain de Benoist wischt nun den Unterschied, der allen diesen törichten oder bösartigen Behauptungen zugrunde liegt, nicht etwa einfach vom Tisch, sondern er sieht den Kern der Sache darin, daß »die Utopie der klassenlosen Gesellschaft und die Utopie der reinen Rasse beide die Ausschaltung derjenigen Menschen verlangten, die der Verwirklichung eines ›großartigen‹ Entwurfs, nämlich der Entstehung einer von Grund aus besseren Gesellschaft, im Wege standen«. (S. 49) Mit anderen Worten: Kommunismus und Faschismus waren beide »Säuberungsideologien« - die Menschenliebe des Kommunismus galt nicht den konkreten, vorfindbaren Personen, sondern einem idealen, erst noch zu schaffenden Menschen; der Menschenhaß der Nationalsozialisten beruhte jedoch seinerseits auf Liebe zum Menschen, aber nicht einmal auf der Liebe zu den Menschen des eigenen Volkes, sondern zu den bisher erst in geringer Zahl existierenden und also noch hervorzubringenden Menschen einer »reinen« und »höheren« Rasse. Die möglicherweise unblutige, aber mit höherer Wahrscheinlichkeit blutige Vernichtung der »falschen« Menschen erwuchs mithin aus dem innersten Wesen beider Bewegungen und Regime. Dennoch iibersieht de Benoist den Unterschied nicht: Der Kommunismus will die ganze Menschheit vom »Schmutz« des Kapitalismus reinigen, der Nationalsozialismus dagegen will eine partikulare Realität, eine »Rasse«, zum Zweck des besseren Kampfes um ihre Selbstbehauptung durch die Ausschaltung der schwachen, kranken und natürlich der feindlichen Elemente stärken - der Kommunismus ist universalistisch, der Nationalsozialismus ist partikularistisch, und hier ist der rationale Kern all jener verharmlosenden Unterscheidungen zu sehen. Aber de Benoist artikuliert eine These, welche diese simple Unterscheidung in ein ganz anderes licht rückt: »Der Universalismus verschärft den Totalitarismus« (S. 52); er macht ihn keineswegs besser oder menschenfreundlicher. Von dieser These her gelangt de Benoist zwar durchaus nicht zu einer Verharmlosung oder gar zur Rechtfertigung des Nationalsozialismus, aber er wagt es, jene »andere Seite« herauszustellen, die normalerweise jedem menschlichen Phänomen zuzuschreiben ist, die aber durch die kommunistische und philokommunistische Behauptung, der Nationalsozialismus habe das »absolute Böse« verkörpert, zum Verschwinden gebracht wird: Nicht wenige Nationalsozialisten ließen sich ebenfalls durch »hohe Ideale« leiten, in der Waffen-SS kämpften beinahe 400 000 ausländische Freiwillige, zehnmal so viele wie kommunistische und philokommunistische Männer in den Internationalen Brigaden des Spanischen Bürgerkrieges (S. 56).“ (Ebd., 2001, S. 9-12).

„Der Vergleich zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus ist also nicht bloß zulässig, sondern geradezu geboten, und der beste übergeordnete Begriff ist derjenige des »Totalitarismus«. Alain de Benoist beruft sich weit weniger auf Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski als auf Hannah Arendt, weil diese nicht so sehr die formalen und übereinstimmenden Strukturen als vielmehr die konkreten historischen Zusammenhänge herausarbeite. Er nimmt auch die Fragestellung von Alain Besançon auf, der in tiefdringenden Überlegungen Gründe für die »Amnesie« gegenüber dem Kommunismus und die »Hypermnesie« hinsichtlich des Nationalsozialismus aufzudecken sucht. Man kann indessen schwerlich um die Feststellung herumkommen, daß schon der Titel des Buches ... selbst die Differenz zugrunde legt, denn er stellt eine Selbstbezeichnung mit einem polemischen Kampfbegriff zusammen. Ein ähnlicher Kampfbegriff war in Deutschland die Kennzeichnung der Sozialdemokraten als »Sozis«, und ein Buch mit dem Titel Der Kampf der Sozis ftir die Fürstenenteignung in der Weimarer Republik würde sicherlich als parteiisch angesehen und hart getadelt werden. Für den Begriff des »Nazismus« gilt die entsprechende Forderung nicht, und auch darin kommt die Tatsache zum vorschein, daß es nicht bloß auf die alliierte Kriegspropaganda oder den blinden Philosowjetismus der europäischen Linksintellektuellen zurückzuführen sein kann, wenn dem Nationalsozialismus eine so viel heftigereAblehnung zuteil wird als dem Kommuntismus.“ (Ebd., 2001, S. 12-13).

„Irgend etwas muß nicht ganz stimmig sein, wenn de Benoist sowohl die kommunistische als auch die nationalsozialistische Ideologie durch einen Messianismus gekennzeichnet sieht, der einen Endzustand der Menschheit anstrebt, »in dem es weder Krankheiten noch Tränen« geben werde (S. 113), und wenn er beiden Regimen den Willen zuschreibt, »durch eine radikale Beschleunigung der Geschichte der historischen Existenz ein Ende setzen« zu wollen (S. 118). Muß man nicht eher sagen, daß sich Kommunismus und Nationalsozialismus auf militante Weise mit längst bekannten und schroff entgegengesetzten Tendenzen identifizierten, nämlich mit der Tendenz zur »Weltzivilisation«, ja zum »Weltstaat« auf der einen Seite und dem Willen zur Bewahrung der historischen Existenz der Staaten und Kulturen auf der anderen? Aber die richtige Feststellung wird unrichtig, wenn man nicht hinzufügt, daß der militante Wille zu Reinigung und Vernichtung im 20. Jahrhundert jeweils sein Gegenteil mit sich führte: den Quasi-Partikularismus des Engagements für das »Sowjetvaterland« einerseits und den Quasi-Universalismus des Kampfes für eine »reine Rasse« andererseits?“  (Ebd., 2001, S. 13-14).

„So muß man de Benoist doch wieder recht geben, wenngleich auf eingeschränkte Weise: Es wäre wünschenswert, ja vielleicht unumgänglich, die tiefe und wohlbegründete Feindschaft zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus stärker herauszuarbeiten und die Gleichrangigkeit insofern einzuschränken, als dem kommunistischen Regime die zeitliche und sachliche Priorität und dem nationalsozialistischen die Tendenz zur Nachahmung zuzuschreiben wäre. Ganz am Ende zitiert de Benoist einen Satz von Helene Carrère d'Encausse, die Bourgeois seien für Lenin dasjenige gewesen, was für Hitler die Juden gewesen seien (S. 114). Wenn man hier die richtige Reihenfolge herstellt, nämlich: für Hitler seien die Juden dasjenige gewesen, was für Lenin die Bourgeois waren, hätte man die Gelegenheit gewonnen, neben der Übereinstimmung zwischen den beiden Totalitarismen auch ihre Verschiedenheit mit starker Betonung herauszustellen.“ (Ebd., 2001, S. 14).

„Aber eben dann müßte eine viel dringlichere und heiklere Frage an Alain de Benoist gerichtet werden: Stellt er sich mit seiner Verteidigung des Pluralismus der Völker und der Kulruren nicht letzten Endes auf dieselbe Seite, auf welcher der Nationalsozialismus stand? Haben die Vorwürfe jener Streiter mit der Faschismuskeule nicht doch Hand und Fuß? Die stillschweigende Voraussetzung, die hier gemacht wird, ist indessen die, daß der Fortschritt zur Weltzivilisation rundum gut und deshalb mit Panmixie und allgemeinem Mestizenrum identisch sei, wie nicht wenige Fortschrittler mit Nachdruck behaupten. Aber wenn es im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine ebenso überraschende wie weitreichende Wandlung gegeben hat, dann war es die Ausbreitung der Einsicht in die »andere Seite« des Fortschritts, einer Einsicht, die von einzelnen Denkern bis zur Vorstellung eines Untergangs der Menschheit durch den unaufualtsamen »Fortschritt« getrieben wurde, der seine angeblichen Urheber, die Menschen, letzten Endes überholt und zerstört. Der »europäische Bürgerkrieg« zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus und der darauf folgende Weltbürgerkrieg zwischen Kommunismus und »Kapitalismus« sind zwar entschieden, nämlich durch den Untergang sowohl der »faschistischen« wie auch der kommunistischen Regime, aber die Auseinandersetzung um das richtige Verhältnis zwischen Universalem und Partikularem, zwischen Weltmarkt und Staaten oder staatsähnlichen Zusammenschlüssen, zwischen den völlig flexiblen und den irgendwo verwurzelten Menschen ist bei weitem noch nicht an ihr Ende gelangt. Auch in der gegenwärtigen Phase fehlt die Ambivalenz nicht ganz, aber die Selbstbehauptung der Völker und Kulturen wird die Weltzivilisation schwerlich verneinen, sondern versuchen, sie zur bloßen Basis zu machen, und was die Vorkämpfer der »Amerikanisierung« betrifft, so identifizieren sie sich nicht notwendigerweise mit dem Staat USA. Daher hat Alain de Benoist recht, wenn er die gegen ihn gerichteten Vorwürfe als Relikte einer vergangenen Epoche zurückweist und für sich in Anspruch nimmt, daß seine Perspektive ihm eine gute Position gibt, um aus der für Gegenwart und Zukunft so zentralen historischen Frage nach dem Verhältnis von Kommunismus und Nationalsozialismus weiterführende Einsichten zu gewinnen.“ (Ebd., 2001, S. 14-15).
Ernst Nolte im August 2001

ä Einführung
„»War das Denken früher blind für den Totalitarismus, so ist es heute durch ihn verblendet«, schrieb Alain Finkielkraut zu Recht im Jahre 1993. Die Diskussion, die die Veröffentlichung des Schwarzbuchs des Kommunismus (**) in Frankreich und Deutschland auslöste, ist ein gutes Beispiel für diese Verblendung. Andere Ereignisse, die unsere Zeitgenossen in regelmäßigen Abständen zwingen, sich mit der jüngsten Geschichte auseinanderzusetzen, veranschaulichen ebenso die Schwierigkeit, sich gegenüber der Vergangenheit festzulegen. Heute wird diese Schwierigkeit noch verstärkt durch die Auseinandersetzung zwischen dem geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisweg und einer »Erinnerung«, die auf dessen Vorrechte neidisch ist und sich nun zunehmend als eigentlicher Wert (es gebe eine »Erinnerungspflicht«), als Ersatzmoral, ja sogar als neue Religiosität aufspielt. Nun sind aber Geschichte und Erinnerung nicht gleichen Wesens. Sie sind in vieler Hinsicht sogar völlig entgegengesetzt.“ (Ebd., 2001, S. 17).

„Die Erinnerung hat natürlich ihre eigene Legitimität, sofern sie hauptsächlich darauf hinzielt, die Identität der Menschen und Gruppen zu begründen oder deren Überleben zu sichern. Als Form des gefühlsmäßigen und oft schmerzlichen Verhältnisses zur Vergangenheit ist die Erinnerung nichtsdestotrotz vor allem narzißtisch. Sie bedingt einen Kult des Sich-Erinnerns und ein zwanghaftes Nicht-Vergehen-Lassen der Vergangenheit. Wenn sie sich auf das Andenken an erlittene harte Prüfungen gründet, ermutigt sie diejenigen, die sich darauf berufen, sich als Träger des größten Leids und der stärksten Schmerzen zu empfinden, einfach deshalb, weil man selbsterlittenes Leid immer für schmerzlicher hält. (Mein Schmerz und der meiner Angehörigen ist defnitionsgemäß größer als der Schmerz der anderen, da er der einzige ist, den ich empfinden konnte.) Groß ist dann die Gefahr, eine Art Konkurrenz zwischen den Erinnerungen heraufzubeschwören, die wiederum eine Konkurrenz zwischen den Opfern hervorruft.“ (Ebd., 2001, S. 17-18).

„Außerdem ist die Erinnerung im wesentlichen konfliktträchtig. Das historische Gedächtnis ist zwangsläufig selektiv, da es auf »einer Intrigierung der Vergangenheit« (Paul Ricœur) beruht, die eine Auswahl bedingt - auf diese Weise trägt das Vergessen paradoxerweise zu dessen Formung bei. Dadurch verbietet die Erinnerung jegliche Aussöhnung, schürtt somit den Haß und erhält die Konflikte aufrecht. Indem sie die Distanz, die Kontextualisierung, das heißt die Historisierung, beseitigt, hebt sie die feinen Unterschiede auf und institutionalisiert die Klischees. Die Erinnerung neigt dazu, die Abfolge der Jahrhunderte als einen Krieg der Gleichen gegen die Gleichen darzustellen, dabei verwesentlicht sie die historischen und sozialen Akteure und pflegt den Anachronismus.“ (Ebd., 2001, S. 18).

„Tzvetan Todorov und Henry Rousso haben sehr gut aufgezeigt, daß Erinnerung und Geschichte eigentlich zwei gegensätzliche Formen des Verhältnisses zur Vergangenheit darstellen. Dieses Verhältnis zur Vergangenheit, wird es von der Erinnerung kanalisiert, hat die historische Wahrheit nicht nötig. Es genügt zu sagen: »Erinnere dich!«  Die Erinnerung verleitet dadurch zum identitären Rückzug auf einzigartige Leiden, die man für unvergleichlich hält nur aufgrund der Tatsache, daß man sich mit den Opfern identifiziert, wohingegen der Historiker mit jeglicher Form von Subjektivität möglichst brechen muß. Die Erinnerung wird durch Gedenkfeiern gepflegt, die historische Forschung durch Arbeiten gefördert. Erstere ist definitionsgemäß vor Zweifeln und Revisionen sicher. Dagegen erkennt die zweite grundsätzlich die Möglichkeit einer Infragestellung oder Anzweiflung an, sofern sie darauf hinzielt, Fakten - und seien sie vergessen oder vom Standpunkt der Erinnerung schokkierend - zu ermitteln und sie in ihren Zusammenhang einzuordnen, um Anachronismen zu vermeiden. Mit anderen Worten: Um als solcher gelten zu können, muß sich der historische Erkenntnisweg von der Ideologie und dem moralischen Urteil befreien. Wo die Erinnerung Zustimmung verlangt, erfordert er Distanzierung.“ (Ebd., 2001, S. 18-19).

„Aus allen diesen Gründen - wie von Paul Ricœur ... dargelegt ... - kann die Erinnerung die Geschichte nicht ersetzen. »In einem Rechtsstaat und einer demokratischen Nation«, schreibt seinerseits Philippe Joutard, »wird der Staatsbürger von der Geschichtspflicht geformt, und nicht von der Erinnerungspflicht.«“ (Ebd., 2001, S. 19).

„Die Erinnerung schließlich wird maßlos, wenn sie sich einbildet, sich die Justiz einzuverleiben. Letztere hat nämlich nicht zum Ziel, den Schmerz der Opfer zu lindern oder ihnen einen Ersatzwert für den erlittenen Schmerz zu verschaffen. Ihr Zweck ist, die Verbrecher zu bestrafen gemäß der objektiven Schwere ihrer Verbrechen und unter Berücksichtigung der Umstände, unter denen sie verübt wurden. Wird die Justiz von der Erinnerung annektiert, dann reduziert sie sich zwangsläufig auf die Rache, während sie eigentlich gerade geschaffen wurde, um die Rache abzuschaffen.“ (Ebd., 2001, S. 19-20).

„Nach dem Erscheinen des Schwarzbuchs des Kommunismus (**) haben manche erneut ein »Nürnberg des Kommunismus« gefordert. Dieser Gedanke, erstmals von dem russischen Dissidenten Wladimir Bukowski (**) vorgebracht und meist zu rein polemischen Zwecken wiederaufgegriffen, ist zumindest fragwürdig. Wozu diejenigen aburteilen, die die Geschichte bereits verurteilt hat? Die ehemaligen kommunistischen Länder können gewiß, wenn sie es wünschen, ihre früheren verantwortlichen Politiker durchaus vor Gericht stellen, denn die Justiz eines Staates stellt die innere Ordnung dieses Staates sicher. Das gilt aber nicht für eine »internationale Justiz«, die, wie vielfach erwiesen, auf einer irenischen (friedenstiftenden) Auffassung der juristischen Funktion beruht, und zwar auf der Vorstellung, daß es möglich sei, den Akt der Rechtsprechung dem ihm eigenen Kontext zu entziehen. Tiefgründiger kann man auch die Ansicht vertreten, daß die Gerichte über Menschen zu urteilen haben, und nicht über Ideologien oder politische Systeme. »Über ein politisches System richten zu wollen«, äußerte Hannah Arendt, »heißt über die Natur des Menschen richten zu wollen.« “ (Ebd., 2001, S. 20).

„Vor über vierhundert Jahren verkündete das Edikt von Nantes in seinem ersten Artikel bereits die Notwendigkeit, die Erinnerung zum Schweigen zu bringen, um unter den Bürgern einen Frieden wiederherzustellen, den die Religionskriege zunichte gemacht hatten: »Die Erinnerung an alle beiderseitigen Geschehnisse von Anfang März 1585 bis zu Unserer Thronbesteigung sowie während der vorhergehenden Unruhen und dieser wird erloschen sein, als wenn nichts geschehen wäre; Unseren Generalprokuratoren und jeder öffentlichen oder Privatperson wird es nicht erlaubt sein, sie bei welcher Gelegenheit auch immer zu erwähnen.«“ (Ebd., 2001, S. 20-21).

„Die Vergangenheit muß vergehen, nicht, um in Vergessenheit zu geraten, sondern, um ihren Platz in dem einzigen Kontext zu finden, der ihr zukommt: in der Geschichte. Nur eine historisierte Vergangenheit kann nämlich die Gegenwart angemessen »informieren«, während eine ständig aktuell gehaltene Vergangenheit nur eine Quelle von voreingenommenen Polemiken und von Mißverständnissen sein kann.“ (Ebd., 2001, S. 21).

ä Der Totalitarismus

Kapitel:12345678910111213141516171819202122232425
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Das zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution erschienene und von einer Historikergruppe unter der Leitung von Stephane Courtois verfaßte Schwarzbuch des Kommunismus (**) hat in Frankreich und anschließend im Ausland eine Debatte großen Ausmaßes ausgelöst. Das Werk, dessen Vorwort der einige Monate zuvor verstorbene Historiker François Furet hätte schreiben sollen, ist bestrebt, im Lichte der heute verfügbaren Informationen eine genaue und dokumentarisch belegte Bilanz der vom Kommunismus geforderten Menschenleben aufzustellen. Diese Bilanz belaufe sich auf 100 Millionen Tote ....“ (Ebd., 2001, S. 23).

„Diese Zahlen stellen genaugenommen keine Enthüllung dar. Von Anton Cilinga und André Gide bis Krawtschenko, von Boris Souvarine bis Robert Conquest und Solschenizyn hatten sich bereits zahlreiche Autoren für das sowjetische Straflagersystem (Gulag) interessiert, für die absichtlich aufrechterhaltenen, wenn nicht vom Kreml hervorgerufenen Hungersnöte, die 1921/'22 und 1932/'33 fünf bzw. sechs Millionen Tote in der Ukraine forderten, für die Deportationen, denen zwischen 1930 und 1953 sieben Millionen Menschen in der UdSSR (Kulaken, Wolgadeutsche, Tschechenen, Inguschen und andere Kaukasusvölker) zum Opfer fielen, für die Millionen Tote, die die chinesische Kulturrevolution forderte, u.s.w.. Im Vergleich zu diesen früheren Arbeiten scheint die im Schwarzbuch aufgestellte Bilanz übrigens eine Mindestbilanz: Es hatte auch schon wesentlich höhere Schätzungen gegeben. (**).“ (Ebd., 2001, S. 23-24).

„Während Stéphane Courtois die Zahl der Opfer allein für die UdSSR auf 20 Millionen schätzt, wagte Zbigniew Brzezinski (The Grand Failure, 1989; deutsch: Das gescheiterte Experiment: der Untergang des kommunistischen Systems, 1989) zehn Jahre zuvor eine Schätzung von 50 Millionen Toten. Rudolf J. Hummel ... ist der Ansicht, daß das sowjetkommunististische System 61,9 Millionen Menschen zwischen 1917 und 1987 getötet hat (Lethal Politics, 1996). Robert Conquest, dessen Arbeiten (in deutscher Sprache u.a.: Stalins Völkermord: Wolgadeutsche, Krimtataren, Kaukasier; 1974; Stalin: der totale Wille zur Macht, 1991) lange Zeit maßgebend waren, kam zu einer Gesamtzahl von 40 Millionen Opfern, die Toten des Zweiten Weltkriegs nicht eingeschlossen. Dimitri Volkogonov (Lenin: Utopie und Terror, 1994) schrieb von 35 Millionen Toten zwischen 1917 und 1953; Jacques Julliard »von 40 Millionen Toten in der UdSSR« (»Les pleureuses du communisme«, in: Le Nouvel Observateur; 19. September 1991, S. 58); Dimitri Panine von »60 Millionen Opfern«. Alexander Solschenizyn kommt im zweiten Band seines Archipel Gulag ebenfalls auf eine Zahl von 66 Millionen Opfern. Manche Forscher stützen ihre Berechnungen auf eine Schätzung der demographischen Einbußen der russischen Bevölkerung. Im Jahre 1917 zählte die UdSSR 143,5 Millionen Einwohner. Die Annexionen von 1940 brachten 20,1 Millionen hinzu, die Gesamtbevölkerung betrug also 163,6 Millionen Einwohner. Von 1917 bis 1940 und von 1940 bis 1959 hätte der natürliche Zuwachs dieser Bevölkerung bei einer durchschnittlichen Geburtenrate von 2,7 Kindern pro Frau deren Volumen auf 319 Millionen Menschen erhöhen müssen. Im Jahre 1959 wurden aber nur 208,8 Millionen Einwohner in der UdSSR gezählt, das entsprach einem »Defizit« von 110,2 Millionen. Zieht man von letzterer Zahl die Zahl der Kriegsopfer (44 Millionen) ab, so stelle der Rest - 66,2 Millionen Männer, Frauen und Kinder - die Zahl der Menschenleben dar, die das sowjetische System gekostet hat (siehe den Artikel des Demographen Kourganov, erschienen am 14. Apri1 1964 in der Zeitung Novie Rousskoii Slova, 16. Mai 1977). Auf der anderen Seite der Skala behauptete John Arch Getty noch vor fünfzehn Jahren, daß die Zahl der unter Stalin hingerichteten Personen nie »einige Tausend« überschritten habe (Origins of the Great Parges, 1985, S. 8). Siehe auch Jean-Pierre Dujardin, »Cout du communisme: 150 millions de morts«, in Le Figaro-Magazine, 18. November 1978, S. 50 f. und S. 150; Robert W. Thurston, Life and Terror in Stalins Russia, 1934-1941, New Haven 1998.“ (Ebd., 2001, Anmerkung 6, S. 24-25).

„Die Bedeutung des Buches (**) liegt vielmehr darin, daß es sich auf eine gründliche, authentische Dokumentation stützt, die größtenteils aus den inzwischen den Forschern zugänglichen Moskauer Archiven stammt. Deshalb wurden die im Schwarzbuch enthaltenen Zahlen kaum angezweifelt; einige Beobachter kamen daher zu dem Schluß, daß »die Bilanz des Kommunismus das gewaltigste politische Blutbad der Geschichte darstellt« (**) oder daß die Wahrheit über »das bislang größte, blutigste Verbrechersystem der Geschichte« (**) nunmehr feststehe.“ (Ebd., 2001, S. 26).

„Ohnehin ist die Diskussion weniger von den Fakten als von deren Auslegung ausgelöst worden. Überall in der Welt, bemerkt Stéphane Courtois, haben sämtliche kommunistischen Regime »den Massenmord zum echten Regierungssystem erhoben«. Es wäre logisch, daraus zu folgern, daß der Kommunismus nicht im Widerspruch zu seinen Grundsätzen getötet hat, sondern in Übereinstimmung mit ihnen - mit anderen Worten, daß der Kommunismus nicht nur ein System gewesen ist, das Verbrechen begangen hat, sondern auch ein System, dessen Wesen selbst kriminell war. »Niemand mehr«, schreibt Tony Judt, »wird nun noch das kriminelle Wesen des Kommunismus in Zweifel ziehen können.« (**). Hinzu kommt, daß der Kommunismus viel mehr, über einen längeren Zeitraum und bereits vor dem Nationalsozialismus getötet hat. »Die von Lenin erarbeiteten und von Stalin und seinen Schülern systematisierten Methoden lassen an die Methoden der Nazis denken, nehmen sie aber oftmals voraus«, schreibt Courtois (S. 27). Allein schon Diese Tatsache , fügt er hinzu, regt an »zum Nachdenken über die Ähnlichkeit, die zwischen dem NS-Regime, das seit 1945 als das verbrecherischste System angesehen wird, und dem kommunistischen besteht, dessen Legitimität auf internationaler Ebene bis 1991 unangefochten war, das bis heute in bestimmten Ländern die Macht innehat und nach wie vor über Anhänger in der ganzen Welt verfügt.« (Ebd.).“ (Ebd., 2001, S. 26-27).

„Diese beiden Fragen waren es, an die die Diskussion anknüpfte. Die Vorstellung, daß der Kommunismus als verbrecherisch an sich und als potentiell exterminatorisch angesehen werden kann, stößt nämlich weiterhin auf stärksten Widerstand. Das gilt ebenfalls für das Postulat der Vergleichbarkeit von Kommunismus und Nationalsozialismus. Weil er diese beiden Themen angesprochen hat, wurde Stéphane Courtois mit seltener Heftigkeit von Autoren angegriffen, die im Zusammenhang mit seinem Buch nicht gezögert haben, von »intellektuellem Schwindel« und von »Propagandaaktion« (Gilles Perrault) zu sprechen, von »Gemisch« (Jean-Marie Colombani), von »Geschenk an die Front National zur Zeit des Papon-Prozesses« (Lilly Marcou), von »makabrer Buchführung eines Großhändlers« (Daniel Bensaid), von »ideologischem Pamphlet« (Jean-Jacques Marie), von »Betrug« (Maurice Nadeau), von »Negierung der Geschichte« (Alain Blum) und sogar von »Negationismus« [Revisionismus] (Adam Rayski).“ (Ebd., 2001, S. 27).

„Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, daß man Stéphane Courtois vorwerfen konnte, einen Satz wie den folgenden geschrieben zu haben: »Der Tod eines ukrainischen Kulakenkindes, das das stalinistische Regime gezielt der Hungersnot auslieferte, wiegt genauso schwer wie der Tod eines jüdischen Kindes im Warschauer Ghetto.« (S. 21). Man könnte nämlich der Meinung sein, daß nicht dieser Satz skandalös ist, sondern die Tatsache, daß man ihn beanstandet. Philippe Petit hat sogar geschrieben, »daß nicht alle Toten gleich zählen« (**). Er hat allerdings nicht die Bewertungskriterien näher beschrieben, die eine Unterscheidung zwischen Opfern ersten und zweiten Ranges ermöglichen würden. Daß man heutzutage noch Argumente liefern muß, um der Meinung sein zu dürfen, daß ein Verbrechen ein Verbrechen ist, oder um nachzuweisen, daß alle Opfer gleich zählen, sagt viel über den Zeitgeist.“ (Ebd., 2001, S. 27-28).

 
ä - 2 -

„Die Vorstellung, daß man das kommunistische und das nationalsozialistische Regime vergleichen könne, haben die Kommunisten immer empört zurückgewiesen. Man vergißt meistens, daß sie von den Nationalsozialisten wohl mit der gleichen Empörung zurückgewiesen worden wäre. Dennoch haben seit langem so unterschiedliche Autoren wie Jacques Bainville, Elie Halevy, George Orwell, Victor Serge, André Gide, Simone Weil, Marcell Mauss oder Bernard Shaw diesen Vergleich angestellt. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg stellte Waldemar Gurian Hitler als »Lenins späten Bruder« und den Nationalsozialismus als »braunen Bolschewismus« (**) dar, während Trotzki im Jahre 1938 den Stalinismus und den Nationalsozialismus als »symmetrische Erscheinungen« bezeichnete. Wer die traurige Ehre hatte, nacheinander in sowjetischen und in nationalsozialistischen Lagern interniert zu werden, konnte konkret vergleichen. Nach ihrer Befreiung aus dem Lager Ravensbrück (sie hatte einer Gruppe deutscher Kommunisten angehört, die der NKWD übergangslos von den Todeslagern Sibiriens in die Gefängnisse der Gestapo gebracht hatte) erklärte Margarete Buber-Neumann: »Ich glaube nicht, daß es einen Unterschied zugunsten der sowjetischen Lager gegeben hat oder noch gibt.« (**). Sie wurde sofort mundtot gemacht.“ (Ebd., 2001, S. 29-30).

„Ebendieser Vergleich diente später als Grundlage für die Erforschung des Totalitarismus; auf den Begriff des Totalitarismus, den unter anderen Hannah Arendt theoretisierte, werden wir noch zurückkommen. Auch hat Allan Bullock eine Parallelbiographie von Hitler und Stalin verfaßt. (**). Vor nicht allzu langer Zeit äußerte François Furet: »Der stalinisierte Bolschewismus und der Nationalsozialismus bilden die zwei Beispiele der totalitären Regime im 20. Jahrhundert. Sie sind nicht nur miteinander vergleichbar, sie bilden auch für sich allein gewissermaßen eine politische Kategorie.« (**). Derselbe Autor hatte lange nach den tieferen Gründen gesucht für die Weigerung, beide Systeme miteinander zu vergleichen. »Dieses Verbot, von den Untröstlichen wie eine quasi-religiöse Wahrheit verinnerlicht«, schrieb er, »ermöglicht nicht, den Kommunismus in seiner tiefsten Wirklichkeit zu denken, und die ist totalitär.« (**). Nationalsozialismus und Kommunismus wurden von Pierre Chaunu als »heterozygote Zwillinge« (**) beschrieben. In seiner Mitteilung anläßlich der öffentlichen Jahressitzung des Institut de France nach der Sommerpause 1998 stellte Alain Besançon sie als »gleichermaßen kriminelle« (**) Systeme dar.“ (Ebd., 2001, S. 30-31).

„Der Vergleich zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus ist in Wirklichkeit nicht nur legitim, sondern auch unbedingt notwendig, denn ohne ihn werden beide Erscheinungen unverständlich. Man kann sie - und mit ihnen die Geschiche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - nur dann begreifen, wenn man sie »zusammen auffaßt« (Furet), sie »in ihrer Zeit« (Nolte), das heißt in dem ihnen gemeinsamen historischen Moment, untersucht. Einer der Pfeiler, die diesen Erkenntnisweg stützen, ist, was Ernst Nolte einen »kausalen Nexus« zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus genannt hat. In mancher Hinsicht erscheint der Nationalsozialismus nämlich als symmetrische Reaktion auf den Kommunismus, als »ein Antimarxismus«, so Nolte, »der den Feind zu vernichten sucht, indem er eine gleichwohl verwandte, so doch völlig gegensätzliche Ideologie entwickelt und indem er nahezu identische, wenn auch in typischer Weise abgewandelte Methoden anwendet«. Beim »Marsch auf Rom« im Jahre 1922 gedachte Mussolini bereits, gegen die »rote Gefahr« Front zu machen. Ein Jahr später, beim Marsch auf die Feldherrnhalle, baute der entstehende Nationalsozialismus auf die Erinnerung an die bayerische Räterepublik und die spartakistischen Aufstände. Angesichts von parlamentarischen Systemen, die als schwach und ungeeignet wahrgenommen wurden, erschien der »national«-revolutionäre Staatsstreich als logische Antwort auf den bolschewistischen Staatsstreich, wobei er gleichzeitig in das Zivilleben Handlungsweisen einführte, die auf die Erfahrungen in den Schützengräben zurückgingen. Nun konnte sich der Nationalsozialismus als ein Antikommunismus definieren, der dem Gegner seine Formen und Methoden, allen voran seine Terrormittel, endehnt hatte. Diese bereits 1942 von Sigmund Neumann vertretene These hat Nolte in seiner »historisch-genetischen« (**) Deutung des totalitären Phänomens systematisiert. (**). Sie zwingt dazu, nach den Verhältnissen gegenseitiger Erzeugung und gegenseitiger Wechselwirkung oder Abhängigkeit zwischen beiden Systemen zu fragen. Auf die Spitze getrieben, kann sie auch zu einer Vernachlässigung ihrer ideologischen Wurzeln führen, die vor dem Ersten Weltkrieg liegen; sie enthält dennoch zweifellos einen Teil der Wahrheit. Diese These kann man anders formulieren mit der Frage, ob der Nationalsozialismus die ihn kennzeichnenden Formen angenommen hätte, wenn es den sowjetischen Kommunismus nicht gegeben hätte. Die Antwort ist höchstwahrscheinlich negativ; »Die Zwangsverschickung in Arbeitslager«, bemerkt Alain Besançon, »wurde vom sowjetischen System erfunden und systematisiert. Der Nationalsozialismus hat es nur nachgeahmt.«“ (Ebd., 2001, S. 31-32).

„Ein weiterer Grund, der den Vergleich zwischen beiden Systemen rechtfertigt, ist die enge dialektische Verflechtung ihrer Geschichte. Wie das sowjetische System im Namen des »Anrifaschismus«, so hat das nationalsozialistische System im Namen des Antikommunismus ständig mobil gemacht. Das zweite sah in den liberalen Demokrarien schwache Regierungsformen, die zum Kommunismus zu führen drohten, während das erste sie verurteilte, als könnten sie dem »Faschismus« den Weg ebnen. Der antinazistisch ausgerichtete Kommunismus versuchte zu zeigen, daß jeder konsequente Antinazismus zum Kommunismus führe. Der antikommunisrisch eingestellte Narionalsozialismus versuchte wiederum, den Antikommunismus auf eine ähnliche Weise zu instrumentalisieren, indem er sich durch den Bezug auf einen vermeintlichen gemeinsamen Feind legitimierte. Dieser Versuch des Nationalsozialismus bzw. des Kommunismus, aus dem Antikommunismus bzw. aus dem Antinazismus Kapital zu schlagen, blieb nicht fruchdos. Wie George Orwell bemerkt hat, sind in den 1930er Jahren viele Narionalsozialisten geworden aus einer begründeten Abscheu vor dem Kommunismus, während viele aus einer begründeten Abscheu vor dem Nationalsozialismus Kommunisten wurden. Die begründete Angst vor dem Kommunismus trieb manch einen, Hitler in seinem »Kreuzzug gegen den Bolschewismus« zu unterstützen, die begründete Angst vor dem Nationalsozialismus, in der Sowjetunion die letzte Hoffnung der Menschheit zu sehen.“ (Ebd., 2001, S. 32-33).

„Vergleichen bedeutet natürlich nicht gleichsetzen: Vergleichbare politische Systeme sind nicht zwangsläufig gleich, auch wenn manche Autoren es im Falle des Kommunismus und des Nationalsozialismus behaupteten. (**). Vergleichen bedeutet, zwei bestimmte Arten ein und derselben Gattung, zwei einzigartige Phänomene innerhalb derselben Kategorie nebeneinander hinzustellen, um sie unter bestimmten Gesichtspunkten gemeinsam zu betrachten. Vergleichen heißt auch nicht verharmlosen oder relativieren. Die Opfer des Kommunismus lassen ebenso wenig die Opfer des Nationalsozialismus verblassen wie umgekehrt. Man kann sich also nicht auf die Verbrechen eines Regimes stützen, um die Schwere der von einem anderen begangenen Verbrechen zu rechtfertigen oder zu verringern: Tote heben einander nicht auf, sie kommen hinzu. Daß der Kommunismus noch zerstörerischer war als der Nationalsozialismus, macht diesen nicht besser oder zum geringeren Übel, denn die Wahl hat sich nie auf eine Alternative zwischen beiden beschränkt.“ (Ebd., 2001, S. 33-34).

 

ä - 3 -

„Der Kommunismus hat noch mehr Menschenleben zerstört als der Nationalsozialismus, und trotzdem herrscht weiterhin die Meinung vor, daß der Nationalsozialismus etwas viel schlimmeres als der Kommunismus gewesen sei. Wie ist das möglich? Wie kann man angesichts zweier gleichermaßen zerstörerischer Systeme dasjenige für weniger abscheulich halten, das den größten Schaden angerichtet hat? Wie kann man die Vorstellung, daß sie miteinander verglichen werden können, weiterhin ablehnen? Um einen solchen Standpunkt zu vertreten, muß man sich natürlich von der jeweiligen Bilanz beider Systeme abwenden, da der Vergleich nicht auf der Linie dessen liegt, was man beweisen will.“ (Ebd., 2001, S. 35).

„Das am häufigsten vorgebrachte Argument beruft sich auf die Unterschiede in den zugrunde liegenden Intentionen. Der Nationalsozialismus sei eine Lehre des Hasses gewesen, der Kommunismus eine der Befreiung. Der Kommunismus sei von der Liebe zur Menschheit (von »der vollkommenen Vereinigung«, sagt Robert Hue) getragen gewesen, der Nationalsozialismus von der Ablehnung des Menschheitsbegriffs. So beteuert Jean-Jacques Becker, daß »dem Kommunismus ein Humanismus zugrunde liegt, ganz im Gegensatz zum Nationalsozialismus«. (**). »Der Kommunismus«, schreibt seinerseits Roger Martelli, »fügt sich in eine rationalistische, humanistische Auffassung von einer Gleichheit zwischen den Menschen ein.« (**). »Die Wurzel des Nationalsozialismus«, so Roland Leroy, »ist der Menschenhaß .... Die Grundlage des Kommunismus ist Menschenliebe.« Guy Konopnicki: »Man wurde Nazi aus Haß auf das Menschengeschlecht. Kommunist wurde man aus völlig ent gegengesetzten Gründen.« (**).“ (Ebd., 2001, S. 35-36).

„Das Argument heißt letzten Endes nicht, daß der Zweck die Mittel heiligt, sondern daß die Mittel den Zweck nicht vergessen machen sollen und vor allem, daß sie ihn nicht diskreditieren. Die Diskussion um die Frage, ob ein »hehres« Ziel nicht doch bestimmte Mittel, es zu erreichen, annehmbarer mache, bleibt dann offen. Daraus wird gefolgert, daß die Verbrechen des Nationalsozialismus vorhersehbar waren, die des Kommunismus dagegen nicht. Stalins Verbrechen würden aus einer Pervertierung des Kommunismus resultieren, der »an sich ein Ideal menschlicher Befreiung« (**) darstellte, wohingegen Hitlers Verbrechen unmittelbar aus seiner offensichtlich haßerfüllten und zerstörerischen Ideologie hervorgehen würden. Der Nationalsozialismus sei mit einem Serienmörder vergleichbar, der Kommunismus mit dem vom Pech verfolgten Altruisten, der diejenigen tötet, denen er zu Hilfe kommen wollte. Mit der Vernichtung von Menschenleben habe der aus Berufung verbrecherische Nationalsozialismus seine Versprechungen gehalten und sein Programm in die Tat umgesetzt. Der aus Versehen verbrecherische Kommunismus habe die seinen verraten. Die Praktiken des Nationalsozialismus ließen sich unmittelbar aus seiner Lehre ableiten, während die des sowjetischen Kommunismus »sozusagen die ungeschickte Anwendung einer heilsamen Ideologie darstellten«. (**). Der Kommunismus sei also nur durch Zufall, aus Versehen oder aus Ungeschick zerstörerisch geworden. Da seine Verbrechen auf eine falsche Auslegung oder eine Verirrung zurückzuführen seien, sei der kommunistische Terror mit einem unglücklichen Mißgeschick, mit einem »gewissermaßen meteorologischen Unglücksfall« (Alain Besançon) gleichzusetzen. Kurzum, der Kommunismus könne sich trotz seiner 100 Millionen Toten als ein Denken der brüderlichen Liebe definieren, das ungewollt dem Haß verfallen sei - als ein ehrenhaftes Projekt, das schiefgelaufen sei.“ (Ebd., 2001, S. 36-38).

„Die menschlichen Kollateralschäden des Kommunismus seien nunmehr einer »Abweichung«, einer »Abirrung« zuzuschreiben, die uns als solche uns nichts über das eigentliche Wesen des Systems zu lehren habe. Das behauptete Claude Lefort noch im Jahre 1956. Zwanzig Jahre später, anläßlich der Veröffentlichung des Archipel Gulag, beschrieb Jean Elleinstein den Stalinismus ebenfalls als bloßen »Unfall«(**). Der sowjetische Terror, erklärt heute Jean-Jacques Becker, resultiere vor allem aus dem »Unvermögen seiner Führer, ein weiterhin auf sozialer Gerechtigkeit und Lebensglück gründendes Ideal mit anderen Mitteln durchzusetzen« (**). Die kommunistischen Kämpfer, setzt Gilles Perrault noch eins drauf, »hingen einem Projekt an, das universell und befreiend sein wollte. Daß dieses Ideal vom rechten Weg abgebracht wurde, schmälert überhaupt nicht deren Beweggründe«. »Zu behaupten, daß Kommunismus = Nazismus ist«, fügt Madeleine Reberioux, Ehrenvorsitzende der Liga für Menschenrechte, hinzu, »heißt vergessen ..., daß die UdSSR niemals den Ausschluß einer Menschengruppe vom Staatsgrundgesetz organisiert hat« (**). Die kommunistischen Verbrechen führten alles in allem zum Fortschritt.“ (Ebd., 2001, S. 38).

„Diese Argumentation verdient es, näher untersucht zu werden.“ (Ebd., 2001, S. 38).

 

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„»Man kann sich mit Recht fragen«, schreibt Stéphane Courtois, »inwiefern das Töten aus der Hoffnung auf »eine bessere Zukunft« entschuldbarer sei als das Morden im Namen einer Rassenlehre; inwiefern die Illusion - oder Heuchelei - mildernde Umstände für Massenmorde bildet.« (**). Es leuchtet nämlich nicht ein, weshalb es weniger schlimm oder zumindest weniger verwerflich wäre, diejenigen umzubringen, denen man das Glück versprochen hat, als diejenigen zu töten, denen man solches nicht verheißen hat. Es leuchtet nicht ein, warum eine Ideologie weniger verwerflich wäre, nur weil sie die verlogenste ist. Böses zu tun im Namen des Guten ist nicht besser, als Böses zu tun im Namen des Bösen. Die Zerstörung der Freiheit im Namen der Freiheit ist nicht besser als ihre Zerstörung im Namen der Notwendigkeit, sie zu beseitigen. In mancher Hinsicht ist es sogar schlimmer. Ein Laster ist noch weniger entschuldbar, wenn es von Tugendlehrern ausgeübt wird, denn diese sind noch mehr als andere gehalten, ihre Grundsätze zu befolgen. Man kann auch die Meinung vertreten, daß Verbrecher um so gefährlicher sind, desto mehr sie sich als Wohltäter der Menschheit darstellen. »Der Kommunismus ist perverser als der Nationalsozialismus«, schreibt zum Beispiel Alain Besançon, »da er sich des Geistes der Gerechtigkeit und der Güte bedient, um das Böse zu verbreiten« (**). Es entbehrt also nicht einer gewissen Logik, ein System strenger zu beurteilen, dessen Absichten gut gewesen sein mögen, das aber »in Wirklichkeit überall, wo es sich mit Gewalt durchgesetzt hat, eine gigantische Opferzahl verursachte, als eine Partei, deren Absichten von vornherein als schlecht zu bezeichnen sind« (**). Mit anderen Worten, die erschwerenden Umstände sind nicht auf der Seite, auf der man sie vermutet.“ (Ebd., 2001, S. 39-40).

„Es stellt sich sodann die Frage, ob die politischen Regime über ihre Absichten oder über ihre Handlungen zu beurteilen sind. Es sei bemerkt, daß Marx als erster die Moral der Intention nicht anerkannte und daß der Kommunismus immer behauptet hat, vor allem eine neue Praxis verwirklichen zu wollen. Die Reinheit der ursprünglichen Absichten anzuführen ist für einen Kommunisten daher nichts anderes, als in »so etwas wie jenes von Marx so sehr verunglimpfte bürgerliche Pharisäertum« (**) zurückzufallen. Chantal Delsol bemerkt: »Wenn ein Idealist seit achtzig Jahren Verbrechen verübt und sich aufgrund seiner ursprünglichen Absicht dagegen verwahrt, ein Krimineller genannt zu werden, dann hat die Absicht einen breiten Rücken.« (**). Daß sich die letzten Marxisten dieses Landes in die Moral der Absicht flüchten«, fügt Jacques Julliard hinzu, »wird für den, der gern lacht, einer der besten Witze dieser Jahrhundertwende bleiben.« (**).“ (Ebd., 2001, S. 40-41).

„Zu behaupten, daß das Ideal unversehrt bleibt, wenn die Absicht gut ist, heißt außerdem behaupten, daß die Richtigkeit einer Lehre sich mit der Aufrichtigkeit desjenigen deckt, der sich auf sie beruft. (»Wichtig ist nicht, daß meine Rede wahr ist, sondern daß sie aufrichtig ist«, schreibt wortwörtlich Albert Jacquard [Petite philosophie a l'usage des non-philosophes, 1997, S. 205].) Diese Haltung ist heute weitverbreitet. Sie geht mit einer zugleich subjektiven und moralischen Betrachtung der Ideengeschichte einher. Statt zwischen den richtigen und den falschen Ideen zu unterscheiden, unterscheidet man lieber zwischen »guten« und »schlechten«, ohne übrigens näher anzugeben, im Vergleich, zu was sie als solche angesehen werden sollten. (Das ist einer der Gründe, weshalb man sich nicht mehr die Mühe macht, falsche Ideen zu widerlegen.) Wenn man das kommunistische Ideal als »edles« Ideal bezeichnet, hat man aber in Wirklichkeit noch nichts gesagt. Zwei Fragen tauchen nämlich sofort auf. Die erste lautet: nach welchen Kriterien »edel«? Und die zweite: Ist eine »edle« Idee zwangsläufig richtig? Kommunismus und Nationalsozialismus sind zwei politische Systeme, die auf falschen Ideen beruhten. Gegenüber dieser Feststellung hat ihr jeweiliger, tatsächlicher oder vermuteter) Edelmut« keinerlei Bedeutung. Und wir möchten hinzufügen: Wenn man im Namen einer »edlen« Idee zehnmal soviel Menschen umbringen kann als im Namen einer Haßdoktrin, dann ist es vielleicht höchste Zeit, Edelmut zu mißtrauen.“ (Ebd., 2001, S. 41).

„Schließlich bleibt anzumerken, daß man sich bei dieser Spiegelfechterei des menschlichen Unglücks bewußt auf die Seite der Henker stellt, und nicht auf die der Opfer. Wenn man nun auch Opfer einer schönen, obgleich auf Abwege geratenen Idee ist, so bleibt man nichtsdestotrotz Opfer: Wenn einer eine Kugel ins Genick bekommt, wo liegt für ihn der Unterschied? Als die Inquisition Menschen zu ihrem Wohl auf den Scheiterhaufen schickte, fühlten sie sich dadurch nicht getröstet. Wenn die angewandten Mittel die gleichen sind, verwischt sich der Unterschied zwischen den angestrebten Zielen.“ (Ebd., 2001, S. 41-42).

 
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„Es genügt nicht zu sagen, der Kommunismus sei eine schöne Idee, die sich schlecht entwickelt hat. Man muß auch noch erklären, wie sie sich schlecht entwickeln konnte, das heißt, sich fragen, wie eine schöne Idee - weit davon entfernt, gegen das Grauen immun zu machen - dessen Entfaltung ebenso wenig verhindert wie eine schlechte Idee. Wenn man behauptet, die beiden Systeme seien ursprünglich von völlig entgegengesetzten Inspirationen ausgegangen, dann wird es um so schwieriger zu erklären, daß sie sich am Zielpunkt wieder treffen konnten. Wie war es möglich, im Namen des Guten zu verfolgen, zur Befreiung des Menschen Konzentrationslager einzurichten und im Namen des Fortschritts den Terror einzuführen? Wie konnte die Hoffnung zum Alptraum werden? Das ist eine wahrhaft philosophische Frage.“ (Ebd., 2001, S. 43).

„Die vorgelegte Antwort hat leider nichts Philosophisches an sich. Sie begnügt sich damit, die Umstände vorzuschieben. Die leninistische Gewalt sei die Erbin der zaristischen Gewalt gewesen. .... Sie habe sich aus der Notwendigkeit für die Bolschewiken ergeben, gegen die gewaltige Opposition der weißen Armeen während des Bürgerkrieges Front zu machen. Die Bolschewiken, die in einem Land ohne demokratische Tradition an die Macht kamen, seien gegen ihren Willen in einen »Kreislauf der Gewalt hineingetrieben worden, den sie nicht aufualten konnten« (Michel Dreyfus). Diese Gewalt sei jedoch in gewissen Grenzen gehalten worden. Dagegen stelle der stalinistische Terror eine Abweichung vom russischen Kommunismus bzw; dessen radikale Entartung dar: Die Gewalt habe an dieser Stelle nicht ihr Ausmaß verändert, sondern ihr Wesen.“ (Ebd., 2001, S. 43-44).

„Aber gerade diese Erklärung ist seit der Veröffentlichung des Schwarzbuchs nicht mehr haltbar. Die Fabel vom »guten« Lenin und vom »bösen« Stalin widerlegend, zeigt das Schwarzbuch nämlich, daß sich das Terrorsystem in der Sowjetunion gleich nach Lenins Machtübernahme etablierte. Dieser hatte bereits 1914 geschrieben: »Das ganze Wesen unserer Arbeit zielt auf die Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg«, der selber nur »die Fortsetzung, die Entwicklung und die natürliche Verstärkung des Klassenkampfes« sei. Die Tscheka wurde am 20. Dezember 1917 gegründet. (Sie wurde im März 1922 in GPU umbenannt, bevor sie nacheinander den NKWD, den NKGB, den MGB und den KGB ins Leben rief.) Trotzki erklärte sofort: »In weniger als einem Monat wird der Terror extrem gewaltsame Formen annehmen, so wie es auch bei der französischen Revolution gekommen ist.« Während das zaristische Regime zwischen 1825 und 1917 insgesamt 6321 Todesurteile hatte fallen lassen, wobei ein Gutteil von denen in Zwangsarbeitsstrafen umgewandelt worden war, hatte die erst fünf Monate amtierende Lenin-Regierung im März 1918 bereits 18000 Menschen töten lassen. (**). Am 26. Juni 1918 schrieb Lenin an Sinovjew: »Man soll keine Bedenken tragen, die Sowjetabgeordneten mit Massenterror zu treffen, wenn es zu handeln gilt.« Am 31. August ordnete Dserschinski, der Chef der Tscheka, die Deportation von jedem Individuum an, »das auch nur die geringste Propaganda gegen das sowjetische Regime zu betreiben wagt«. Die Verordnung über die Errichtung von Konzentrationslagern wurde am 10. September in den Iswestija veröffentlicht. Trotzki stellte klar, daß »die Frage, wem die Macht gehört, nicht durch die Bezugnahme auf Verfassungsartikel zu lösen sein wird, sondern durch die Anwendung von sämtlichen Formen von Gewalt«. Im Jahre 1921 zählte man schon sieben Konzentrationslager, in denen überwiegend Frauen und Greise untergebracht waren. Im Jahre 1923 waren es fünfundsiebzig, und bis zu diesem Datum waren bereits 1,8 Millionen Oppositionelle hingerichtet worden.“ (Ebd., 2001, S. 44-45).

„Als bloße Verlängerung der vorrevolutionären politischen Kultur läßt sich der kommunistische Terror also nicht deuten. .... Und schließlich kann er auch nicht als bloßer Gegenschlag gegen den »weißen Terror« betrachtet werden: Ihr ganzes Ausmaß erreichte die Repression vielmehr erst, als der Bürgerkrieg zu Ende war.“ (Ebd., 2001, S. 45).

„Das Argument der »Umstände« regt dazu an, die kommunistischen Verbrechen im Zusammenhang zu betrachten, das heißt, die historische Verkettung der Ursachen und Wirkungen zu berücksichtigen, etwa die Notwendigkeit, sich gegen den Feind zu wehren. Hinsichtlich der NS-Verbrechen wird dieser Weg selten beschritten. Dennoch: Wenn der kommunistische Terror nichts Kommunistisches an sich hatte, könnte man ebensogut behaupten, der NS-Terror habe nichts spezifisch Nationalsozialistisches an sich gehabt. Bei allem Anspruch auf Allgemeingültigkeit sei der Kommunismus gewissermaßen »geographielöslich«. Die Tatsache aber, daß er überall dort, wo er an die Macht kam, zerstörerisch war, läßt einen skeptisch gegenüber dem entscheidenden Einfluß des Kontextes werden. Werden die Umstände vorgeschoben, muß man sich fragen, wie sich diese Umstände überall wiederholen konnten. Es ist ebenso schwierig, im Terror das Ergebnis einer »Abweichung« zu sehen, wenn diese bereits in der Anfangszeit des Systems in Erscheinung tritt. Wenn Stalin das von Lenin gegründete Terrorsystem lediglich systematisiert hat, kann das kommunistische Ideal schwerlich seinen praktischen Anwendungen gegenübergestellt werden. Natürlich kann man behaupten, daß das sowjetische System nie etwas mit dem Kommunismus zu tun gehabt habe. Aber wenn Lenin kein Kommunist war, wer war es dann?“  (Ebd., 2001, S. 46).

 
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„»Inwiefern sind Verbrecher, die sich auf das Gute berufen, weniger verdammenswert als Verbrecher, die sich auf das Böse berufen?«  fragt Jacques Julliard (**). Die Frage ist zutreffend, sie ist aber schlecht formuliert. Ebenso wie der Kommunismus hat sich der Nationalsozialismus nämlich niemals auf »das Böse berufen«. Er hat sich auf Ansichten berufen, die man zu Recht für falsch und damit für schlecht halten kann - und das ist etwas ganz anderes. Wir können aber nicht so tun, als würde das Urteil, das wir über ihn fallen, dem entsprechen, das er über sich selbst fällte. Sonst könnten wir ebensogut behaupten, der Kommunismus habe sich nicht auf das Gute berufen, sondern auf das Böse, gemessen an dem Abscheu, den seine Ideen uns einflößen können.“ (Ebd., 2001, S. 47).

„Die Argumentation, die darin besteht, die »Haßdoktrin« des Nationalsozialismus und das »Ideal menschlicher Emanzipation« des Kommunismus gegenüberzustellen, ist in diesem Sinne völlig schief. Sie läuft darauf hinaus, eine Definition des Kommunismus durch seine Anhänger einer Definition des Nationalsozialismus durch seine Gegner gegenüberzustellen. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht schwierig, den ersteren als das geringere Übel erscheinen zu lassen. Aus einer künstlichen Asymmetrie wird ein nicht weniger künstlicher Schluß gezogen: non sequitur.“ (Ebd., 2001, S. 47-48).

„In Wirklichkeit gedachte der Nationalsozialismus nicht weniger als der Kommunismus, diejenigen zu »beglücken«, an die er sich wandte. Seinen Anhängern bot er nicht weniger »glänzende« Zukunftsaussichten. Das Gegenteil zu behaupten - wie etwa Daniel Lindenberg, dem zufolge die Nazis »manche Zustimmung auf Grund ihrer Lobpreisung des Mordes erzielten« - macht die Unterstützung durch die Massen unerklärlich. Zu behaupten, daß ein politisches System Begeisterung hervorrufen kann, indem es sich offen als Träger einer »Haßdoktrin« darstellt, heißt, seine Anhänger als Verrückte, Kranke, Verbrecher oder Perverse anzusehen. Man muß dann aber erklären, wie ein ganzes Volk verrückt werden kann. Ist das Volk es von Natur aus - welche Vorstellung hat man dann von der Natur des Menschen? Wird es dagegen zufällig verrückt, wie fängt es dann an und wie hört es auf, verrückt zu werden?“  (Ebd., 2001, S. 48).

„Nationalsozialismus und Kommunismus haben die Massen verführt mit unterschiedlichen Idealvorstellungen, die aber gleichermaßen anziehend erscheinen mochten. Das ganze Problem rührt daher, daß die Verwirklichung dieser idealen Vorstellungen in beiden Fällen die Vernichtung des einen Teils der Menschheit einschloß. Die Unterscheidung zwischen der Vernichtung als Mittel zur Verwirklichung eines politischen Ziels und der Vernichtung als Selbstzweck ist so gesehen fragwürdig: Kein einziges Regime hat die von ihm verübten Massenmorde jemals als »Selbstzweck« angesehen. Stephane Courtois bezeichnet den »Rassengenozid« und den »Klassengenozid« als zwei Subkategorien des »Verbrechens gegen die Menschlichkeit«. Die Vorgehensweise ist jedenfalls die gleiche. Die Utopie der klassenlosen Gesellschaft und die Utopie der reinen Rasse verlangten beide die Ausschaltung derjenigen Menschen, die der Verwirklichung eines »großartigen« Entwurfs, nämlich der Entstehung einer von Grund auf besseren Gesellschaft, im Wege standen. In beiden Fällen führte die Ideologie (Rassenkampf oder Klassenkampf) zum Ausschluß eines »schlechten« Prinzips, vertreten durch Kategorien (»untere« Rassen oder »schädliche« Klassen) von Menschen, deren einziges Verbrechen es war, ihnen anzugehören, das heißt, zu existieren. In beiden Fällen wurde ein absoluter Feind bestimmt, mit dem einen Kompromiß zu schließen undenkbar war. Daraus entwickelte sich in beiden Fällen eine gleichermaßen geplante Schreckensherrschaft. Klassenhaß oder Rassenhaß, soziale oder rassische Prophylaxe ist ein und dasselbe.“ (Ebd., 2001, S. 48-49).

„In dieser Hinsicht stellt die »Klasse« keine Kategorie dar, die weniger starr und unauslöschlich als die »Rasse« wäre. Die eine wie die andere wurden gleichermaßen verabsolutiert. Am 1. November 1918 erklärte Martyn Latsis, einer der ersten Leiter der Tscheka: »Wir führen keinen Krieg gegen einzelne Personen. Wir rotten die Bourgeoisie als Klasse aus. Suchen Sie in der Untersuchung nicht nach Dokumenten und Beweisen bezüglich dessen, was der Angeklagte getan hat .... Die erste ihm zu stellende Frage ist, welcher Klasse er angehört.« Am 24. Januar 1919 ordnete das Zentralkomitee der KPdSU an, daß die Kosaken »bis zum letzten vernichtet und physisch liquidiert« werden sollen. »Die Kulaken sind keine Menschen«, befand später Stalin. Im Jahre 1932 fügte Maxim Gorki hinzu: »Der Klassenhaß muß gepflegt werden, mit einem Grundabscheu vor dem Feind als minderem Wesen. Es ist meine innere Überzeugung, daß der Feind sehr wohl ein minderwertiges Wesen, ein ebenso physisch wie auch moralisch Entarteter ist.« Im Jahre 1940 ließ die Rote Armee bei ihrem Einmarsch in die baltischen Länder verkünden, daß die eroberten Bevölkerungen »aufgrund ihrer Vergangenheit und der Taten der vorhergehenden Generationen« beurteilt würden. Aus der Sicht eines Lyssenko, der die Vererbbarkeit erworbener Charakterzüge behauptete, konnten soziale Makel ebensogut für genetisch vererbbar gehalten werden.“ (Ebd., 2001, S. 49-50).

 
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„François Furet hat geschrieben, daß Nationalsozialismus und Kommunismus »einander gegenüberstehen wie das Besondere und das Allgemeine«. (Er hätte anmerken können, daß dieser Gegensatz einen gewissen dialektischen Charakter aufgewiesen hat: vom Internationalismus zum »Sozialismus in einem emzigen Land« im Falle Stilins, vom deutschen Nationalismus zum universalen Rassismus im Falle Hitlers.) Andere haben dem Kommunismus zugute gehalten, wenigstens von einer universalistischen Bestrebung angetrieben worden zu sein. Aber auch diese Argumentation ist schief. Daß der Nationalsozialismus nur einen Teil der Menschheit, nämlich das deutsche Volk, glücklich machen wollte, während der Kommunismus das Glück der gesamten Menschheit anstrebte, spricht nicht für den zweiten. Wenn man im Namen einer Nation kämpft, kann man nur von dieser Nation ausschließen. »Die Säuberung einer Rasse« beschränkt wenigstens die Schäden auf diese Rasse. Aber eine Säuberung der Menschheit?“  (Ebd., 2001, S. 51).

„Aufgrund seiner Vorannahmen konnte der Nationalsozialismus manche seiner Gegner als »Untermenschen« beschreiben. Aufgrund der seinen konnte der Kommunismus alle seine Feinde nur von der Menschheit ausschließen. Das Bemühen um die Regenerierung der gesamten Menschheit führt nämlich - wenn es vorgibt, mit ihren objektiven Interessen eins zu sein - zwangsläufig dazu, diejenigen, die dieser Erneuerung angeblich im Wege stehen, aus dem Kreis der Menschheit auszuschließen. »Wer für die Menschheit kämpft«, schreibt Claude Polin, »kämpft gegen die Feinde der Menschheit, das heißt gegen diejenigen, die nicht zu ihr gehören.« (**). Im Jahre 1927 schrieb der sowjetische Propagandist A. Arosev sogar: »Feind ist jeder, der durch körperliche, psychische, soziale, moralische oder sonstige Anzeichen den Eindruck erweckt, mit der Idealvorstellung menschlichen Glücks nicht übereinzustimmen« (Sic). (**). Aufgrund solcher Definitionen kann jeder mit gutem Recht geächtet werden. Der Universalismus verschärft den Totalitarismus, nicht nur, weil er die ganze Welt zu seinem Schlachtfeld macht, sondern auch, weil er gleichzeitig den »Kampf aller gegen alle« universell ausweitet. »Noch deutlicher als der Nationalsozialismus«, bemerkt Claude Polin, »benutzt der kommunistische Despotismus den kleinen Tyrannen, der in jedem Menschen steckt, und bringt dadurch jeden gegen jeden auf: Der Feind ist nicht mehr der Andere, sondern der Mitmensch, eben, weil er ein Mitmensch ist.« (**). Gerade, weil der Kommunismus von vornherein im Namen der Menschheit kämpfen wollte, erstreckte sich sein zerstörerisches Wesen auf die gesamte Menschheit. Seine universalistischen Bestrebungen können ihm keineswegs als mildernde Umstände dienen, sie sind es vielmehr, die sein universell mörderisches Wesen erklären.“ (Ebd., 2001, S. 51-52).

„Das Bestreben, die ganze Erde zu emanzipieren, verhindert also nicht den Terror, sondern verleiht ihm vielmehr im größeren Maßstab eine bessere Legitimation. Der Einsatz für ein absolutes Ideal rechtfertigt im gleichen Maße den Einsatz von absoluten Mitteln. Im Krasny Metch (»Rotes Schwert«), dem Organ der Kiewer Tscheka, war im August 1919 zu lesen: »Unsere Moralität ist beispiellos, unsere Humanität ist bedingungslos, denn sie beruht auf einem neuen Ideal: jede Form von Unterdrückung und Gewalt zu zerstören. Für uns ist alles erlaubt, weil wir die ersten in der Welt sind, die das Schwert schwingen, nicht etwa, um zu unterdrücken und zu versklaven, sondern um die Menschheit von ihren Fesseln zu befreien .... Blut? Möge das Blut in Strömen fließen!«“ (Ebd., 2001, S. 52-53).

 
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„Manche Autoren, die grundsätzlich gegen jeglichen Vergleich zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus sind, wollen - außer den mutmaßlich unterschiedlichen Inspirationen - einen Unterschied in den Beweggründen oder den Verhaltensweisen erkannt haben. »Ein junger Mensch, der auf den Kommunismus zugeht«, schreibt Jean Daniel, »ist zumindest von dem Wunsch nach Übereinstimmung beseelt. Dagegen ist ein junger Faschist nur von der Herrschaft fasziniert. Das macht einen wesentlichen Unterschied aus.« Jean-Marie Colombani fügt hinzu: »Es wird immer einen Unterschied geben zwischen demjenigen, der sich engagiert im Glauben an ein Ideal, das sichtlich mit der demokratischen (sic) Hoffnung verbunden ist, und demjenigen, der von einem System angezogen wird, das auf dem Ausschluß beruht und an die gefährlichsten Triebe des Menschen appelliert.« In ähnlichem Sinne konnte JeanJacques Becker über die »helle Seite« des sowjetischen Systems schwärmen: »Die helle Seite des Kommunismus hat es gegeben, und zwar in Abermillionen einfachen kommunistischen Militanten, die aller Opfer fähig waren für eine Sache, an die sie glaubten .... Unter anderem wegen dieser hellen Seite kann der Kommunismus keinesfalls mit dem Nationalsozialismus vermengt werden.«“ (Ebd., 2001, S. 55-56).

„Diese Einschätzungen sind völlig subjektiv. Wie Alain Besançon richtig bemerkt hat, haben Kommunismus und Nationalsozialismus in Wirklichkeit beide »hohe Ideale« geboten, die geeignet waren, »begeisterte Hingabe und heroische Handlungen hervorzurufen«. Der eine wie der andere hat gleicherweise große Namen und Intellektuelle von hohem Rang für sich eingenommen. Der eine wie der andere haben selbstlose Taten hervorgerufen und zur Selbstaufopferung in selten gesehenem Ausmaß bewegt. Größere Teile des deutschen Volkes haben ihrem Führer, trotz der Trümmer und der Toten, bis zum Ende beigestanden, wohingegen die sowjetische Macht zum Zeitpunkt ihres Zusammenbruchs jeglichen Kredit im Volk verloren hatte. Trotzdem hat auch der Kommunismus für Millionen von Männern und Frauen eine ungemein große Hoffnung dargestellt. Er hat Auseinandersetzungen und Kämpfe angestoßen, die oft gerecht und notwendig waren. Wer wie Jean-Jacques Becker behauptet, daß »der Nationalsozialismus oder der Faschismus nie den gleichen Elan hervorgerufen hätten« wie der Kommunismus, vergißt, daß 368000 ausländische Freiwillige in der Waffen-SS waren gegenüber nur 35 000 in den Internationalen Brigaden.“ (Ebd., 2001, S. 56).

„Wenn die totalitären Systeme die Mobilisierung der Massen selbst organisiert haben, haben sie nichtsdestotrotz - eine Zeitlang zumindest - auch von einer massiven spontanen Zustimmung profitiert, die sich in Bewunderung erregenden Verhaltensweisen ausdrücken konnte. Statt diese zu leugnen oder zu ignorieren, müßte man sich vielmehr fragen, wie politische Systeme, die sich als die zerstörerischsten in der Geschichte erwiesen haben, so viel Selbstlosigkeit, Heroismus, Opfersinn und Hingabe hervorrufen konnten. In einer ersten Annäherung könnte die Antwort darin liegen, daß diese Systeme, sofern sie nach dem Absoluten strebten, auch zu absoluten Verhaltensweisen anspornen, im Schlimmsten wie im Besten. Daß ein und dasselbe System sowohl kriminell sein als auch zu bewundernswertem Verhalten anregen kann, kann nur Naivlinge oder Voreingenommene vor den Kopf stoßen: Entweder sie schließen daraus (zu Unrecht), daß ein solches System gar nicht so kriminell war, oder sie schlußfolgern (ebenfalls zu Unrecht), daß diese Verhaltensweisen doch nicht so bewunderswert waren. Daß Anhänger eines totalitären Systems sich heroisch verhalten konnten, macht die Sache, für die sie sich einsetzten, deshalb nicht besser; umgekehrt aber schmälert das Wesen dieser Sache keineswegs ihren Heldenmut. Die Tugend der Menschen macht nicht die Lehren tugendhaft, auf die sie sich berufen. Blaise Pascal sagt zu Unrecht, daß man nur den Zeugen glauben solle, die sich töten lassen: Das zeugt zwar von der Kraft ihrer Überzeugungen, jedoch nicht von deren Richtigkeit.“ (Ebd., 2001, S. 56-57).

 
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„Robespierre wurde Opfer der Schreckensherrschaft. Das befreit ihn nicht von der Schuld, sie errichtet zu haben.“ (Ebd., 2001, S. 59).

„Die Auffassung, daß es nie »antihitlerische Nationalsozialisten« gegeben habe, stimmt ganz und gar nicht. Neben all denjenigen, die 1933 eine »nationale Revolution« in Deutschland anstrebten und vom Dritten Reich nicht nur enttäuscht, sondern häufig verfolgt wurden, könnte man die Brüder Otto und Gregor Straßer sowie die Opfer der Säuberung im Januar 1934 als Beispiele anführen. Man könnte auch Hermann Rauschning nennen (**) .... Man könnte schließlich an jene Oppositionskreise erinnern, die sich während des Krieges innerhalb der SS oder des SD bildeten. Hätte das Dritte Reich länger bestanden als die zwölf Jahre, in denen es an der Macht war, dann hätten sich solche Dissidenzen wahrscheinlich verstärkt und vermehrt, natürlich ohne daß wir wissen können, in welche Richtung.“ (Ebd., 2001, S. 60).

„Eine der Besonderheiten des sowjetischen Systems war es, daß - im Gegensatz zum NS-System - die Anhänger des Regimes nicht weniger verdächtigt und gefährdet waren als seine Widersacher. Im sowjetischen System war die Vorstellung des Komplotts verinnerlicht, die Anhänger wurden als lauter potentielle Verräter angesehen. Die Säuberungen wurden also nicht nur vom Apparat gegen die Gesellschaft durchgeführt, sondern gleichermaßen gegen die Gesellschaft wie gegen den Apparat. Deshalb war die Überwachung der Bevölkerung noch systematischer und die Ermunterung zum Denunzieren noch stärker: Im Jahre 1939 beschäftigte die Gestapo 6900 Personen, der NKWD dagegen 350000. Im selben Jahr waren anläßlich des 18. Kongresses der KPdSU nur noch 35 Volksdeputierte vom vorhergehenden Kongreß (Gesamtzahl: 1966) anwesend, 1108 von ihnen waren inzwischen wegen »konterrevolutionärer Verbrechen« verhaftet worden. Zwei Jahre zuvor, zum Zeitpunkt der Tuchatschewski-Affäre, endete die Säuberung der Roten Armee mit der Hinrichtung von 30000 Offizieren, darunter 90 Prozent der Generale und 80 Prozent der Obersten, während in Paris die kommunistische Zeitung L'Humanité zu dieser Säuberung von »Verrätern im Dienst der Hitler-Spionage« gratulierte!“  (Ebd., 2001, S. 60-61).

„Ein weiteres Wesensmerkmal des kommunistischen Terrors, das die Moskauer Prozesse deutlich hervortreten ließen, war der Wille, die Dissidenten Verbrechen eingestehen zu lassen, die sie nicht begangen hatten, das heißt, sie zur Selbstverleugnung zu bringen. Die klassischen Gewaltherrschaften beschränken sich darauf, der Opposition einen Maulkorb anzulegen. Die totalitären Regime wollen ebenso die Zustimmung hervorrufen und nicht nur die Handlungen, sondern auch die Gedanken kontrollieren. Der sowjetische Kommunismus wollte obendrein die Hintergedanken kontrollieren. Lenin und Stalin haben also ihre eigenen Waffenbrüder in großer Zahl töten lassen, was Hitler, mit Ausnahme der Säuberung im Januar 1934, nicht getan hat. (**). Verständlich, daß dies ein schwerer Schock für die Überlebenden war. Seltsam hingegen ist es, sich auf dieses Mehr an Unmenschlichkeit zu stützen, um daraus zu folgern, daß der Kommunismus menschlicher war.“ (Ebd., 2001, S. 61-62).

„Wir stellen außerdem fest, daß der Nationalsozialismus die Deutschen insgesamt ganz anders behandelt hat als die Bevölkerung der besetzten Länder, während Stalin die russische Gesellschaft nicht weniger brutal behandelte als die von ihm eroberten Länder. In den NS-Konzentrationslagern waren nur eine kleine Minderheit Deutsche; dagegen wurden zwischen 1934 und 1947 fünfzehn Millionen Russen in den Gulag geschickt. Daß sich das NS-Regime vorwiegend an fremdländischen Bevölkerungen vergriff, während die kommunistischen Regime vorrangig ihre eigenen Bevölkerungen ermordeten, spricht auch hier nicht für die zweiten. Daß man Verbrechen eher in der eigenen Familie als bei den anderen verübt, wird im Strafrecht meist als erschwerender Umstand angesehen.“ (Ebd., 2001, S. 62).

 
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„In einem Editorial, das in einer Anthologie der ideologisch beeinflußten Literatur einen würdigen Platz hätte, greift Jean-Marie Colombani auf ein Argument der strategischen Art zurück. Er behauptet darin, der Inhalt des Schwazbuchs könne »der extremen Rechten in die Hände spielen«. Von »ideologischer Parteinahme« ist darin die Rede, von »Simplifizierung« und von »Gemenge«. Die eigentliche Gefahr bestehe also darin, »denjenigen als Alibi zu dienen, die den Beweis erbringen wollen, daß, sofern ein Verbrechen einem anderen gleich ist, die letzten Barrieren, die uns vor der Legitimierung der äußersten Rechten schützen, hinfallig sind«. Das einzige Mittel, die extreme Rechte zu »entlegitimieren«, bestehe folglich darin, zu behaupten, daß nicht Verbrechen alle gleich sind, das heißt, daß manche weniger verwerflich sind als andere. Aber nach welchen Kriterien?“  (Ebd., 2001, S. 63-64).

„Das Argument, dem zufolge die Verurteilung der Verbrechen des Kommunismus den Interessen der äußersten Rechten diene, ist die vollständige Übernahme der stalinistischen Rhetorik der Mobilisierung gegen einen als gemeinsamen Feind dargestellten Dritten. Diese Rhetorik gründet auf einem einfachen Syllogismus: Da manche Antikommunisten zu ächten sind, sollte man sich vor einer Kritik am Kommunismus hüten, um ihnen nicht Argumente zu liefern, die sie verwerten könnten. Man befindet sich mitten in teleologischem Utilitarismus: Es gibt unerwünschte, da nicht zweckmäßige Wahrheiten und notwendige Lügen. Es fragt sich nun, wovon der Wert der Wahrheit herrührt: davon, daß sie das Wahre offenbart, oder davon, daß man sich unter bestimmten Umständen einen Vorteil von ihr erhoffen kann? Wenn die Wahrheit nicht aus sich selbst heraus ihren Wert hat, sondern nur, damit man sie in den Dienst einer Sache oder eines bestimmten Glaubens stellen kann, dann gibt es überhaupt keine Wahrheit mehr. Überdies: Wenn die Antwort auf die Frage, ob es angebracht ist, das Wahre zu sagen, davon abhängt, welchen Gebrauch man davon machen kann, dann gibt es nichts mehr, was die Behauptung zuließe, eine Doktrin sei wahrer als eine andere. Eben deshalb spielt heute der Wahrheitsgehalt von Ideen keine Rolle mehr. Man urteilt nicht mehr über das Wahre und das Falsche, sondern über das »Gute« und das »Schlechte« - über ein rein instrumentales »Gutes«, das überhaupt keinen Bezug mehr zum Wahren hat.“ (Ebd., 2001, S. 64).

„Folgt man Jean-Marie Colombani, dann muß man sich jede historische Forschung verbieten, die schlechte Gedanken nähren könnte. Auf diese Weise tritt man in die Fußstapfen Jean-Paul Sartres, der behauptet hatte, man müsse über die sowjetischen Lager Stillschweigen bewahren, »um Billancourt (**) nicht zu entmutigen«. »Diese Leute«, bemerkt Stephane Courtois, »haben immer noch nicht mit der Kultur des politischen Kommissars gebrochen, der das verlegerische Milieu verpestet.« (**).“ (Ebd., 2001, S. 64).

 
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„Das nationalsozialistische Phänomen für »einzigartig« zu erklären ermöglicht nicht seine Verständlichkeit, sondern verbietet sogar seine Analyse, da sie von vornherein einer »Banalisierung« gleichgesetzt wird. Ein Ereignis, das nicht mit anderen in Beziehung gebracht wird, wird nämlich unverständlich. Es hört auf, ein historisches Ereignis zu sein, das zwangsläufig in einem bestimmten Zusammenhang steht, und wird zu einer reinen Idee. Wenn man es für »einzigartig« erklärt, dann geschieht das außerdem um den Preis eines widersprüchlichen Erkenntnisweges: Den Vergleich zwischen zwei Systemen kann man nämlich nur ablehnen, wenn man nach »absoluten« Unterschieden zwischen ihnen sucht, die eben erst bei deren Vergleichung gefunden werden können. »Wie soll man wissen, daß sich eine Sache von allen anderen unterscheidet, wenn sie noch nie mit etwas verglichen wurde?«  bemerkt in diesem Zusammenhang Tzvetan Todorov. Ian Kershaw schreibt seinerseits: »Denjenigen, die dem Vergleich jeglichen Wert absprechen mit der Begründung, daß sich die Geschichte nur für das Einzigartige interessiere, sei einfach geantwortet, daß sich die Einzigartigkeit eines Ereignisses nur durch den Vergleich feststellen läßt.«“ (Ebd., 2001, S. 65-66).

„Die Vorstellung, daß man die NS-Verbrechen »verharmlose« bzw. »banalisiere«, wenn man sich weigert, in ihnen ein »einzigartiges« Ereignis zu sehen, ist gleichfalls unhaltbar. Sie geht davon aus, daß sich Verbrechen gegenseitig aufheben oder daß in den Zusammenhang ihrer Zeit eingebettete Morde weniger mörderisch werden. In Wahrheit entschuldigt kein Verbrechen ein anderes. Diese Vorstellung trägt außerdem einen unerwünschten Effekt in sich, der in der Möglichkeit ihrer Umkehrung liegt: Ein einziges System zum »absoluten Bösen« zu erheben heißt, die Machenschaften aller anderen Systeme zu relativieren. Wenn die Erinnerung an die kommunistischen Verbrechen einer Banalisierung der NS-Verbrechen gleichkomme, dann banalisiert die Erinnerung an die NS-Verbrechen zwangsläufig alle anderen Verbrechen. Um einen Einzelfall nicht zu banalisieren, erreicht man eine allgemeine Banalisierung. Es ist aber auch zu fragen, ob das Wort »Banalisierung« angemessen ist. Heute wissen wir ja, daß es eine »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt) gibt, da das Böse ebenso zur Natur des Menschen gehört wie das Gute.“ (Ebd., 2001, S. 66-67).

„Die absolute Einzigartigkeit eines Ereignisses dogmatisch zu behaupten heißt übrigens letzten Endes, ihm jegliche Kraft des Exemplarischen zu entziehen. Die Lehre aus der Vergangenheit zu ziehen bedingt definitionsgemäß, daß diese Vergangenheit wenigstens zum Teil reproduzierbar ist, andernfalls nützt es nichts, Lehren aus ihr ziehen zu wollen. »Was einzigartig ist, lehrt uns überhaupt nichts für die Zukunft«, so Todorov weiter. Dieselben, die sich darüber entrüsten, wie man den Kommunismus mit dem Nationalsozialismus vergleichen kann, bringen jedoch selber alle möglichen Ansichten, die ihnen mißfallen, mit dem Nationalsozialismus in Verbindung. Das ist inkonsequent. Dieselben, die im Nationalsozialismus eine »einmalige« Erscheinung erkennen wollen, versichern, ihn jeden Tag wieder aufleben zu sehen. Auch das ist inkonsequent. Man kann nicht gleichzeitig behaupten, daß der Nationalsozialismus »einmalig« sei und daß er potentiell überall gegenwärtig sei. Definitionsgemäß kann sich ein »einmaliges« Ereignis nicht wiederholen. Ist man hingegen der Ansicht, daß es sich wiederholen könne, dann ist es nicht »einmalig«.“ (Ebd., 2001, S. 67).

„Die These von der »Einmaligkeit« bzw; der »Einzigartigkeit« ist eigentlich ein metaphysisches Argument. Und sie ist es um so mehr, als - wenn die Henker mit keinen anderen vergleichbar sind - dies notwendigerweise auch für die Opfer gilt. Da das absolute Böse auf das absolute Gute verweist, verweist die absolute Einzigartigkeit der einen auf die absolute Einzjgartigkeit der anderen. Die Verfolgung wird dann durch die Auserwähltheit erklärt. Hitler war übrigens der Ansicht, daß es zwei auserwählte Völker nicht geben könne. An der Grenze würde das jüdische Leiden »nicht von der Geschichte bedingt sein, sondern von einer Vorsehung, deren Christ-Volk die Juden wären«. Jean Daniel, Edgar Morin und Henry Rousso haben von »Judäozentrismus« gesprochen, um diese Anschauung zu bezeichnen. (»Ich habe für mein Teil keine Schwierigkeit damit«, schreibt Jean Daniel, »die Ansicht zu vertreten, daß diese nahezu mystische Hingabe an eine judäozentrische Anschauung alle Gefahren in sich birgt.«) Es ergibt aber ebenso wenig Sinn, einen Henker als Vertreter des absoluten Bösen hinzustellen, wie ein Opfer als Vertreter des absoluten Guten zu schildern. Andernfalls müßte man behaupten, daß es unverzeihlicher ist, bestimmte Leben (die das absolute Gute verkörpern) auszulöschen als andere. Eben diese Ansicht vertraten die Nationalsozialisten, wenn sie von »lebensunwertem Leben« sprachen. Sie ist unannehmbar. Kein Volk, keine Menschengruppe besitzt von Natur aus einen höheren existentiellen oder moralischen Status. Keiner kann aus seinem Glauben, seiner Herkunft, seinem kollektiven Beitrag oder seiner Geschichte den Anspruch herleiten, sich als ontologisch besser oder unersetzbarer als ein anderer zu begreifen.“ (Ebd., 2001, S. 67-68).

„Das Verstehen der Vergangenheit kann nicht vor dem Hintergrund des moralischen Urteils erfolgen. Auf die Geschichte bezogen, verurteilt sich die Moral zur Ohnmacht, weil sie sich auf die Entrüstung gründet - die Aristoteles als nichtlasterhafte Form der Mißgunst beschrieb - und weil die diskreditierend verfahrende Entrüstung die Untersuchung dessen verbietet, was sie diskreditiert. »Die Abwertung aus moralischen Gründen erlaubt es«, so Clément Rosset, »jegliches Bemühen zum Verständnis des Abgewerteten zu vermeiden. Ein moralisches Urteil drückt somit immer eine Weigerung zu analysieren und sogar eine Weigerung zu denken aus.« Die moralische Verurteilung des Kommunismus oder des Nationalsozialismus übersieht außerdem die Tatsache, daß sich diese Systeme selber mit Moral brüsteten. Sie gedachten nicht, die Moral abzuschaffen, sondern eine andere zu erfinden - oder der Moral der anderen ihre eigene entgegenzusetzen. (**).“ (Ebd., 2001, S. 68-69).

„»Die Verfechter der ethischen Ideologie«, bemerkt Alain Badiou, »legen so viel Wert darauf, die Einzigartigkeit der Vernichtung unmittelbar im Bereich des Bösen als solchem anzusiedeln, daß sie meistens entschieden leugnen, daß der Nationalsozialismus politisch gewesen ist. Das ist aber eine zugleich schwache und unmutige Einstellung .... Die Anhänger der »Demokratie der Menschenrechte« definieren gern mit Hannah Arendt die Politik als die Bühne des »Zusammenseins« .... Nun wünschte aber keiner mehr als Hitler das Zusammensein der Deutschen.« (**). Die totalitären Systeme sind politische Systeme. Um sie zu verurteilen, braucht man nur zu erkennen, daß sie politisch schlecht sind: Das genügt, um sie unannehmbar zu machen.“ (Ebd., 2001, S. 69).

„Der auf die menschlichen Angelegenheiten bezogene Begriff des »absoluten Bösen« ist eigentlich sinnlos, da das Absolute nicht von dieser Welt ist. Im Bereich des positiven Wissens gibt es ebenso wenig »unermeßliche« Leiden wie Verbrechen, die mit nichts verglichen werden können. Die zum Verüben eines Verbrechens angewandten Mittel können zwar noch nie dagewesen sein, sie machen aber dieses Verbrechen deshalb nicht »einzigartig«. Der kriminelle Charakter einer Tat ergibt sich aus dem Wesen dieser Tat, und nicht aus den Mitteln, die zu ihrer Ausführung benutzt werden. Jedes Ereignis fügt sich in einen Zusammenhang ein und kann daher mit einem anderen in Beziehung gebracht werden. Jedes Ereignis ist zugleich einmalig und universal, überaus einzigartig und überaus vergleichbar. Ein totalitäres System isoliert zu betrachten, um es zum absoluten Bösen zu erheben, heißt schließlich vergessen, daß die totalitären Systeme selber ihre Gegner als das absolute Böse bezeichneten. In ihnen das absolute Böse zu sehen heißt diesen Spiegeleffekt akzeptieren. Wer sie aus dem Kreis der Menschheit ausschließt, ahmt sie nach.“ (Ebd., 2001, S. 70).

 
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„Die vom Schwarzbuch des Kommunismus (**) beleuchtete engstirnige Ablehnung, Kommunismus und Nationalsozialismus miteinander zu vergleichen, hat eine unmittelbare Folge: die unterschiedliche Behandlung der beiden Totalitarismen und all dessen, was ihnen verwandt scheinen mag. Während der Nationalsozialismus als verbrecherischstes Regime des 20. Jahrhunderts angesehen wird, gilt der Kommunismus, obwohl er den Tod einer viel größeren Zahl von Menschen verursacht hat, weiterhin als ein zwar umstrittenes, jedoch durchaus vertretbares System, sowohl in politischer als auch in geistiger oder moralischer Hinsicht.“ (Ebd., 2001, S. 71).

„Für diese unterschiedliche Behandlung ließen sich zahlreiche Beispiele anführen. Sie betrifft sowohl die Menschen als auch die Ideen. Sie lastet auch auf der politischen Landschaft. Der Nationalismus wird landläufig mit dem Faschismus gleichgesetzt, der wiederum mit dem Nationalsozialismus in eins gesetzt wird, wohingegen der Sozialismus nie als potentiell stalinistisch angesehen wird. Die Rechte wird immer des »Faschismus« verdächtigt; während der Kommunismus bei allen Verfehlungen angeblich zu den »Kräften des Fortschritts« gehört. Der Verkauf eines Buches mit nationalsozialistischem Gedankengut ruft heftige Proteste hervor (und ist strafbar), der eines kommunistischen Buches gibt dagegen keinen Anlaß zu irgendeinem Kommentar. Einem ehemaligen Nationalsozialisten geht man für immer aus dem Weg; daß man Kommunist gewesen ist, verursacht keine Einbuße an Prestige und gesellschaftlichem Status, selbst für den, der nie Reue gezeigt hat. Die kleinste tatsächliche oder vermutete -Verbindung mit einer Ideologie, die mit dem Nationalsozialismus irgendwie - nah oder entfernt - verwandt sein soll, ist ein Zeichen von unauslöschlicher Schande, die zu Anprangerung und Ins-Abseits-Stellen führt. Ein Schriftsteller der Kollaboration gehört auf immer zu den »verfemten«; einem stalinistischen Schriftsteller oder Künstler wird rückblickend keine Würdigung verwehrt wegen seines Stalinismus. Pablo Neruda, Bertolt Brecht oder Eisenstein werden nicht ohne Grund wegen ihres Talents gefeiert. Pierre Drieu la Rochelle, Louis-Ferdinand Céline oder Leni Riefenstahl bleiben, wenn ihr Talent nicht abgestritten wird, mit einer anrüchigen Aura umgeben, die zu der Mahnung führt, daß »Talent keine Entschuldigung« ist. Man würde einem faschistischen Schriftsteller nie verzeihen, einen Lobgesang zu Ehren der Gestapo geschrieben zu haben (der Fall ist übrigens nie eingetreten); daß aber Louis Aragon die Tugenden des GPU besungen hat (**), hat seinem Ruf nie geschadet. Man zieht über den »primären Antikommunismus« her und hält den Kommunisten zugute, wenigstens Hitler bekämpft zu haben; es würde aber niemandem einfallen, über den »primären Antinazismus« zu spötteln oder den Nationalsozialisten zugute zu halten, wenigstens Stalin bekämpft zu haben. Der Stalinismus wird als »Abweichung« vom kommunistischen Ideal bezeichnet; keiner denkt daran, im Nationalsozialismus eine »Abweichung« vom faschistischen Ideal zu sehen. Man durfte den Kommunismus falsch einschätzen, aber nicht den Nationalsozialismus. (**). Kurzum, jegliche Berührung mit dem Nationalsozialismus bringt einen in völligen Mißkredit, während Berührungen mit dem Kommunismus weiterhin als gewöhnliche, bedeutungslose Fehler angesehen werden.“ (Ebd., 2001, S. 71-73).

„Die Anprangerung des Nationalsozialismus übersteigt nicht nur die des Kommunismus, sie wird paradoxerweise auch stärker, je mehr Zeit vergeht. Mehr als fünfzig Jahre nach dem Fall des Dritten Reichs sind die NS-Verbrechen, und nicht die kommunistischen, Gegenstand einer nicht enden wollenden Flut von Büchern, Filmen, Radio- und Fernsehsendungen. »Weit davon entfernt, die geringste Verjährung zu erfahren, verschärft sich die damnatio memoria des Nationalsozialismus offenbar von Tag zu Tag«, bemerkt Alain Besançon (**). Über ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod setzt Hitler seine Karriere in den Medien fort, während Stalin bereits so gut wie vergessen ist.“ (Ebd., 2001, S. 73).

„Im Jahre 1989 stürzte das kommunistische System von selbst zusammen, zum großen Erstaunen derjenigen, die noch einige Monate zuvor versicherten, daß der sowjetische Block mächtiger denn je sei und daß die Rote Armee sich anschicke, in Westeuropa einzufallen (**). Diese Implosion, deren genaue Umstände bislang nicht ernsthaft untersucht wurden, erei~ete sich, ohne größere Infragestellung in der öffentlichen Meinung nach sich zu ziehen. Nicht nur, daß die ehemaligen KP-Führer nirgendwo in großer Zahl vor Gericht gestellt wurden, sie durften auch fast überall ihre politische Laufbahn, unter welcher Etikettierung auch immer, fortsetzen und schafften es in einigen Fällen sogar, wieder an die Macht zu kommen (**). In Österreich dagegen war der Staatspräsident und frühere UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim zum Gegenstand eines allgemeinen Ostrazismus (»Scherbengerichts«) geworden, als seine »NS- Vergangenheit« entdeckt wurde. Diese de facto Amnestie hat im Westen weder Proteste noch besonderes Erstaunen hervorgerufen. Niemand erwägt heute, die ehemaligen sowjetischen Lager in Museen zu verwandeln oder den Opfern des stalinistischen Terrors Ehrenmäler zu errichten.“ (Ebd., 2001, S. 73-75).

„In Frankreich, wo eine nationalsozialistisch ausgerichtete Partei sofort verboten würde, streitet niemand die Legitimität, wenn nicht gar Ehrenhaftigkeit der einst von Stalin finanzierten Kommunistischen Partei (PCF) ab, die fast ein halbes Jahrhundert lang Moskau zu Gebote stand - trotz allem, was man inzwischen über ihre Komintern-Vergangenheit weiß. Von der Rechten wegen seines Bündnisses mit dieser Partei kritisiert, erklärte sich Premierminister Lionel Jospin «stolz, kommunistische Minister zu meiner Regierung zu zählen« (**). Während sich kein einziger französischer Faschist jemals als »Hitlerist« bezeichnete, haben sich die Führer der PCF lange Zeit gerühmt, »Stalinisten« zu sein (**). Jean-François Forges bemerkt in diesem Zusammenhang, daß »auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise, in der Nähe der Mauer der Föderierten, die Ehrenmale für die Opfer der NS-Lager bezeichnenderweise neben den Gräbern der Würdenträger der Kommunistischen Partei Frankreichs stehen, also neben Männern, die seinerzeit das eigentliche Prinzip der stalinistischen Lager nicht verurteilt haben«.“ (Ebd., 2001, S. 75-76).

„In der Vergangenheit glaubte man den Antifaschisten übrigens immer von vornherein, während die, die den Kommunismus anprangerten, oft als Märchenerzähler oder als parteiisch angesehen wurden. Am 13. November 1947 nannte die kommunistische Zeitung »Les Lettres françaises« Viktor Krawtschenko einen »Fälscher« und »Trunkenbold«: Er hatte in »Ich wählte die Freiheit« die Wirklichkeit des sowjetischen Straflagersystems enthüllt. Es folgt ein Verleumdungsprozeß, der vom 24. Januar bis 4. April 1949 in Paris stattfand. Margarete Buber-Neumann trat am 23. Februar als Zeugin auf. Als sie aufgrund ihrer Erlebnisse erklärte, daß zwischen den sowjetischen und den NS- Lagern ihrer Ansicht nach kein gradueller Unterschied bestehe, wurde sie als Nazi-Komplizin beschimpft. Der ehemalige Widerstandskämpfer und Deportierte David Rousset, der Krawtschenko ebenfalls unterstützte, wurde von Pierre Daix gleichermaßen beschuldigt, «die sowjetischen Lager erfunden zu haben«. Bei dem Prozeß, den er 1950 gegen die »Lettres françaises« anstrengte, erklärte Marie-Claude Vaillant-Couturier: »Ich weiß, daß es keine Konzentrationslager in der Sowjetunion gibt, und betrachte das sowjetische Strafsystem als das unbestreitbar wünschenswerteste der ganzen Welt.« (**). Als Solschenizyn im Jahre 1973 den Archipel Gulag veröffentlicht, wirft ihm die Zeitung Le Monde vor, bedauert zu haben, «daß der Westen die UdSSR gegen das Nazi-Deutschland unterstützt hat« -der Verfasser des Artikels, Bernard Chapuis, vergleicht ihn unmißverständlich mit Pierre Laval, Marcel Déat und Jacques Doriot - und er zögert nicht, die Falschmeldung von seinem Wohnsitz in Chile des General Pinochet zu verbreiten. (**). Ein Jahr später weigert sich ein deutscher Verleger, der die Urheberrechte an dem Buch von Pierre Chaunu, Le refus de fa vie, gekauft hatte, nach fertiger Übersetzung, es zu veröffentlichen, weil der Verfasser darin die Verbrechen des Kommunismus erwähnt hat. Das von der deutschen Wehrmacht entdeckte Massaker von Katyn wurde endgültig als sowjetisches Verbrechen erst anerkannt, als sich der Kreml entschloß, es zuzugeben.“ (Ebd., 2001, S. 76-77).

„Ein weiteres aufschlußreiches Zeichen: Der antikommunistische Diskurs wurde erst als glaubwürdig angesehen, als ihn enttäuschte ehemalige Kommunisten führten (**). Ihre Irrtümer in der Vergangenheit wurden gewissermaßen als Beweis für ihr neues klares Bewußtsein aufgefaßt; von Anfang an scharfsinnig gewesen zu sein galt dagegen stets als verdächtig. Als glaubwürdig wurden sie übrigens auf der Grundlage eines Rufes angesehen, den sie zur Zeit ihrer früheren Irrungen erlangt hatten.“ (Ebd., 2001, S. 77-78).

„Die Lage hat sich heute nur wenig verändert. Zwei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer durfte ein Guy Sitbon noch schreiben: »Ist man im Endergebnis da so sicher, daß sich der Kommunismus über seine Bilanz in Rußland, im sowjetischen Reich oder in China zu schämen haben wird?«  Die Art und Weise, wie die Medien von dem Film berichtet haben, den Jean-François Delassus und Thibaut d'Oiron über den Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt und die Teilung Polens gedreht haben, ist ebenfalls bezeichnend: Trotz seiner offensichtlichen Qualitäten, so war in »L'Histoire« zu lesen, habe der Film »die Schwäche, um jeden Preis beweisen zu wollen, daß das sowjetische System die größte Geißel unseres Jahrhunderts gewesen ist«, und einen Vergleich zwischen dem kommunistischen und dem nationalsozialistischen System anzustellen, »der zuungunsten Stalins ausfällt« [sic]. Was die kommunistischen Verbrechen betrifft, ist es noch oft üblich, sie nicht als solche zu bezeichnen. Jean Daniel schreibt zum Beispiel, daß sich der stalinistische Kommunismus »nazistischer Mittel« bedient habe; es hätte der historischen Wahrheit bestimmt eher entsprochen zu schreiben, daß der Nationalsozialismus vielmehr »kommunistische Mittel« anwandte, da der Kommunismus sich bereits zur Zeit Lenins und auf dessen ausdrücklichen Befehl hin bewußt auf den Weg des Verbrechens gegen die Menschlichkeit als Methode des Regierens begab. (**).“ (Ebd., 2001, S. 78-79).

„»Mag das Ungeheuer als politisches Phänomen tot sein«, schreibt Jean-François Revel, »als kulturelles Phänomen bleibt es sehr lebendig. Die Mauer ist in Berlin gefallen, aber nicht in den Köpfen. Den Kommunismus in seiner Wirklichkeit zu beschreiben bleibt ein Gesinnungsdelikt. .... Auf den Nationalsozialismus bezogen, wird der Negationismus zur Straftat erklärt; warum ist er keine, wenn er die kommunistischen Verbrechen wegzaubert? Das liegt daran, daß es in den Augen der Linken weiterhin gute und schlechte Henker gibt.« (**). »Die Beharrlichkeit, mit der wir an die Verbrechen des Kommunismus erinnern«, bemerkt seinerseits Jacques Julliard, »steht in umgekehrtem Verhältnis zu unseren progressistischen Überzeugungen.«“ (Ebd., 2001, S. 79-80).

„»Heute noch«, fügt Stephane Courtois hinzu, findet »eine legitime und normale Bewertung der Verbrechen des Kommunismus nicht statt, weder aus historischer noch aus moralischer Sicht«. (S. 15).“ (Ebd., 2001, S. 80).

„Alle diese Tatsachen, die man seitenlang durchdeklinieren könnte, bestätigen, daß der Nationalsozialismus heute noch einen Abscheu erregt, den der Kommunismus trotz seiner Verbrechen nicht erregt. Es stellt sich nun die Frage nach dem Warum. Diese Frage hat sich Alain Besançon auch gestellt. Anknüpfend an die Festellung, daß «die Amnesie des Kommunismus zur starken Erinnerung an den Nationalsozialismus treibt und umgekehrt, wenn die einfache und gerechte Erinnerung zur Verurteilung der beiden führt«, schreibt er: »Wie kommt es, daß die historische Erinnerung heute beide Systeme derart ungleich behandelt, daß sie den Kommunismus zu vergessen scheint?« (**).  Wie erklären sich das gewollte Stillschweigen und die sträfliche Verblendung, die den kommunistischen Verbrechen so lange zugute kamen? Warum beginnen altbekannte Fakten erst heute anerkannt zu werden? Warum trifft man auf der einen Seite die »Erinnerung« und sogar die Hypermnesie und auf der anderen soviel Gleichgültigkeit und Vergessen?“ (Ebd., 2001, S. 80).

 
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„Zur Beantwortung dieser vorangehenden Frage (**) wurden verschiedene Ursachen angeführt. Man hat unterstrichen, daß die wesdiche Intelligenzia der kommunistischen Illusion massiv erlag und heute keineswegs gewillt ist, sich an die Brust zu schlagen, geschweige denn die von ihr besetzten Positionen aufzugeben, zumal sie weiterhin direkt oder indirekt ihre Definitionshoheit auf die öffentliche Meinung ausübt. Man hat auch die Angst erwähnt, der Sowjetmacht zu mißfallen, die lange Zeit den Zynismus der Geschäftsleute und der Politiker bestärkt hat. FrançoisFuret wiederum hat das positive Vorurteil betont, auf das eine bolschewistische Revolution zwangsläufig stoßen mußte, da sie sich nach ihrem eigenen Selbstverständnis in einer Reihe mit der französischen Revolution von 1793 befand. Doch diese Überlegungen betreffen nur Teilursachen. Sie allein können die von Stéphane Courtois erwähnte »außergewöhnliche Verblendung« nicht erklären.“ (Ebd., 2001, S. 81).

„Ein bedeutenderer Grund liegt in dem während des Zweiten Weltkrieges geschlossenen Bündnis zwischen dem Stalinismus und seinen westlichen Alliierten; dieses Bündnis bildete die Grundlage der Weltordnung, die aus der deutschen Niederlage 1945 hervorging.“ (Ebd., 2001, S. 81).

„Ab 1941 hat die UdSSR an der Seite seiner Alliierten am Sturz des Nationalsozialismus mitgewirkt. Sie hat daraus einen moralischen Kredit gezogen, den sie später immer wieder ausnutzte. Nach 1945 hat der Sieg über den Nationalsozialismus jegliches Fragen bezüglich des siegenden Totalitarismus, jegliche Infragestellung seiner politischen und moralischen Rechtmäßigkeit untersagt. Er hat dem kommunistischen Gedächtnis ermöglicht, seinen eigenen Mythos aufzubauen, ohne daß Widerspruch laut geworden wäre. Im Jahre 1939 hatten die westlichen Demokratien Deutschland den Krieg erklärt, um einen Einfall Hitlers in Ostmittel- und Osteuropa zu verhindern. 1945 konnte Stalin über dasselbe Ostmittel- und Osteuropa einen Eisernen Vorhang herunterfallen lassen, ohne daß es jemandem in den Sinn kam, ihn daran zu hindern. In der Folge bekam die gesamte kommunistische Bewegung einen Bonus in der öffentlichen Meinung des Westens. »Durch die Knüpfung eines Militärbündnisses zwischen den Demokratien und der Sowjetunion«, bemerkt Alain Besançon, »hat der Krieg die Abwehrkräfte des Westens gegen die kommunistische Idee geschwächt.« Tony Judt erklärt auf dieselbe Weise das Schweigen, das die kommunistischen Verbrechen so lange umgab: »Das liegt zum Teil daran, daß wir immer noch die Erben des siegreichen Bündnisses mit den Kommunisten gegen Hitler sind.« 1945 hat dem Kommunismus wahrscheinlich zu einem fünfzigjährigen Pachtvertrag verholfen«, behauptet seinerseits François Furet. Damit haben wir tatsächlich einen wichtigen Erklärungsschlüssel in der Hand: Eben weil die Sowjetunion und die westlichen Demokratien während des Zweiten Weltkrieges Seite an Seite gekämpft haben, muß notwendigerweise Hitler schlimmer als Stalin und folglich Stalin besser als Hitler gewesen sein. Umgekehrt: Wenn der Nationalsozialismus wirklich das absolute Übel verkörperte und als solches nur über ein Bündnis mit Stalin zu bekämpfen war, dann war das stalinistische System objektiv nützlich, was die Vorwürfe, die man ihm machen kann, dementsprechend einschränkt. 1949 erklärt Jean Cassou beim Krawtschenko-Prozeß beispielsweise, daß »der Krieg gegen Hitler einen Block bildet«: Stalin zu kritisieren heißt letzten Endes, Stalingrad zu schmälern und damit die Widerstandskämpfe im Vercors geringzuschätzen. Auch als Solschenizyn seinen Archipel Gulag veröffentlichte, versuchte man, ihn mit dem »Stalingrad-Beweis« (Daniel Lindenberg) mundtot zu machen.“ (Ebd., 2001, S. 81-83).

„Jean-Marie Domenach schrieb 1945: »Die kommunistische Partei, die sich ab Juni 1941 am Widerstand beteiligte, und die Rote Armee, die die Nationalsozialisten besiegt hat, genießen ein so hohes Ansehen, daß jede Verurteilung der UdSSR als Nachsicht gegenüber der »faschistischen Barbarei« erscheint, die beinahe ganz Europa bedeckt hat.« Die Realität des sowjetischen Straflagersystems einzugestehen wurde unter diesen Umständen fast unvorstellbar. Domenach fügte hinzu, daß er nach seiner Begegnung mit Margarete Buber-Neumann im Jahre 1947 »ihre Ausführungen über den Gulag nicht in Zweifel gezogen« habe. »Es handelte sich aber für mich um eine im Verschwinden begriffene Erscheinung, um eine Anomalie, die der Fortgang der Revolution korrigieren würde. Menschen, die sich mit Leib und Seele in den antinazistischen Kampf hineinbegeben hatten, fiel die Vorstellung wahrlich schwer, daß ähnliche Greuel im Lager ihrer Verbündeten stattfanden.«“ (Ebd., 2001, S. 83).

„Das Paradox ist, daß die Sowjetunion ihren stärksten moralischen Kredit gerade dann genießen konnte, als der stalinistische Terror auf seinem Höhepunkt war. 1942, im Jahr der Schlacht von Stalingrad, brach die Sterblichkeitsrate im Gulag alle Rekorde: Jeder fünfte Gefangene verhungerte. Im Jahre 1945 verzeichneten die Lager die höchste Zahl an Strafgefangenen (unter ihnen fast zwei Millionen von den Alliierten ausgelieferte Russen, die Stalin sofort deportieren ließ). Die andere Seite dieses Paradoxons ist, daß sich die Wahrheit über den Gulag in der Öffentlichkeit erst wirklich durchsetzte, als das sowjetische Straflagersystem zum Teil zerschlagen wurde: Die ersten Massenentlassungen von Gefangenen gehen auf den Zeitraum 1954-'58 zurück. Wie René Girard bemerkt, begann also »das Ansehen des Stalinismus, unter anderem bei den westlichen Intellektuelien, von dem Zeitpunkt an zu schwinden, als seine Gewalttätigkeit nachließ«.“ (Ebd., 2001, S. 84).

„Der Sieg von 1945, der Westeuropa befreite und im gleichen Augenblick die Unterdrückung Osteuropas besiegelte, hat also gleichzeitig die Vernichtung eines totalitären Systems und die Anerkennung eines anderen ermöglicht. Dadurch fand sich der Begriff des Totalitarismus insoweit diskreditiert, als er zugleich den Sieger und den Besiegten umfaßte. Gleichzeitig machte die Vernichtung des Nationalsozialismus den »Antifaschismus« - eine diskursive Kategorie, die dem Bündnis zwischen der Sowjetunion und den westlichen Demokratien einen ideologischen Minimal-Inhalt zu geben vermocht hatte - zu einer unbestrittenen Legitimationsbasis. »Durch die Beteiligung der Kommunisten am Krieg und am Sieg über den Nationalsozialismus«, schreibt Stéphane Courtois, »triumphierte der Begriff des Antifaschismus bei den Linken endgültig als Wahrheitskriterium, und natürlich traten die Kommunisten als die besten Vertreter und Verteidiger dieses Antifaschismus auf. Der Antifaschismus wurde zur deftnitiven Etikettierung des Kommunismus. Das machte es den Kommunisten leicht, Aufmuckende im Namen des Antifaschismus zum Schweigen zu bringen.« (S. 34).“ (Ebd., 2001, S. 84-85).

„Dieses Instrumentarium begann allerdings erst spät zu greifen. In einer ersten Phase wollten die Kommunisten im Faschismus zunächst nur eine »diktatoriale« Variante des Kapitalismus sehen und deuteten ihn als die politische Form, mit der der Kapitalismus gewissermaßen sein eigentliches Wesen verrate (umgekehrt könne sich der Kapitalismus selbst als nichtdiktatoriale Form des Faschismus definieren). Auf der XI. Vollversammlung der Internationale im Jahre 1931 behauptete Dimitri Manuilski noch, daß »zwischen Faschismus und bürgerlicher Demokratie nur ein gradueller Unterschied« bestehe. Im Februar 1934 erklärte Maurice Thorez: »Die internationale Erfahrung zeigt, daß sich bürgerliche Demokratie und Faschismus in ihrem Wesen nicht unterscheiden. Es sind zwei Formen der Diktatur des Kapitals. Der Faschismus geht aus der bürgerlichen Demokratie hervor. Zwischen Pest und Cholera gibt es keine Wahl.«“ (Ebd., 2001, S. 85).

„Der Faschismus wird nun beschrieben, als werde er von einem in Bedrängnis befindlichen Großkapital finanziert, das keinen anderen Ausweg mehr habe, als eine Diktatur hervorzurufen, um sich dem unwiderstehlichen Vormarsch des Proletariats zu widersetzen. Es war dies die Zeit, da Bertolt Brecht schrieb: »Bekämpft werden kann der Nationalsozialismus nur durch die Bekämpfung des kapitalistischen Wirtschaftsystems. Bundesgenosse im Kampf gegen den Nationalsozialismus kann nur die Arbeiterklasse sein.« (**). Da die UdSSR angeblich die proletarischen Kämpfe leite und damit die strikteste Opposition gegen den Kapitalismus darstelle, folgt daraus, daß jede Kritik am sowjetischen System den Interessen des Faschismus diene und daß die beste Form des Kampfes gegen den Faschismus demnach darin bestehe, Kommunist zu werden.“ (Ebd., 2001, S. 85-86).

„Diese Deutung des Faschismus als Auswuchs des Kapitalismus brachte die Internationale paradoxerweise dazu, den Sieg der Faschismen, zumindest indirekt, zu begünstigen. Wenn der Faschismus nur eine Form von Kapitalismus ist, dann gibt es nämlich keinen Grund, diesem zu Hilfe zu kommen, wenn er anscheinend von jenem bedroht ist. Die Verantwortlichkeit der Kommunisten für die Machtübernahme des Faschismus 1922 und des Nationalsozialismus 1933 ist in dieser Hinsicht offenkundig.“ (Ebd., 2001, S. 86).

„In beiden Fällen hatten es die kommunistischen Parteien aufgrund ihres Sektierertums abgelehnt, eine gemeinsame Front mit den bürgerlichen Parteien zu bilden. Radikalisiert hatte sich diese Haltung 1928, anläßlich des VI. Kongresses des Komintern, der den Kurs »Klasse gegen Klasse« verstärkt und die sozialdemokratie als Alter ego des Faschismus angrangert hatte.“ (Ebd., 2001, S. 86).

„Erst ab 1934/35 wich dieser Kurs plötzlich den Volksfront-Strategien. Da Stalin es zur Vermeidung eines antisowjetischen Blocks nunmehr für notwendig hält, sich die Unterstützung der liberalen Demokratien und der progressiven bürgerlichen Parteien zu erwerben, wird der als gemeinsame Front aufgefaßte »Antifaschismus« zum besten Mittel, sowohl die ideologischen als auch die materiellen und territorialen Interessen der Sowjetunion zu verteidigen.“ (Ebd., 2001, S. 86).

„Die Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Pakts am 23. August 1939 sollte zeigen, daß diese antifaschistische Strategie, zu der der Kreml zwei Jahre später zurückkehren sollte, für die UdSSR in Wirklichkeit nur ein Werkzeug ihrer außenpolitischen Macht war. (Die Sowjetunion, das wird oft vergessen, hatte immerhin bereits am 29. November 1932 einen Nichtangriffspakt mit Frankreich unterzeichnet; hinzu kam am 2. Mai 1935 ein »Beistandspakt«, der im Falle eines provozierten Angriffs gegen Frankreich oder die UdSSR vorsah, daß beide Länder einander helfen und unterstützen würden.) »Der Antifaschismus«, schreibt Pierre-Jean Martineau, »war für die kommunistische Internationale weniger eine unabdingbare Doktrin denn ein politisches und diplomatisches Instrument im Dienst einer einzigen Sache: der Verteidigung der UdSSR.«“ (Ebd., 2001, S. 86-87).

„François Furet hat sehr gut aufgezeigt, wie der Kommunismus vor dem Krieg den Antifaschismus instrumentalisierte, um eine Vorstellung von den politischen Kräfteverhältnissen zu schaffen, in der die Realität des sowjetischen Terrors wie durch ein Wunder verschwand, während das System, das ihn in Gang gesetzt hatte, legitimiert wurde wegen des überaus hohen Anteils, den es am Kampf gegen den »Faschismus« hatte.“ (Ebd., 2001, S. 87).

„Ab der zweiten Hälfte der 1930er Jahre geht der Antifaschismus, so wie der Kreml ihn definiert, nämlich weit über den Kampf gegen den tatsächlichen Faschismus hinaus. Er bezweckt hauptsächlich, die totalitäre Erscheinung verschwinden zu lassen. Zum einen verwischt der Antifaschismus die spezifische Besonderheit des Nationalsozialismus, der nunmehr unter dem Oberbegriff »Faschismus« mit unterschiedlichen Systemen wie denen von Franco oder Mussolini in einen Topf geworfen wird. Zum anderen verwischt er auch die spezifische Besonderheit des sowjetischen Regimes, indem er dieses demselben Lager wie die westlichen Demokratien zuordnet. Die Verwandtschaft zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus verschwand damit völlig. Die Welt wird geteilt in »Faschisten«, mit Deutschland als Anführer, und in »Antifaschisten«, mit der Sowjetunion als bedeutendstem Vertreter. Das während des Zweiten Weltkrieges geschlossene Bündnis sollte diese künstliche Dichotomie besiegeln, die schließlich ihre eigene Historiographie hervorrief.“ (Ebd., 2001, S. 87-88).

„Eine solche Strategie war natürlich besonders vorteilhaft. Die spezifische Besonderheit des Nationalsozialismus zu verschleiern ermöglichte es, entweder ihn als Variante der autoritären Rechten hinzustellen oder irgendeiner beliebigen rechten Gruppierung ein insgeheimes Einverständnis bzw. inhaltliche übereinstimmungen mit dem Faschismus zu unterstellen. Später fand das Verfahren wegen seiner Bequemlichkeit eine ständig erweiterte Anwendung: In aufeinanderfolgenden, konzentrischen Wellen konnte schließlich die Anschuldigung des »Faschismus« gegen jeden vorgebracht werden. »Die Kommunisten behaupten immer von ihren Feinden, sie seien Faschisten«, beobachtete bereits Andre Malraux. So wie der Antikommunismus als oberster Maßstab ermöglicht, alles, was man verabscheut, als »kommunistisch« zu verurteilen, so ermöglicht der Antifaschismus, alles, was man bekämpfen will, »faschistisch« zu nennen. Der Faschismus definiert sich dann nicht mehr als bestimmte gesellschaftliche und politische Struktur. So wurden Krawtschenko und Solschenizyn automatisch »Faschisten« gescholten, weil sie den Gulag angeprangert hatten. Heute noch gilt: »Wer die Übereinstimmung von Faschismus und Sozialismus unterstreicht, ist rechts, und wer rechts ist, gehört im Grunde genommen der äußersten Rechten an, ist also selber ein Faschist.« Die angewandte Methode hat Joseph Gabel »den Syllogismus der falschen Übereinstimmung« genannt. Dieses pseudo-logische Verfahren besteht darin, die konkreten Elemente im Wortlaut eines Vergleichs zu trennen, diesem ein übereinstimmendes Element künstlich zu entnehmen und diese teilweise Übereinstimmung zur totalen Übereinstimmung zu erheben: »De Gaulle ist gegen den Kommunismus, Hitler war es auch, also ist de Gaulle = Hitler« (a.a.O., S. 84). Eine unverwüstliche Methode, die ständig mißbraucht wurde.“ (Ebd., 2001, S. 88-89).

„Der Mythos der UdSSR als »Bastion des Antifaschismus« ermöglichte außerdem, den Kommunismus sowohl national als auch international mit der Verteidigung der demokratischen Werte gleichzusetzen. Man pflegte die Vorstellung, der Kommunismus sei nichts anderes als eine höhere oder weiterentwickelte Form der Demokratie. Und der Antifaschismus ermöglichte es schließlich, den Antikommunismus zu diskreditieren. Wenn die Kommunisten dem Faschismus entgegenwirken und sich ihm sogar mit noch mehr Kraft als die anderen widersetzen, dann arbeitet jeder Antikommunismus objektiv betrachtet dem Faschismus in die Hände (Syllogismus bei alternativer Schlußfolgerung). Und da der Nationalsozialismus antikommunistisch ist, läßt sich daraus leicht die Ansicht ableiten, daß jeder Antikommunismus der Sache des Nationalsozialismus diene und daß demzufolge der Antikommunismus ein größeres Übel als der Kommunismus sei. So konnte der Kreml den Antifaschismus »zu einer Art Schaufenster des Kommunismus machen, und zwar ausgehend von der Vorstellung, daß ein guter Antifaschist sowjetophil sein müsse und daß man nicht gleichzeitig antisowjetisch und antifaschistisch sein könne. Diese Form von politischer Erpressung hat die Anziehungskraft des Stalinismus ungemein verstärkt« (François Furet, a.a.O., S. 9).“ (Ebd., 2001, S. 89).

„Da jeder Gegner des Kommunismus als potentieller Nazi angesehen wurde, wurden die auch vom Antifaschismus geheiligten sowjetischen Terrormethoden gleichzeitig entschuldbarer und verständlicher. Auf Antrag ihres Vorsitzenden Viktor Basch bildete die Liga für Menschenrechte 1936 eine Kommission zur Untersuchung der Moskauer Prozesse. Nach dessen Rückkehr aus der UdSSR befand die Kommission die Angeklagten für schuldig. Bertolt Brecht schrieb zum selben Zeitpunkt: »Was die Prozesse (von Moskau) betrifft, so wäre es ganz und gar unrichtig, bei ihrer Besprechung eine Haltung gegen die sie veranstaltende Regierung der (Sowjet-)Union einzunehmen, schon da diese ganz automatisch in kürzester Zeit sich in eine Haltung gegen das heute vom Weltfaschismus mit Krieg bedrohte russische Proletariat und seinen im Aufbau begriffenen Sozialismus verwandeln müßte.« (**).“ (Ebd., 2001, S. 90).

„So wie er von Stalin aufgefaßt und umgesetzt wurde, hat der Antifaschismus also vor allem dazu gedient, den Sowjetismus zu legitimieren. Indem er dem »Faschismus« eine hinlänglich große Spannweite verlieh, so daß dieser jede Form von Antikommunismus in sich einschloß (zur Zeit des Kalten Krieges werden Eisenhower, Foster Dulles, de Gaulle und Adenauer selbstverständlich die Nachfolge Hitlers und Mussolinis als Verkörperung des »Faschismus« antreten), erzeugte er die Illusion von einem gemeinsamen Hauptnenner zwischen der Sowjetunion und den westlichen Demokratien und rief dabei eine neue künstliche Kategorie hervor. (**). Im übrigen hatte die »antifaschistische »Mobilmachung Mussolini dazu gebracht, ein Bündnis mit Hitler zu schließen, das er ursprünglich nicht wollte. .... »Einer der großen Erfolge des sowjetischen Regimes besteht darin«, so Alain Besançon, »seine eigene ideologische Klassifizierung der neuzeitlichen politischen Systeme verbreitet und durchgesetzt zu haben.“ (Ebd., 2001, S. 90-91).

 
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„Die faschistischen Bewegungen wurden von Nolte als Antworten auf die bolschewistische Gefahr gedeutet. .... Die Frage, ob der Faschismus eine »soldatische« und voluntaristische Wende einer konterrevolutionären, hierarchisierenden und antimodernen Ideologie (Nolte) darstellt, ob er vielmehr eine modernistische und revolutionäre Lehre bildet, die der Idee einer neuen Gesellschaft offensteht und eine überholte Vergangenheit nicht braucht (Furet), oder ob er grundsätzlich das Ergebnis einer Revision des Sozialismus in einem antimaterialistischen und antiinternationalistischen Sinn ist (Sternhell), bleibt ... weiterhin umstritten.“ (Ebd., 2001, S. 93-94).

„Wie von Hannah Arendt unterstrichen, teilen sich die politischen Systeme nicht in faschistische und antifaschistische Systeme auf, sondern vielmehr in liberale, demokratische, autoritäre und totalitäre. (Vgl. hierzu: Staatsformen; Anm. HB).“ (Ebd., 2001, S. 96).

„Mussolini ... in seiner berühmten Rede vom 22. Juni 1925 im Theater Augusteo anläßlich des 4. Kongresses der nationalfaschistischen Partei (PNF): »Alles im Staat, nichts außerhalb des Staats, das ist unser unerbittlicher und totalitärer Wille!«  .... Der Zusammenhang zeigt eindeutig, daß Mussolini unter »Totalitarismus« lediglich das Mittel versteht, um die demokratische Trennung zwischen Staat und Gesellschaft zu überwinden. In einem Land, dessen erst spät erfolgte Einheit durch die Folgen der Wirtschaftskrise und durch die ungleiche Entwicklung im Norden und im Süden weiterhin gefährdet bleibt, war er der Ansicht, daß nur ein starker Staat die Vereinigung und Modernisierung einer echten nationalen Gemeinschaft erfolgreich durchführen könne. »Für den Faschismus«, erklärte er, »ist alles im Staat, und Menschliches oder Geistiges besteht nicht, geschweige denn hat Wert außerhalb des Staats.« Diese Mystik des Staats hat mit »Staatolatrie« (Staatsverherrlichung), und nicht mit Totalitarismus zu tun. Sie ist mit den Theorien des »totalen Staates« in Verbindung zu bringen, die von Carl Schmitt (»Der totale Staat«, in: Der Hüter der Verfassung, 1931; »Die Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland«, in: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923-1939, 1940, S. 185 ff.) und vor allem von Ernst Forsthoff (Der totale Staat, 1933) entwickelt wurden. Diese Theorien sollten bald von den Nationalsozialisten verworfen werden, die ihren Verfassern vorwarfen, der »lateinischen Staatsverherrlichung« zu erliegen.“ (Ebd., 2001, S. 96-97).

 
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„Arendt weist die liberalen Theorien, die in den totalitären Systemen bloß ein Wiederaufleben »archaischer« Verhaltensmuster völlig irrationalen Charakters zu sehen neigten, entschieden zurück und zeigt vielmehr auf, daß das Wesen dieser Systeme, die sich durch den Antisemitismus, den Sozialismus oder den Imperialismus des 19. Jahrhunderts nur sehr unvollkommen erklären lassen, erst durch eine kritische Analyse der Genealogie der Moderne erfaßt werden kann.“ (Ebd., 2001, S. 102-103).

„Eines kann man den Theorien des Totalitarismus hingegen vorhalten: Sie neigen zu oft dazu, die untersuchten politischen Systeme viel mehr aufgrund ihrer formalen Merkmale zu definieren (Kult eines aus dem Volk stammenden obersten Chefs; Einheitspartei, die das gesamte gesellschaftliche Leben unter ihre Kontrolle bringt; eine Ideologie, die der Diskussion entzogen und zur Staatswahrheit erhoben wird; Mobilisierung der Massen, die das Privatleben nicht ausspart; allgemeiner Terror gegen die) Volksfeinde«; uneingeschränktes Informationsmonopol; Absorption sämtlicher Einrichtungen und des Rechts u.s.w.) als aufgrund ihrer tiefen Inspiration, weshalb sie über die umstände ihrer Entstehung und Entwicklung meistens nichts sagen. Sie sind dann im Grunde mehr beschreibend als erklärend. Doch dieser Fehler, der vor allem bei us-amerikanischen Autoren wie Carl J. Friedrich und Zbigniew Brzezinski anzutreffen ist, ist kein gemeinsames Merkmal aller dieser Theorien: Hannah Arendt zum Beispiel beschränkt sich keineswegs auf eine strukturelle und statische Beschreibung der totalitären Regime, sie sucht vielmehr deren Ursprung und Entstehung zu erklären, weshalb sie nicht ein einfaches Modell bietet, sondern eine echte Theorie.“ (Ebd., 2001, S. 107-108).

„Der Totalitarismus beschränkt sich nämlich nicht auf Ähnlichkeiten in den Strukturen und den Funktionsweisen. Über ihre gemeinsamen Formen hinaus, die übrigens gewisse Abweichungen (**) aufweisen können, liegt die Verwandtschaft zwischen den totalitären Regimen zunächst in ihrer Inspiration und ihrer Zielsetzung, deren Formen lediglich Mittel darstellen. Diese Inspiration und diese Zielsetzung hängen nicht so sehr von einer gemeinsamen Idee im doktrinalen Sinne des Wortes ab (sie können vielmehr von völlig unterschiedlichen Ideen übertragen werden) wie von einer geistigen Haltung, die erst in einer bestimmten Zeit entstehen und sich entwickeln konnte. Diese geistige Haltung beruht auf der Verschmelzung zweier unterschiedlicher Elemente: zum einen eine manichäische und messianische Vision »religiöser« Art, zum anderen ein extremer Voluntarismus, der mit einer uneingeschränkten Zustimmung zu den Werten der Moderne einhergeht.“ (Ebd., 2001, S. 108-109).

 
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„Die modernen Ideologien sind profane Religionen. Sie stützen sich auf verweltlichte theologische Begriffe. Diese Feststellung gilt ganz besonders für die totalitären Systeme, deren tausendjährigen Anspruch und messianische Komponente in der Vergangenheit vor allem die christlichen Häresien vermittelt haben. Wie einige andere Autoren (Waldemar Gurian, Eric Voegelin, Jean-Pierre Sironneau) beschrieb Raymond Aron die modernen Totalitarismen als »politische Religionen« oder »weltliche Religionen«, das heißt, als »Lehren, die in den Seelen unserer Zeitgenossen die Stelle des Glaubens einnehmen und das Heil der Menschheit hier auf Erden sehen, in einer fernen Zukunft, in Form einer noch zu schaffenden Sozialordnung«.“ (Ebd., 2001, S. 111).

„Die Ideologie spielt hier natürlich eine vorrangige Rolle. Mehrere Beobachter der totalitären Systeme, wie Alain Besançon, Michel Heller oder François Furet, haben sie übrigens als »ideokratische« Systeme beschrieben. Diese Bezeichnung paßt vor allem auf das sowjetische System (**): Der Totalitarismus ist jedoch nicht allein schon deswegen totalitär, weil er sich auf eine Ideologie bezieht - entgegen der Ansicht der liberalen Autoren, die sich einbilden, von einem nicht-ideologischen Ort aus zu sprechen. Alle Menschengesellschaften, sofern sie eine bestimmte Weltanschauung konkretisieren, besitzen nämlich eine ideologische Legitimationsbasis, mag diese offen ausgesprochen oder verinnerlicht sein. Eigentlich spielt auch nicht der Inhalt der Ideologie die Hauptrolle in den totalitären Systemen (**)! Es ist vielmehr die Art, wie dieser Inhalt bewußt als Wahrheitssystem aufgestellt, offiziell vertreten und jeglicher Form von Diskussion entzogen wird. Montesquieu sagte, daß jedes politische System ein Wesen (»was es als solches macht«) und ein Prinzip (»was es zum Handeln bringt«) besitzt. Eines der Merkmale des Totalitarismus ist, daß sein Wesen und sein Prinzip eins sind, eben weil sie einer »totalen« Ideologie untergeordnet sind, die »aus einer als sicher angenommenen Prämisse nun mit absoluter Folgerichtigkeit ... alles Weitere deduziert« (**)! Ähnlich wie die religiösen Lehren stellt sich diese Ideologie als eine im wesentlichen dogmatische Struktur dar, die absolute Gewißheiten trägt, den anderen Lehrmeinungen die Rolle des falschen Bewußtseins oder der Mystifizierung (Täuschung) zuweist, mit dem Ziel, die Realität dessen, was eigentlich auf dem Spiel steht, zu verschleiern. Als solche spielt sie sich als oberste Wissenschaft der Geschichte oder des Lebens auf, und ihre Grundbegriffe und Grundprinzipien werden zu alleinigen Wahrheiten.“ (Ebd., 2001, S. 111-112).

„Zu den eindeutigsten »religiösen« Merkmalen der totalitären Systeme gehören die dualistische Weltanschauung, das messianische Warten auf eine neue Epoche und der grenzenlose Wille, eine noch nie dagewesene Gesellschaft zu errichten. »Was ist unter »messianischem Gefühl« zu verstehen?«  fragt D. C. Rapoport. »Es ist das Gefühl, daß eines Tages die Geschichte und das Leben auf dieser Erde völlig und unumkehrbar verändert sein werden - vom Stadium des ständigen Kampfes, den wir alle erfahren haben, übergehend zu dem der vollkommenen, von vielen erträumten Harmonie, in dem es weder Krankheiten noch Tränen geben wird, in dem wir von jeglicher Regel völlig befreit sein werden, die Voraussetzung für eine vollkommene Freiheit.«“ (Ebd., 2001, S. 113).

„Die dualistische Auffassung besteht darin, die Welt in Form einer radikalen Teilung zu denken: wir und die anderen, die Kräfte des Guten und die Kräfte des Bösen. Die Welt wird nun ausschließlich in Freunde und Feinde eingeteilt, ohne daß irgendein dritter Standpunkt möglich ist. »Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich«, ist bereits im Evangelium des Matthäus (12, 30) zu lesen. Bei Lenin wird aus die im Grundsatz: »Entweder die bürgerliche oder die sozialistische Ideologie. Es gibt keinen Mittelweg.« Im Zusammenhang mit dem Stalinismus sprach Kolakowski deshalb vom »Schema der einzigen Alternative«, Alain Finkielkraut von einer »radikalen Simplifizierung, die einen unerbittlichen Determinismus mit einem entfesselten Moralismus verbindet«.“ (Ebd., 2001, S. 113).

„Diese Auffassung von einer zweigeteilten Welt entspricht im Kommunismus der Konfrontation zwischen Proletariat und Ausbeuterklassen, im Nationalsozialismus der zwischen den Deutschen (bzw. den Ariern) und den Juden, wobei dieser Gegensatz offenbar dem zwischen Christen und satanischem Antichrist nachgebildet ist. (»Die ›Bourgeois‹ sind für Lenin, was die Juden für Hitler sind«, stellt Helene Carrère d'Encausse fest.) In beiden Fällen stellt die Partei die Quintessenz des guten Prinzips dar, weil sie sich mit dem (sozial oder rassenmäßig) gesündesten Teil des Volkes identifiziert (dem »auserwählten« Teil, der eine historische und metaphysische Mission zu erfüllen hat, sofern er ein höheres Rassenbewußtsein hat oder die Avantgarde des Proletariats darstellt) und weil sie als solche vorwegnimmt, wie das Volk der gesamten Zukunft sein wird. Ihm fällt es also zu, mit allen Mitteln den Kampf gegen das schlechte Prinzip zu führen. Die Politik wird auf diese Weise zu einem Religionskrieg apokalyptischen Charakters gegen die Kräfte des Bösen. In beiden Fällen stehen wir einer Theorie gegenüber, die »eine Heilslehre zugunsten einer auserwählten Gemeinschaft - der deutschen Rasse oder dem Weltproletariat« (Philippe Burin) - formuliert.“ (Ebd., 2001, S. 113-114).

„Auch in beiden Fällen wird dieser universale Kampf von einer Weltanschauung legitimiert, die auf einer Metaphysik der Subjektivität gründet, die wiederum als objektive historische Notwendigkeit verkleidet ist. Hitler versichert, daß der Kampf, den der Arier, dieser »Prometheus der Menschheit«, führt, mit »den ewigen Naturgesetzen« übereinstimmt, die aus der Sicht des Sozialdarwinismus als Kampf aller gegen alle gedeutet werden. Der universale Kampf führt die Auslese der Besten herbei und erfüllt somit den »Willen der Natur, die das Niveau der Lebewesen zu heben neigt«. Die Umkehr-Behauptung folgt auf dem Fuße: Wenn die Besten zwangsläufig obsiegen, dann ist die Herrschaft der Stärkeren folgerichtig, das heißt, sie erfolgt im Sinne der Geschichte. So behauptet Lenin auch, daß das Aufkommen des Kommunismus mit der historischen Notwendigkeit übereinstimme, die als ständiger Fortschritt gedeutet wird. In beiden Fällen bildet die Geschichte das oberste Gericht, das die Richtigkeit der Theorie zu überprüfen ermöglicht. Der Kampf hat den Wert eines auslesenden Prinzips, das denjenigen siegen hilft, die sich im Wahren befinden: Wer gewinnt, beweist auf diesem Weg, daß er recht hatte. Hier klingt der moderne Historizismus an, eine weltliche Version des Glaubens an eine linear verlaufende, auf das Reich Gottes hin ausgerichtete Geschichte. Die Klasse ebenso wie die Rasse wird zu einem singularen Subjekt, zu einem Singularetantum substantiviert, das den Sinn der Geschichte in sich trägt und rechtlich ebenso wenig geteilt werden kann, wie seine Identität Probleme hervorrufen soll. Paradoxerweise ist der Voluntarismus also verbunden mit dem Glauben an ein absolutes Gesetz, das nicht Ergebnis der Deutung der Menschen, sondern sich ihnen vielmehr aufzwingt - das Gesetz der Geschichte oder das des Lebens. Dieses Gesetz grenzt die »Willensfreiheit« (**) einschneidend ab und unterwirft alle Fragen bezüglich der Freiheit den gleichen Aporien wie die klassischen Formen des Determinismus oder der Prädestination. Über allen und allem errichtet, hat dieses »Gesetz der Bewegung einer übermenschlichen Kraft, der Natur oder der Geschichte« (**) zur Folge, daß die positiven Gesetze (die nur akzeptiert werden, wenn sie mit ihm übereinstimmen) jegliche Gültigkeit verlieren und daß die Kriterien des Erlaubten und des Verbotenen gesprengt werden. Dieses Gesetz ist die wesentliche Quelle jener Wahnvorstellung von Transparenz und totaler Beherrschung, die die Totalitarismen kennzeichnet.“ (Ebd., 2001, S. 114-115).

„Sofern sie einen quasi-ontologischen Einschnitt in der Geschichte der Menschheit anstreben, treiben die Totalitarismen auch die Leidenschaft für das Neue auf die Spitze. Sie behaupten, noch nie dagewesene Gesellschaften entstehen zu lassen: »neues Reich«, »neuer Mensch«, »neue Ära« sind solche Formeln, die eine absolute Grenze zwischen dem Vorher und dem Nachher ziehen; das Novum liegt in dem Vorhaben, ein oberstes Kollektivziel zweckgerichtet zu planen. Nach Giovanni Gentile, der bereits 1898 das »westlich-metaphysische« Wesen des Marxismus beleuchtet hatte, hat auch Ernst Bloch die Rolle des Strebens nach dem »Ganz Anderen« im Kommunismus als profaner Form des Paradieses auf Erden aufgezeigt: Der Wille, mit der Vergangenheit tablula rasa zu machen, zeugt von einem Willen zum totalen Bruch, der allein eine ganz neue, von einem neuen Menschen regierte Welt hervorzubringen vermag. »Im Nationalsozialismus und im Kommunismus«, unterstreicht Alain Besançon, »geht es darum, durch Ausrottung des Bösen eine vollkommene Gesellschaft und einen neuen Menschen zu schaffen.« Es herrscht eine zweifache Versessenheit: auf das Abschließen eines endgültig abgelaufenen Zeitalters und gleichzeitig auf das Eröffnen einer völlig neuen Ära.“ (Ebd., 2001, S. 115-116).

„Hierin ist der Totalitarismus der unmittelbare Erbe der Moderne, die von Anfang an als tablula rasa auftrat, das heißt als grundsätzliche Ablehnung und Wegwerfen all dessen, was zuvor als erhaltens- und vermittelnswert angesehen wurde. Die implizite Parole der Moderne lautet, daß man die »Grenzen des Möglichen« (Arendt) unaufhörlich erforschen müsse, in der Meinung, daß alles, was möglich ist, auch wünschenswert sei. Diese Parole entspricht jener »unbegrenzten Expansion«, die Hannah Arendt eben zum Telos der Moderne erhebt (**), oder der profanen Anwendung dessen, was Heidegger den »Begriff der Unendlichkeit« nennt. Sie bedingt eine Infragestellung des Begriffs »Grenze« selbst, die unendlich zu verschieben der menschliche Wille oder der »Fortschritt« aufgerufen ist. (Diese Infrafestellung der »Grenze« gehört laut Spengler zum Kennzeichen der» faustischen« Kultur des Abendlandes mit dem »Ursymbol«: »Unendlicher Raum« [**|**]; sie gab es also auch bereits in der vormodernen Zeit! Anm. HB.) Definitionsgemäß ist der Totalitarismus das System, das keine Grenzen kennt und nach der totalen Mobilisierung der Menschen und der Welt trachtet; das System, das die Ausforschung und Zur-Vernunft-Bringung der gesamten Welt anstrebt; diese Totalität der Welt entfaltet er als solche in einer »massiven Macht der Requisition« (Jean-Luc Nancy und Jean-Christophe Bailly). Er ist das System, das nicht nur glaubt, daß alles möglich ist (weil sein Wille grenzenlos ist), sondern auch, daß alles erlaubt ist (weil es die absolute Wahrheit verkörpert).“ (Ebd., 2001, S. 116-117).

„Diese totale Mobilisierung ist von einem Streben nach Vereinheitlichung nicht zu trennen. Der Totalitarismus versucht vor allen Dingen, die menschliche Vielfalt zugunsten eines Einheitsmodells zu verringern. Er bringt damit eine Pervertierung des Einheitsprinzips zum Ausdruck, die in der Beseitigung seines Gegenparts, der Vielfalt, auf der Grundlage eines politischen Bezugs auf die Universalität besteht. In diesem Sinne offenbart er wohl eine Ablehnung »der Ambivalenz der Welt« (Peter Fidelius), einen ungeheueren Versuch, alle menschlichen Bedeutungen zu vereinheitlichen, die Distanz zwischen der Mannigfaltigkeit des Wirklichen und der Einheit des Begriffs abzuschaffen, diese Einheit um jeden Preis hier und jetzt zu errichten. Deshalb muß in den totalitären Regimen alles, was die Menschen voneinander unterscheidet, alles, was zwischen den Menschen und der Macht im Wege steht, beseitigt werden - und das ist um so leichter möglich, als »bei vorhandener Homogenität die Einheit als solche ganz und gar vernachlässigbar ist: Die Subtrahierung einer Einheit oder irgendeiner Zahl von Einheiten von der Gesamtheit beeinträchtigt in keiner Weise die Gesamtheit als solche.« (**).“ (Ebd., 2001, S. 117-118).

„Diese Sicht geht natürlich mit der Vorstellung von einem Ende der Geschichte (**) einher, das heißt von einem Endstadium der Geschichte der Menschheit, das eventuell - zu rhetorischen Zwecken - mit einer »neuen Geschichte« gleichgesetzt wird, der aber sämtliche Merkmale der historischen Existenz (**) entzogen sind. Doch diese Vorstellung wird aus einer zugleich voluntaristischen und dialektischen Sicht betrachtet. Zum einen wird dieser Prozeß nicht als selbsterfolgend angesehen: Der Mensch muß sich vielmehr aktiv an ihm beteiligen, um dessen Abschluß zu beschleunigen. Zum anderen kann man den durch das Ausbleiben von Spannungen und Kriegen gekennzeichneten Endzustand nur durch die Verstärkung der Spannungen und die Entfachung eines absoluten Krieges erreichen. Die Phase der Antagonismen und Gegensätze zu überwinden setzt also zunächst deren Aufreizung voraus. Das ist das Thema des »Endkampfs«, geführt von einer entschlossenen Minderheit innerhalb der Einheitspartei, die über die Beseitigung des Hauptwiderspruchs darauf hinzielt, die Geschichte zu ihrem Abschluß zu bringen. Die totalitären Regime sind Regime, die durch eine radikale Beschleunigung der Geschichte der historischen Existenz ein Ende setzen wollen. (**|**|**|**|**).“ (Ebd., 2001, S. 118).

„Die totalitären Systeme können in diesem Sinne nie »rechts« sein, da jede Politik von »rechts« vor allem durch Vorsicht gekennzeichnet ist: Sie setzt die Verfolgung von Zielen voraus, die nur begrenzt sein können. Sie kann sich wohl auf eine Ideologie oder eine Lehre stützen, die Ergebnisse werden aber nie als von vornherein erzielt angesehen. Sie berücksichtigt die menschliche Natur, und dies verbietet zu denken, alles sei möglich. Bei ihr wird die Zukunft niemals so angesehen, als bedingte sie einen absoluten Bruch mit der Vergangenheit. Die Achtung vor der menschlichen Verschiedenartigkeit bildet dort - zusammen mit dem, was sie unter »Relativität«, unter Bezogenheit auf den jeweiligen Kontext versteht - eine allgemeine Regel. Dagegen definieren sich die totalitären Systeme von vornherein im Absoluten. Sie lehnen die Politik als Vorsicht ab und fassen sie sowohl als Wissenschaft wie auch als Glaubensersatz auf, der bei sämtlichen menschlichen Angelegenheiten im Besitz der allerletzten Wahrheit sei.“ (Ebd., 2001, S. 118-119).

 
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„Die klassischen Gewaltherrschaften begnügen sich damit, von den Körpern Besitz zu ergreifen und die Meinungsäußerungen zu kontrollieren, während der Totalitarismus auch die Seelen besitzen will - ein weiterer Wesenszug, der ihn in die Nähe der religiösen Systeme bringt. Deshalb bleiben erstere mit einem gewissen Maß an sozialem Pluralismus vereinbar, obwohl sie den politischen Pluralismus abschaffen. Dagegen versucht der Totalitarismus, die gesamte soziale Wirklichkeit zu vereinheitlichen. Er versucht, die wuchernden Zufilligkeiten des Sozialen zu beseitigen, mit anderen Worten den freien Ausdruck der sich aus der Menschenvielfalt entwickelnden Gegensätze und die Möglichkeit ihrer Lösung in Form einer demokratischen Auseinandersetzung. Die Wahnvorstellung von der sozialen Transparenz wird hier bis zum Äußersten getrieben: Es gilt wohl, das Zufillige, das Unvorhergesehene, das spontane Irrationale verschwinden zu lassen, da sie verhindern, daß die Verwaltung der Gesellschaft ausschließlich der Berechenbarkeit unterliegt.“ (Ebd., 2001, S. 121).

„Hannah Arendt sah eine klare Verbindung zwischen der Atomisierung der Menschen, verursacht durch den zunehmenden Einfluß des egalitären Individualismus, und der totalitären Erscheinung. Für sie war der Totalitarismus eine Antwort auf die »Entzauberung der Welt«, auf die Auflösung der Zwischenkörperschaften, auf den kulturellen und sozialen Zerfall der modernen Industriegesellschaften, in denen die Beschleunigung der Entwicklung jene Lebensweisen zerstörte, die mit den organischen Primär-Gruppen (Familien, Dorfgemeinschaften usw:) zusammenhingen. Ihrer Ansicht nach stand sein plötzliches Auftauchen in Zusammenhang mit dem Erstarken entwurzelter »Massen«, die der Untergang der traditionellen Gemeinschaften, Vereinigungen und Stände formbarer und verwundbarer denn je gemacht hat. Das anonyme Individuum, schreibt einer ihrer Schüler, Domenico Fisichella, »erinnert an ein Gefäß, das darauf wartet, gefüllt zu werden«. (Dieser Analyse wurden die Ergebnisse einiger empirischer Forschungen gegenübergestellt. In der Weimarer Republik gleicht die deutsche Gesellschaft bekanntlich keineswegs dem von Arendt beschriebenen unorganisierten und atomisierten Sozialaggregat. Man weiß auch, daß der aufkommende Nationalsozialismus seine Heerscharen nicht an der Peripherie der Großstädte rekrutiert hat, sondern in ländlichen Ortschaften, in denen noch starke assoziative Realitäten herrschten. Diesem Einwand kann man entgegnen, daß die noch nicht atomisierten Gesellschaftskreise auch diejenigen waren, die am meisten fürchteten, es zu werden. Man müßte hier die Krise des deutschen Mittelstands in der Weimarer Zeit ansprechen, seine Angst vor der «Proletarisierung» und seine mangelnde politische Integration in die Gesellschaft.) »An der Grenze«, fügt Claude Polin hinzu, »behauptet sich die totalitäre Gruppe nur durch die Kraft ihrer Homogenität: Das Sandkorn ist außerhalb seines Haufens nichts mehr.« (Claude Polin, a.a.O., S. 109).“ (Ebd., 2001, S. 121-122).

„Bei der Begriffsbestimmung des Totalitarismus war auch die Rede von vollständiger Auslöschung bzw. Überlagerung der bürgerlichen Gesellschaft durch die öffentliche und institutionelle Sphäre, durch den Staat oder durch einen zentralisierten hierarchischen Apparat, der sich nicht unbedingt mit der staatlichen Verwaltung deckt. In den totalitären Regimen gibt es nämlich außer der Macht keinen anderen Legitimitätsherd; das bedeutet, daß sich die Gesamtgesellschaft mit der Macht deckt, die sie verkörpern soll. Groß ist aber die Gefahr - wenn man es bei dieser Bemerkung bewenden läßt -, in jene Interpretationen zurückzufallen, die im Totalitarismus das Ergebnis eines bloßen »Aufstiegs ins Extreme« in der Ausübung der politischen Macht sehen wollen. In dieser von den liberalen Autoren geteilten Sicht »stellt der Totalitarismus die nackte Macht dar«. Nun läuft aber der Totalitarismus nicht wie die klassischen Gewaltherrschaften auf einen, wenn auch verstärkten, Gegensatz zwi-schen einer herrschenden Minderheit und einer beherrschten Mehrheit hinaus. Es ist nicht so sehr ein allmächtiger Staat als vielmehr ein sämtliche gesellschaftlichen Funktionen strukturell umfassendes System, das für den Zusammenbruch der traditionellen Formen sozialer Tätigkeit verantwortlich ist. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es richtiger, die totalitären Regime als politische Systeme zu beschreiben, die nicht so sehr die Gewaltherrschaft einer kleinen Gruppe über eine größere sichern als vielmehr - im Hobbesschen Sinne - die Herrschaft aller über jeden. Claude Polin, der sich unter anderem auf die Beobachtungen Alexander Sinovjews stützt, schreibt in diesem Zusammenhang: »Die totalitäre Macht ist in erster Linie die Tyrannei aller gegen alle; das tatsächliche Fundament der Macht derjenigen, die sich an der Spitze der Hierarchie befinden, ist die Macht derjenigen, die deren Grundlage bilden.« (Claude Polin, a.a.O., S. 117. Alexander Sinovjew stellt seinerseits fest, daß vor allem das sowjetische Regime die soziale Grundlage des Landes zerstört hat. »Man kann den deutschen Totalitarismus ablehnen und trotzdem das Sozialsystem des Landes erhalten«, schreibt er. »Mit dem sowjetischen Totalitarismus läßt sich unmöglich auf die gleiche Weise verfahren, ohne Gefahr zu laufen, die eigentlichen Grundlagen des Sozialsystems des Landes zu zerstören.« [in: Der Kommunismus als Realität, 1981, S. 55f.]).“ (Ebd., 2001, S. 122-123).

„Nun läßt sich der Totalitarismus definieren als »eine Tyranei neueren Stils, die seltsamerweise den Zwang auf alle und die Beteiligung aller miteinander verbindet« (Claude Polin, a.a.O., S. 100).“ (Ebd., 2001, S. 124).

„ Die Herrschaft des Politischen über das Soziale darf auch nicht zur Verwirrung Anlaß geben. Wenn alles politisch wird, verschwindet die Politik in dem Augenblick, da sie zu obsiegen scheint, weil sie eben nur existieren kann, wenn sie sich nicht mit dem Sozialen identifiziert. Die Politik breitet sich aus parallel zur Einrichtung des Sozialen - sie entsteht aus der symbolischen Arbeit der Gesellschaft an sich selbst -, sie deckt sich aber nicht mit dem Sozialen. »Politik«, bemerkt Claude Lefort, »gibt es nur dort, wo sich ein Unterschied offenbart zwischen einem Raum, in dem die Menschen einander als Staatsbürger erkennen und sich zusammen innerhalb der Horizonte einer gemeinsamen Welt einordnen, und dem eigentlichen Sozialleben, in dem sie lediglich die Erfahrung ihrer gegenseitigen Abhängigkeit machen, und zwar infolge der Arbeitsteilung und der Notwendigkeit, ihre Bedürfnisse zu befriedigen.« (Claude Lefort, a.a.O., S. 26). So, wie der Totalitarismus der Geschichte ein Ende setzt mit der Behauptung, ihren tiefen Sinn erkannt zu haben, so schafft der Totalitarismus auch das Politische ab, indem er es überall ausbreitet.“ (Ebd., 2001, S. 124).

 
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„Das mobilisierende Wesen der dichotomischen (zweigeteilten) Denkweise, die die totalitären Systeme kennzeichnet, ist offensichtlich. In einer solchen Denkweise muß die Welt zwangsläufig von denen gesäubert werden, die man von vornherein nicht etwa als bloße Gegner bezeichnet hat, sondern als ontologische Feinde, die zu beseitigen sind. D. C. Rapoport bemerkt hierzu: »Der heilige Terror, in welcher Zeit er auch erscheint, steht meistens mit dem Messianismus in Verbindung.« (D. C. Rapaport, a.a.O., S. 66). Der Messianismus hat nämlich nur Sinn, wenn die Guten und die Bösen völlig entgegengesetzte Schicksale erfahren.“ (Ebd., 2001, S. 125).

„Daß ein Gegensatz sich am besten überwinden läßt, wenn man eines der Elemente beseitigt, versteht sich nun von selbst. Für Lenin wie für Hitler ist die Voraussetzung für die Beseitigung des schlechten Prinzips die Erlangung des kollektiven Heils, das heißt der Zugang zu einem künftigen Leben, das nicht im Jenseitigen, sondern in einer mehr oder weniger fernen Zukunft verwirklicht wird. Dieser Kampf ist ein unerbittlicher Kampf ohne Unterlaß und mögliche Versöhnung und kann nur mit der vollständigen Beseitigung des einen Lagers enden. »Der Feind stellt das totale, stets gefährliche Übel oder, kurzum, etwas anderes als Menschliches dar. Vereinbarungen sind unmöglich, denn die Beschränkungen, die der Feind annimmt oder vorschlägt, zielen ausschließlich darauf hin, uns zu täuschen. Stark wird dann die Versuchung zu behaupten, daß angesichts eines solchen Feindes alles erlaubt sei.« (D. C. Rapaport, a.a.O., S. 86). Ein absolutes Ziel rechtfertigt in der Tat den Rückgriff auf alle Mittel. Diese Mittel, so schrecklich sie auch sein mögen, werden annehmbar angesichts des erhabenen Charakters, des unermeßlichen Ideals des angestrebten Zieles. Die Größe des Zieles rechtfertigt, daß man sich gegen jeden unerbittlich zeigt, der diesem Ziel im Wege steht, daß man ihm einen totalen, undifferenzierten, unaufuörlichen Haß entgegenbringt. Die Behauptung, im Namen der »Menschheit« zu kämpfen, verstärkt, wie bereits gesehen, diese Einstellung: Wer sich der Menschheit widersetzt, ist zwangsläufig Nicht-Mensch. Das gilt ebenso für die Überzeugung, daß das Übel nicht im Menschen, sondern in der Gesellschaft liege: So, wie jede Ungleichheit in einem egalitären Klima unerträglich wird, so wird, wenn der Mensch von Grund auf gut ist, »der kleinste Schuldige zum unglaublichen Monster« (Maurice Clavel, a.a.O., 1975, S. 100). Die staatliche Gewalt kann dann als ethische Notwendigkeit erfahren werden, weil ihr Wirken unter der Bürgschaft des Transzendenten steht, dem die künftige Gesellschaft entspricht. Wird ein solches Ziel als eine von der Bewegung der Geschichte selbst bedingte Notwendigkeit aufgestellt, dann wird der Henker zum Werkzeug dieser Geschichte und die Beseitigung des Gegners zur Bedingung ihrer Vollendung.“ (Ebd., 2001, S. 125-126).

„In dieser manichäischen Sicht, in der »die Vielfalt innerhalb einer einzigen Welt durch den unversöhnlichen Gegensatz zweier Welten ersetzt wird, verlangt die Totalitarisierung des Guten die Totalitarisierung des Bösen, das heißt eine nicht weniger willkürliche Vereinigung all dessen, was sich aus den verschiedensten Gründen dem ›vereinheitlichten‹ Guten widersetzt« (Peter Fidelius, a.a.O., S. 473). Der Gegner wird also von vornherein auf die Seite des Nichtseins gestellt. Er ist der Fremdkörper, der das Gleiche zwangsläufig stört, der den logisch denkenden Menschen am Siegen hindert und der Verwirklichung des großen vereinheitlichenden Ziels im Wege steht, und deshalb muß er restlos vernichtet werden, ins Nichts gestoßen werden, dessen immer wieder aufflackende Gefahr er verkörpert. Seine Beseitigung wird nicht nur durch die dem Kampf innewohnenden Bedingungen notwendig, sie ist es auch in Anbetracht der Prinzipien: Der Beste kann nur obsiegen; wird der Gegner nicht vernichtet, dann wird die Theorie falsch.“ (Ebd., 2001, S. 126-127).

„Hannah Arendt zeigte als erste, daß die totalitären Systeme die Menschen nicht nur für das morden, was sie tun, sondern auch für das, was sie sind. Klassen- und Rassenfeinde werden gleichermaßen »als »objektive Feinde« der Geschichte oder der Natur« (Arendt) bezeichnet, das heißt als Menschen, die deportiert oder beseitigt zu werden verdienen, weil ihre Existenz selbst einer oppositionellen Handlung gleichkommt. Definitionsgemäß sind es »überflüssige Menschen«. Da sie dem schlechten, störenden und damit völlig überflüssigen Teil der Menschheit entsprechen, dessen Anwesenheit in der Welt schon immer der Grund allen Übels ist, müssen sie nicht so sehr bestraft als vielmehr ausgerottet werden, so wie man mit einer Krankheit, einer Umweltverschmutzung oder einem Virus verfährt, daher die unzähligen biomedizinischen, hygienistischen oder zoologischen Metaphern, mit denen sie belegt werden: »faschistischer Virus«, »jüdischer Bazillus«, »widerwärtige Bestie«. Lenin redet davon, Rußland von »seinen Parasiten« und sonstigen »schädlichen Insekten« zu säubern. Jean-Paul Sartre behauptete später, daß »jeder Antikommunist ein Hund ist«. Der schlechte Teil der Menschheit muß ausgerottet werden, weil er angesichts des objektiven Gesetzes der Weltentwicklung, das die absolute Wahrheit verkörpern soll, nur die absolute Lüge darstellen kann. Die exterminationistische Logik und der geplante Terror werden dann unvermeidlich.“ (Ebd., 2001, S. 127-128).

„Deshalb geht die Repression in den totalitären Systemen immer weit über den tatsächlichen Widerstand hinaus, auf den die Macht innerhalb der Gesellschaft stößt. Ein Merkmal des totalitären Terrors ist, daß er seinen Höhepunkt erreicht, wenn das Regime keine Gegner mehr hat, daß er weiter zunimmt, wenn es für seine Existenz keinen Grund mehr gibt. Diesen Systemen reicht es nämlich nicht, jegliche Opposition verschwinden zu lassen. Paradoxerweise müssen sie gleichzeitig die Opposition verschwinden lassen und eine neue, sogar eine künstliche schaffen, damit ihre Existenz noch einen Sinn hat, das heißt, damit sie weiterhin als berechtigt erscheinen, ihre Mission fortzusetzen. Deshalb »öffnen« sie keineswegs die »Deckung«, wenn es keine Oppositionellen mehr gibt, sondern schaffen selber wieder welche, indem sie die Rolle des Gegners denjenigen unter ihren Anhängern zuweisen, die sie nicht für zuverlässig genug halten oder nicht »rein« genug finden. Die Vorstellungswelt des Komplotts (»Verschwörung des Kapitals gegen die Arbeiter« oder »jüdisch-freimaurerische Verschwörung«) ist eine starke Triebfeder dieses Prozesses allgemeinen Argwohns: Die List des Teufels besteht darin, glauben zu machen, daß es ihn nicht gibt; die gefährlichsten Feinde sind immer »maskiert«. Dieses Anhalten des Terrors, obwohl er jeglichen allgemein nachvollziehbaren »Nutzen« «verloren hat, erklärt, weshalb die totalitären Regime es nicht schaffen, sich zu stabilisieren, sondern immer zur Flucht nach vorn gezwungen sind. »Im ersten Stadium«, bemerkt Maurice Weyembergh, »begnügt sie (die politische Polizei) sich damit, die Regimegegner zu liquidieren; im zweiten nimmt sie sich die »objektiven Feinde« vor und ersetzt das »vermutete Vergehen« durch das »mögliche Verbrechen«. Im dritten Stadium, in dem der Terror gipfelt, ... wird der objektive Feind durch irgend jemanden ersetzt.« (Maurice Weyembergh, a.a.O., 1990, S. 68). Der Totalitarismus institutionalisiert somit den Bürgerkrieg. Und da die Feinde sehr bald zu metaphysischen Feinden werden, sind die Säuberungsmöglichkeiten unerschöpflich. »Der eigentliche Terror setzt hingegen dann ein, wenn alle zu jeder Zeit für schuldig befunden werden können, ohne überhaupt ein Gesetz überschritten zu haben«, schreibt Claude Polin (a.a.O., 1976, S. 75). Das eigentliche Prinzip des Totalitarismus ist die Säuberung als Modus der Verwaltung des Sozialen. Der Totalitarismus, so Polin weiter, ist eine Form sozialer Organisation, »die den Terror nicht benutzt, sondern deren Wesen der Terror ist« (ebd., 1976, S. 44).“ (Ebd., 2001, S. 128-130).

„Das beherrschende Merkmal bei Lenin und seinen Nachfolgern ist eben die Auffassung der Politik als Bürgerkrieg. Hinsichtlich dieses Merkmals überbieten sie die dem Nationalsozialismus eigene Logik, sofern letztere vor allem äußere Feinde bekämpft. Im kommunistischen System ist der Feind vor allem ein innerer Feind, und deshalb ist dieses System zu andauernder Säuberung verurteilt. Im Juni 1919 erklärte Lenin: »Welche Schande wäre es, sich unentschlossen zu zeigen und aus Mangel an Angeklagten keine Erschießungen vorzunehmen.« (Notiz vom 08. Juni 1919, adressiert an E. Slansky, Tscheka-Agent). Die Äußerung ist bezeichnend. Sie bestätigt, daß das Fehlen von Feinden das System bestimmt mehr gefährdet als ihre Präsenz und daß es immer wieder welche produzieren muß, um durch die ständige Bedrohung sich selbst zu legitimieren. In den Jahren 1937 und 1938 brachte die sowjetische Regierung es fertig, blind bestimmte Quoten von zu Deportierenden festzusetzen. Zwischen 1934 und 1953 wurde insgesamt jeder fünfte Mann in eine Strafkolonie oder in ein Lager zwangsverschleppt. Die kommunistische Politik erscheint von daher als eine Politik der Feindseligkeit gegenüber einer ganzen Gesellschaft, während sie gleichzeitig ebendiese Gesellschaft durch Beteiligung an der staatlichen Gewalttätigkeit zum Kampf gegen sich selbst einlädt. In einem solchen Klima haben nur die Repressionsorgane die Möglichkeit, nach Belieben zu handeln, und einer totalen Freiheit erfreuen sich nur diejenigen, die mit der Abschaffung der Freiheit beauftragt sind.“ (Ebd., 2001, S. 130).

 
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„Der totalitäre Fanatismus setzt nicht nur eine Intoleranz rein religiösen Typs fort, er ist offenbar auch von der Moderne stark geprägt.“ (Ebd., 2001, S. 131).

„Im Dritten Reich ... Massenkonsum, ... Technik eine Vorrangstellung, ... Massentouriosmus ....“ (Ebd., 2001, S. 133).

„Das Hiler-Regime berief sich auf eine »Blut-und-Boden«-Mystik, trug aber weitgehend dazu bei, den deutschen Bauernstand zu beseitigen. Er besang die Tugenden der Hausfrau, schickte sie aber in hoher Zahl zur Arbeit.“ (Ebd., 2001, S. 133).

„Auch das Hitler-Regime hat »sein Ideal verraten«. François Furet konnte zu Recht behaupten, daß »die NS-Diktatur Deutschland tatsächlich aus seiner Tradition entwurzelt hat, indem sie bestimmte Elemente dieser Tradition für ihre Zwecke instrumentalisierte.« (**).“ (Ebd., 2001, S. 133).

„In dieser Hinsicht vertrat die Frankurter Schule nicht zu Unrecht den Standpunkt, daß der Nationalsozialismus ohne den Rationalismus der Aufklärung, den er jedoch zu bekämpfen behauptete, nicht möglich gewesen wäre. Die Vorrangstellung der Technik, die immer größere Beherrschung der Welt durch den Menschen und die Herrschaft der bürgerlichen Subjektivität bilden nach der Einschätzung Theodor Adornos und Max Horkheimers eine Einheit, die vom Begreifen des Straflagersystems nicht zu trennen ist. Der Totalitarismus kann nämlich erst dann aufkommen, wenn das Wissen mit der »Berechenbarkeit der Welt« gleichgesetzt wird und sämtliche »undurchsichtigen» Strukturen beseitigt sind, die bislang dem unaufhaltsamen Marsch zur totalen Beherrschung im Wege standen. Schon 1939 schrieb Horkheimer, daß die 1789 als Weg zum Fortschritt entstandene Ordnung die Tendenz zum Nationalsozialismus in sich getragen habe. Er fügte hinzu, daß der Nationalsozialismus die Wahrheit der modernen Gesellschaft sei und daß seine Bekämpfung mit Bezug auf das liberale Denken darauf hinauslaufe, sich auf das zu stützen, was ihm zum Sieg verholfen habe. Augusto Del Noce hat die Moderne in ähnlicher Weise beschrieben als eine »eigentlich totalitäre« Zivilisation, während Michel Foucault im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus von »Rationalität des Abscheulichen« sprach. Zygmunt Baumann behauptet ebenfalls, daß es »die rationale Welt der modernen Zivilisation« sei, die antisemitische Verfolgungen möglich und vorstellbar gemacht habe. Diese stellten »nicht nur die technologische Vollendung der industriellen Gesellschaft dar, sondern auch die organisatorische Vollendung der bürokratischen Gesellschaften.« Die von den totalitären Regimen verübten Massenmorde stellten extreme Formen instrumenteller Rationalität dar, die sich unmittelbar aus der modernen Verwandlung des Menschen in ein Objekt ableiten lassen. Hierin unterscheiden sie sich grundsätzlich von sämtlichen früheren Massenmorden.“ (Ebd., 2001, S. 133-135).

 
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„Die französische Revolution, die offizielle Geburt der Moderne, machte als erste aus dem Massenmord die rationale Folge der Aussage eines politischen Prinzips. Der erste Völkermord in der Geschichte der Neuzeit hatte die Vendée als Schauplatz: 180000 Männer, Frauen und Kinder wurden getötet einzig aus dem Grund, daß sie geboren waren. Über die Vendéer erklärte Couthon am 10. Juni 1794: »Es geht weniger darum, sie zu bestrafen, als darum, sie zu vernichten.« Gegenüber ihren jeweiligen - tatsächlichen oder vermeintlichen - Feinden haben die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts wie die französischen Revolutionäre reagiert: mit dem Willen zur Ausrottung, mit immer wieder derselben Vorstellung, daß die Vernichtung des Feindes die Voraussetzung für die Rettung der Welt sei. Die französische Revolution war aber auch die erste, die die Massen mobilisierte und ihren politischen Anhängern den Bruch mit allen anderen Bindungen auferlegte. Die erste auch, die den Prozeß der Zerstörung der Zwischenkörperschaften vervollkommnete in der Absicht, alles zu beseitigen, was zwischen der Zentralmacht und den atomisierten Individuen im Wege stehen konnte. Die erste schließlich, die einen Universalismus vertrat, der sich plötzlich in Fremdenhaß verkehrte, nachdem die Begriffe »Franzose« und »universell« gleichbedeutend geworden waren; wer nicht Franzose war, konnte logischerweise von der Menschheit ausgeschlossen werden.“ (Ebd., 2001, S. 137).

„Die Parallele zwischen der französischen und der sowjetischen Revolution, zwischen dem jakobinischen und dem bolschewischen Terror wurde zuvorderst von den russischen Kommunisten selber gezogen. Lenin war der erste, der die Kosaken mit den Vendéern gleichsetzte; er behauptete, 1917 vollende 1789, und deutete damit an, daß die Oktober-Revolution gewissermaßen Robespierres Revanche darstelle. In den Ländem des Westens benutzten auch die KP-Führer und ihre Weggefährten diese Parallele, um den Sowjetismus zu rechtfertigen - wie François Furet klar erkannt hat, der die Rolle der »jakobinischen Vorstellungswelt« bei der französischen Billigung des Kommunismus sowie bei der Nachsicht der Intellektuellen gegenüber den mörderischsten Taten der sowjetischen Regierung unterstreicht. (**). Erklärte nicht Marcel Cachin nach seiner Rückkehr aus der UdSSR: »In der russischen Revolution, die in ihren Methoden, in ihrem Ablauf die französische Revolution II neu beginnt, ist nichts, was ein Franzose abschwören könnte«? Ernst Nolte konnte beobachten, daß »sich die französische Unke nicht nur dadurch auszeichnet, daß sie die französische Revolution nach wie vor als entscheidendste Phase in der Geschichte der menschlichen Emanzipation wahrnimmt, sondern auch dadurch, daß sie eine positive Beziehung zwischen der Französischen und der russischen Revolution herstellt« (**). Heute noch, fügt Krzystof Pomian hinzu, »sind die französischen intellektuellen Kreise nicht wirklich ›entstalinisiert‹ worden. Sie bleiben der Mythologie der Volksfront tief verbunden, und noch tiefer der Vorstellung, daß die französische Revolution ein in sich geschlossener ›Block‹ gewesen sei, was den Terror rechtfertige.« (**).“ (Ebd., 2001, S. 138-139).

„Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg hatten einige Autoren es verstanden, die nationalsozialistische Revolution als deutsche Entsprechung des »jakobinischen Moments« (Bewegung) zu deuten, das in Frankreich von der Revolution von 1789 verkörpert worden war. In seinem Journal d'Allemagne, das er zwischen Oktober 1935 und Juni 1936 als Lektor an der Frankfurter Universität führte, hatte Denis de Rougemont zwischen Nationalsozialismus und jakobinischem Geist eine starke Übereinstimmung erkannt. Indem er den Nationalsozialismus als »braunen Jakobinismus« und seine Anhänger als »Sansculottes im braunen Hemd« beschrieb, zeigte er, wie viel das Dritte Reich in seinen Bestrebungen wie auch in seinen Methoden jenem ›89ger Geist‹ verdankte, auch wenn er ihn in seinen Reden verurteilte. »Der gleiche zentralisierende Geist; die gleiche Versessenheit auf die Blockeinheit; die gleiche Verherrlichung der Nation, die als Missionarin einer Idee angesehen wird; der gleiche Sinn für symbolische Feste zur Erziehung der Menschen.« (**). “ (Ebd., 2001, S. 139-140).

„So wie die französischen Revolutionäre die früheren Provinzen abgeschafft hatten, so löste Hitler das ehemalige Preußen auf, zentralisierte das Reich und führte in sämtlichen Bereichen eine Zwangseinigung durch: Schon im Februar 1934 wurden alle Landesparlamente aufgelöst und die Regionen gleichgeschaltet. (**). Alexandre Kojève hatte bereits darauf hingewiesen, daß »Hitlers Wahlspruch: Ein Volk, ein Reich, ein Führer nur eine schlechte-Übersetzung der Losung der französischen Revolution von der einen und unteilbaren Republik ist«. »Lenin hat kein Hehl daraus gemacht, was er den Jakobinern verdankte, und Hitler, was er Lenin verdankte«, bemerkt seinerseits Jules Monnerot (a.a.O., 1969, S. 603).“ (Ebd., 2001, S. 140-141).

„Der Versuch, den Kommunismus im Namen seiner tiefen, mit den Idealvorstellungen der Moderne übereinstimmenden Inspiration reinzuwaschen, verschleiert also die Tatsache, daß diese Inspiration die Wurzel nicht nur seiner Verbrechen, sondern auch die der Verbrechen des Nationalsozialismus bildet. Letzterer war keineswegs kriminell durch Übereinstimmung mit einer Ideologie, die, im Gegensatz zum Kommunismus, nur ihm eigen gewesen wäre; er wurde es vielmehr in bezug auf den Teil Inspiration, den er mit dem Kommunismus gemeinsam hatte. Das stellt auch François Rouvillois fest, wenn er über den Nationalsozialismus schreibt: »Nicht was ihn vom Marxismus unterscheidet, macht ihn kriminell, sondern eben, was er mit ihm gemein hat.« »Marxismus und Nationalsozialismus«, fügt er hinzu, »sind gleichermaßen totalitär durch dieses sie vereinende Element: weil sie beide jener radikalen Moderne entsprungen sind, die aufgrund ihrer historischen und anthropologischen Voraussetzungen nur in den Alptraum abgleiten konnte.« (François Rouvillois, a.a.O., 1998, S. 29 ).“ (Ebd., 2001, S. 141).

 
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„Über das mit Stalin während des Zweiten Weltkriegs geschlossene Bündnis hinaus liegt der eigentliche Grund für das Unvermögen der westlichen Demokratien, den Kommunismus zu ächten, also offenbar in der uneingestandenen Verwandtschaft mit ihm, die sich aus der Genealogie der Moderne ergibt. Die mehr oder weniger deutliche Wahrnehmung dieser Verwandtschaft erklärt, weshalb der Sowjetismus als verstärkte Fortsetzung des Sozialismus, ja sogar als strengere Anwendung der Demokratie angesehen werden konnte. Ernst Nolte bemerkt zu Recht: Die Unterscheidung zwischen einem in seinen Absichten guten Kommunismus und einem Nationalsozialismus, der bis in seine Vorsätze hinein übelmeinend gewesen sei, verrät implizit dieAnsicht, daß die liberalen Demokratien und der Kommunismus letzten Endes dasselbe Ideal teilen und daß sie sich nur in der Art seiner Verwirklichung unterscheiden. (Vgl. a.a.O., S. 796). Mit anderen Worten: Die liberalen Demokratien können nicht umhin, sich in den universalistisch-egalitären Bestrebungen des Kommunismus wiederzuerkennen. Deshalb neigen sie - auch wenn sie die von ihm angewandten Mittel verurteilen - spontan zu der Meinung, daß wenigstens sein Ideal gut gewesen sei, und zu der Überzeugung, daß die Verurteilung der Verbrechen des Kommunismus letzten Endes denjenigen in die Hände spiele, die dieses gemeinsame Ideal nicht teilen.“ (Ebd., 2001, S. 143-144).

„Der ganze Widerspruch wird offenbar, wenn die liberale Demokratie den sowjetischen Totalitarismus verurteilt und sich gleichzeitig - genauso wie er - zum Erben der französischen Revolution erklärt. Das bedeutet, daß die liberale Demokratie und der Kommunismus zwei unterschiedliche Strömungen aus ein und derselben Ideologie der Aufklärung darstellen: Jene strebt nach einem »Fortschritt«, der bei Einhaltung der Menschenrechte sich von selbst einstellen würde; dieser erkennt im revolutionären Handeln das Mittel, die Erfüllung eines ebenfalls nach dem »Fortschritt« ausgerichteten Geschichtssinns zu beschleunigen.“ (Ebd., 2001, S. 144).

„Gerade diese These hat Jakob L. Talmon in einem epochemachenden Buch (Die Ursprünge der Totalitären Demokratie, 1952) vertreten. Indem er den Mythos von einer grundlegend befreienden französischen Revolution sowie den von einem scharfen Gegensatz zwischen Totalitarismus und liberaler Demokratie zerstört, zeigt Talmon, daß der Totalitarismus »von den gleichen Voraussetzungen« ausgegangen ist wie letztere, daß er »die zweite der beiden möglichen Variationen über das Thema demokratische Ideologie« darstellt und daß ein wesentlicher Teil seiner Inspiration größtenteils »in dem ursprünglichen und allgemeinen Gedankengut des achtzehnten Jahrhunderts enthalten« ist, das heißt in der Philosophie der Aufklärung. Unter den ideologischen Elementen, die dem Totalitarismus und den liberalen Demokratien gemeinsam sind, nennt Talmon zunächst die Vorrangstellung der Vernunft, die, auf das öffentliche Handeln angewandt, darauf schließen läßt, daß die »wissenschaftlich« betriebene Politik zwangsläufig zu »technischen« Lösungen als den einzig möglichen führe: »Die rationalistische Idee ersetzte Überlieferung durch soziale Nützlichkeit als wichtigstes Kriterium für soziale Einrichtungen und Werte. Sie setzte außerdem einen gesellschaftlichen Determinismus voraus; zu dem sich die Menschen unwiderstehlich hingezogen fühlten und den sie eines Tages zwangsläufig akzeptieren würden. Damit wurde also ein einzig gültiges System postuliert, das zum Leben erstehen würde, sobald alles, was nicht durch Vernunft und Nützlichkeit gerechtfertigt war, beseitigt wäre.« (Ebd., 1952, S. 14).“ (Ebd., 2001, S. 144-145).

„Eine weitere gemeinsame Gemeinsamkeit ist der Historizismus, das heißt, die Vorstellung, daß die Geschichte einen umfassenden Sinn besitze und man diesen rational überzeugend darstellen könne. Talmon spricht hier von einem »ununterbrochenen Fortschreiten bis zur Endlösung des historischen Dramas«. Das ist der eigentliche Hintergrund der Ideologie des Fortschritts: Die zielgerichtete Geschichte löst die Eschatologie ab; der unergründliche Plan göttlichen Heils wird zu einem rational ergründlichen Plan der Geschichte. Die Ideologie des Fortschritts mindert also den Wert der früheren Menschengeschlechter, in dem Maße, wie sie die Vergangenheit herabsetzt und die Zukunft immer besser sieht. Alain Finkielkraut bemerkt in diesem Zusammenhang: Wer an den Fortschritt glaubt, glaubt zwangsläufig an den nur relativen Wert der gegenwärtigen Menschheit gegenüber den künftigen Generationen. Daß es nicht illegitim ist, jene diesen zu opfern, läßt sich leicht daraus folgern.“ (Ebd., 2001, S. 145).

„Auch bei Claude Lefort werden die totalitären und die liberaldemokratischen Systeme als die beiden Erscheinungsformen analysiert, die die Vollendung der »demokratischen Revolution« annehmen kann. »Der Totalitarismus«, schreibt Lefort, »wird in meinen Augen nur dann verständlich, wenn man sein Verhältnis zur Demokratie erfaßt. Der totalitäre Staat läßt sich nur im Vergleich zur Demokratie und vor dem Hintergrund ihrer Ambiguitäten auffassen. Er ist deren Widerlegung Punkt für Punkt, und trotzdem bringt er zu ihrer Aktualität Vorstellungen, die er virtuell enthält.« (Claude Lefort, a.a.O., S. 167 und 42). Für Lefort definiert sich die moderne Demokratie als eine politische Form, in der die Macht auf keinen transzendenten - göttlichen oder traditionellen - Ursprung verweist, sondern sich als reines Abbild des menschlichen Willens darstellt. Die Behauptung vom rein menschlichen Wesen der Gesellschaft schließt nun aber deren Fähigkeit mit ein, sich selbst entsprechend dem, was sie sein will, zu modellieren. Die Philosophie der Aufklärung hat ihr nämlich ein Wissen über sich selbst vermittelt, das ihr angeblich die Mittel gibt, sich nach Belieben zu produzieren, das heißt, eine eigene Ordnung zu errichten, die ihre Prinzipien nur aus sich selbst herleiten würde. Der Totalitarismus übernimmt diese Perspektive von einer endlosen Selbstverwandlung der sich durch und durch selbst erzeugenden Gesellschaft und steigert sie ins Äußerste. Indem er die etablierte menschliche Macht und die einsetzende Macht des Sozialen völlig gleichsetzt (im Gegensatz zur »klassischen« Demokratie, die immer einen Abstand läßt zwischen dem Wirklichen und dem Symbolischen, zwischen der spontanen gesellschaftlichen Bewegung und ihrer bewußten Übernahme durch die Macht), treibt der Totalitarismus den Begriff der Autonomie ins Extrem und bekundet damit einen unbegrenzten Wunsch nach Verwandlungskraft. (**).“ (Ebd., 2001, S. 145-147).

„»Den Totalitarismus zu begreifen«, schreibt Claude Polin, »heißt möglicherweise begreifen, daß die Industriegesellschaften ebenso wie die demokratischen Systeme zwei Erscheinungsformen aufweisen, eine liberale und eine totalitäre.« Dieser Ambiguität hat sich der Kommunismus bedient, als er den Antifaschismus instrumentalisierte, um sich in dasselbe Lager zu stellen wie die bürgerliche Demokratie, deren »formellen« Charakter er sonst verurteilte. Auf diese Weise sagte er die Wahrheit und log zugleich. Er sagte die Wahrheit, denn bürgerliche Demokratie und sowjetischer Kommunismus stammen wohl aus derselben ideologischen Matrix (Quelle). Er log, denn es genügt nicht, aus derselben Matrix wie die bürgerliche Demokratie zu stammen, um selber demokratisch zu sein: Ein und dieselbe Inspiration kann zu völlig unterschiedlichen Regimen führen.“ (Ebd., 2001, S. 147-148).

 
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„Die Beleuchtung der Verwandtschaft zwischen Totalitarismus und bürgerlichen Demokratien hat eine wichtige Folge: Sie zeigt auf, daß die demokratisch-liberalen Systeme von Natur aus keineswegs immun gegen den Totalitarismus sind. Was ihre Vertreter auch immer behaupten mögen, auch sie laufen Gefahr, in den Totalitarismus hineinzurutschen - so wie 1789 zur Schrekkensherrschaft von 1793 geführt hat. Zum einen können die Demokratien jederzeit antidemokratische Mittel gebrauchen: Im Zweiten Weltkrieg haben die liberalen Demokratien nicht vor vorsätzlichen Massakern an Zivilbevölkerungen (u.a. Dresden, Hiroshima, Nagasaki) zurückgeschreckt, um mit dem nationalsozialistischen Deutschland und dem nationalistischen Japan fertigzuwerden. (**). Zum anderen: Wenn auch ihre Erscheinungsformen offensichdich ganz andere sind als diejenigen totalitärer Regime, so unterscheiden sie sich doch, wie wir gesehen haben, in ihrer ursprünglichen Inspiration nicht grundlegend. Ist die moderne Dimension des Totalitarismus einmal anerkannt, so ist es nicht abwegig zu denken, daß es auch eine totalitäre Dimension der Moderne gibt.“ (Ebd., 2001, S. 149-150).

„Wenn man außerdem anerkennt, daß der Totalitarismus vor allen Dingen durch seine Zielsetzung gekennzeichnet ist, und nicht durch die Methoden, um dorthin zu gelangen, dann wird verständlich, daß er auch ganz andere Formen annehmen könnte als die bereits bekannten. Diese Möglichkeit ist um so denkbarer, als die totalitären Regime - sofern sie auf das Homogene, d.h. auf die Reduzierung der Welt auf das Gleiche, abzielen - sich in jene typisch moderne Auffassung von Freiheit vollkommen einfügen, die darin besteht, immer das Gleiche vorzuziehen (siehe Adornos und Horkheimers »Freiheit zum Immergleichen«). Man muß sich dann fragen, in welchem Maße mit deser Zielsetzung äußerste Repressionsmittel (der »Terror«) untrennbar verbunden sind. Sokrates sagte, daß niemand absichtlich Böses tut. Die totalitären Regime wurden nicht unbedingt von Männern geführt, die gern Böses taten oder aus Vergnügen Massenmorde veranstalteten, sondern von Männern, die der Ansicht waren, daß dies das einfachste Mittel war, zu ihren Zielen zu gelangen. Hätten ihnen andere, weniger extreme Mittel zur Verfügung gestanden, ist es nicht ausgeschlossen, daß sie lieber zu ihnen gegriffen hätten. Von seinem Wesen her belingt der Totalitarismus nicht automatisch, eher zu dem einen Mittel als zu einem anderen zu greifen. Nichts schließt aus, daß nan mit schmerzlosen Mitteln zu den gleichen Zielen gelangen kann. Der Zusammenbruch der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts bannt nicht das Gespenst des Totalitarismus. Er regt vielmehr zum Nachdenken über die neuen Formen an, die er in der Zukunft annehmen könnte.“ (Ebd., 2001, S. 150-151).

„Die nachfolgende Textstelle aus Tocquevilles Buch Über die Demokratie in Amerika ist bekannt: »Ich denke, daß die Form der Unterdrückung, die den demokratischen Völkern droht, nichts von dem ähnelt, was wir in früheren Zeiten gekannt haben; unsere Zeitgenossen können sich an kein vergleichbares Bild erinnern. Ich selbst suche vergeblich nach dem Ausdruck, der meine Vorstellung von ihr genau wiedergeben und enthalten würde. Die früheren Begriffe des Despotismus und der Tyrannei passen nicht dazu.« In diesem Text dachte Tocqueville nicht an ein auf Gewalt gegründetes Unterdrückungssystem, sondern eher an eine neue Form der Unterdrückung, in der der Mensch sanft oder sogar mit seinem eigenen Einverständnis seines Menschseins beraubt würde. Das Thema ist nicht neu, und es ist kein Zufall, wenn der Diskurs über den freiwilligen Zwang von Etienne de la Boetie die Aufmerksamkeit eines Claude Lefort oder eines Marcel Gauchet auf sich gezogen har. George Orwells Genie im Roman 1984 bestand darin, eine Gesellschaft zu entwerfen, in der es Big Brother gelingt, nicht nur Gehorsam, sondern auch von denen Liebe abzuverlangen, die er in den Sklavenzustand versetzt hat.“ (Ebd., 2001, S. 151-152).

„Zahlreiche Autoren haben festgestellt, daß die Abschaffung der Vielfalt der Menschen und Ideen, der Meinungen und Empfindungen sowie ihre Ausrottung zugunsten eines homogenen Einheitsmodells ebensogut durch Überredung und Konditionierung erzielt werden können wie durch brutale Gewalt. (**). Immer wieder auf Tocquevilles Warnungen verweisend, waren sie bestrebt, in bestimmten Charakterzügen der gegenwärtigen Gesellschaften Keime eines neuen Totalitarismus aufzuspüren: ein im Grunde prometheisches Wesen wissenschaftlicher Betätigung, Automatisierung der Technik (»alles, was technisch machbar ist, wird es auch praktisch sein«), Beschleunigung der industriellen Konzentration und Bildung von Monopolen, Vereinheitlichung des Lebenswandels und zunehmend konformistische Ausrichtung des Denkens, soziale Anomie, die sich aus der widersinnigen Verbindung von Individualismus und Massenanonymität ergibt, Ausbreitung der »kulturellen Willkür«, die die Sozialisierung der Menschen über die Medien mit sich bringt.“ (Ebd., 2001, S. 152-153).

„Die liberalen Demokratien verfechten zwar die Menschenrechte, doch diese Haltung ist selber widersprüchlich, denn im Namen der Menschenrechte zu kämpfen heißt auch, sich mit der Menschheit zu identifizieren auf die Gefahr hin, all diejenigen auszuschließen, die die Richtigkeit dieses Bezugs oder dieses Kampfes bestreiten würden. Auf der Basis der Menschenrechte vertreten die liberalen Gesellschaften in vieler Hinsicht eigentlich nur einen Scheinpluralismus. Sie glauben nicht ernsthaft an einen »Polytheismus der Werte« als grundlegenden Bestandteil jedes echten demokratischen Lebens, denn sie meinen, daß die Vernunft - »eins und ganz in jedem« - eindeutige Antworten auf die politischen und moralischen Fragen geben könne. Sie berufen sich auf die Ideologie der Rechte, meinen aber, daß diese begründet werden könnten, ohne zu berücksichtigen, daß die Interessen, die Zielsetzungen, die Bestrebungen und die menschlichen Auffassungen vom »guten Leben« nicht nur verschieden, sondern auch unermeßlich viele sind. Sie glauben, es sei möglich, auf rationalem Weg zu einem Konsens über die recht- oder verfassungsmäßigen Normen zu gelangen, weshalb sie alles, was von diesem Konsens abweicht, auszuschließen gezwungen sind. Ebensowenig wie die gestrigen Totalitarismen sind sie also bereit zu akzeptieren, daß ihre Normen nicht zwangsläufig maßgebend sind. Auch sie neigen dazu, sich als weltweit einzig mögliches System zu behaupten - im Namen einer Ideologie, die, mag sie auch »humanistisch« sein, jedem Mißbrauch Tür und Tor öffnet, wenn sie als Selbstverständlichkeit hingestellt wird, die angeblich jedem einleuchten soll.“ (Ebd., 2001, S. 153-154).

„Mit anderen Methoden behaupten heute der Markt, die Technik und die Kommunikation, was die Staaten, die Ideologien und die Armeen gestern behaupteten: die Legitimität der vollständigen Weltherrschaft. Auch die Wahnvorstellung von einer völligen Transparenz und Beherrschung, die in den totalitären Systemen am Werk ist, gibt es immer noch. Die liberale Gesellschaft drängt weiterhin den Menschen in den Zustand des Objekts, indem sie die sozialen Beziehungen verdinglicht, die Bürger-Verbraucher in Warensklaven verwandelt und jeden Wert auf die Kriterien des kommerziellen Nutzens bezieht. Heute hat das Ökonomische den Anspruch des Politischen übernommen, die letzte Wahrheit in menschlichen Angelegenheiten zu besitzen. Es kommt zu einer allmählichen »Privatisierung« des öffentlichen Raumes, die zum gleichen Ergebnis führen könnte wie die allmähliche »Nationalisierung« des privaten Raums durch die totalitären Systeme. Nach Louis Dumont hat auch Pierre Rosanvallon sehr gut gezeigt, welche Stellung paradoxerweise gerade das Marxsche Denken in der Geschichte des Individualismus innehat. »In dieser Hinsicht«, schreibt er, »fügt sich die Utopie einer kommunistischen Wohlstandsgesellschaft, die die vollständige Entfaltung des Menschen zu sichern strebt, reibungslos in die liberale Vision ein.« (Pierre Rosanvallon, a.a.O., 1998). Dann ist es nicht absurd, den Willen zum wissenschaftlichen oder rationalen Regieren, den die totalitären Staaten an den Tag legen, mit anderen Formen von Regierungsrationalität zu vergleichen, »vor allem im industriellen Bereich, etwa der Idee der systematischen, wissenschaftlichen Arbeitsorganisation oder der planmäßigen Lenkung, die in Ländern mit liberaler Regierung weitgehend entwickelt wurde«. Jean-Marie Vincent schreibt in diesem Zusammenhang: »Wenn das durch disziplinierende Vorrichtungen und Anpassungsformen konditionierte Leben hauptsächlich als ein Rohmaterial zur Erzeugung von Arbeitskraft erscheint, dann ist es nur so viel wert, wie es dem Kapital einbringen kann. Es gibt zwar einen qualitativen Sprung vom Ausrangieren wertlos gewordener Arbeitskräfte zur systematischen Vernichtung von Millionen Menschen, doch in beiden Fällen dient das menschliche Leben als Nahrung für gesellschaftliche Maschinerien.« (Jean-Marie Vincent, a.a.O., S. 70).“ (Ebd., 2001, S. 154-155).

„Es ist auch festzustellen, daß in den liberalen Gesellschaften die Normierung nicht verschwunden ist, sondern andere Formen angenommen hat. Die Zensur durch den Markt hat die politische Zensur abgelöst. Die Dissidenten werden nicht mehr deportiert oder erschossen, sondern ins Abseits geschoben oder zum Schweigen gebracht. Die Werbung hat die Propaganda abgelöst, und der Konformismus nimmt die Form des Einheitsdenkens an. Die »Angleichung der Lebensbedingungen«, von der Tocqueville befürchtete, sie könnte einen neuen Despotismus herautbeschwören, erzeugt automatisch die Standardisierung der Geschmäcker, der Gefühle und der Sitten. Die Konsumgewohnheiten gestalten die sozialen Verhaltensweisen immer gleichförmiger. Die eigenständigen Lebensweisen verschwinden allmählich. Und die Rückbesinnung der politischen Parteien auf gemeinsame Ziele führt in der Praxis zur Neubildung eines Einheitspartei-Regimes, dessen weiterhin bestehende politische Gruppen kaum mehr als Gesinnungstendenzen sind, die nicht über die Finalitäten unterschiedliche Standpunkte beziehen, sondern nur über die einzusetzenden Mittel, um dieselben Werte zu verbreiten und zu denselben Zielen zu gelangen. Die Zielsetzung ist dieselbe geblieben: Es geht immer noch darum, die Vielfalt auf das Gleiche zu reduzieren.“ (Ebd., 2001, S. 155-156).

„»Die totalitäre Welt der technologischen Rationalität ist die letzte Verkörperung des Vernunftsbegriffs«, schrieb bereits Herbert Marcuse (Der eindiemnesionale Mensch, 1964). In seinem letzten Buch (Historische Existenz, 1998) zögert Ernst Nolte nicht, einen »totalitären Liberalismus« zu umreißen. Der Diskurs, dem zufolge der Liberalismus das absolute Gegenteil des Totalitarismus sei, kann also in Zweifel gezogen werden.“ (Ebd., 2001, S. 156).

„Mit dem Ende des Kommunismus hat der Liberalismus das Gegenstück verloren, das ihn am besten zur Geltung brachte. Heute versucht er, aus der Erinnerung an die totalitären Regime Kapital zu schlagen, indem er sich als das einzige ehrbare, ja sogar als das einzig mögliche System darstellt, um weiterhin einen ihn ins rechte Licht setzenden Kontrast zu haben, wenn man ihm seine eigenen Makel entgegenhält. Der Zusammenbruch des sowjetischen Systems mag unbestreitbar einen Sieg des Kapitalismus dargestellt haben, es ist allerdings noch zu beweisen, daß er auch einen Sieg der Demokratie bedeutete. In der Vergangenheit hatte man sich des Antifaschismus bedient, um den Kommunismus zu legitimieren, und des Antikommunismus zur Legitimierung des Nationalsozialismus. Heute wird die Kritik am Totalitarismus oder seine Heraufbeschwörung instrumentalisiert, um den Liberalismus oder die schädigenden Auswirkungen des Markts akzeptabel zu machen. Diese Vorgehensweise - Grund für die Verzweiflung zahlreicher Menschen und Völker, die keine andere Alternative mehr wahrnehmen als diejenige zwischen Liberalismus und Horror - ist ebensowenig annehmbar. Ebenso wenig, wie die positiven Errungenschaften eines totalitären Regimes seine Verbrechen bzw. die Verbrechen eines totalitären Regimes die eines anderen rechtfertigen können, darf die bloße Erinnerung an die totalitären Systeme nicht zur Akzeptanz der heutigen Gesellschaft mit ihren zerstörerischen und entmenschlichenden Erscheinungsformen führen. Man darf nicht ein ungerechtes Schicksal hinnehmen unter dem Vorwand, daß man ein schlimmeres erleiden könnte. Die politischen Systeme müssen nach dem beurteilt werden, was sie sind, und nicht im Vergleich zu anderen, deren Fehler ihre eigenen abschwächen oder verharmlosen würden. Jeder Vergleich verliert seine Gültigkeit, wenn er zu einer Entschuldigung wird: Jede soziale Pathologie muß für sich untersucht werden.“ (Ebd., 2001, S. 156-157).

 
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„Selbst die verbrecherischsten Regime konnten in bestimmten Bereichen Nützliches tun oder positive Errungenschaften verzeichnen. Der Fehler ist zu glauben, daß sie deswegen weniger kriminell waren oder daß ihre Verbrechen dadurch entschuldbarer sind. Umgekehrt: Berücksichtigt man diese positiven Errungenschaften nicht, dann werden die Nostalgien, deren gegenstand sie manchmal sind, unerklärlich. Diese Nostalgien beweisen außerdem, daß die Freiheit nicht immer das Gut ist, das die Menschen jedem anderen vorziehen. (Vgl. auch die nur »bedingte Freiheit des Willens« **). Selbst in den schlimmsten Zeiten des Stalinismus stellte der Kommunismus für eine nicht unbedeutende Zahl von Sowjetrussen eine Möglichkeit sozialen Aufstiegs dar. Erst unter Breschnew verlangsamte sich diese Aufstiegsmobilität .... »Das unglaubliche Ausmaß der Verbrechen verwischt nicht die Verdienste«, schrieb vor nicht langer Zeit Thierry de Montbrial (a.a.o., 1997, S. 2). Wie ist es zu verstehen, daß im Dezember 1986 noch 40 Prozent der Russen der Kommunistischen Partei ihre Stimme gaben? »Die Trennungslinie zwischen Gut und Böse geht durch das Herz jedes Menschen«, schreibt Solschenizyn. Zu glauben, daß sich das Gute ganz auf der einen und das Böse auf der anderen Seite befindet, heißt, den Totalitarismus nachzuahemen.“ (Ebd., 2001, S. 159-160).

 

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„Die Frage des Verhältnisses von Ideologie und Praxis muß noch untersucht werden. Manche sind der Auffassung, daß die verbrechen des Nationalsozialismus das eigentlich kriminogene (verbrechenauslösende) Wesen seiner Ideologie unter Beweis stellten, während die viel zerstörerischeren Verbrechen des Kommunismus nichts bewiesen. So schreibt Nicolas Werth, daß »der Nationalsozialismus die völlige Entsprechung von Doktrin und Realitätt« sei, während »der Kommunismus das Auseinanderfallen von Doktrin und Realität« darstelle. Diese Behauptung ist natürlich nur eine Petitio principii. »Wenn die ... Opfer des Nationalsozialismus sein Wesen zum Ausdruck bringen«, bemerkt Jacques Julliard (a.a.O., S. 132), »warum sollten die ... (sehr viel größeren) Opfer des Kommunismus als bloßer ärgerlicher Ausrutscher des letzteren angesehen werden?«  Entweder läßt sich das zerstörerische Wesen eines Systems ganz aus seinen Taten herleiten, und in diesem Fall ist der Kommunismus nicht anders zu beurteilen als der Nationalsozialismus; oder es läßt sich vor allem aus seiner Doktrin herleiten, doch in diesem Fall gibt es keinen Anlaß, daraus bezüglich des ersten weniger zu folgern als bezüglich des zweiten.“ (Ebd., 2001, S. 161).

„Andere behaupten, daß ein anderer Kommunismus möglich gewesen wäre, der mit dem tatsächlich erlebten nichts zu tun gehabt hätte. Dann könnte man ebensogut behaupten, daß ein anderer Nationalsozialismusmöglich gewesen wäre, der sich stark von dem unterschieden hätte, was im Dritten Reich bewerkstelligt wurde. Es ist zwar immer möglich, ein System als Abweichung von oder gar als Verrat an der ursprünglichen Inspiration zu deuten. Doch ein solcher Weg beweist keineswegs, daß eine andere Umsetzung in die Praxis besser gewesen wäre, eben weil die Beweisführung nicht erfolgen kann. Die Frage, inwiefern ein System eine Idee genau verwirklicht oder sie im Gegenteil verrät, bleibt weitgehend ungelöst, da die Elemente des Vergleichs definitionsgemäß fehlen. Historisch gesehen war der Nationalsozialismus nichts anderes als das, was er war, und der Kommunismus auch nichts anderes als das, was unter seinem Namen in den Ländern des »real existierenden Sozialismus« verwirklicht wurde.“ (Ebd., 2001, S. 162).

„Besser wäre es, zunächst zu fragen, inwieweit es überhaupt möglich ist, daß eine Doktrin genau in die Tat umgesetzt wird. Eine solche Frage zu stellen heißt letzten Endes, den Abstand zwischen Theorie und Praxis auf ziemlich banale Weise zu betonen. Diese Kluft ist offensichtlich, und ihre Ursachen zahlreich. Eine von ihnen ist, daß die Menschen nie ganz genau das tun, was sie wollen, denn sie können die Folgen ihrer Handlungen nie genau voraussehen: Zwischen ihre Absichten und die Ergebnisse ihrer Handlungen schieben sich unvermeidlich unerwünschte Nebenwirkungen, die als »heterotelisch« bezeichnet werden. Außerdem erfolgt die Machtausübung immer auf systemische Weise: Die Ideologie, die man in die Tat umzusetzen versucht, ist nicht von der Tat zu trennen, die man ideologisiert und um die herum man durch Rückkopplung diese Ideologie aufbaut oder umbaut. Zuletzt versteht es sich von selbst, daß im Abstrakten jede Idee eine Vielzahl von Möglichkeiten eröffnet, weil sie immer unterschiedlich interpretiert werden kann. Daß die französische Revolution im Stammbaum sowohl der liberalen Demokratien als auch der modernen Totalitarismen aufgeführt werden kann, ist in dieser Hinsicht bereits bezeichnend.“ (Ebd., 2001, S. 162-163).

„Wenn nun aber die Praxis nie die vollständige Entsprechung der Theorie sein kann, dann wird der Begriff der umgesetzten Ideologie zwangsläufig zweifelhaft. Die Aussagen, die von einer Idee zu wissen glauben, »wohin sie führt«, oder die versichern, daß es »Ideen« gebe, die »töten«, sind in dieser Hinsicht rein polemisch. In Wirklichkeit weiß man es eben nicht, denn es sind nie Ideen, die töten, sondern Menschen. Daß sich ein Verbrecher auf eine Idee beruft, um sein Verbrechen zu rechtfertigen, genügt nicht, um zu beweisen, daß diese Idee dieses Verbrechen in sich barg. »Es gibt keine im menschlichen Geist geborene Idee, die kein Blut hat fließen lassen«, schrieb Charles Maurras.“ (Ebd., 2001, S. 163).

„Es gibt nämlich keine, die von Natur aus gegen den Mißbrauch immun ist. Doch der Mißbrauch, den man von einer Idee macht, diskreditiert nicht diese Idee, sondern nur diesen Gebrauch. Die einzige Verbindung, die zwischen einer Idee und einer Tat besteht, ist nicht diese Idee, sondern diese Tat. Das bedeutet natürlich nicht, daß die Erzeuger von Ideen keine Verantwottung tragen. Das bedeutet nur, daß eine Idee keine Handlung ist - genauso, wie eine Einstellung kein Verhalten ist - und daß eine aufgrund einer Idee gerechtfertigte Handlung noch etwas anderes ist als eine Handlung, die mit Bezug auf diese Idee sich selbst zu rechtfertigen sucht.“ (Ebd., 2001, S. 163).

„Die Behauptung, daß eine politische Praxis eine »völlige Entsprechung« von Theorie und Praxis offenbare oder daß sie im Gegenteil eine »Kluft« zwischen Theorie und Praxis zeige, gründet unter diesen Voraussetzungen aller Wahrscheinlichkeit nach auf einer rückblickenden Interpretation oder auf einer Unterstellung. .... Was die Verbindung zwischen Marxismus und Kommunismus betrifft, zwingt die Aufrichtigkeit zu sagen, daß diese Verbindung ebensowenig offensichtlich ist. Marx mag im Kommunistischen Manifest von 1848 »den mehr oder weniger verborgenen Bürgerkrieg« noch so sehr preisen, der die Gesellschaft »bearbeitet«, bis dieser Krieg als offene Revolution ausbricht und das Proletariat die Fundamente seiner Herrschaft durch den gewaltsamen Sturz der Bourgeoisie errichtet - das sagt aber noch nichts aus über die konkrete Haltung, die er hundert Jahre später angesichts des Gulags eingenommen hätte. (**) In diesem Bereich ist also Vorsicht geboten. Zu behaupten, daß diejenigen, die den Terror in der Sowjetunion ins Werk setzten, sich auf Karl Marx beriefen, ist eine Sache; zu behaupten, daß die Ideen von Marx nur zu dieser Schreckensherrschaft führen konnten (oder daß Marx sie ausdrücklich gewollt oder gebilligt hätte), ist eine andere. Keine Doktrin kann ausschließlich an den Taten derjenigen gemessen werden, die sich auf sie berufen haben. Umgekehrt: Kein im Namen einer Idee begangenes Verbrechen wird jemals genügen können, um diese Idee völlig zu dikreditieren. Um eine historische Erfahrung zu beurteilen, muß man deshalb von den Fakten selbst ausgehen, nicht von einer Moral der Absichten.“ (Ebd., 2001, S. 163-165).

 
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„»Der Antifaschismus war noch nie so verbreitet und so mächtig wie seit der Niederlage des Faschismus im Jahre 1945«, stellte François Furet fest. (Vgl. a.a.O., S. 172). .... Zum einen hat er an Umfang gewonnen, auf die Gefahr hin, infolge seiner eigenen Verdünnung jegliche Bedeutung zu verlieren. Da sich niemand mehr zum Faschismus bekennt, er jedoch bei jedem vermutet wird (und um so leichter vermutet, als sich niemand zu ihm bekennt), gründet sich der Antifaschismus nicht mehr auf eine objektive Feststellung, sondern nur auf eine bloße Uunterstellung. Er verweist auf keine reale historische Erscheinung, sondern reduziert sich auf ein Schimpfwort, d.h. auf eine im Unklaren arbeitende Disqualifizierungsaktion durch Appell an die allgemein herrschende Vorstellungswelt, als lähmender und abstoßender Mythos: Man versucht, aus seiner abstoßenden Wirkung Kapital zu schlagen, und kämpft gegen ein Gespenst, das man für allgegenwärtig erklärt. Zum anderen kennzeichnet der Antifaschismus nicht mehr ein bestimmtes Segment der öffentlichen Meinung, sondern er ist Bestandteil eines nahezu allgemeinen Konsens, sofern er einen Gegner bekämpft, mit dem sich niemand mehr identifizieren will. Schließlich, und gerade aus dem eben genannten Grund, hat er einen anderen Nutznießer. Er dient nicht mehr dazu, den Sowjetismus zu legitimieren, sondern vielmehr eine etablierte Gesellschaft sowie eine bürgerliche Ideologie, die der gestrige Antifaschismus zerstören oder ablösen wollte. In dieser Eigenschaft gehört er zur politischen Korrektheit und stellt eine um so einträglichere Investition dar, als sie völlig risikolos ist. Zur Zeit der realen Faschismen konnte der Antifaschismus ins Konzentrationslager oder vor das Exekutionskommando führen. Der neue Antifaschismus ist nur ein Mittel unter anderen, jedoch keines der unbedeutendsten, sich Zutritt zu den Medien und Fernsehanstalten zu verschaffen.“ (Ebd., 2001, S. 167-168).

„Von Thierry Wolton als »der größte gemeinsame Versammler einer sich nach dem Marxismus-Leninismus zurücksehnenden Unken« defmiert (vgl. a.a.O., 1998), ist der heutige Antifaschimus in Wirklichkeit vor allem ein Produkt der intellektuellen Trägheit. Denn es ist immer leichter, die Übel und Mißstände der Vergangenheit festzustellen, als die der Gegenwart zu erkennen. In einer Welt, die gelernt hat, sich vor der Idee des absoluten Guten in acht zu nehmen, die aber weiterhin die eines absoluten Bösen mehr denn je braucht, stellt er außerdem eine »praktische« Art dar, eine Minimal-Moral zu lehren. Nolte stellt fest, daß der heutige Widerstand gegen den Nationalsozialismus - ein verspäteter und gefahrloser Widerstand - eine Religionsersatz darstellt (vgl. a.a.O., 1998 **). Zu guter letzt besitzt der Antifaschismus einen eindeutig nützlichen Aspekt. »Die Nachwelt«, schrieb François Furet (a.a.O., S. 176), »wird sich bestimmt darüber wundern, daß die Demokratien so viele Faschismen und faschistische Gefahren erfanden, nachdem die Faschismen besiegt worden waren. Das liegt daran, daß die Demokratie, wenn sie am Antifaschismus festhält, einen immer wieder auferstehenden Feind besiegen muß.« Aus einem imaginären Faschismus eine allgegenwärtige Gefahr zu schaffen ermöglicht es, sämtliche Funktionsstörungen und Pathologien der gegenwärtigen Welt als geringere Übel angesichts des »absoluten Übels« akzeptieren zu lassen. »Der Neo-Antifaschismus«, schreibt Taguieff, »ist daran zu erkennen, daß er grenzenlos den Bereich dessen ausweitet, was er als »faschistisch« stigmatisiert. .... Der Faschismus ist eine Dämonologie. .... Der Antifaschismus ähnelt in seinen Methoden ebenso wie in den negativen Leidenschaften, von denen er getragen wird, mehr und mehr dem Faschismus, den er zu bekämpfen vorgibt. Diese ideologische Korruption veranschaulicht das tragische Paradoxon des Antifaschismus.« (Ebd., in: Panoramiques, 4/1998, S. 65-78). In derselben Nummer vertritt Alain Finkielkraut fast den gleichen Standpunkt: »Durchdrungen von der Idee, ihre Zusammenkunft mit der Geschichte nicht zu verpassen, sind die heutigen Antifaschisten dabei, ihre Zusammenkunft mit der Politik zu verpassen. Und als letzte Form des Lynchens: Einige von ihnen unterliegen der Versuchung des binären Denkens. »Die Linke«, sagte Orwell mit großer Tiefe, »ist antifaschistisch, und nicht antitotalitär.« Man hat in den letzten Jahren des Kommunismus geglaubt, dieser Fehler sei berichtigt worden. Das war aber eine Illusion, zumindest, was die intellektuelle Linke betrifft. Das Ende dessen, was die liberalen Gesellschaften erst zur Geltung brachte, nämlich der Sozialismus und das Erstarken der äußersten Rechten, verhilft der Schablone des Liberalismus als der einzigen Alternative zu neuern Leben. Die öffentliche - inländische und weltliche - Bühne ist auf die Konfrontation zweier Kräfte beschränkt: der Stamm Abel und der Stamm Kain, das Volk im Kampf und der Rest der Gesellschaft auf dem Weg der Faschisierung. Der Pluralismus sei ein Schein und die Politik ein unerbittlicher Kampf, der mit der Ausrottung des Bösen enden müsse. .... Kurzum: Der Orwellsche Satz ist zu ergänzen: Wenn die Linke aufhört, antitotalitär zu sein, um nur noch antifaschistisch zu sein, wird sie wieder totalitär.« (Ebd., S. 85 f.).“ (Ebd., 2001, S. 168-169).

„Faschismus und Antifaschismus, Kommunismus und Antikommunismus unterliegen heute der gleichen Nostalgie und dem gleichen Unvermögen, die Gegenwart zu analysieren. Die Antriebe, die in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts am Werk waren, sind natürlich immer noch da. Sie sind aber nur deswegen noch da, weil sie schon früher da waren, das heißt, weil sie letzten Endes zur menschlichen Natur gehören. Den Kommunismus und den Nationalsozialismus in ihre Zeit einzuordnen heißt begreifen, daß der eine wie der andere »Antworten« auf eine bestimmte Lage dargestellt haben, auf eine politische und soziale Problematik, die sich von der heutigen völlig unterscheidet. Die modernen Totalitarismen sind Produkte einer Moderne .... Die 1917 eingeläutete Ära (des »europäischen Bürger- bzw. Weltbürgerkriegs«) kam 1989 zu ihrem Abschluß. .... Der Starrsinn, die Zukunft bloß als eine Wiederholung der Vergangenheit aufzufassen, die Verbissenheit, rückwärts ins 21. Jahrhundert zu treten, macht es unmöglich, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie ein künftiger Totalitarismus aussehen könnte. »Ich sehe«, meint Ernst Nolte weiter, »eine konkrete Gefahr auftauchen: daß der weltbeherrschende, völlig entfesselte »Kapitalismus« die von ihm hervorgerufene Leere von einem »Antifaschismus« auffüllen läßt, der die Geschichte ebenso vereinfacht und verstümmelt, wie das Wirtschaftssystem die Welt vereinheitlicht« (**). Es gibt keinen schlimmeren Fehler für einen Beobachter, als den historischen Moment falsch einzuschätzen, in dem er sich befindet.“ (Ebd., 2001, S. 170-171).

Kritik der Menschenrechte. Warum Universalismus und Globalisierung die Freiheit bedrohen (2004)

„In Verbindung mit der Expansion der Märkte dient die Rhetorik der Menschenrechte als ideologische Verkleidung der Globalisierung. Vor allem anderen ist sie ein Instrument der Herrschaft und muß als solches begriffen werden.“ (Ebd., 2004, S. 10).

„Wenn der Begriff der Menschenrechte ein rein westlicher ist, kann kein Zweifel bestehen, daß seine globale Verallgemeinerung eine Einmischung von außen darstellt, eine andere Art der Bekehrung und Beherrschung, eine Fortsetzung also des kolonialen Syndroms.“ (Ebd., 2004, S. 73).

Zitate: Hubert Brune, 2001 (zuletzt aktualisiert: 2010).

 

Anmerkungen:


„Der Begriff »Liberalkapitalismus« hat mit Toleranz und Freiheit nichts zu tun (vgl. hierzu das „Liberale System“ mit „Liberalismus“ und „Liberismus“ bei Ernst Nolte). Der »Liberalismus« bezieht sich vielmehr auf das Hin und Her, auf den freien Austausch der produzierten Güter zur ausschließlichen Steigerung des Marktwerts — weil der Liberalismus sich bekanntlich auf die Überzeugung stützt, daß das Glück des Menschen vom Umfang seiner materiellen Güter begrenzt sei.“ (Ebd.
**).

„Vgl. u. a. folgende Werke von Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1955; Über die Revolution, 1965; Macht und Gewalt, 1971; Vom Leben des Geistes, postum [1979]; über sie: Margaret Canovan, The Political Thought of Hannah Arendt, 1974, und Albert Reif (Hrsg.), Hannah Arendt - Materialien zu ihrem Werk, 1979.“ (Ebd.).

„In der Ansprache, die er am 22. März 1979 im internationalen Institut für Menschenrechte hielt, stellte Papst Johannes Paul II. Pius XII. als den modernen Bahnbrecher der Ideologie der Menschenrechte hin. Am 6. Oktober 1979 beschrieb er vor der Organisation der us-amerikanischen Staaten die UNO als »die oberste Tribüne des Friedens und der Gerechtigkeit«. Er beteuerte ebenfalls: »Wenn gewisse Ideologien bzw. Auslegungen des legitimen Strebens nach nationaler Sicherheit dazu führten, den Menschen samt seiner Rechte und Würde ins staatliche Joch zu spannen, so würden sie gleichermaßen aufhören, menschlich zu sein.« (Sic!). Anläßlich seiner Frankreich-Reise erklärte Papst Johannes Paul II. vor der UNESCO: »Die Beachtung der unveräußerlichen Rechte der menschlichen Person ist grundlegend .... Man muß den Menschen nur um des Menschen willen behaupten, und nicht aus irgendeinem anderen Grund heraus.« Diese Gedanken werden ebenfalls in der Enzyklika Redemptor hominis (März 1979), besonders im 2. Teil, entwickelt.“ (Ebd.).

Wladimir Bukowski, Abrechnung mit Moskau: das sowjetische Unrechtsregime und die Schuld des Westens, 1996.

Stéphane Courtois (Herausgeber), Das Schwarzbuch des Kommunismis, 1997.

Martin Malia, »The Lesser Evil?«,  in: Times Literary Supplement, 27. März 1998, S. 3.

Pierre Chaunu, »Les jumeaux ›malins‹ du deuxieme millenaire«, in: Commentaire, Frühjahr 1998, S. 219. Jacques Julliard hatte bereits geschrieben: »Seit Anbeginn der Welt hatte kein Regime, keine Dynastie, kein Monarch solch eine Leistung zustande gebracht. Nicht einmal der Nationalsozialismus, dem am Schluß die Zeit ausgegangen ist.« (»Les pleureuses du communisme«, in: Le Nouvel Observateur; 19. September 1991, S. S. 58).

Tony Judt, in: International Herald Tribune, 23. Dezember 1997.

Philippe Petit, in: Marianne, 10. November 1997.

Waldemar Gurian, Der Bolschewismus als Weltgefahr, 1935. Waldemar Gurian (1902-1954) war ehemaliger Schüler von Max Scheler und hatte bei ihm 1923 promoviert. Als zum Christentum übergetretener Jude wanderte er nach 1933 in die USA aus. Er war Wegbereiter der Erforschung des Totalitarismus; man verdankt ihm ebenfalls die erste Betrachtung der Konservativen Revolution als geistiger Bewegung, die unter dem Pseudonym Walter Gerhart erschien (Um des Reiches Zukunft. Nationale Wiedergeburt oder politische Reaktion?,  1932). Siehe Heinz Hürten, WaldemarGurian, 1972.

Margarete Buber-Neumann, Als Gefangene bei Hitler und Stalin, 1958.

Allan Bullock, Hitler und Stalin: parallele Leben, 1991.

François Furet, Das Ende der Illusion, 1995.

François Furet im Brief vom 23. Mai 1993 an Jean Daniel, veröffentlicht in: Commenfaire, Frühjahr 1998, S. 246. Siehe auch François Furet, »Nazisme et communisme: la comparaison interdite«, in: L 'Histoire, März 1995, S. 18 ff. 16.

Pierre Chaunu, »Les jumeaux ›malins‹ du deuxieme millenaire«, in: Commentaire, Frühjahr 1998, S. 17.

Der Text erschien in: Commenfaire, Winter 1997/'98, S. 790. Auszüge erschienen ebenfalls in: Le Monde, 22. Oktober 1997, S. 17.

»Die Wahrheit ist, daß es sich um vollkommen gleiche Phänomene handelt«, schreibt z.B. Renzo De Felice. »Der Totalitarismus kennzeichnet und beschreibt den Nationalsozialismus ebenso wie den Kommunismus ohne wirklichen Unterschied.« (Aufzeichnungen vom Kolloquium »Le stalinisme dans la gauche italienne«, März 1988).

Jean-Jacques Becker, »Les fièvres anticommunistes«, in: L 'Histoire, l. November 1997, S. 7.

Roger Martelli, »Une difference de nature«, in: Avant-garde, Dezember 1997, S. 28.

Guy Konopnicki, »Un naufrage dans l'archipel du Goulag«, in: L 'Evenementdujeudi, 6. November 1997, S. 22. Raymond Aron hatte selber von diesem Argument Gebrauch gemacht, als er im Zusammenhang mit dem Kommunismus von »einer Verbindung zwischen einem hehren Ziel und einer unerbittlichen Technik« geschrieben hatte (siehe: Demokratie und Totalitarismus, 1970). Diese Unterscheidung hatte Alain Besançon kritisiert (Present sovietique et passe russe, 1980, S. 147 f.). Aron nahm später von ihr Abstand und gestand kurz vor seinem Tod, daß die auf »eine Unterscheidung zwischen Klassen- und Rassenmessianismus« hinzielende These ihn nicht mehr beeindrucke (Memoires, 1983, S. 737).

Robert Hue, »Nazisme, communisme: la comparaison est odieuse et inacceptable«, in: L Evenement du jeudi, 13. November 1997, S. 59. Simone Korff-Sausse hat zu Recht bemerkt, daß die Art und Weise, wie Robert Hue den Gulag als »Ungeheuerlichkeit« verurteilt, eben bezweckt, den Stalinismus als pathologischen Auswuchs ohne Zusammenhang mit dem »wirklichen« Kommunismus darzustellen. Das »Ungeheuer« (der Gulag) ist es, was sich naturgemäß von der Normalität (dem Kommunismus) unterscheide. »Hier ist ein gutes Beispiek«, schreibt sie, »für ein Manöver stalinistischen Typs im Dienst einer angeblichen Kritik am Stalinismus. Der Begriff " »Ungeheuer« taucht auf, um die Diskussion unmöglich zu machen« (»Monstruoslte et manreuvre staliruenne«, in: Liberatron, 9. Dezember 1997, S. 5).

L'Histoire, Januar 1998, S. 3.

Claude Lefort, in: Le Monde, 15. Februar 1975.

Jean-Jacques Becker, Interview in: La Vie, 27. November 1997, S. 11.

Madeleine Reberioux, in: Le Journal du dimanche, 2. November 1997.

Stéphane Courtois, »Comprendre la tragedie communiste«, in: Le Monde, 20. Dezember 1997.

Alain Besançon, Le malheur du siecle, 1998.

Ernst Nolte, Brief an François Furet, in: Commentaire, Winter 1997/'98, S. 806. Der Briefwechsel Furet-Nolte wurde ebenfalls in Buchform veröffentlicht, zunächst in Deutschland, dann in Frankreich (Feindliche Nähe: Kommunismus und Faschismus im 20 Jahrhundert, 1998 **).

François Furet, »Sur l'illusion communiste«, in: Le Débat, März-Apri1 1996, S. 164.

Chantal Delsol, »Criminels par erreur«, in: Valeurs actuelles, 22. November 1997, S. 31.

Jacques Julliard, »Ne dites plus ›jamais‹«, in: Le Nouvel Observateur, 20. November 1997, S. 49.

„Aufgrund der Rechenschaftsberichte der russischen Strafverwaltung schätzte Leroy-Baulieu 1883, daß die Verbannung aus politischen Gründen im Zeitraum 1871-78 nur achtunddreißig Personen im jährlichen Durchschnitt betroffen hatte. Im Jahre 1889 wies einer der erbittertsten Gegner des zaristischen Regimes, Steniak, darauf hin, daß im größten Zuchthaus Sibiriens lediglich 150 Häftlinge untergebracht waren (siehe Jocelyne Penner, Le Go1llag des tsars, 1986).“ (Ebd., 2001, S. 45).

Jacques Julliard, L'Année des fantômes, 1998, S. 342.

Claude Polin, L 'esprit totalitaire, 1977, S. 132.

Zitiert bei: Michel Heller, La machine et fes rouages, 1985, S. 21.

Claude Polin, L 'esprit totalitaire, 1977, S. 121.

Hermann Rauschning, Die Revolution des Nihilismus, 1938.

„»Im Gegensatz zu Stalin«, schreibt Ian Kershaw, »machte Hitler nicht die Säuberungen zum kennzeichnenden Merkmal seines Regimes; ebensowenig erzeugte er in den NS-Eliten eine Unsicherheit, die annähernd mit der vergleichbar ist, die in den sowjetischen Führungskreisen unter Stalin herrschte. Die Röhm-Affäre im Jahre 1934 und die brutalen Repressalien gegen die Verschwörer von 1944 sind nicht zu vergleichen mit der stalinistischen Technik der Herrschaft durch Säuberung, Terror und Angst.« (Ian Kershaw, a.a.O., S. 116). Das ist einer der Gründe, weshalb es dem Nationalsozialismus nie gelang, die deutsche Gesellschaft vollständig zu beherrschen. Besonders die konservativen Eliten blieben dort bis zum Schluß stark genug, um den Anschlag am 20. Juli 1944 auf Hitler zu organisieren.“ (Ebd., 2001, S. 61-62).

„Billancourt ist der Hauptstandort der Renault-Werke und eine Hochburg der kommunistischen Gewerkschaft CGT.“ (Ebd., 2001, S. 64).

Stephane Courtais, »Le communisme reel a produit un cauchemar«, in: La Une, Januar-Februar 1998, S. 18.

„Clément Rosset schreibt ferner: »Die moralische Ordnung zu verurteilen, die das NS-Deutschland während seiner schweren Herrschaft aufzwang, war und ist immer noch dann - und nur dann eine heilsame Reaktion, wenn diese Verurteilung nicht mit einer ihrerseits moralischen Verurteilung einhergeht, die dazu führt, daß die seitherige Rollenverteilung aufgehoben wird.« (Ebd., a.a.O., 1997, S. 68f.).“ (Ebd., 2001, S. 69).

Alain Badiou, L'ethique, 1993, S. 58.

„»Ich besinge den GPU, den Frankreich unbedingt braucht. Verlangt einen GPU. Ihr braucht einen GPU. Es lebe der GPU, die dialektische Figur des Heroismus!«  (Sic).“ (Ebd., 2001, S. 72).

„Wenn Maurice Papon die Realität von Auschwitz während des Zweiten Weltkrieges hätte kennen sollen, wie soll man sich dann vorstellen, daß Marchais (war Generalsekretär der KPF) in Friedenszeiten vom Gulag nichts wissen konnte?« fragt Jacques Julliard (a.a.O., S. 434).“ (Ebd., 2001, S. 73).

Alain Besançon, Mitteilung anläßlich der öffentlichen Jahressitzung des Institut de France nach der Sommerpause 1998, a.a.O., S.790.

„Noch fünf Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer bezeichnete Raymond Aron die Hypothese, der Sowjetunion drohe der Zusammenbruch, als «abwegig« (vgl. J. Julliard, Die letzten Jahre des Jahrhunderts, 1984, S. 119). »Wenn die Sowjets«, fügte er hinzu, »Westeuropa zu erobern gedenken, ohne es zu zerstören trotz Anwendung von Nuklearwaffen, dann werden die kommenden Jahre, die achtziger und, auch die neunziger Jahre, offenbar wohl die besten sein.« (ebenda, S. 139). Die sowjetische Macht ist auch nicht infolge der »Revolte der Nationen« auseinandergebrochen, die Helene Carrere d'Encausse zu Unrecht vorausgesagt hatte. François Furet, der sich seit 1956 keine Illusionen mehr über die UdSSR machte, hat selber 1995 zugegeben, daß er sich ein so schnelles Ende der Sowjetunion nie vorgestellt habe.“ (Ebd., 2001, S. 73-74).

„In Polen wurde Alexander Kwasniewski, ehemaliges Mitglied der Jaruzelski-Regierung, zuletzt gegen Lech Walesa zum Staatspräsidenten gewählt. Der ungarische Premierminister Gyula Horn gehörte der letzten kommunistischen Regierung des Landes an. Die Kommunisten Rußlands, die 1917 nicht einmal 20 Prozent der Stimmen erreichten, bildeten 1998 die größte Fraktion im Parlament. Zur ausbleibenden gerichtlichen Verfolgung der früheren kommunistischen Führer siehe: Timothy Garton Ash, a.a.O., Oktober 1998, S. 45-66.“ (Ebd., 2001, S. 74).

„Dieselbe Partei, die im November 1949 diejenige.n, die die Existenz von Konzentrationslagern in der UdSSR erwähnten, der »Fälschung« bezichtigte, hat vor einigen Jahren das Gayssot-Gesetz mit verabschiedet. Es sei außerdem bemerkt, daß den Deutschen nicht in den Sinn gekommen ist, in Frankreich eine Heinrich-HimmlerAvenue zu gründen; dagegen hat sich ein kommunistischer Stadtrat bereitgefunden, in Pantin bei Paris eine Straße Dserschinski zu nennen, als Hommage an den Gründer der Tscheka.“ (Ebd., 2001, S. 75).

„Am 28. Apri1 1951 bezeichnete die kommunistische Tageszeitung France nouvelle Maurice Thorez, Generalsekretär der KPF in den 1930er und 1940er Jahren, als «besten Stalinisten Frankreichs«.“ (Ebd., 2001, S. 75-76).

Alfred Grosser, Ermordung der Menschheit: der Genozid im Gedächttnis der Völker, 1990, S. 166-173.

Pierre Grémion, a.a.O., Frühjahr 1998, S. 1-29. „Über «die politische und intellektuelle Schlacht um den Archipel Gulag« schreibt der Verfasser: »Von Anfang an schlossen sich Le Monde und sein Direktor den Gegnern des russischen Schriftstellers an. Über Jahre hinweg legte die Zeitung bei jeder sich bietenden Gelegenheit, Alexander Solschenizyn und seine Bücher zu erwähnen, eine bemerkenswerte Beständigkeit in der tendenziösen Mittelmäßigkeit an den Tag.« (S. 5).“ (Ebd., 2001, S. 77).

„Das trifft unter anderen auf Annie Kriegel, François Furet, Emmanuel Leroy-Ladurie, Claude LeEart, Stephane Courtois zu. Möglicherweise hätten sich die Verfasser des Schwarzbuch des Kommunismus (**) noch vor fünfzehn Jahren geweigert zu glauben, was sie heute behaupten.“ (Ebd., 2001, S. 77-78).

„In ähnlichem Sinne durfte ein Jean d'Ormesson schreiben, daß »unter den Linkspolitikern, die über einen mehr oder weniger langen Zeitraum eine rechte oder rechtsextreme Politik erfolgreich betrieben, bedauerlicherweise (sic) Mussolini und Stalin genannt werden könnten« (»Le Figaro«, 14. April 1998).“ (Ebd., 2001, S. 79).

Jean-François Revel, »85 millions de morts!« , in: Le Point, 15. November 1997, S. 65. „Derselbe Autor stellte ein Jahr später fest: »Es gibt einen prokommunistischen Negationismus [Revisionismus], der viel heuchlerischer, wirksamer und diffuser ist als der pronazistische, der oberflächlich und gesplittet bleibt. .... Die Organisation der Nicht-Reue gegenüber dem Kommunismus wird die politische Hauptaktivität im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts gewesen sein, so wie die Organisationseiner Nicht-Kenntnis die der sieben Jahrzehnte davor gewesen ist« (»Nazisme-communisme. L'eternel retour des tabous«, in: Le Point, 10. Oktober 1998, S. 118).“ (Ebd., 2001, S. 79).

Alain Besançon, a.a.O., S. 793 und 790. »Courtois und Besançon haben sich zu Recht darüber beklagt, daß die Erinnerung den Kommunismus und den Nationalsozialismus nicht gleich behandelt hat«, „meint Valerie Monchi, in: »Jewish Chronicle«, 11. September 1998.“ (Ebd., 2001, S. 80).

Bertolt Brecht, »Plattform für die linken Intellektuellen«, in: Gesammelte Werke, Band 20 (Schriften zur Politik und Gesellschaft), S. 239.

Bertolt Brecht, »Über die Moskauer Prozesse«, in: Gesammelte Werke, Band 20 (Schriften zur Politik und Gesellschaft), S. 111.

„»Die Vorsilbe ›anti-‹«, bemerkte Annie Kriegel, »vermittelt die Sicherheit, daß man das Notwendigste und Kostbarste besitzt, um zu sein, zu existieren, seine Existenz zu rechtfertigen: Sie vermittelt die Sicherheit, einen Feind zu haben« (Mitteilung auf einem Kolloquium im April 1989 zum Thema »Der Mythos der UdSSR in der westlichen Kultur« veranstaltete.“ (Ebd., 2001, S. 91).

„Struktur und Wesen der Einheitspartei (KPdSU und NSDAP) waren zum Beispiel in der Sowjetunion und in NS- Deutschland nicht dieselben. In der UdSSR gab es auch keine gesellschaftspolitische Struktur, die der SS im Dritten Reich entsprechen würde. Die Beziehungen zwischen Partei und Staat waren ebenfalls anders. »Die NS-Partei«, bemerkt Ian Kershaw, »hat niemals auf den Staatsapparat eine vergleichbare Macht ausgeübt wie die kommunistische Partei in der UdSSR.« (a.a.O, S. 184) Schließlich kontrastiert das hauptsächlich bürokratische Wesen der stalinistischen Diktatur mit der so wenig wie möglich bürokratischen Macht, wie sie von Hitler ausgeübt wurde. Aufgrund solcher Beobachtungen war Raymond Aron in seinen letzten Lebensjahren zu der Ansicht gelangt, daß sich das Adjektiv »totalitär« allenfalls nur auf das sowjetische Regime anwenden lassen könne. Leszek Kolakowski hat die gleiche Ansicht geäußert (a.a.O., S. 34). Ian Kershaw hebt außerdem hervor, daß im Nationalsozialismus die charismatische Macht des obersten Führers ein wesentliches Element bildete, das in der UdSSR fehlte: Hier hatten die meisten politischen Führer überhaupt keinen Charisma (der Persönlichkeitskult, dessen Gegenstand Stalin war, übertrug sich nicht auf seine Nachfolger). Hitler nahm daher eine ganz andere »Zentralität« als Stalin ein: »Hitler war nicht das Produkt des Systems, er war das System.« (a.a.O., 1995) Kershaw schließt daraus etwas übereilt, daß Hitler für den Nationalsozialismus unersetzbar war, während das Überleben des sowjetischen Systems Stalins Ablösung erforderte. Das Argument ist rein spekulativ, da der Sieg der Alliierten 1945 den Fortbestand des sowjetischen Systems nach Stalin ermöglichte, während er gleichzeitig einen Fortbestand des Nationalsozialismus nach Hitler verhinderte.“ (Ebd., 2001, S. 108-109).

„»Was die Ideologie anbetrifft«, schreibt Raymond Aron, »nahm der Nationalsozialismus nie die systematische, dogmatische Form des Marxismus-Leninismus an. Es gab keinen Hitlerischeri Katechismus, der Stalins Geschichte der KPdSU vergleichbar wäre. Der Rassismus, Mittelpunkt des Hitlerischen Glaubens, verdarb nicht das gesamte Denken, wie es der Stalinismus in seiner schlimmsten Zeit tat.« (Les dernieres annies du siecle, a.a.O., S. 113 f.).“ (Ebd., 2001, S. 111).

„Hannah Arendt unterstreicht in diesem Zusammenhang, daß weder der Sozialismus, noch der Rassismus, noch der Antisemitismus totalitär an sich sind, sondern daß sie es werden, wenn die Totalitarismen »ihr Auge auf sie geworfen haben«. (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1938).“ (Ebd., 2001, S. 112).

Hannah Arendt, ebd., 1938.

Claude Polin, L 'esprit totalitaire, 1977, S. 110.

François Furet, Brief an Ernst Nolte, 2. Teil, Winter 1997/1998, a.a..O., S. 804. **

„François Furet, a.a.O.. Siehe auch Jakob L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, 1961. Furet ist dagegen weniger überzeugend, wenn er im »Haß auf den Bourgeois« den wichtigsten Hauptnenner der totalitären Ideologien sieht. Die kommunistische Kritik an der bürgerlichen Demokratie hält ihr nämlich nicht so sehr vor, bürgerlich zu sein, als ihre eigenen Ideale zu verraten: Die historische Figur des Bourgeois widerspricht der von der bürgerlichen Ideologie geforderten Gleichheit; trotzdem gebührt der bürgerlichen Ideologie, so Marx, wenigstens das Verdienst, die letzten Überbleibsel der feudalen Produktionsweise beseitigt zu haben. Das Bürgertum definiert sich nun als die Gesellschaftsklasse, die um der Maximierung ihrer Interessen willen den Idealen abschwor, denen es sich verschrieben hatte. Die französische Revolution, an der sich Lenin orientiert haben will, war übrigens selber eine im wesentlichen bürgerliche Revolution.“ (Ebd., 2001, S. 138-139).

Ernst Nolte, a.a.O., 1996, S. 139.

Krzystof Pomian, a.a.O., 1998, S. 101

Denis de Rougemont, Journal d'Allemagne, 1938. „Auszüge erschienen ... in den Nouveaux Cahiers vom 1. Juni 1938. Boris Souvarine wurde auf die Schrift aufmerksam und verfaßte 1939 eine wohlwollende Rezension, die erst nach seinem Tod erschien (in: Commentaire, Sommer 1993, S. 259-264). Das Journal liegt erst seit kurzem in deutscher Übersetzung vor: Journal aus Deutschland, 1935-1936, Paul Zsolnay, 1998, mit einem Nachwort von Jürg Altwegg.“ (Ebd., 2001, S. 140).

„Eine Parallele zwischen französischer Revolution und nationalsozialistischer Revolution wurde in vielsagender Weise bereits während der deutschen Besatzung gezogen, und zwar von Marcel Déat, einem ehemaligen sozialistischen Führer, der sich der Kollaboration angeschlossen hatte. »Der jakobinische Staat«, schrieb Déat, »ist auf seine Art totalitär wie das Reich. Der girondistische Föderalismus wird hart bekämpft, die Vereinigung des Landes wird energisch vollzogen, selbst in sprachlicher Hinsicht. Ist es Zufall, wenn Hitler bereits ab 1933 die gleichen Vorhaben verfolgt hat?« (Ebd., a.a.O., Juni 1944, S. 21).“ (Ebd., 2001, S. 140).

„Wir folgen Lefort hingegen nicht, wenn er den Totalitarismus als modernen Versuch deutet, eine prämoderne soziale Einheit (eine »ungeteilte« Gesellschaft) wiederherzustellen, die ebenfalls gekennzeichnet ist durch ihre Verweigerung, die Kluft zwischen Symbolischem und Realem anzuerkennen. Diese Auffassung beruht unserer Ansicht nach auf einer falschen Analyse der traditionellen Gesellschaften, die sich zwar als »ungeteilt« verstehen, nicht aber als homogen. Lefort verwechselt ebenso organische Einheit des Sozialen und totalitäre Gesellschaft, wenn er schreibt, daß der Totalitarismus darauf abziele, aus der Gesellschaft wieder einen »großen Körper« zu machen: Das Hauptmerkmal der organischen oder »holistischen« Gesellschaften liegt gerade in der Einzigartigkeit und der gegenseitigen Abhängigkeit sämtlicher Teile des »Körpers« sowie in der Tatsache, daß der »Kopf« leitet, ohne die Stelle der anderen Teile zu besetzen, während im Totalitarismus die Gleichschaltung der »Organe« im Mittelpunkt des Handelns der Regierungsmacht steht. Die holistischen Gesellschaften sind keineswegs Gesellschaften, in denen die Menschen auf die gesellschaftliche Ganzheit reduziert würden, sondern solche, in denen das Gemeinwohl die individuellen Interessen überwiegt. Man kann nicht zugleich behaupten, daß der Totalitarismus jegliche spontane Sozialität zu beseitigen suche und daß er aus der Gesellschaft wieder einen großen Körper machen wolle. »Im großen und ganzen«, schreibt Claude Polin, »stimmt es nicht, daß jede Ganzheit in allem und immer eine Unterordnung jedes Teils verlangt (Unterscheidung der Arten); es stimmt nicht, daß jede Ganzheit bedeutet, daß irgendeiner dieser Teile sein Wesen eben dieser Ganzheit verdanke (zufällige oder wesentliche Einheit); es stimmt nicht, daß jede Ganzheit zu der Ansicht zwinge, daß dieFinalitität jedes Teils die Ganzheit selbst sei (Hierarchie der Finalitäten). .... Die Organhaftigkeit einer Gesellschaft bedeutet nicht einfach, daß das Ganze des Teils dem Ganzen der Gesamtheit völlig untergeordnet sei.« (Claude Polin, a.a.O., S. 106) Der Totalitarismus darf auch nicht verwechselt werden mit den Philosophien der Ganzheit, einem überaus dialektischen Begriff, den Georg Lukacs seinerseits als eine »wesentliche Kategorie der Realität« betrachtete. Irn übrigen berücksichtigt Lefort kaum die messianische und historizistische Dimension der totalitären Systeme.“ (Ebd., 2001, S. 147-148).

„In letzter Zeit wurde Frankreich öffentlich beschuldigt, Partei für die Völkermörder in Ruanda ergriffen zu haben. In Kambodscha konnten die Roten Khmer mit Unterstützung der Westmächte (vor allem der US-Amerikaner, die die vietnamesische Regierung schwächen wollten) 1979 wie ein Phönix aus der Asche aufsteigen. »Die USA wollen keine Verurteilung des kambodschanischen Völkermords«, war in Le Monde (2. Mai 1998) zu lesen. Im übrigen führte das viktorianische England während des Burenkriegs das System der Konzentrationslager ein. England erzeugte auch jene Hungersnot, die 1847 jeden fünften Iren das Leben kostete. Gilles Perrault erinnert seinerseits daran, daß bei einer Bilanzierung seiner kolonialen Expansion sich Frankreich - wenn man »die Zahl ihrer Opfer auf die - mäßige - Bevölkerungszahl bezieht - im vorderen Feld der niedermetzelnden Staaten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts befindet«. (Le Monde diplomatique, Dezember 1997, S. 22) Er hätte noch folgende Zeilen aus Lettres d'un soldat (1997, S. 22) anführen können, die Oberst de Montagnac Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichte: »Alle Bevölkerungen, die unsere Bedingungen nicht annehmen, müssen dem Erdboden gleichgemacht werden. Alles muß vernichtet werden, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht. Wo die französische Armee ihren Fuß gesetzt hat, darf kein Gras mehr wachsen. So ist Krieg gegen die Araber zu führen. Mit einem Wort: Alles vernichten, was nicht wie Hunde zu unseren Füßen kriechen wird.« Wie von einigen Beobachtern bemerkt, wäre es in dieser Hinsicht nicht unsinnig, ein »Schwarzbuch des Liberalkapitalismus« zu schreiben, dessen Expansion beträchtliche menschliche Verheerungen angerichtet hat und noch anrichtet. Zwar wird man einwenden können, daß es einen grundlegenden Unterschied zwischen einem angeordnetem und einem provozierten Tod gibt, zwischen einem Tod als Folge eines Tötungsbefehls und einem Tod, der sich mittelbar aus einem Struktur- oder einem Situationszwang ergibt. Dieser Unterschied ist jedoch für die Sterbenden kaum wahrnehmbar.“ (Ebd., 2001, S. 149-150).

Vgl. u.a. Klaus Hornung, Metamorphosen des Totalitarismus. Von der totalitären Diktatur zur »totalitären Demokratie«?,  in: Criticon, Apriljuni 1995, S. 71-74. „Jacques Ellul schreibt seinerseits, daß »die abstrakte Diktatur der Technik mit ihren Segnungen viel totalitärer sein wird als die vorherigen«. (Jacques Ellul, a.a.O., 1977, S. 223).“ (Ebd., 2001, S. 152).

„Marx spricht übrigens von »Diktatur des Proletariats«, und nicht von Diktatur der kommunistischen Partei, die bei ihm keine strukturierte Vereinigung darstellt wie bei Lenin. In der Heiligen Familie (1845) kritisiert er auch die jakobinische Schreckensherrschaft, deren kleinbürgerliches Wesen er verurteilt. Auch Stephane Courtois ist der Ansicht, daß es »übertrieben« wäre, »kommunistische Ideologie und marxistische Ideologie gleichzusetzen« (a.a.O., S. 16).“ (Ebd., 2001, S. 164).

Ernst Nolte, Brief an François Furet, in: Commentaire, Winter 1997/'98, S. 809. Der Briefwechsel Furet-Nolte wurde ebenfalls in Buchform veröffentlicht, zunächst in Deutschland, dann in Frankreich (Feindliche Nähe: Kommunismus und Faschismus im 20 Jahrhundert, 1998 **).

„Willensfreiheit“ gibt es so nicht. Auch wenn andere Wissenschaftler und andere Philosophen das Gegenteil behauptet haben: den „freien Willen“ gibt es so nicht - wie v.a. Schopenhauer (**) und in Anlehnung an ihn Nietzsche (**), Freud (**), Spengler (**), Heidegger (**), Sloterdijk (**) u.v.a. richtig erkannt haben und heutige Wissenschafter wie Roth (**), Singer (**) u.v.a. neurowissenschaftlich belegt haben. Der „freie Wille“ bezieht sich also nicht auf die Menschen und schon erst recht nicht auf den Menschen, sondern auf die Welt, wie Schopenhauer sagte. Zur Welt gehört auch der Mensch, auch sein Bewußtsein, auch sein Wille; aber dennoch ist nicht der Wille des Menschen „frei“, sondern nur der Wille der Welt (vgl. „zufällig“, „kontingent“); der Mensch ist nur ein Teil der Gemeinschaft von Menschen; das Gehirn ist nur ein Teil der Gemeinschaft von Gehirnen. Der Mensch ist abhängig von seiner Gemeinschaft, weil sein Gehirn, von dem er abhängig ist, von den Gehirnen derjenigen Menschen, die zu dieser Gemeinschaft gehören, abhängig ist. Was den einzelnen Menschen angeht, so „entscheidet“ nicht dessen Wille, sondern dessen Gehirn, und das auch nur in Abhängigkeit von den Gehirnen der Gemeinschaft. Dies ist auch im Sinne der Evolutionstheorie. Jedes Gehirn dient dem Leben, denn es tut immer nur das, was dem Lebewesen das Überleben sichert; und das Überleben wird dem Lebewesen durch die Lebewesen als die Gemeinschaft gesichert. Evolutionär ist es einfach sinnvoll, ein Gehirn in Abhängigkeit von mehreren Gehirnen einer Gemeinschaft funktionieren zu lassen. Das gilt auch und vielleicht sogar erst recht dann, wenn die Träger der Gehirne sich darüber täuschen und lieber glauben, es sei genau umgekehrt. Weil der Mensch glauben kann, er habe einen „freien Willen“, verfügt er immerhin über einen „bedingten freien Willen“, denn der Mensch kann in „Distanz“ zu sich selber und also auch zu seinem Gehirn gehen (z.B. Gehirnforschung, Neurologie betreiben), über sich selbst hinausgehen, das heißt: der Mensch kann „transzendent“ sein. Es ist seine „Transzendenz“ (Heidegger nannte sie auch „Weltoffenheit“), die ihm einen „bedingten freien Willen“ ermöglicht und ihn gegenüber allen anderen Lebewesen „frei“ macht. Obwohl er also über keinen „freien Willen“, sondern nur über einen „bedingten freien Willen“ verfügt, ist der Mensch - und zwar: nur der Mensch - wegen seiner Fähigkeit zur „Transzendenz“, die man ja auch „Geist“ nennen kann, „freier“ als alle anderen Lebewesen; er ist Schöpfer und einziges Mitglied der „geistigen“ Schicht. „Freiheit“ des Menschen heißt eben nicht „Willensfreiheit“ des Menschen, denn der Mensch verfügt über keinen „freien Willen“, sondern nur über einen „bedingten freien Willen“. (Anmerkung von: HB).

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- Literaturverzeichnis -