Der kausale Nexus. Über Revisionen und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft
(2002)
VORWORTEs
ist in meinen Augen unzulässig, das antibolschewistische Entsetzen im Falle
Hitlers und der anderen führenden Nationalsozialisten für einen bloßen
Vorwand zu erklären, ja die These darf nicht von vornherein abgewiesen werden,
daß die künftigen Massenmörder in ihren politischen Anfängen
von Zorn, Haß und Erbitterung gegenüber aktuellen Massenmördern
erfüllt waren und sich weiterhin von diesen Empfinden bestimmen ließen.
Die Wendung von den zukünftigen und den aktuellen Massenmördern taucht
daher in den Studien und Vorträgen dieses Bandes mehrere Male auf, denn sie
ist die unmittelbarste Veranschaulichung jenes »kausalen Nexus«, von
dem nicht wenige Autoren behaupten, es habe ihn gar nicht gegeben. In Wahrheit
läuft diese Verneinung auf die Behauptung hinaus, das antikommunistische
Motiv sei im Nationalsozialismus weiter nichts als grundlose Einbildung oder ein
Vorwand gewesen und der »antisemitische« Impuls sei als bloße
Wahnvorstellung zu kennzeichnen. Wer das tut, raubt der Geschichte des 20. Jahrhunderts
ihr ideelles und reales Gewicht, ja sogar ihre umfassende Schrecklichkeit, die
mit polemischer Intention auf eine der mitwirkenden Kräfte beschränkt
wird. Damit aber schneiden die Betreffenden sich selbst die Möglichkeit ernsthaften
Nachdenkens ab und täuschen sich über den verwirrenden und tragischen
Aspekt der Weltgeschichte hinweg, der so häufig den Streit zwischen Recht
und Recht oder die Verwandlung von Recht in Unrecht zum Inhalt hatte. (Ebd.,
2002, S. 10-11).Hitlers Machtübernahme im Januar 1933 löste
bei weitem nichte in solches Entsetzen aus wie die Revolution der Bolschewiki,
und sie rief außerhalb Deutschlands keinen auch nur entfernt vergleichbaren
Enthusiasmus hervor. Vielen Deutschen schien sie die »nationale Befreiung«
von den Fesseln des Versailler Diktats
und die Sicherung Deutschlands vor der kommunistischen Bedrohung zu sein, und
antikommunistische Zustimmung war auch in vielen Teilen des übrigen Europa
zu verzeichnen. Den Kommunisten, welchen der erste und stärkste Schlag galt,
blieb das Entstezen fremd, weil sie im Sieg Hitlers lediglich das Vorspiel ihres
eigenen Triumphes wahrnehmen wollte. Nur die Juden empfanden in ihrer großen
Mehrheit das Entsetzen ..., das aber über mehrere Jahre hinweg von der noch
lebendigen Erinnerung an die viel härtere Verfolgung der (zum Teil jüdischen)
»Bourgeois« in der Sowjetunion temperiert wurde. Erst während
des deutsch-sowjetischen Krieges (1941-1945) wurden sie als Urheber und permanente
Feinde Deutschlands zu Opfern einer »Gegen-Vernichtung«, die eigentlich
der bolschewistischen Weltbewegung ... galt. (Ebd., 2002, S. 11-12).So
kam ein tiefgreifendes und allgemeines Entsetzen erst nach 1945 auf, und über
die üblichen Propagandaformeln des Krieges hinaus wurden Hitler und das nationalsozialistische
Regime jetzt als »das Böse«, ja als »das absolute Böse«
betrachtet, das sie selbst zuvor im Bolschewismus und auch im Judentum gesehen
hatten und das heute von nicht wenigen US-Amerikanern im islamischen Terrorismus
wahrgenommen wird. (Ebd., 2002, S. 12).Heute dürfte
die Zeit für die Ensicht reif sein, daß Präzedenzloses, Entsetzenerregendes,
»radikal Böses« auf vielfältige Weise mit dem Prozeß
der »Globalisierung« verbunden ist, welcher Widerstände und konkrete
Schuldzuweisungen hervorruft, obwohl das Bemühen um Verstehen auch des moralisch
mit Entschiedenheit verurteilten Feindes und um das Vermeiden radikaler bzw. extremer
Antworten in der Vergangenheit nicht ohne Erfolgsaussicht war und in der Gegenwart
einige Erfolgsaussichten gehabt hätte. (Ebd., 2002, S. 12).Aber
die radikale Antwort, welche die US-Amerikaner auf ein entsetzenerregendes Ereignis
gaben, nämlich der Krieg, erwies sich nach zwei Monaten als erfolgreich ....
(Ebd., 2002, S. 12).STUDIEN
UND VORTRÄGE
Über Geschichtswissenschaft(Vortrag
bei einer Tagung in Bormio am 16.11.1990)Wer
von »Wissenschaft« sprechen will, muß sich zuerst über
das »Wissen« Klarheit verschaffen, denn alle Wissenschaft nimmt von
einem nicht-wissenschaftlichen oder vorwissenschaftlichen Wissen ihren Ausgang.
Beginnen wir mit dem Einfachsten, was es im menschlichen Leben zu geben scheint:
einem kleinen Dorf im Mittelalter oder in der frühen Neuzeit. Es umfaßt
Bauern und einige Handwerker. Alle Bauern wissen genau, wann sie den Boden pflügen
müssen, wie sie die Aussaat vorzunehmen haben und weshalb sie einige Stücke
Land für ein Jahr unbebaut liegen lassen. Der Schmied versteht sich auf das
Eisen, das er im Feuer härtet, und er erkennt rasch, was die Ursache des
Bruchs in einem Werkzeug ist, das man ihm zur Reparatur übergibt. Der größte
Bauer, der häufig auf die Jagd geht, kennt alle Gewohnheiten der Waldtiere,
und er weiß genau, wo er Aufstellung nehmen muß, wenn er ein Reh oder
einen Hirsch erlegen will. Wissenschaft ist zunächst nichts anderes als die
methodische Expansion und Systematisierung dieses Lebenswissens, die in dessen
ständiger Ausweitung und Verfeinerung bereits angelegt ist, denn über
eine Art von stationärem Lebenswissen verfügen auch viele Tierarten.
Das Vertrautsein einer alten Frau mit den Kräutern ihres Waldes wird zur
allgemeinen Botanik, welche alle Pflanzen in der ganzen Welt zu beschreiben und
zu klassifizieren sucht; das Alltagswissen der Bauern wird in landwirtschaftlichen
Hochschulen zu einer Wissenschaft der Bodenbestellung und der Frucht folge weitergebildet,
das Eisen des Schmiedes wird in Laboratorien so sorgfältig erforscht, daß
es auf sparsamere Weise hergestellt und zahlreichen Legierungen unterworfen werden
kann. Grundsätzlich wird alles und jedes, was von irgendeinem Menschen irgendwo
wahrgenommen werden kann, zum Gegenstand von Wissenschaft: die Sterne und das
Meer, die Wüsten und die Berge, die Bodenschätze und die Pflanzen, die
Kräfte und die Strukturen und auch die Handlungsweisen der Menschen - zwar
in der Regel nicht in ihren jeweiligen Individualitäten, wohl aber in demjenigen,
was darin von allgemeinem Charakter ist. Jedes einzelne Gebiet der Wissenschaften
unterliegt vielfältigen Teilungen, damit die Masse des Wissensstoffs stets
anwachsen und doch beherrschbar bleiben kann, und jedes einzelne Gebiet wird von
Spezialisten betreut, die sich mit nichts anderem beschäftigen als mit dem
Wissenserwerb in ihren Teilgebieten: den Kardiologen, den Festkörperphysikern,
den Mikrobiologen und vielen anderen mehr. In der Regel kann kein einzelner Mensch
auch nur ein einziges dieser Wissensgebiete vollständig überschauen;
das Ganze des wissenschaftlichen Wissens übersteigt die Kapazität von
Individuen in unvorstellbarem Ausmaß, und jenes Dorf, in dem der Jäger-Bauer
doch mindestens annähernd alles kannte und verstand, was der Schmied trieb
und was die Kräuterfrau einsammelte, liegt, wie es scheint, in unendlicher
Ferne. (Ebd., 2002, S. 16-17).Aber wir haben bisher nur von
einem Wissen gesprochen, das sich auf die Umwelt des Menschen oder als Wissenschaft
auf die Natur bezieht, einschließlich dessen, was am Menschen sich wie ein
Naturgegenstand untersuchen läßt und das Objekt etwa der Physiologie
... ist. Von der menschlichen Geschichte war bisher nicht die Rede. Kehren wir
also zu unserem Dorf zurück und stellen wir es uns in der Weise vor, daß
es keine Geschichte hätte. Es müßte dann auf einer Insel liegen,
zu der nie ein Seefahrer käme, oder zwischen hohen Bergen, die keines Menschen
Fuß zu betreten wagte; das Leben müßte sich in jeder Generation
genau auf die gleiche Weise abspielen, die Kinder würden die Plätze
der Eltern einnehmen, aber den Boden ganz ebenso bebauen, die Kräuterfrau
würde dieselben Pflanzenarten sammeln wie ihre Urahne vor 100 Jahren, der
Schmied würde immer wieder die gleichen Aufgaben zu erfüllen haben.
Es würde in diesem Dorfe so gut wie nichts zu erzählen geben, allenfalls
würde ein Enkel zu berichten wissen, daß sein Großvater ungewöhnlich
kräftig gewesen sei oder vor der Zeit durch ein Unglück den Tod gefunden
habe. Aber eine elementare Voraussetzung für eine solche Stabilität
und eine solche in der Bahn der Tradition verlaufende Lebensweise würde schon
darin bestehen, daß jede Familie nur zwei Kinder hätte (**),
die an die Stelle der Eltern treten würden, denn es würden sich Spannungen
ergeben, wenn einige Familien sechs Kinder hätten und andere nur ein einziges,
während die Besitzgrößen unverändert blieben, und etwas Ähnliches
würde resultieren, wenn es keinen Familienbesitz gäbe und wenn Teile
der jüngeren Generation auswandern müßten, weil nicht mehr genügend
Land für die wachsende Zahl der Hände und Münder vorhanden wäre.
Dann aber würde es schon etwas zu erzählen geben: vom Kampf der Benachteiligten
um Gleichstellung oder vom Auszug eines Teils der jungen Mannschaft. Und das würde
auch geschehen, wenn ein großer Sturm die Häuser des Dorfes zerstörte
oder wenn eine Sturmflut einen Teil der Bevölkerung dahinraffte. Ähnliches
würde freilich auch für einen Vogelschwarm oder für eine Population
von Füchsen zutreffen können, aber sie würden sich bloß den
veränderten Umständen anpassen; Menschen aber sind Wesen, die sich erinnern
und die von der Vergangenheit erzählen, d.h. sie haben eine Geschichte, weil
ihnen das Geschehen nicht, wie allen Tieren, in einer übermächtigen
Gegenwart verschwindet, sondern weil sie es festhalten und ebenso in die Zukunft
voraus- wie in die Vergangenheit zurückdenken. Und sie denken nicht nur an
Katastrophen und besondere Naturereignisse wie Sonnenfinsternisse zurück.
Stellen wir uns vor, in unserem Dorf tauchte eines Tages als Schiffbrüchiger
ein Fremder auf, und er wüßte viel von Städten und Reichen jenseits
des Meeres zu erzählen, von Goldschätzen und Herrschern, von Sängern
und Kriegszügen. Davon, von menschlichen Dingen, würden später
die GroßeItern den Kindern erzählen, und vermutlich würden sie
die Erzählungen des Fremden nicht einfach wiederholen, sondern sie würden
sie nach den Gegebenheiten ihrer eigenen Lebenswelt anpassen. Und wenn ein Dortbewohner
den Fremden begleitet hätte und nach Jahren zurückkäme, dann würde
er die Gefahren schildern, denen er ausgesetzt war, und die Orte, die er gesehen
hätte, und man dürfte annehmen, daß seine Phantasie in seinen
Erzählungen keine geringe Rolle spielen würde. (Ebd., 2002, S.
17-18).Aber es ist nun an der Zeit, von unserem idealtypischen
Dorf Abschied zu nehmen, das es in dieser Gestalt nirgendwo gegeben hat, obwohl
zahllose Gruppen und Stämme existierten, die relativ abgeschlossen von der
übrigen Welt lebten und die in der Hauptsache von Naturkatastrophen und von
Göttern oder Dämonen zu erzählen wußten. Daher spricht man
nicht ohne Grund von »Geschichtslosigkeit«; und doch zu Unrecht, wenn
man das Dasein solcher Menschen mit der Geschichtslosigkeit gleichsetzt, in der
alle Tiere leben. Eigentliche Geschichte aber ereignete sich, als die Heere der
Griechen gegen Troja zogen, weil die Frau eines mykenischen Fürsten, des
Menelaos, von dem Königssohn Paris nach Vorderasien entführt worden
war; als die Stadt des Priamos nach zehn langen Jahren in Rauch und Flammen aufging,
als Odysseus die Meere durchirrte und knapp den Wirbeln von Skylla und Charybdis
entkam. Doch es dauerte noch sehr lange, bis diese Geschichte zum Gegenstand von
Geschichtswissenschaft wurde. Zunächst berichteten jene Sänger davon,
die man später unter dem Namen Homer zusammenfaßte, und sie rühmten
die Stärke und Schönheit des Achilleus, sie verspotteten den aufrührerischen
Thersites, und sie wußten von den Ratschlüssen des Zeus zu erzählen.
Erst später wurden diese Erzählungen zu den Epen Homers zusammengefaßt
und aufgezeichnet, und dann dauerte es abermals Jahrhunderte, bis der Jonier Hekataios
verächtlich sagte, die Erzählungen des Hellenen seien zahlreich und
lügenhaft. Aber würdigte er damit nicht das eigene Hellenenvolk herab,
das doch noch Platon und Aristoteles weit über alle Barbarenvölker stellten?
Geschichtliches Wissen ist offenbar von anderer Art als alles Wissen von den Eigentümlichkeiten
der menschlichen Umwelt, sofern wir von Naturreligion und Naturmythologie absehen;
es steht seinen Gegenständen nicht in gleichmäßigen Abständen
gegenüber, sondern es rühmt und tadelt, es hebt hervor und läßt
fort, es schmückt aus und es vereinfacht. Zur Wissenschaft kann es nur werden,
wenn es sich gewaltig ausweitet, wenn der Geschichtsschreiber von seinen Gegenständen
Distanz gewinnt und sich entfernten Zeiten zuwendet, wenn er Quellenschriften
mit anderen vergleicht oder neu entdeckt, wenn er Überreste aus jenen Zeiten
erforscht, etwa die unter Erdmassen versteckten Ruinen Trojas, wenn er die eigenen
Präferenzen in Frage stellt, etwa die Bewunderung für Perikles, die
ihm seine Eltern eingeflößt hatten. (Ebd., 2002, S. 18-19).So
mag er sich der »Objektivität« nähern, die für den
Naturwissenschaftler selbstverständlich ist, welcher schwerlich je in Gefahr
kommt, schädliche Eigenschaften einer Pflanze nicht wahrhaben zu wollen,
weil er schon als Kind die Schönheit ihrer Blüten bewundert hatte. Er
muß vor allem bereit sein, die Ergebnisse seiner Mitforscher ohne Voreingenommenheit
zur Kenntnis zu nehmen und sich mit der Einschränkung des Gebiets abzufinden,
die durch die Anhäufung des Wissens und durch die Verfeinerung der Methoden
erforderlich wird, so daß er zum Spezialisten nicht etwa bloß für
das Mittelalter, sondern für das Ordenswesen im abendländischen Mittelalter,
nicht zum Kenner der antiken Geschichte, sondern des Münzwesens in der römischen
Kaiserzeit wird: Insofern gleicht die Entwicklung der Geschichtswissenschaft derjenigen
aller anderen Wissenschaften. Aber ein wichtiger Unterschied besteht darin, daß
jede neue Generation von Historikern zu dem Ergebnis kommt, ihre Vorgänger
hätten jene Kennzeichen des bloßen historischen Wissens, das einseitige
Hervorheben und Weglassen, das Rühmen und Tadeln, das Verwerfen und das Rechtfertigen
nur in höchst unzureichendem Maße überwunden. Ist nicht Treitschkes
»Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert« zwar eine bewundernswerte
Leistung gelehrten Fleißes und künstlerischer Darstellung und doch
im Kern nichts anderes als die Rechtfertigung und Preisung des kleindeutschen
Einigungswerkes durch Preußen und Bismarck? Wollte nicht Gioberti sogar
ausdrücklich vom »primato morale e civile degli italiani« handeln?
Objektivität und unantastbares Wissen sind in der Geschichtswissenschaft
keineswegs selbstverständliche Gegebenheiten und Tatbestände, sondern
Aufgaben, denen jede neue Generation sich von neuern konfrontiert sieht, wenn
man von dem Gerüst elementarer Daten und Fakten absieht, die etwa in Ploetz'
»Auszug aus der Geschichte« aufgereiht sind. (Ebd., 2002, S.
19-20).Aber selbst wenn der jüngere Historiker einige Schwächen
der älteren Generation aufgewiesen hat und davon überzeugt ist, Fortschritte
gemacht zu haben, wird er sich schwerlich darüber täuschen, daß
auch er nicht »reine Tatsachen« entdeckt hat, daß auch er eine
Selektion aus der Endlosigkeit von Fakten vorgenommen hat, bei der ihn Präferenzen
leiteten, daß auch er nicht zu dem teilnahmslosen »Weltauge«
geworden ist, das man in den Naturwissenschaften grundsätzlich am Werk sehen
mag. Und er wird sich in unserer Gegenwart sogar darüber klar sein, daß
jene Schwächen seiner Vorgänger auch Vorzüge waren, weil diese
sich in der Regel mit dem eigenen Nationalstaat beschäftigten, dessen unmittelbare
Entstehung verhältnismäßig leicht zu schildern und zu analysieren
war, weil Kriege ihre wichtigste Voraussetzung darstellten und weil die Entscheidungen,
die zu diesen Kriegen führten, von sehr wenigen Menschen getroffen wurden.
So mag man umfangreiche Bücher über die Agrarverhältnisse im Kirchenstaat
um 1840 oder über die Höhe der Zollsätze des Deutschen Zollvereins
schreiben, aber so wichtig das alles als Vorbereitung der nationalen Einigung
gewesen sein mag, maßgebend für den konkreten Ablauf der Ereignisse
bleibt doch der Entschluß König Wilhelms I., den Plan der Abdankung
aufzugeben und Bismarck die Ministerpräsidentschaft zu übertragen; schlechthin
unverzichtbar ist die Schilderung des Unternehmens der »mille«, welches
das Königreich beider Sizilien zerstörte und Süditalien dem regno
d'Italia anschloß. (Ebd., 2002, S. 20).Was aber geschieht,
wenn wir tatsächlich in ein postnationales Zeitalter eingetreten sind, in
dem Kriege von den »Vereinten Nationen« nicht mehr zugelassen werden,
wenn eine demokratische Weltgesellschaft zur Existenz kommt, die das genaue Gegenteil
jenes »ungeschichtlichen« Dorfes darstellt, wo jede Nachricht in Sekundenschnelle
um die ganze Welt läuft, wo jedes der Billionen von Ereignissen für
Milliarden von Menschen gewisse Auswirkungen hat, und wäre es nur ein mikroskopisch
kleiner Anstieg der Verschmutzung der Meere, wo kein Staatsmann und keine Gruppe
von Staatsmännern eine große Entscheidung im überlieferten Sinn
treffen kann, weil es nur noch Resultanten unzähliger sich ineinander verschlingender
Mikroprozesse gibt, die sich nicht mehr in den gewalttätigen Explosionen
entladen, welche bisher als Kriege und Revolutionen die wichtigsten Gelenke für
die Gliederung der Geschichte waren. ? Würde es in einer Welt universaler
Kommunikation nur noch eine allerpartikularste Geschichtswissenschaft geben, wo
der einzelne Historiker, oder selbst Teams von Historikern, um in der Überflutung
durch Informationen und Forschungsergebnisse nicht zu versinken, zum Beispiel
bloß noch über das dritte Jahr des Siebenjährigen Krieges in der
preußischen Provinz Brandenburg oder über die Jugendjahre der Vittoria
Colonna vollständig informiert und also zu neuen Forschungen fähig sein
würden? Würden die Historiker dann die »endliche Unendlichkeit«
der menschlichen Ereignisse aus der Sicherheit eines in seiner ständigen
Veränderung unveränderlichen Zustandes heraus mit derselben Distanz
und Objektivität untersuchen, wie die Naturwissenschaftler die »endliche
Unendlichkeit« der Naturvorgänge erforschen? Oder würde die Geschichtsschreibung
gerade dann vollständig zur »Kunst« werden, da doch ein Drang
zum Ganzen, zum Ganzen der einzelnen Nationen, der Kulturen, der Klassen fortbestehen
würde, zu jenen Ganzheiten, die infolge der Überfülle erforschter
Tatsachen der »Fachwissenschaft« nicht mehr zugänglich sein würden,
sondern nur noch der gestaltenden Phantasie? (Ebd., 2002, S. 20-21).Ich
werde nicht versuchen, auf diese Fragen eine Antwort zu geben. Ich formuliere
lediglich das Ergebnis dieser Überlegungen: daß die Geschichtswissenschaft
zugleich die menschlichste und die unmöglichste aller Wissenschaften ist.
Die Menschen leben als Menschen geschichtlich, und gerade deshalb konnten sie
aus dem geschichtlichen Wissen, das ihnen ebenso wie das Wissen um Natursachen
eigentümlich ist, nicht im gleichen Sinne eine Wissenschaft machen, wie sie
aus dem Wissen über Naturvorgänge eine vieltausendfach differenzierte
Wissenschaft gemacht haben. Die Feststellung kann nur für denjenigen anstößig
oder niederschmetternd sein, der nicht wahrhaben will, daß die Menschen
nicht nur eine Vielheit von Vernunftpartikeln sind, sondern eine Vielfalt, innerhalb
deren sie einander auch als fühlende und wollende Wesen begegnen. (Ebd.,
2002, S. 21).Ich will nun nicht über eine Zukunft spekulieren,
in der diese Aussage nicht mehr gültig sein mag, so daß Naturwissenschaft
und Geschichtswissenschaft im nur noch vernünftigen Diskurs der vielen Gleichen
identisch geworden sein mögen, und ich will auch nichts von den Gestalten
und Geschicken der Geschichtswissenschaft erzählen, wie sie von Herodot bis
zu Fernand Braudel Wirklichkeit gewesen ist, denn beides würde ins Endlose
führen. Ich möchte vielmehr einen Überblick über die Versuche
geben, in denen Menschen Klarheit über die Geschichte und über die Geschichtswissenschaft
gewinnen wollten, über die Geschichtsphilosophie und über die Geschichtstheorie.
(Ebd., 2002, S. 22).Abschließend will ich das Werk von drei
Denkern charakterisieren, die weder im eigentlichen Sinne Geschichtsphilosophen
noch Geschichtstheoretiker noch gar Geschichtsschreiber waren und deren Einflüsse
doch in der Geschichtsschreibung und in dem Geschichtsdenken der Gegenwart besonders
stark spürbar sind, das Werk von Auguste Comte, Karl Marx und Friedrich Nietzsche.
(Ebd., 2002, S. 22).»Geschichtsphilosophie« ist ein
» Philosophieren« über Geschichte, d.h. mehr als ein allgemeines
Nachdenken oder Vorstellen, wie wir es bisher im Auge hatten. Seitdem es das Philosophieren
gibt, versteht es sich als Denken über »das Ganze«, und zwar
nicht über das Ganze der Geschichte, sondern über das Ganze der »Welt«.
In seinen Anfängen ist es eng mit der Mythologie verknüpft, d.h. mit
Erzählungen vom »Anfang und vom Ende der Welt« oder von periodisch
eintretenden »Weltbränden«. Aber sie will nicht in Bildern, sondern
in Begriffen denken, und sie macht schon in ihrer Frühzeit jenes Ganze zum
Problem, das sich der gewöhnliche Mensch als »Naturganzes« oder
als Kosmos vorstellt. Wenn Parmenides sagt »Denn dasselbe sind Denken und
Seim«, so ist das Sein gerade nicht die vorstellbare Gesamtheit der Naturdinge,
die uns als einzelne durch die Wahrnehmung der Sinne zugänglich sind, sondern
es ist ein Ganzes, das eher als »Weltgrund« zu verstehen ist und jedenfalls
nicht »in« der Zeit und »im« Raume vorfindbar ist. Noch
eindeutiger zutreffend ist der Begriff »Weltgrund« für das »Feuer«
des Heraklit, welches das Weltall durchwaltet und immer wieder in sich zurücknimmt,
und für die Urmächte »Liebe« und »Streit« des
Empedokles, aus deren Ringen die verschiedenen Weltalter hervorgehen. »Jenseits
des Seins« liegt für Platon die Idee des Guten, aber auch die gewöhnlichen
»Ideen« befinden sich jenseits der in der Erfahrung vorfindlichen
Dinge, und zwar als deren unveränderliche Wesenheiten. Von Parmenides bis
hin zu Kant ist Philosophie immer ein »Weltdenken« in dem Sinne, daß
sie in erster Linie die Übermacht des Nicht-Menschlichen oder der »Natur«
im Auge hat, auch wenn sie vom »Weltgrund« oder von »Gott«
spricht. Der denkende Mensch ist gleichsam von dem Ungeheuren gebannt, das er
nicht selber ist, und deshalb wird die Geschichte nicht zum Thema, sondern nur
»die Seele« oder das »Wesen des Menschen«, die diesem
»Weltganzen« staunend und verehrend gegenüberstehen und denen
allenfalls von den »Mystikern« gesagt wird, sie seien in ihrem tiefsten
Grunde, dem »Seelenfünklein«, mit jenem Grunde der Welt im ganzen
identisch. Die Geschichte als solche kann daher, wie besonders im indischen Philosophieren
deutlich wird, keinerlei Interesse hervorrufen, da sie gänzlich zum Bereich
der oberflächlichen Erscheinungen gehört und sich im endlosen Kreislauf
vollzieht. Noch als Kant jene »kopernikanische Wendung« vornahm, welche
die anschaubare Welt, wenn auch nicht das »Ding an sich«, zu einer
Schöpfung des transzendentalen Bewußtseins oder des Menschengeistes
machte, da ging es ihm ganz primär um die Begründung der Naturwissenschaften,
d.h. um das Verhältnis der »Seele« zur »Welt«.
(Ebd., 2002, S. 22-23).Aber von den Verstrickungen eben dieser
Seele in der »Welt«, d.h. den endlichen und sündigen Verhältnissen
der Erde, und von ihrem Weg zur Selbstfindung und Erlösung in Gott war schon
bei den Neuplatonikern in der Weise die Rede gewesen, daß Stufen der befreienden
Erlösung erkennbar wurden, und Augustinus hatte diese Gedanken mit der Vorstellung
des Alten Testaments von den Schicksalen des »Gottesvolkes« verbunden,
aber auch mit der Anwendung der Vorstellung von den Lebensaltern auf die als Einheit
gefaßte Menschheit. Und obwohl bei ihm zu keinem Zeitpunkt die »civitas
dei« die »civitas terrena« in sich aufhebt und verklärt,
war damit doch ein wesentlicher Schritt zu der Auffassung des mittelalterlichen
Abtes Joachim von Floris getan, der die Menschheit durch drei große Zeitperioden
hindurchgehen sah, die Reiche des Vaters, des Sohnes und das künftige »Dritte
Reich« des Heiligen Geistes, d.h. der mönchischen Spiritualen; mithin,
wie man sagen könnte, von der Unterworfenheit unter ein äußeres
Gebot zur Freiheit der sich selbst bestimmenden Geistigkeit. Geschichte, so gefaßt,
ist nicht ein Ereignis innerhalb der Welt, der andere Ereignisse oder Bereiche
an die Seite gestellt werden können, sondern sie ist selbst ein »Weltereignis«,
ja sie kann sogar die einst so übermächtige Welt gewissermaßen
in sich hereinnehmen, sobald das transzendentale Apriori Kants als ein geschichtliches
gefaßt wird, d.h. als eine Folge von Weltenwürfen, welche überhaupt
erst »Dinge« und deren Zusammenhang entstehen lassen, welche aber
auch untereinander in der Weise verknüpft sind, daß die Menschen aus
Zerstreuung und Verlorenheit heraus zu immer größerer Einheit und zu
einem immer klareren Bewußtsein dieser Einheit gelangen. Am Ende steht dann,
wenn auch zunächst noch als zukünftige, eine von der menschlichen Vernunft
für die menschlichen Individuen geformte und beherrschte Welt. Dies ist der
Grundansatz der »aufklärerischen« Geschichtsphilosophie, die
bei Turgot um 1750 zum Vorschein kommt und mit Condorcet 1794 einen ersten Höhepunkt
erreicht. Sie kann eine Entsprechung zu jenem neuplatonischen Aufstieg der Seele
darstellen und muß dann zu der Idee einer vollständigen Vergeistigung
und Versittlichung der Menschheit gelangen; sie mag aber den Ausgang vom naturgegebenen
Individuum so sehr akzeptieren, daß das Benthamsche »größte
Glück der größten Zahl« schlicht als möglichst starke
und gleichmäßige Befriedigung der Naturtriebe aller Menschen verstanden
wird. Dieser aufklärerischen Geschichtsbewegung vom Vereinzelten und Niedrigen
zum Einheitlichen und Höheren stand schon seit Hesiod die entgegengesetzte
Bewegung von dem ursprünglichen, göttergerechten und »goldenen«
Zeitalter zum streiterfüllten, widernatürlichen »eisernen«
Zeitalter gegenüber, die als Lehre von der Dekadenz der Menschheit freilich
mehr von Dichtern als von Denkern artikuliert wurde, die jedoch auch im Buch Daniel
des Alten Testaments erkennbar ist, wo der Traum des Nebukadnezar nach der Deutung
des Propheten die Folge der vier Weltreiche zum Inhalt hat. (Ebd., 2002,
S. 23-24).Aber kann es eine vollständige Vergeistigung oder
auch Versittlichung überhaupt geben? Ist sie, im Wortsinn, »menschenmöglich«?
Ist auch nur der einfache Begriff der möglichst intensiven und umfangreichen
Befriedigung der Naturtriebe, etwa des »Hungers und der Liebe« nach
dem Schillerschen Gedicht, »menschengerecht«? Angenommen, daß
diese Triebe tatsächlich »menschenfreundlich« sind, d.h. in Individuen
Erfüllung finden können, ohne daß andere Individuen Schaden erleiden
- gibt es nicht auch andere Triebe im Menschen, die keine so harmlose Wendung
nehmen können, etwa den Destruktionstrieb und den Todestrieb? Woher nehmen
einige Menschen das Recht, die Ausrottung von Trieben zu verlangen, die vermutlich
ebenso von der Natur stammen und bei anderen Menschen vielleicht besonders ausgeprägt
sind? Kann man auf der anderen Seite wirklich von einer »Dekadenz der Menschheit«
sprechen, da doch auf jede Dekadenz, die bisher beobachtet wurde, etwa auf den
Niedergang des Römischen Reiches, ein neuer Aufstieg erfolgte, wenn auch
der Aufstieg eines anderen Volkes oder eines anderen Reiches? (Ebd.,
2002, S. 24-25).Wenn beide Prozeßformen nicht radikal getrennt,
sondern ineinandergedacht werden, ist die Stunde der »Dialektik« gekommen,
und die Dialektik ist der Grundzug der anspruchsvollsten und umfassendsten aller
Geschichtsphilosophien, derjenigen Hegels. Vom Grundmuster her ist diese ganz
aufklärerisch, denn die Geschichte ist für Hegel der »Fortschritt
im Bewußtsein der Freiheit« - von der orientalischen Welt, wo nur
einer frei ist, hin zur christlich-germanisch-protestantischen Welt der Neuzeit,
wo alle wissen, daß sie frei sind, weil Freiheit das Wesen des Menschen
als solchen ist. Aber in diesem Fortschrittsprozeß gibt es Platz für
zahlreiche Niedergänge und Verkehrungen - von den Dekadenzen und Erstarrungen
der Volksgeister, die vom Weltgeist zugunsten eines höheren Volksgeistes
fallengelassen werden, bis zum Umschlag von Recht in Unrecht, den jedes auf sich
beharrende Einzelne erfahren muß. (Ebd., 2002, S. 25).So
nimmt sich Hegels Geschichtsphilosophie über weite Strecken wie eine »philosophische
Geschichtsschreibung« aus, aber sie verliert an keiner Stelle den Grundcharakter
aller Geschichtsphilosophie: Sie hat die ganze Weltgeschichte im Blick und sucht
deren »innere Logik« zu enthüllen, Zu dieser Logik gehört
eine Gliederung nach Epochen, die einen Anfang nimmt und auf ein Ende gerichtet
ist. Erst von dem Ende, dem »Telos« her, das bei Hegel die Selbsterkenntnis
des göttlichen Weltgrundes im Menschengeist ist, erscheint die Geschichte
als Sinnzusammenhang, als gegliederte Totalität und in theologischen Termini
als »Werk der Vorsehung«. Für den Alltagsverstand ist jede Geschichtsphilosophie
notwendigerweise »Metaphysik« oder unbeweisbare Konstruktion.
(Ebd., 2002, S. 25).Geschichtstheorie kann sich die kritische Überprüfung
der Konzeptionen der Geschichtsphilosophie vornehmen; in der Regel aber wird sie
die Kategorien, die Regeln und die Hauptvoraussetzungen der Geschichtsschreibung
untersuchen, und in dieser zweiten Gestalt war ihr Anfang in Deutschland zugleich
ihr Höhepunkt, nämlich Johann Gustav Droysens »Historik«.
Die philosophische Dimension wurde ihr nicht zuletzt von Wilhelm Dilthey gegeben,
der wie Droysen ein Mann des 19. Jahrhunderts war, dessen letztes Lebensjahrzehnt
indessen ins 20. Jahrhundert fällt und der erst in dieser seiner Spätzeit
unter dem Titel »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften«
den »Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und
der Geschichte« zum Abschluß zu bringen suchte, welcher 1883 unter
dem Titel »Einleitung in die Geisteswissenschaften « veröffentlicht
worden war. Dilthey will zeigen, daß die »metaphysische Stellung des
Menschen zur Wirklichkeit« nur einer bestimmten und inzwischen abgelaufenen
Periode der Geschichte angehörte, und er äußert sich sehr negativ
über die Begriffe der »Geschichtsphilosophie«, über die
»Weltlogik«, den »Weltgeist«, den »Plan der Vorsehung«,
doch auch über das Paradigma des Organismus. Aber er polemisiert gleichzeitig
gegen die positivistischen Feinde der Metaphysik, gegen Comte und John Stuart
Mill, deren Antworten die geschichtliche Wirklichkeit verstümmeln. Darüber
hinaus schließt er die ganze skeptizistische (bzw. transzendentale) Philosophie
der Neuzeit in seine Kritik ein, denn »in den Adern des erkennenden Subjekts,
das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der
verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. (Vgl. Wilhelm
Dilthey, Einleitung in die Geschichtswissenschaft, 1883, in: Gesammelte
Schriften, Band I, S. XVIII). (Ebd., 2002, S. 25-26).Der
Mensch als geschichtliches Subjekt steht in einer viel intensiveren Beziehung
zur Wirklichkeit, nämlich derjenigen des »Erlebens«, und daher
muß ihn die Geschichtswissenschaft in der »Totalität des Gemüts«
zu erfassen suchen, von der die Naturwissenschaften und die naturwissenschaftlich
orientierte Erkenntnistheorie bloß einen durch Abstraktion gewonnenen Randbezirk
zu erfassen vermögen. Die Geisteswissenschaften dagegen begnügen sich
nicht mit dem äußerlichen Erklären, sondern ihr Feld ist das Verstehen,
in welchem sich Leben dem Leben, Freiheit der Frei heit erschließt. Ermöglicht
wird dieses Verstehen, wie Dilthey besonders in dem Fragment gebliebenen zweiten
Band hervorhebt, nur durch die »Selbigkeit der Menschennatur«, innerhalb
deren das Individuum der Neuzeit zu den Individuen und den Verhältnissen
einer fernen Vergangenheit Zugang finden kann, indem es die Enge und Subjektivität
des eigenen Lebens überwindet. So glaubt er, den »metaphysischen Konstruktionen«
Hegels eine »Analyse der menschlichen Existenz« entgegensetzen zu
können. Diese Existenz, die sich stets ihrer Endlichkeit und Gebrechlichkeit
bewußt ist, versteht als selbst geschichtliche die Geschichte, und sie ist,
wie schon Fichte wußte, »nicht Substanz, Sein, Gegebenheit, sondern
Leben, Tätigkeit, Energie.« (Wilhelm Dilthey, Einleitung in die
Geschichtswissenschaft, 1883, in: Gesammelte Schriften, Band VII, S.
157). So setzt Dilthey als Theoretiker der Geschichte gerade eine Philosophie
des Lebens und der Existenz an die Stelle der geschichtsphilosophischen »Konstruktionen«,
und damit bereitet er demjenigen Denken des 20. Jahrhunderts eine Bahn, das weder
Geschichtsphilosophie noch bloße Erkenntnistheorie sein will. (Ebd.,
2002, S. 26).Aber auch die ausgeprägteste Erkenntnistheorie
der Zeit leistete einen bedeutenden Beitrag zur Geschichtstheorie, ja sie beherrschte
die Diskussion gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich um die Unterscheidung
zweier Wissenschaftstypen aufgrund des Gegensatzes ihrer Methoden, welche die
südwestdeutsche Schule des Neukantianismus in Gestalt ihrer bekanntesten
Vertreter vornahm, nämlich Wilhelm Windelbands und Heinrich Rickerts. Die
Naturwissenschaft ist für sie auf die Erforschung von Gesetzen und Gesetzlichkeiten
ausgerichtet, sie ist »nomothetisch«; die Geschichtswissenschaften
dagegen wollen das Individuelle und Singuläre erfassen - das Individuelle
einer Person, einer Institution, einer Epoche u.s.w. -, sie sind idiographisch.
Damit wird nicht gesagt, daß die untersuchten Gegenstände als solche
verschieden sind, etwa so, daß Naturdinge in ihrer Allgemeinheit aufgingen
und geschichtliche Personen oder Ereignisse rein individuell wären. Es handelt
sich vielmehr um einen Unterschied der Betrachtungsweisen: die generalisierende
Methode begnügt sich mit der Feststellung von Gesetzen, und das Individuelle
ist für sie ohne Interesse. Der fallende Apfel, an dem Newton das Gesetz
der Schwere erkannte, war nur als Exemplar wichtig, nicht als Individuum. Alexander
der Große und Napoleon dagegen werden von den Historikern in ihrer Individualität
zum Gegenstand gemacht, und was an ihnen allgemein ist, etwa die Feldherrnbegabung,
ist bloß ein untergeordnetes Moment. (Ebd., 2002, S. 26-27).Der
entscheidende sachliche Unterschied ist mithin ein subjektiver: Nur mit Rücksicht
auf einen Wert kann das Individuelle wesentlich werden, die generalisierende Methode
dagegen ist wertfrei. Auch Geisteswissenschaf ten können generalisierend
sein, so die Soziologie, und Rickert führt als Beispiel das Buch von Ferdinand
Tönnies »Gemeinschaft und Gesellschaft« an. Aber hier wird schon
eine Schwierigkeit deutlich, denn Tönnies nimmt offensichtlich in seinen
Untersuchungen Wertungen vor, obwohl er keine einzelne Gemeinschaft und keine
einzelne Gesellschaft analysiert, und auf der anderen Seite wertet auch Rickert,
denn er hält ganz unverkennbar die soziologisch-generalisierende Methode
der Sache nach für defizient. Noch eindeutiger kritisiert er die »neue
kollektivistische Methode« von Karl Lamprecht, die sich selbst mißverstehe,
weil Lamprecht sich in seiner »Deutschen Geschichte« keineswegs damit
begnüge, dasjenige zu erforschen, was allen Nationen gemeinsam sei. Daher
schließt die einfache Entgegensetzung »der wertbeziehenden individualisierenden
geschichtlichen Methode« und der »wertfreien generalisierenden gesetzeswissenschaftlichen
Methode« mancherlei Probleme in sich, und man fragt sich, ob nicht doch
eine materiale Geschichtsphilosophie vorliegt, wenn Rickert die Weltgeschichte
nach »Epochen der Wertverwirklichung« gliedert und als oberste Werte
ganz im Sinne Hegels »Vernunft« und »Freiheit« ansetzt,
auf die hin die Weltgeschichte als »Fortschritt« ausgerichtet ist.
(Ebd., 2002, S. 27-28).Ich zähle nun nur noch einige Fragen
auf, mit denen die Geschichtstheorie sich beschäftigt hat und weiterhin beschäftigt,
ohne weiterhin Namen einzelner Denker zu nennen: Was heißt »geschichtlicher
Prozeß«, und inwiefern hängt dieser Begriff von den Kategorien
»Zweck«, »Wert« und »Sinn« ab? Sind geschichtliche
Ereignisse grundsätzlich unprognostizierbar, oder könnte ein künftiger
Computer sämtliche Daten von Gegebenheiten enthalten, so daß für
ihn die Zukunft gemäß der »Laplaceschen Weltformel« ableitbar
wäre und Gott in Gestalt einer Maschine zur Wirklichkeit geworden wäre?
Oder sind die Bewegungsgesetze der Geschichte gerade derart, daß sie dem
Neuen, dem Schöpferischen, dem Freien Raum lassen? Gehört am Ende die
Subjektivität des Historikers mit in diesen Prozeß hinein, und gibt
es für ihn eine Möglichkeit, seine »Standortgebundenheit«
zu überwinden, um zu einer »unparteilichen« Geschichtsschreibung
zu gelangen? Legt er sich nicht schon durch die Wahl seiner Begriffe unwiderruflich
fest? Ist er nicht einem »Zirkel des Verstehens« unterworfen? Muß
er selbst versuchen, die Selektion, ohne die er nicht arbeiten kann, zugleich
in ihrer Einseitigkeit erkennbar zu machen, oder ist »Objektivität«,
soweit sie menschenmöglich ist, an die Existenz einer »community of
scholars« und damit an die Gesellschaftsform des »Liberalen
Systems« gebunden? Darf sich der Historiker erlauben, »kontrafaktische«
Überlegungen anzustellen oder gehört nur die Erzählung von faktischen
Ereignissen zu seiner Aufgabe? Was ist aber überhaupt ein »historisches
Faktum« - ist es vorfindbar wie ein Stein, oder entspringt es wie die »Umwelt«
im ganzen der Formung einer letztlich unfaßbaren Mannigfaltigkeit durch
den Geist? Müßte dann aber nicht auch das andere Individuum aus einer
»Formung« hervorgehen? Leben am Ende sogar Ehepaare bloß mit
Bildern des Anderen und nicht mit »diesem selbst«? Ist es indessen
nicht so, daß ein Mann und zumal ein Dichter jahrelang mit dem »Bild«
der fernen Geliebten leben kann, daß aber eine unübersehbare Realität
dieses Bild korrigiert oder sogar zerstört, sobald die Geliebte zur ständig
anwesenden Ehefrau geworden ist? Entgeht der Historiker auf vergleichbare Weise
einem drohenden Solipsismus? Ist für ihn in gleicher Weise der Relativismus
ein Schreckbild, oder ist Relativität - besser vielleicht Relationalität
- der Grundcharakter aller menschlichen Verhältnisse und sogar des Kerns
der Individualität, ja sogar der »Industrialisierung« und der
»Modernisierung«? (Ebd., 2002, S. 28-29).Comte,
Marx und Nietzsche haben nicht auf alle einzelnen dieser Fragen Antworten gegeben,
aber sie haben Kategorien geschaffen, überzeugungen ausgesprochen und auch
Emotionen artikuliert, die oft genug noch den Charakter ganz spezieller Untersuchungen
bestimmen. (Ebd., 2002, S. 29).Auguste Comte, 1797 inmitten
der Wirren der französischen Revolutionsepoche in Montpellier geboren, blieb
seiner sehr frommen Mutter ein Leben lang zugetan, nahm aber als Student der Mathematik
in Paris den Geist des napoleonischen Empire in sich auf und geriet bald unter
den Einfluß des Grafen von Saint-Simon, der als »Frühsozialist«
gilt, obwohl er seine Zukunftsgesellschaft von den Bankiers leiten lassen wollte,
und war für einige Jahre dessen Sekretär. Glaube an die Naturwissenschaft,
Zukunftsorientierung, die das »Goldene Zeitalter« an dem Ende statt
am Anfang der Geschichte lokalisierte, Wille zu umfassenden sozialen Reformen
und auch die Unterscheidung »kritischer« und »organischer«
Epochen der Geschichte waren die Hauptimpulse des Grafen, und Comte ging wie Augustin
Thierry ein gutes Stück mit ihm. Nach dem Bruch zwischen beiden tauchte das
Wort »positiviste«, das später in der Gestalt des Substantivs
»Positivisme« zum Kennzeichen der von Comte begründeten Schule
wurde, in seiner ersten selbständigen Schrift auf, dem »Système
de politique positive« von 1824. Comte macht sich hier ausdrücklich
den Gedanken Saint-Simons zu eigen, daß das Zeitalter der Kritik, d.h. der
Aufklärung, nur von transitorischer Art sein kann und von einer neuen und
stabileren Epoche abgelöst werden muß, sobald es sein Werk der Zersetzung
und Auflösung beendet hat, nämlich von einer Epoche, die viel Ähnlichkeit
mit dem Mittelalter haben und alle jene anarchischen Freiheiten der Willkür
nicht mehr kennen wird, deren sich der Liberalismus rühmt. Insofern bejaht
Comte das Ziel der »Heiligen Allianz«, aber sein Grundkonzept bleibt
gleichwohl aufklärerisch und setzt die Restaurationsperiode in einen Gegensatz
zu der »marche générale de la civilisation«. Dieser
Gang der Zivilisation hat mittels der kritischen Prinzipien der Aufklärung
das »theologisch-militärische System« definitiv zerstört,
das Metternich und die Bourbonen vergeblich wiederherzustellen suchen, und eine
neue Stabilität der Gesellschaft muß auf neue Prinzipien gegründet
werden. Von hier aus entwickelt Comte das berühmte Dreistadiengesetz, das
der Sache nach freilich Gemeingut des optimistischen Teils der Aufklärung
war: »Infolge der Natur des menschlichen Geistes muß jeder Zweig unserer
Kenntnisse in seiner Bewegung hintereinander durch drei verschiedene theoretische
Stadien hindurchgehen: das theologische oder fiktive Stadium, das metaphysiche
oder abstrakte Stadium und schließlich das wissenschaftliche oder positive
Stadium.« (Auguste Comte, Système de politique positive, 1824,
Band IV, S. 77). Die Gegenwart ist dabei, den Eintritt in das dritte und »definitive«
Stadium zu vollziehen, in das Stadium der wissenschaftlichen Politik. Diese ist
eine »soziale Physik«, welche die soziale Organisation auf eine ebenso
feste Basis stellt, wie sie die physische Physik für ihre Verfahrensweisen
festgelegt hat. Diese Grundgedanken hat Comte in den sechs Bänden seines
»Cours de philosophie positive« von 1830 bis 1842 ausgearbeitet, einer
wahren Enzyklopädie aller Wissenschaften, innerhalb deren die Soziologie
einen prominenten Platz einnimmt. Der Positivismus ist für Comte eine Lehre
der Ordnung und des Fortschritts zugleich; er polemisiert aufs entschiedenste
gegen die Rousseausche Utopie einer Rückkehr zum Naturzustand und einer Überwindung
der Arbeitsteilung, er charakterisiert die revolutionäre Lehre als »metaphysisch«,
aber er weicht kein Jota von der Überzeugung ab, daß der »industrielle
Zustand« der endgültige ist, wo das Tatsächliche herrscht und
nicht mehr das Schimärische, die Gewißheit gegenüber der Unentschiedenheit
endloser Debatten, das Genaue im Gegensatz zum Schwankenden und überall das
Relative statt des Absoluten. (Vgl. Auguste Comte, Abhandlung über den
Geist des Positivismus, S. 48-52). In seiner Spätzeit hat Comte, im Ausgang
von einem überaus subtilen und sonderbaren Liebeserlebnis, diesen Zustand
bis in kleine Details hinein beschrieben und den Beweis geführt, daß
mittels so aufklärerischer Begriffe wie Fortschritt, Verwissenschaftlichung,
Säkularisierung, Frieden, Veredelung ein totalitäres System freiheitsfeindlicher
Regelhaftigkeit errichtet werden kann. (Ebd., 2002, S. 29-30).Wie
Comte gehört Karl Marx, 1818 in Trier geboren, in den Gesamtrahmen der Aufklärung
hinein, aber auch er hat nicht wenig von der konservativen und vor allem romantischen
Kritik an der Aufklärung bzw. der »Vulgäraufklärung«
übernommen. Vom Vater wie von der Mutter her alten Rabbinergeschlechtern
entstammend, hatte er, schon als Kind getauft, anscheinend noch weniger Beziehungen
zum Judentum als Comte zum Katholizismus, aber die Erwartung eines völlig
neuartigen, alles Bisherige zerstörenden, allein auf Rationalität und
Wissenschaft gebauten und definitiven Zeitalters trägt bei ihm noch viel
stärker die Merkmale des »Messianismus« als bei Comte, wenn er
sich auch sorgfältig vor konkreten Beschreibungen hütet, welche den
philosophischen Bestimmungen des kommunistischen Endzustandes als »wahrer
Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Freiheit und
Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung« sowie vor allem als »aufgelösten
Rätsels der Geschichte« ihren Zauber genommen haben würden. Aus
seinen Jugendschriften geht eindeutig hervor, daß er nicht wie Comte die
Verwirklichung der Wissenschaft, sondern in kritischem Anschluß an Hegel
die Verwirklichung der Philosophie als den Inhalt der Zukunft betrachtet, welche
an die Stelle des halben Idealismus Hegels mit seinen unaufhebbaren Trennungen
etwa zwischen Staat und »bürgerlicher Gesellschaft« den totalen
Idealismus der vollständigen Einheit der Individuen und der Weltgemeinschaft
setzt. Und viel stärker als Comte hebt er die neue Kraft der Zukunft hervor,
das Proletariat als die zur Realität gewordene Entmenschung, die im dialektischen
Umschlag das Reich der klassenlosen Menschlichkeit aus sich gebären wird.
(Ebd., 2002, S. 30-31).So schreibt er 1848 unmittelbar vor dem
Ausbruch der Revolution, auf eine Vorarbeit von Friedrich Engels gestützt,
jenes »Manifest der Kommunistischen Partei«, das wohl das einzige
Parteiprogramm ist, welches von dem großen Atem einer Geschichtsphilosophie
beherrscht wird. Auch das Kommunistische Manifest entwickelt eine Art von Dreistadiengesetz,
aber mit weit größerer Leidenschaft und viel stärkerer Polemik,
als Comte sie aufgebracht hätte. »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft
ist die Geschichte von Klassenkämpfen«, so hebt die philosophisch-politische
Kampfschrift, an, und schon diese Formulierung macht klar, daß es Abschied
zu nehmen gilt von allem Bisherigen und daß dieser Abschied nur möglich
ist, wenn es ein Vor-Bisheriges gab, einen Abschnitt vor der »Geschichte«,
der durch Gemeinschaftlichkeit statt durch gesellschaftliche Konflikte bestimmt
war. Der ganze Akzent fällt freilich zunächst auf das Stadium der »Klassengesellschaft«,
das sich nach der »ständischen« Periode des Mittelalters als
»Epoche der Bourgeoisie« darstellt. Dieser Bourgeoisie nun und ihrer
revolutionierenden, die Einheit des Weltmarkts schaffenden Rolle singt Marx ein
Loblied, wie es keiner ihrer literarischen Vorkämpfer je getan hatte, aber
in jedem Lobeswort ist die Verurteilung, ja Verwerfung spürbar. Die letzte
und stärkste Realität nämlich, welche der Bourgeoisie die besitzlosen,
ausgebeuteten, entrechteten Arbeiter entgegenstellt, gelangt in der Gegenwart
zum Bewußtsein ihrer Universalität und ihrer Mission - der Herbeiführung
einer Gesellschaft, wo der Plan an die Stelle des Marktes tritt, wo die »klassenlose
Gesellschaft« die »alte bürgerliche Gesellschaft« mit ihren
Klassen und Klassengegensätzen überwindet und wo »die freie Entwicklung
eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.« (Karl
Marx / Friedrich Engels, Werke, Band 4, S. 482). Dieser Schritt bedeutet
den »Untergang der Bourgeoisie«, wie für Comte der Eintritt in
das positive Stadium das Ende der Metaphysik bedeutete, aber Marx spricht ausdrücklich
vom »Tod« einer bestimmten Klasse. Dieses Manifest ist also eine Vernichtungsprophetie,
und es ist zugleich eine höchst eigenartige Synthese von individualistischem
Liberalismus, radikaler Bejahung des Weges zur Welteinheit und des konservativen
Grundpostulats der Einheit des Menschen mit seiner Welt. Die ganze spätere
Riesenarbeit von Marx bis hin zum Dritten Band des »Kapital« hat an
dieser geschichtsphilosophischen Konzeption nichts Wesentliches geändert;
sie baute das eine und das andere aus, z.B. die Vorstellung von der Urgemeinschaft,
und sie suchte vor allem den Eindruck hervorzurufen, es lasse sich »wissenschaftlich«
beweisen, was im »Manifest« noch so offensichtlich Entwurf und Prophetie
ist. (Ebd., 2002, S. 31-32).Friedrich Nietzsche war nicht
Mathematiker wie Comte oder Philosoph wie Marx, sondern klassischer Philologe,
und als solchem lag ihm, der 1844 als Sohn und Enkel protestantischer Pfarrer
in Mitteldeutschland geboren wurde, ein Gedanke nahe, der Comte und Marx fremd
geblieben zu sein scheint, der Gedanke, daß die »Kultur« als
das Sich-Bedeutung-Geben des Menschen in Kunst, Religion und Philosophie wesentlich
an die bisherige Geschichte geknüpft sein könnte und durch den »Marsch
der Zivilisation« gefährdet wird. Für Comte und Marx war es selbstverständlich
gewesen, daß das positive Zeitalter bzw. die klassenlose Gesellschaft eine
Hochblüte der Kultur in sich schließen würde, aber der junge Nietzsche
sieht in der »Geburt der Tragödie« nur Öde, Ermattung und
Niedergang aus dem »sokratischen« Rationalismus mit seiner Tendenz
zum flachen Utilitarismus und zur Massenemanzipation hervorgehen. Das scheint
weiter nichts als die Wiederaufnahme der romantischen Kulturkritik (besser: Zivilisationskritik)
zu sein, und in seiner zweiten Phase hat sich Nietzsche, wenngleich nicht ohne
ein unübersehbares Widerstreben, das aufklärerische Denken zu eigen
gemacht. Aber in seiner Spätzeit treten die Empfindungen seiner Jugend in
radikalisierter Gestalt wieder hervor, und er entwickelt, wenngleich auf fragmentarische
Weise, eine Geschichtsphilosophie, in der alles negativ ist, was für Comte
und für Marx positiv war: der Moralismus der Juden, »des priesterlichen
Volks des ressentiment par excellence«; der Sieg des Christentums, des »Gesamtaufstandes
alles Niedergetretenen, Elenden, Mißratenen, Schlechtweggekommenen«;
die Bewegungen der französischen Revolution, der Demokratisierung,
der »Weibs-Emanzipation«, des Sozialismus und des Anarchismus, die
allesamt dem Phänomen der »Gesamt-Entartung der Menschheit« zuzurechnen
sind. Um die Menschheit vor diesem Abgrund zu bewahren, macht sich Nietzsche in
den letzten Monaten seines bewußten Lebens nicht nur zum Vordenker, sondern
geradezu zum Propagandisten einer »Partei des Lebens«, deren Kerntruppe
aus den Offizieren und den jüdischen Bankiers bestehen soll, und diese Partei
soll die »Schwachen«, die »Dekadenten«, die Feinde des
»Lebens«, d.h. der Vitalität und der Kultur, vernichten. (Vgl.
Ernst Nolte, Nietzsche
und der Nietzscheanismus, 1990, S. 190-196 [Kapitel »Das Vernichtungskonzpt
und die Partei des Lebens«]). In seinem letzten Stadium
läuft Nietzsches Denken also auf ein Vernichtungspostulat hinaus, welches
das genaue Gegenbild zu der Marxschen Vernichtungsprophetie, aber auch zur Comteschen
Vorhersage des »positiven«, d.h. wissenschaftlichen, sozialen und
eudämonistischen Zeitalters ist, ein Gegenbild jedoch, das sich von dem »konservativen«
Widerstreben gegen Aufklärung und Emanzipationen wesentlich unterscheidet,
da es beansprucht, eine neue Ebene erreicht zu haben, die Ebene des »Übermenschen«,
der »Ewigen Wiederkunft« und der »Herren der Erde«, welche
dem konservativen Denken durchaus fremd gewesen war. (Ebd., 2002, S. 32-33).Geschichtswissenschaft
grenzt in einzelnen ihrer Bereiche, wie etwa der Epigraphik oder der Chronologie,
an die Distanziertheit und Exaktheit der beschreibenden Naturwissenschaften, und
sie grenzt überall sonst an jene großen Entwürfe, in denen der
Mensch denkend über sein Wesen und Geschick Klarheit zu gewinnen versucht.
Sie ist, um es zu wiederholen, zugleich die menschlichste und die unmöglichste
aller Wissenschaften. Eben deshalb wird sie in allen Menschen ein unvergleichliches
Interesse wecken, solange diese nicht in dem erstaunlichsten ihrer Produkte, der
»künstlichen Intelligenz« von Computern, ein nachahmenswertes
Vorbild sehen. (Ebd., 2002, S. 33).
Revisionen - Revisionismen - Konzeptionen(Vortrag
bei einer Tagung in Mailand am 28.11.1997)In
der öffentlichen Meinung wird heute der Begriff »Revisionismus«
meist und mit ganz negativem Akzent als »Holocaust-Revisionismus«
verstanden, der als »Negationismus« in mehreren Ländern strafrechtlich
verfolgt wird, der aber offensichtlich dann einen wissenschaftlichen Charakter
hat, wenn er lediglich Zeugenaussagen und Zahlenangaben kritisch überprüft
und die Meinung vertritt, wie bei allen bewegenden Großereignissen der Geschichte
könnten auch bei der »Endlösung der Judenfrage« überhöhende
Legendenbildung und verzerrende Instrumentalisierung nicht gefehlt haben. Die
wichtigste Frage sollte freilich die sein, ob von »Revisionismus«
und nicht vielmehr von einer umfassenden Revision die Rede sein müßte,
wenn die Überzeugung in den Vordergrund tritt, der Nationalsozialismus müsse
im ganzen so interpretiert werden, daß der unwissenschaftliche Begriff des
»absoluten Bösen« keine Stätte findet. (Ebd., 2002,
S. 77-78).Hier würde es sich jedoch offenbar nicht mehr um
eine Revision von Volksmeinungen, von Ergebnissen anderer Historiker oder auch
von bloßen Legenden handeln, sondern um die Revision einer Konzeption und
mithin um einen »Paradigmawechsel«, wenn man den im Blick auf die
Naturwissenschaften gewonnenen Kuhnschen Begriff hier gebrauchen will. Aber in
der Geschichtswissenschaft verdrängt nicht das eine und modernere Paradigma
das ältere und nun überholte, sondern die grundlegenden Konzeptionen
stehen nebeneinander und verlieren oder gewinnen an Bedeutung und Gewicht, büßen
jedoch in der Regel selbst dann nicht ihre Existenz ein, wenn sie einer umfassenden
und tiefdringenden Kritik unterzogen werden, denn jede Konzeption schließt
eine Selektion in sich, welche Lücken bestehen läßt oder sogar
erst aufreißt. Jede Konzeption sieht sich also einer eigenen und spezifischen
Revision ausgesetzt, die von außen und ebensosehr von innen kommen kann.
(Ebd., 2002, S. 78).Es hat im 20. Jahrhundert eine Konzeption gegeben,
die mit großem Nachdruck und erstaunlichem Erfolg einen absoluten Anspruch
erhob und innere Revisionen ebenso gnadenlos verdammte, wie sie andere Konzeptionen
in ihrem Herrschaftsbereich nicht aufkommen ließ, nämlich die marxistisch-leninistische
Konzeption. Aus ihrer Perspektive befindet sich der Nationalsozialismus im absoluten
historischen Unrecht, da er das letzte und gewalttätige Aufbegehren des sterbenden
Kapitalismus gegen den überall siegreich vordringenden Sozialismus bedeutet.
Es ist wohl nicht zuviel gesagt, wenn behauptet wird, heute, nach dem Zusammenbruch
der Sowjetunion, halte selbst der überzeugteste Marxist-Leninist eine tiefgreifende
Revision dieser allzu optimistischen und naiven Konzeption für erforderlich.
(Ebd., 2002, S. 78).Als das nicht nur historisch, sondern auch
metaphysisch »absolute Böse« muß der Nationalsozialismus
in der jüdischen Konzeption erscheinen, die das jüdische Schicksal in
das Zentrum des Geschehens stellt und sich weigert, eine Gleichsetzung mit dem
Schicksal der anderen Opfer vorzunehmen. Sie kann das offensichtlich nur deshalb
tun, weil sie die Juden ... durchweg für das »auserwählte Volk«
hält .... Dennoch dürfte es nicht richtig sein, wenn »der Antisemitismus«
als solcher für das Zentrum der nationalsozialistischen Anti-Ideologie erklärt
wird, und insofern sollte auch diese Konzeption einer Revision nicht entzogen
sein. (Ebd., 2002, S. 78-79).Neben die jüdische ist
die deutsche Konzeption zu stellen, die ebenfalls einem einzelnen Volke eine überragende
und singuläre Rolle in der Geschichte zuschrieb, ob sie nun als positive
Lehre vom »deutschen Sonderweg« die Welt »am deutschen Wesen
genesen« lassen wollte oder in einer umkehrenden Revision seit 1945 »die
Deutschen« vor allem als ein singuläres »Tätervolk«
betrachtete. Ausgangspunkt für diese mit der »1968er Generation«
in Deutschland zur Vorherrschaft gelangte Auffassung war die Revision einer Revision,
die der Hamburger Historiker Fritz Fischer 1961 vornahm, als er die alliierte
These von der nahezu vollständigen Kriegsschuld des kaiserlichen Deutschland
wieder aufgriff. (Vgl. Fritz Fischer, a.a.O., 1961). Daß eine abermalige
Revision dieser Revision einer Revision möglich sein sollte, unterliegt wohl
keinem Zweifel. (Ebd., 2002, S. 79).In grob verkürzender
Weise nenne ich als letzte der großen Konzeptionen die Totalitarismustheorie,
für welche die zentrale Unterscheidung nicht diejenige zwischen dem Nationalsozialismus
und dem Kommunismus, aber auch nicht zwischen Deutschland und dem Rest der Welt
ist, sondern welche dem als Norm aufgefaßten »westlichen Verfassungsstaat«
die ideologischen Absolutheitsansprüche und die terroristische Praxis der
Einparteiregime des 20. Jahrhunderts als moderne Erscheinungsform des uralten
Despotismus gegenüberstellt. Die Revision, die dieser Theorie als einem angeblichen
Kampfmittel des Kalten Krieges gegenüber vorgenommen wurde, schien bereits
in den 1960er Jahren siegreich zu sein, und sie könnte als Revisionismus
bezeichnet werden, da die Protagonisten sich rasch zu einer kämpferischen
Schule zusammenschlossen, aber der Terminus läßt sich dennoch nicht
sinnvollerweise anwenden, da diese Revision durchweg nicht von innen kam und überwiegend
bloß die Kritik durch eine andere, längst vorher vorhandene Schule
darstellte, nämlich durch den Marxismus-Leninismus. Wie eine von innen kommende
Revision aussehen könnte, möchte ich immerhin anzudeuten versuchen,
indem ich mich abschließend zur Veranschaulichung mit einigen Bemerkungen
den Werken von Renzo De Felice und François Furet zuwende, die ja häufig
als »Revisionisten« bezeichnet worden sind. (Ebd., 2002, S.
79).
Das Vergehen der Vergangenheit. Über Revisionen
und Revisionismen in der Geschichte(Vortrag
bei einem Wochenendseminar der Hermann-Ehlers-Akademie in Kiel am 08.11.1991)»Revisionisten«
wurden zunächst diejenigen genannt, die auch für Hitler Verständnis
zeigten, sei es aus deutschfeindlichen Motiven wie im Falle von A. J. P. Taylor
oder aber aus Sympathie wie bei David Hoggan und David Irving. Mehr und mehr wurde
der Terminus jedoch auch auf diejenigen angewandt, die im Anschluß an Fritz
Fischers »Griff nach der Weltmacht« die Verantwortlichkeit der »alten
Eliten« herausstellten. Ein Revisionismus eigener Art war derjenige von
Fritz Tobias, der die Nationalsozialisten von dem Vorwurf freisprach, den Reichstagsbrand
gelegt zu haben, und beide Revisionismen fanden sich in der Person von Hans Mommsen
vereinigt, der später zusammen mit Martin Broszat in der Frage der »Endlösung«
die Schule der »Funktionalisten« begründete und sich dem sogenannten
»Intentionalismus« entgegenstellte. Später wurden im Zusammenhang
des sogenannten »Historikerstreits«
aber gerade einige der bekanntesten Verfechter »etablierter« Auffassungen
wie Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand »Revisionisten« genannt,
da sie angeblich zu einer »Verharmlosung des Nationalsozialismus«
neigten. Soweit die Polemik sich in zivilisierten Bahnen hielt, wurde indessen
immer eine scharfe Trennung zwischen der Minderheit im »Historikerstreit«
und den us-amerikanischen und französischen Revisionisten um Arthur Butz
und Robert Faurisson vorgenommen. (Ebd., 2002, S. 94).Dieser
Revisionismus, der sich letzten Endes von Paul Rassinier herleitet, einem ehemaligen
KZ- Häftling und dann sozianstischen Abgeordneten der französischen
Nationalversammlung, also keinem »Neo-Nazi«, ist der radikalste von
allen. Sein Kern ist die Leugnung der Existenz von Gaskammern zur Massentötung
von Menschen; die Berichte über die Massentötungen in Auschwitz-Birkenau,
Treblinka und anderen »Vernnichtungslagern« erklärt er für
Legenden, die aus der alliierten Kriegspropaganda und aus der Phantasie jüdischer
Deportierter hervorgegangen seien. (Ebd., 2002, S. 94).Die
Radikalen behaupten, daß die »Endlösung der Judenfrage«
eine Erfindung des Weltjudentums zum Zweck der Gründung Israels gewesen sei;
kein Jude und auch kein Zigeuner sei jemals im großdeutschen Machtbereich
bloß aufgrund seiner rasse getötet worden. (Ebd., 2002, S. 95).Eine
andere Tendenz dieser revisionistischen Schule leugnet jedoch das Massensterben
von Juden, Zigeunern, Polen, sowjetischen Kriegsgefangenen und anderen in »Todeslagern«
nicht, aber sie bestreitet das Vorliegen eines »Führerbefehls«
und die systematische Massentötung in gaskammern. Insofern berührt sie
sich partiell mit der Schule der »Funktionalisten« , die in der »Endlösung«
eine Kumulierung von Einzelmaßnahmen. (Ebd., 2002, S. 95-96).untergeordneter
Stellen erblickt und die fast durchweg als seriöse wissenschaftliche Richtung
anerkannt ist. Aber sogar was die Gaskammern angeht, läßt sich das
Eingeständnis nicht umgehen, daß die Revisionisten um Faurisson einige
Argumente vorgebracht haben, die sich nicht einfach fortwischen lassen, oder aber
den Finger auf Tatbestände legen, die zwar bekannt waren, aber nicht genügend
beachtet wurden. Ich zähle einige dieser Argumente und Tatbestände auf:- | Der
Aussage des Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, die unzweifelhaft
sehr wesentlich zum inneren Zusammenbruch der Angeklagten im Nürnberger Prozeß
gegen die Hauptkriegsverbrecher beitrug, gingen Folterungen voraus; sie war also
nach den Regeln des westlichen Rechtsverständnisses nicht gerichtsverwertbar. | - | Die
sogenannten Gerstein-Dokumente weisen so viele Widersprüche auf und schließen
so viele objektive Unmöglichkeiten ein, daß sie als wertlos gelten
müssen. | - | Die
Zeugenaussagen beruhen zum weitaus größten Teil auf Hörensagen
und bloßen Vermutungen; die Berichte der wenigen Augenzeugen widersprechen
einander zum Teil und erwecken Zweifel hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit.
| - | Eine
sorgfältige Untersuchung durch eine internationale Expertenkommission ist,
anders als im Falle Katyn nach der Entdeckung der Massengräber durch die
deutsche Wehrmacht im Jahre 1943, nach dem Ende des Krieges erfolgt. und die Verantwortung
dafür kommt den sowjetischen und polnischen Kommunisten zu. | - | Die
Veröffentlichung von Fotografien der Krematorien und einiger Kannen mit der
Aufschrift »Zyklon B - Giftgas« hat keinerlei Beweiswert, da in größeren
typhusverseuchten Lagern Krematorien vorhanden sein müssen und da Zyklon
B ein bekanntes »Entwesungsmittel« ist, das nirgendwo entbehrt werden
kann, wo Massen von Menschen unter schlechten sanitären Bedingungen zusammenleben.
(Eine informative Zusammenfassung nahezu aller »revisionistischen«
Argumente ist das von Ernst Gauss [Pseud. für Germar Rudolf] herausgegebene
Sammelwerk Grundlagen zur Zeitgeschichte - Ein Handbuch über strittige
Fragen des 20. Jahrhunderts, 1994.). | .... Damit
wird eine dritte Richtung innerhalb des radikalen Revisionismus vorstellbar, die
eine vorschnelle Generalisierung vermiede und trotzdem erheblich über die
»Funktionalisten« hinausgehen würde, eine Richtung, die sich
die Aussage des amerikanisch-jüdischen Historikers Arno Mayer zu eigen machen
würde, nämlich den Satz »Die Quellen für das Studium der
Gaskammern sind zugleich selten und unverläßlich. (Vgl. ders., a.a.o,
S. 362). Eine solche Aussage durch ein Gesetz verbieten zu lassen, wäre unzweifelhaft
ein gravierender Verstoß gegen den Geist der Wissenschaft; eine Infragestellung
der überlieferten Auffassung, daß die Massenvernichtung in Gaskammern
durch zahllose Aussagen und Tatsachen zwingend bewiesen sei und außerhalb
jeden Zweifels stehe, muß zulässig sein. oder Wissenschaft ist als
solche in diesem Bereich überhaupt nicht zulässig und möglich.
(Ebd., 2002, S. 96-97).Diese Auffassung, daß hinsichtlich
des »Holocaust« ein wissenschaftliches und mithin Fragen und Zweifel
zulassendes Verfahren unerlaubt und daß dessen Voraussetzung, »das
Vergehen der Vergangenheit«, undenkbar sei, ist in der Tat die entschiedenste
Gegenthese, die allem Revisionismus in diesem Felde entgegengestellt werden kann
- genauer ausgedrückt, handelt es sich um die radikale Ausgangsthese, welcher
der Revisionismus als Leugnung bestimmter Tatbestände gegenübertritt.
.... Hier ist also Geschichte ganz offenbar wieder zum Mythos geworden. Freilich
nicht zum heiligen, sondern zum unheiligen Geschehen, das aber ebenfalls alle
Zeiten unverändert und unantastbar überdauert, als eine Vergangenheit,
welche nicht vergehen kann, sondern die Gegenwart für immer bestimmen muß.
(Vgl. »Die
Vergangenheit, die nicht vergehen will«, in: F.A.Z., 06.06.1986).
(Ebd., 2002, S. 97).Eine absolute Singularität kann dieser
»Endlösung« aber nicht zugeschrieben werden, da ihr eine andere
Art von »Endlösung« auf sowjetischer Seite genau entspricht.
(Ebd., 2002, S. 98).
Was ist historischer Revisionismus?(Vortrag
bei der Herbsttagung der zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt am 20.11.1999)Und
im Zweiten Weltkrieg glichen Ideologie und Kriegführung der US-Amerikaner
eher denjenigen der Nationalsozialisten als denen eines humanistischen Kreuzfahrerheeres:
Die Japaner wurden als »Untermenschen« betrachtet und behandelt, deren
Verwundete man nicht selten zusammen mit bereits Gestorbenen begrub, die eigenen
Staatsbürger japanischer Abkunft wurden ebenso in Lager deportiert, wie es
den deutschen Juden widerfuhr, und Roosevelt sprach sich für die Kastrierung
aller Deutschen aus. Nichts von all dem läßt sich zureichend aus der
Kriegssituation erklären. Die Auffassungen über den notwendigen Kampf
der Höherwertigen gegen die Minderwertigen, die Theodore Roosevelt schon
vor dem Ersten eie entwickelte, waren nach Losurdo eine Präfiguration Hitlerscher
Ideologeme. Die englische Propaganda sei bereits im Ersten Weltkrieg von einer
Skrupellosigkeit sondergleichen gewesen, indem sie Gerüchte über die
Seifenherstellung aus Leichen durch die Deutschen verbreitete und die Nachricht
in die Welt setzte, 700000 Serben seinen von Österreichern und Bulgaren durch
Gas getötet worden. Losurdo macht sich die Vorstellung der Kriegsgreuel auf
alliierter Seite so sehr präsent, daß er sich zu einem Ausruf verleiten
läßt, der nicht bloß revisionistisch, sondern geradezu negationistisch
klingt: »Man muß daher Verständnis für die Argumente des
historischen Revisionismus oder genauer des sogenannten Negationismus haben. Weshalb
sollte nicht auch die systematische Vernichtung der Juden, die dem Dritten Reich
zu geschrieben wir, ein Mythos sein?« (Domenico Losurdo, a.a.o., S.
181). .... Wenig später wird im Ausgang von der revisionistischen These einer
»jüdischen Kriegserklärung« durch Chaim Weizmann nachdrücklich
behauptet, die Juden- »das sei zu ihrer Ehre gesagt« - seien keineswegs
die passiven Opfer des genozidalen Angriffs gewesen, sondern sie hätten sich
(man muß wohl ergänzen: schon vor dem Ausbruch des Krieges) auf der
internationalen Ebene den Plänen ihrer Verfolger entgegengestellt und sie
hätten dann mit den Widerstandsbewegungen zusammengearbeitet und aktiv am
Kampf der Partisanen teilgenommen. (Ebd., 2002, S. 108-109).Konzeption
des Zweiten Dreißigjährigen Krieges .... (Ebd., 2002, S. 109).Der
»historische Revisionismus«, über den dessen Gegner so viel zu
sagen wissen, ist im Grunde überhaupt kein »Revisionismus« ....
(Ebd., 2002, S. 113-114).Für Hannah Arendt war es 1950 selbstverständlich,
daß man keine wesentlichen Unterscheidungen zwischen »Kulaken«
und »Juden« vornehmen dürfe. (Ebd., 2002, S. 114).
Antwort auf Israel Gutman(Geschrieben
Ende 1999 für eine in Auschwitz geplante Tagung - wegen Erkrankung nicht
gehalten)Ich
möchte Herrn Gutman nicht improvisiert antworten, und deshalb gehe ich von
seinem Aufsatz »Nolte and Revisionism« aus, der 1988 in den »Yad
Vashem Studies« erschienen ist.l Die Kürze der zur Verfügung stehenden
Zeit erlaubt mir leider nicht, einiges zu den historischen Voraussetzungen meines
Selbstverständnisses zu sagen, wodurch vermutlich deutlich werden würde,
wie wenig angemessen der Terminus »Revisionismus« ist. Vor einem Publikum
von Kennern darf ich mich indessen wohl mit einigen Thesen begnügen, die
diesen Hintergrund immerhin andeuten. (Ebd., 2002, S. 116).Wer
ein Buch mit dem Titel »Der
Faschismus in seiner Epoche« schreibt, stellt damit eine Beziehung zu
jenen Konzeptionen oder Theorien her, die das Ganze der Periode der beiden Weltkriege
in den Blick fassen. Dazu zählen die beiden Versionen der marxistischen Auffassung,
die »orthodoxe« und die leninistische; die um den negativ gefaßten
Begriff der »Säkularisierung« zentrierte Verfallstheorie der
Geschichte; die »klassische« Version der Totalitarismustheorie und
auch die scheinbar partikularen Konzeptionen der jüdischen, der überwiegend
deutschen negativ-nationalistischen und der psychoanalytischen Theorie. Im Bereich
der westlichen Welt kam seit etwa 1950 der klassischen Totalitarismustheorie Hannah
Arendts und Carl J. Friedrichs der Vorrang zu, und es ist wichtig festzustellen,
daß für beide Autoren die Vernichtung der Kulaken in der Sowjetunion
und die Ausrottung der Juden durch das Dritte Reich genaue Parallelen bilden.
Von dieser Version der Totalitarismustheorie ist aber eine zweite zu unterscheiden,
die ich die historisch-genetische nenne und die durch Autoren wie Jakob Talmon,
Norman Cohn und Karl August Wittfogel begründet wurde. Die Werke dieser Autoren
reichen nur bis an die Schwelle der Periode der Weltkriege, aber sie sind keineswegs
bloß eine Geschichte der totalitären Demokratie oder des »Pursult
of the Millennium« oder der hydraulischen Gesellschaft im Orient und im
»Apparatstaat« der Sowjetunion, sondern sie zielen auf ein Verständnis
des Kampfes von »linkem« und »rechtem« Totalitarismus
im 20. Jahrhundert, zwischen denen nicht nur eine grundlegende Differenz, sondern
auch ein kausaler Nexus besteht. So läßt sich von bestimmten Aussagen
Wittfogels aus leicht die These entwickeln, Faschismus und Nationalsozialismus
seien aus der Reaktion gegen den eigentlichen, den kommunistischen Totalitarismus
entstanden und sie seien nicht ohne ein gewisses historisches Recht gewesen, das
sich freilich in eindeutiges Unrecht verkehrt habe, da aus dem Willen zur totalen
Entgegensetzung ein innerer Zwang zu Imitation und Angleichung resultiert habe.
(Ebd., 2002, S. 116-117).An diesem Punkte setzte 1963 »Der
Faschismus in seiner Epoche« an. Das Buch wurde damals häufig als
»Überwindung der Totalitarismustheorie« oder als Wegbereitung
für den Marxismus verstanden, aber es wurde von einigen Kritikern auch dem
negativen Nationalismus zugerechnet, und es stand jedenfalls der jüdischen
Auffassung nahe, da es »Auschwitz« ohne jede Einschränkung als
singulär, als »Untat ohnegleichen« kennzeichnet und darin die
innerste Konsequenz der nationalsozialistischen Ideologie erblickt. Aber die Judenvernichtung
wurde doch in einen bestimmten Kontext gestellt, denn die Definition des Faschismus
lautet bekanntlich, er sei »Antimarxismus, der den Gegner durch die Ausbildung
einer radikal entgegengesetzten Ideologie und die Anwendung von nahezu identischen
und doch charakteristisch umgeprägten Methoden zu vernichten trachtet ....«
(Ebd., 1963, S. 51). Da der Marxismus der Zeit vor 1917 noch nie einen Gegner
vernichtet hatte, ließe sich die Aussage auch so formulieren, zwischen dem
Gulag und Auschwitz bestehe ein kausaler Nexus. Dies bedeutete sicherlich einen
Schritt über die Parallele zwischen Kulaken und Juden hinaus, die Hannah
Arendt gezogen hatte, aber es impliziert keine Leugnung der Singularität
von Auschwitz, so wenig es den Begriff des Faschismus als solchen an eine Intention
der physischen Vernichtung band, die ja weder im »Frühfaschismus«
der Action française noch im Normalfaschismus« Mussolinis vorlag.
Gleichwohl stelle ich nicht in Abrede, daß das Bekanntwerden mit der von
David Shub zitierten Äußerung Grigorij Sinovjews aus dem Herbst 1918,
die Bolschewiki müßten von den 100 Millionen der Einwohner Rußlands
90 für sich gewinnen; mit den restlichen 10 Millionen hätten sie nicht
zu reden, sondern sie müßten sie vernichten, den Weg zu jener Formulierung
bahnte, die 1986 so viel Anstoß erregte, obwohl sie der Sache nach in der
angeführten Definition bereits enthalten war. Erstmals glaubten Kritiker
eine Wandlung zu erkennen, als 1974 in »Deutschland
und der Kalte Krieg« die Wendung zu finden war, jeder bedeutende Staat
der Gegenwart, der sich ein außerordentliches Ziel setzte, habe »seine
Hitlerzeit mit ihren Ungeheuerlichkeiten und ihren Opfern« gehabt. (Vgl.
ebd., 1974, S. 601). (Ebd., 2002, S. 117-118).Ich glaube
nicht, daß es sich um eine propagandistische Floskel hadelte, als Goebbels
1937 nach der Lektüre des Buches von Solonewitsch in sein Tagebuch schrieb:
»Das ist in Rußland die Hölle auf Erde. Ausradieren! Muß
weg!« (Die Tagebücher von Joseph Goebbels, hrsg. von Elke Fröhlich.
München 1987 ff., Teil I, Bd. 3, S. 301 [14.0ktober 1937]. Wie wenig dieser
Ausruf von Goebbels als »Hetze«, »Demagogie« oder »Selbstbetrug«
abgetan werden kann, müßte sogar dem radikalsten »Antifaschisten«
evident sein, wenn er in den Erinnerungen Lew Kopelews folgende Sätze über
dessen aktive Teilnahme an jener »Kollektivierung« liest, die Jürgen
Habermas 1986 die »Vertreibung der Kulaken« nannte: »Unser großes
Ziel war der Weltkommunismus; um seinetwillen kann man und muß man lügen,
rauben, Hunderttausende, ja Millionen von Menschen vernichten - alle, die diesem
Ziel hinderlich im Wege stehen oder im Wege stehen könnten. .... Und in dem
furchtbaren Frühling 1933, als ich die Verhungerten, die Frauen und Kinder
sah - aufgedunsen, blau, kaum noch atmend, schon mit verlöschenden, tödlich
gleichgültigen Augen - ... da verlor ich darüber nicht den Verstand,
brachte mich nicht um, verfluchte nicht diejenigen, die Schuld hatten am Verderben
»nichtbewußter« Bauern ...,« [Lew Kopelew, Aufbewahren
für alle Zeit, 1976, S. 42].). Ich habe in den »Streitpunkten«
eine ganze Anzahl von Äußerungen führender Nationalsozialisten
zitiert, die unter Beweis stellen, wie stark sie von dieser Literatur russischer
Antibolschewisten und Emigranten beeindruckt waren. Ich habe auch die Äußerung
von Höß angeführt, die jedermann in der Broszatschen Ausgabe nachlesen
kann und die doch meines Wissens nirgendwo in der Literatur zitiert worden ist,
daß den Kommandanten der nationalsozialistischen Konzentrationslager vom
RSHA umfangreiches Material über die sowjetischen Konzentrationslager zugeleitet
wurde, aus dem hervorging, daß hier ganze Völkerschaften durch ein
Übermaß an Arbeit und durch Hunger vernichtet wurden. (Vgl. Martin
Broszat [Hrsg.], Kommandant in Auschwitz - Autobiographische Aufzeichnungen
des Rudolf Höß, 1963, S. 139). Und ich will zwei Sätze aus
dem 1982 auf deutsch erschienenen Werk von Andrzej Kaminski über »Konzentrationslager
1896 bis heute« zitieren: Die sowjetischen Äußerungen und Maßnahmen
schon der 1920er Jahre hätten »den Nazis bei der Errichtung ihrer eigenen
KZs und überhaupt bei der Errichtung ihrer eigenen terroristischen Diktatur
als Vorbild gedient«; die deutsche Wissenschaft sei dieser Tatsache aber
bisher aus dem Wege gegangen, weil jeder entsprechende Hinweis eines deutschen
Forschers »von sowjetischer und pro-sowjetischer Seite einen der bekannten
Stürme der Empörung« hätte hervorrufen müssen. (Vgl.
Andrzej Kaminski, Konzentrationslager 1896 bis heute, 1982, S. 78, 89).
Aber die Mythologisierung und irrationale Zurechnung wird umso auffälliger,
wenn Goebbels im September 1941 nach einem Gespräch mit Heydrich schreibt,
die Juden würden jetzt inso sowjetische KZs gebracht und das sei nur gerecht,
da sie diese ja selbst ebaut hätten. (Vgl. Martin Broszat, Hitler und
die Genesis der »Endlösung«, in: Vierteljahreshefte für
Zeitgeschichte, 25, 1977, S. 739-775, S. 751). Um es zu wiederholen: Der kausale
Nexus zwischen Gulag und Auschwitz war real .... (Ebd., 2002, S. 120).Herr
Gutman macht es mir zum Vorwurf, Publikationen benutzt zu haben, »die den
Holocaust leugnen«. Aber das Tucholsky-Zitat, auf das Herr Gutman anspielt,
hat mich nicht deshalb frappiert, weil ich es in dem Buch von Wilhelm Stäglich
gefunden habe, sondern weil es sich ... als richtig herausstellte. Ich muß
zu meinem Bedauern sagen, daß Herr Gutman mit diesem Vorwurf nicht mehr
den Mitbegründer der historisch-genetischen Version der Totalitarismustheorie
angreift, sondern das Prinzip der Wissenschaft selbst. Auch in der revisionistischen
Literatur kann Richtiges oder Bedenkenswertes enthalten sein, und wer darauf verzichtet,
sie prüfend zur Kenntnis zu nehmen, kann nicht den Anspruch erheben, ein
Wissenschaftler zu sein. (Ebd., 2002, S. 121).Was man nämlich
mit nahezu apriorischer Gewißheit über ein von niemandem bestrittenes
Ereignis sagen kann, ist dsa folgende: Die Deporation europäischer Juden
»in den Osten« und das Verschwundenbleiben eines großen, ja
des größten Teils dieser Deportierten nach dem Kriege mußte eine
ungeheure Fülle von Berichten, Vermutungen und Gerüchten entstehen lassen.
Nach allen Präzedentien der Weltgeschichte mußten darin zahlreiche
Unrichtigkeiten, Widersprüche und Falschaussagen enthalten sein. Den Zahlenangaben
Kurt Gersteins gegenüber zeigte sich Hans Rothfels schon 1953 skeptisch.
»Jan Kirski« berichtete 1944 nach seinem angeblichen Besuch in Belzec,
die Juden würden dort in Züge umgeladen, deren Boden mit ungelöschtem
Kalk bedeckt sei. Dadurch werde auf der Fahrt ihr Tod herbeigeführt, und
nach ca. 100 Kilometern würden die leichen in den Wäldern ausgeladen.
(Vgl. Jan Kirski [Pseud.], a.a.O.). Andere berichte sprachen von Massentötungen
durch Starkstrom auf riesigen Metallplatten oder vom Sterben in Kammern, in die
heißer Dampf eingeleitet oder aus denen die Luft ausgepumpt worden sei.
Natürlich könnte es mehrere Tötungsmethoden gegeben haben, aber
die meisten tauchen heute in wissenschaftlichen Darstellungen nicht mehr auf.
Die Augenzeugenberichte über die Vorgänge in den Gaskammern sind, wie
Arno J. Mayer formuliert hat, »gering an Zahl und unverläßlich«.
(Vgl. ebd, a.a.o, S. 362). Die frühen Geständnisse von Tätern sind
jedenfalls zum Teil durch Folterungen zustandegekommen, und was Höß
angeht, konnte jedermann seit vielen Jahren die entsprechende Aussage in der Ausgabe
von Broszat nachlesen. (Vgl. ebd, a.a.o, S. 149). Daß »Vergasung«
und »Entwesung« als Synonyme betrachtet wurden, daß in sämtlichen
Lagern Zyklon B zu sanitären Zwecken unentbehrlich war, mußte der Ausgangspunkt
von Gerüchten sein. Nichts von diesen Unklarheiten und Widersprüchen
ist geeignet, grundsätzliche Zweifel an der Massenvernichtung in Auschwitz
und anderswo und an der Rolle von Gaskammern zur Menschentötung zu begründen,
denn es ist bekannt, daß die Massenerschießungen des zweiten Halbjahrs
1941 von Befehlshabern und Ausführenden als unerhörte Belastung empfunden
wurden und daß man nach »humaneren« Methoden der Vernichtung
suchte. Die Wichtigkeit dieses Gesichtspunktes und die Realität der daraus
abzuleitenden Konsequenzen wird durch nichts stärker unterstrichen als durch
die Formulierung Hitlers in seinem »Politischen Testament«, der eigentlich
Schuldige, das Judentum, habe diesmal seine Schuld gebüßt, »wenn
auch durch humanere Mittel«. Zwar ist eine Annahme, welche die Vergasung
als »Einschläferung« aufzufassen scheint und in einem bekannten
SS- Dokument auch wörtlich so verstanden wird, all denjenigen unerträglich,
welche die Singularität von Auschwitz in exzessiver Grausamkeit sehen wollen,
aber sie dürfte mehr Kraft des Wahrscheinlichmachens haben .... Eins sollte
jedenfalls unbestreitbar sein: Es ist nicht nur eine legitime, sondern eine unumgängliche
Aufgabe der Wissenschaft, Zeugenaussagen nicht einfach zu akzeptieren, sondern
kritisch zu untersuchen, Zahlenangaben im Rahmen des Möglichen zu überprüfen,
Gerüchte als Gerüchte zu enthüllen und klare Unterscheidungen zwischen
Bewiesenem, Vermutetem, Unwahrscheinlichem und Erfundenem zu treffen. Ich halte
es für schlechthin unzulässig, diese Aufgabe durch die Kennzeichnung
schon der Fragestellung als »revisionistisch« für illegitim zu
erklären und Wissenschaftlern die Benutzung eines Teils der Quellen und der
Sekundärliteratur zu verbieten. (Ebd., 2002, S. 121-122).Diese
Aussage ist, mutatis mutandis, auch auf die jüngste Entwicklung des
Revisionismus anzuwenden, welche die frappierendste und herausforderndste von
allen ist, obwohl auch sie zu einer »Leugnung des Holocaust« als intendierten
millionenfachen Massensterbens nur dann führen könnte, wenn die phantastische
These richtig wäre, die nach Osten deportierten Juden seien in Weißrußland
angesiedelt worden, wie sich aus einer auffallenden Bevölkerungsvermehrung
ergebe. (Vgl. Steffen Werner, Die zweite babylonische Gefangenschaft - Zum
Schicksal der Juden im Osten seit 1941, 1990). Es handelt sich um die Behauptung,
aufgrund naturwissenschaftlicher Befunde bzw. technischer Tatbestände habe
es Massentötungen durch Vergasung entweder nicht gegeben oder überhaupt
nicht geben können, zum mindesten nicht in dem bisher angenommenen Umfang.
Ich spreche von den chemischen Untersuchungen bzw. Gutachten zu den Cyanid-Restbeständen
in den Entwesungskammern einerseits und in den zunächst als »Leichenhallen«
vorgesehenen Räumen der Krematorien andererseits durch Leuchter, Rudolf und
Lüftl sowie nicht zuletzt von den ungemein detaillierten Studien Carlo Mattognos
zu scheinbaren Detailfragen wie Verbrennungsdauer, Koksverbrauch und ähnlichem.
Gegen die immer wieder vorgebrachte These, daß das naturwissenschaftlich
oder technisch Unmögliche nicht stattgefunden haben könne, selbst wenn
Hunderte von Geständnissen und Zeugenberichten das Gegenteil sagten, läßt
sich im Prinzip nicht argumentieren; die Frage ist eben, ob wirklich eine solche
Unmöglichkeit bestanden hat, so daß man nur von Opfern des Typhus und
einer nach heutigen Maßstäben »normalen« Zahl von Kremierungen
sprechen dürfte. Das Eingeständnis ist unumgänglich, daß
Geisteswissenschaftler und Ideologiekritiker in dieser Frage nicht mitreden können.
Aber da es im Augenblick so aussieht, als wäre Jean-Claude Pressacl (vgl.
ebd., 1994) der wichtigste unter den naturwissenschaftlich vorgebildeten Vertretern
der überlieferten Auffassung, wird man sagen müssen, daß dieser
Umstand allein ein hochmütiges oder erbittertes Aburteilen über den
»Revisionismus« unmöglich machen sollte, denn Wissenschaft entwickelt
sich durch Widerspruch, und gerade Pressac hat von dem revisionistischen Widerspruch
nicht wenig aufgenommen. Der Ideologiehistoriker hat gleichwohl keinen Grund,
von seiner Überzeugung abzugehen, daß Hitler ein fanatischer Ideologe
und ein auf Vernichtung ausgerichteter Judenfeind war. Er würde aber in die
Irre gehen, wenn er übersähe, daß Hitler auf noch ursprünglichere
Weise ein radikaler Antimarxist bzw. Antibolschewist und gerade deshalb ein innerlich
vom Bolschewismus auch in seinem Vernichtungswillen abhängiger Antibolschewist
bzw. Antimarxist war. Ein »Auschwitz«, das den »Gulag«
nicht einbeziehen, sondern verdrängen will, ist eine Lüge. Aber eine
nicht minder große Lüge wäre die Annahme, zwischen Gulag und Auschwitz
bestehe ein kausaler Nexus von rationaler Art. Die Spannweite zwischen diesen
beiden Aussagen gilt es auszuhalten, wenn wir Wissenschaft treiben und uns von
Propaganda fernhalten wollen, sei diese Propaganda auch noch so gut gemeint und
edelgesinnt. Nur durch immer umfassendere und also weniger einseitige Interpretation
auch der Zeitgeschichte werden wir einem gesellschaftlichen System gerecht, das
jetzt wieder allen Europäern gemeinsam ist, das einst der Nährboden
sowohl der kommunistischen wie der faschistischen Ideologie war und das als es
selbst den Drang nach Vollkommenheit und Konfliktlosigkeit nicht erfüllen
kann, aber eben deshalb einer so fragilen Realität wie den historischen und
politologischen Wissenschaften in Entwurf, Mühsal, Kritik und Selbstkritik
eine sonst nirgendwo vorhandene Heimstatt bietet. (Ebd., 2002, S. 122-124).
Holocaust vor dem Holocaust oder gewöhnlicher
Genozid? Die Armeniergreuel in der Türkei 1915-1918?(Originalbeitrag
für die vorliegende Publikation, geschrieben Ende 2000)Aber
die Völkermorde in Kamboscha und Ruanda ereigneten sich erheblich später
als »der Holocaust«, und wenn man nicht die Konzentrationslager des
spanischen Generals Weyler während der Kämpfe in Kuba um 1900 oder die
etwa gelichzeitigen Konzentrationslager der Engländer im Burenkrieg einbeziehen
will, dann war der Genozid an den Armeniern in der Türkei der Jahre 1915
und 1916 jedenfalls früher .... (Ebd., 2002, S. 127).Dadrian
gibt die Schilderung eines armenisch-katholischen Bischofs von der Verbrennung
von tausend Kindern durch den Gouverneur der Stadt Musch in Gegenwart von türkischen
Notabeln wieder, und er zitiert zustimmend die Kennzeichnung der Vernichtung von
anderthalb Millio~ nen Armeniern durch Bernard Lewis als »der schreckliche
Holocaust von 1916« (Bernard Lewis, The Emergence of Modern Turkey,
1961, S. 350; vgl. ders., Holocaust and Genocide Studies, 1988, S. 151-169)
(Ebd., 2002, S. 127).Ähnliche Vergleiche zwischen dem armenischen
und dem jüdischen Fall finden sich in dem von Richard G. Hovannisian herausgegebenen
Sammelband »The Armenian Genocide in Perspective« (II), aber die weitaus
radikalste Infragestellung, ja die Verwerfung der »Einzigartigkeitsthese«
ist in dem von Alan S. Rosenbaum herausgegebenen Sammelband »Is the Holocaust
unique?« zu lesen, und zwar aus der Feder des an der Universität
von Hawaii tätigen us-amerikanischen Historikers David E. Stannard.
(Ebd., 2002, S. 129).Stannard hat sich durch Untersuchungen zur
Vernichtung der Indianer einen Namen gemacht, und seine Ausführungen sind
von der Empörung geprägt, welche die Opfer eines großen Verbrechens
oder deren Wortführer empfinden, wenn die Opfer eines anderen großen
Verbrechens ihre Erfahrung herabzusetzen oder gar fortzustoßen versuchen.
So isdt sein Ansatzpunkt durchaus von »linker« Art, nämlich als
Polemik gegen die »euro-amerikanische Ideologie der weißen Überlegenheit«,
und offensichtlich betrachtet er die »exklusivistische Idee« jüdischer
Intellektueller von der Einzigartigkeit »ihres« Holocaust als einen
Teil oder Aspekt dieser Ideologie. Die Juden legten einen »Ausrottungsstolz«
an den Tag, der ihnen »eine Art Status als priviegierte Nation in der moralischen
Ehrentafel« zukommen lasse, aber bei Licht besehen sei »die ganze
Suche nach jüdischer Einzigartigkeit als Opfer eine Sache von vernebelnder
Spiegelung.« In Wahrheit seien die Indianer in Amerika längst vor Hitlers
Geburt als »Ungeziefer« bezeichnet worden, und sogar in Auschwitz
seien nach dem jüdischen Historiker Arno Mayer mehr Menschen durch »natürliche«
Ursachen wie Hunger und Seuchen als durch »unnatürliche« wie
die Gaskammern umgekommen. Die Selbstgerechtigkeit des Glaubens an das Erwähltsein
prangere ernste Forchung als »antisemitisch« an, sei aber selbst von
rassistischen Vorstellungen erfüllt und stelle die genaue Entsprechung zu
dem vielbekämpften »Negationismus« dar, welcher die Leiden der
Juden leugne, aber man selbst leugne oder verharmlose die Leiden der Indianer
oder der Armenier. (Ebd., 2002, S. 129-130).Es ist bewundernswert,
daß eine so schroffe »antijüdische« Polemik von dem jüdischen
Herausgeber Alan S. Rosenbaum in seinem Sammelband aufgenommen wurde, und es ist
noch bewundernswerter, daß der Autor des Vorworts, Israel W. Charny, 1982
den türkischen Pressionen einem schließlich erfolgreichen Widerstand
leistete, die sich gegen das von ihm organisierte Symposium in Tel Aviv über
den Vergleich zwischen den beiden Genoziden oder Holocausts richteten, obwohl
die israelische Regierung aus Gründen der politischen Opportunität das
türkische Ansinnen unterstützt hatte. Natürlich werden in dem Sammelband
auch entgegengesetzte Auffassungen artikuliert wie etwa von Steven Katz, aber
schon daß der von Vertretern der Sinti und Roma, der Zigeuner, geprägte
Terminus »Porrajmos« als Entsprechung zu »Holocaust« in
einem anderen Artikel eine Rolle spielt, kann als eine »Relativierung«
angesehen werden, und man darf vermuten, daß das palästinensische synonym
»nakba« in einer kritischen Darstellung der Entstehung des Staates
Israel nicht unerwähnt geblieben wäre, obwohl allenfalls in dem ganz
weiten Sinne von »Vertreibung« ein Völkermord konstatiert werden
kann. (Ebd., 2002, S. 130).Der Berliner Kongreß von
1878 machte unter dem Vorsitz Bismarcks einen großen teil der russischen
Erfolge wieder zunichte, und die armensicen Gebiete wurden geräumt, ohne
daß die Reformen durchgeführt und gesichert worden wären. Bis
zum Ersten Weltkrieg bestand die Geschichte des osmanischen Weltreiches unter
der Herrschaft des des despotischen, aber im Grunde schwachen Sultans Abdul-Hamid
(Abd Al-Hamid II) aus dem periodischen Aufbegehren
der unterworfenen, meist christlichen Völker, dem ständigen, durchweg
»humanitär« begründeten Drängen der europäischen
Großmächte nach »Reformen«, derVerhinderung oder Verschleppung
der geforderten Emanzipationen durch die osmanischen Behörden und den sehr
egoistischen Versuchen dieser Großmächte, Teile der Erbschaft des »kranken
Mannes am Bosporus« an sich zubringen. Der spektakulärste dieser Akte
war 1911 der Angriff Italiens gegen den nordafrikanischen Teil des Reiches, Libyen,
der die Kette der Balkankriege und im Zusammenklang mit anderen Ursachen sogar
den Weltkrieg in Gang setzte. Die Armenier hatten vergleichsweise den geringsten
Anteil an diesem Aufbegehren, und sie wurden vom Sultan sogar die »treue
Nation« genannt, aber sie waren durch ihre geographische Lage im zentralen
Grenzgebiet des Reiches ein Gegenstand von besonders aufmerksamem Mißtrauen,
und auch unter ihnen kamen »moderne Parteien« auf wie die Huntschakisten
und die Daschnakisten, die mancherlei Ähnlichkeiten mit den russischen Narodniki
bzw, Sozialrevolutionären aufwiesen. (Ebd., 2002, S. 132-133).Den
Anfang der armenischen Greuel von 1894-1896, die in Europa ein ähnliches
Aufsehen erregten wie zwei Jahrzehnte zuvor die »bulgarischen Greuel«,
bildeten aber nicht Aktionen der noch recht schwachen Parteien, sondern wie zuvor
in Montenegro und Bosnien, ein Auftsand der doppelt gequälten Landbevölkerung
der Gegend von Sassoun: Zu den gewaltigen, durch Steuerpächter auf oftmals
undurchsichtige Weise eingetriebenen Staatslasten kamen noch Zahlungen und Tribute,
die von kurdischen Häuptlingen den armenischen Bauern aufgezwungen wurden,
so daß deren Lage unerträglich wurde. Die Türken antworteten auf
diesen Aufstand, der nicht wirklich ein Aufstand war, mit blutigen Massakern,
denen Tausende zum Opfer fielen und an denen auch Kurden und die sogenannte »Hamidische
Kavallerie« beteiligt waren, eine semi-legale, im Namen des Sultans aufgestellte
Truppe, Aktion und Reaktion ließen sich nun in weiten Teilen der Türkei
nicht mehr klar auseinanderhalten, aber die Reaktion, an der sich die türkische
und die kurdische Bevölkerung in erheblichem Ausmaß beteiligte, war
unvergleichlich stärker und ging an vielen Stellen über ein rationales
Verhältnis von Herausforderung und selbst exzessiver Vergeltung weit hinaus,
indem die Armenier als solche zum Angriffsobjekt gemacht wurden, ohne Frauen und
Kinder auszunehmen. (Ebd., 2002, S. 133).Diese entsetzliche
Art der Vergeltung, die jeden einzelnen erreichbaren Armenier zum Jagdwild machte,
das man mit Beilen, Jacken und Stöcken umzubringen suchte, wiederholte sich
in noch schlimmerer Form, als Huntschakisten im August 1896 die »Osmanische
Bank« in Konstantinopel für einige Zeit in ihre Gewalt brachten.
(Ebd., 2002, S. 134).Eijne besonders ergreifende und charakteristische
Schilderung wird in einem 1912 in London erschienenen Buch wiedergegeben: »Zuerst
kamen die türkischen Truppen in die Stadt, um Massenmord zu begehen, dann
kamen die kurdischen Freischärler und Stammeskrieger, um zu plündern.
Schließlich kam der Holocaust (sic!) durch feuer und Zerstörung
....« (Zitiert nach Vahakn N. Dadrian, The History of the Armenian Genocide,
1997, S. 149). (Ebd., 2002, S. 135).Die Statistiker sind
sich über die Gesamtverluste nicht einig und können sich angesichts
der Unvollständigkeit der Quellen nicht einig sein, aber eine immerhin wahrscheinliche
Aufstellung besagt, daß in diesen zei jahren etwa 200000 Armenier getötet
wurden, daß über tausend Kirchen der Zerstörung oder der Umwandlung
in Moscheen anheimfielen und daß etwa 1 Mio. zu Opfern von Raub und Plünderungen
wurden. Die Ähnlichkeit mit den noch weit umfassenderen Massenmorden der
Jahre 1915/1916 (etwa 1,5 Mio. Todesopfer) springt
ins Auge und schon damals sagten kundige Beobachter die vollständige Vernichtung
der Armenier voraus. (Ebd., 2002, S. 135).1909 ... kam es
... in Adana zu »fundamentalistischen« und überaus brutalen Ausschreitungen
gegen die Armenier. .... 30000 Todesopfer .... (Ebd., 2002, S. 136).Man
braucht sich in der tat nur die Ereignisse von 1894-1896 zu vergegenwärtigen,
um zu erkennen, daß eine Verschärfung nichts anderes als die gezielte
Vernichtung eines ganzen Volkes zur Folge haben konnte. (Ebd., 2002, S.
141).Auch Toynbee nahm klare Beweise wahr, »daß das
Verbrechen gegen die armenische Rasse wohlüberlegt, sorgfältig geplant
und in der Ausführung gut organisiert war.« (Arnold J. Toynbee, Armenain
Atrocities - The Murder of a Nation, 1915, S. 80). .... So sei »die
ganze Rasse für die Vernichtung vorgesehen.« (Ebd., S. 104).
(Ebd., 2002, S. 142).Bericht des deutschen Schuldirektors
Huber in Aleppo vom 15. Oktober 1915, von der deutschen Botschaft dem Auswärtigen
Amt übermittelt: »dagegn sei uns erlaubt, einen kleinen Ausschnitt
aus dem Massenelend dieser Volksvertilgung ((!)) zu beleuchten ....« (In:
Johannes Lepsius [Hrsg.], Deutschland und Armenien 1914-1918 - Sammlung diplomatischer
Aktenstücke, 1919, S. 165. Der Bericht stammt von dem Oberlehrer Dr.
Niepage und wird von dem Direktor sowie zwei weiteren Lehrern mit Nachdruck bestätigt.).
(Ebd., 2002, S. 143).»Es ist ersichtlich, daß
die Regierung den Plan verfolgt hat, sie Hungers sterben zu lassen. .... Wie an
die Pforte von Dantes Hölle kann man die Eingänge des Konzentrationslagers
schreiben Die ihr hiereintretet, lasset alls Hoffnung fahren! .... Soweit das
Auge reicht, sieht man Erdhügel, von denen jeder etwa zweihundert bis dreihundert
Leichen enthält .... Der-es-Zor ist der Sitz des Goub´verneurs der
Provinz gleichen Namens .... Aber nein, es war ein vorbedachter Plan, die armensiche
Frage aus der Welt zu schaffen.« (In: Johannes Lepsius [Hrsg.], Deutschland
und Armenien 1914-1918 - Sammlung diplomatischer Aktenstücke, 1919, S.
486ff.). (Ebd., 2002, S. 144).Seit dem 24. April
1915 waren noch nicht zwei Jahre vergangen, und die Vernichtung der türkischen
Armenier war abgeschlossen .... (Ebd., 2002, S. 144).Aber
noch lebten mehr als eine Million Armenier auf der russischen Seite, und etwa
300000 der türkischen Armenier war es gelungen, dort Zuflucht zu finden.
Sie schienen nun sicher zu sein, denn russische Truppen hatten erhebliche Teile
Ost-Anatoliens besetzt, drunter die Stadt Erzerum. Aber im herbst 1917 wendete
sich das Kriegsglück noch einmal im erstaunlichem Maße. Seit der Machtergreifung
der von Deutschland geförderten »Defätisten«, der Bolschewiki,
stand der deutsche Sieg an der Ostfront fest, und damit ergab sich auch für
die Türken eine andere Lage. Der Rückzug der Russen öffnete das
armenische Land bis hin zum Schwarzen Meer den türkischen Truppen.
(Ebd., 2002, S. 145).In einem deutschen Bericht vom April
1918 heißt es: »Den Abzug der russischen Truppen ausnützend ergossen
sich die türkischen Truppen sofort über das wehrlose Land, indem sie
nicht nua alle türkischen, sondern schon alle russischen Armeneier der Ausrottung
unterwarfen.« Wieder gingen Schreckensmeldungen in die Welt wie etwa die,
bei der Rückkehr der Türken nach Trapezunt seien Kinder in Säcke
gesteckt und ins Meer geworfen, die alten Frauen und Männer seien gekreuzigt
und verstümmelt, alle jungen Mädchen und Frauen seien den Soldaten ausgeliefert
worden. (Vgl in: Johannes Lepsius [Hrsg.], Deutschland und Armenien 1914-1918
- Sammlung diplomatischer Aktenstücke, 1919, S. 377ff.). (Ebd.,
2002, S. 145).Im Frieden von Brest-Litowsk gewannen die
Deutschen ihren türkischen Bundesgenossen die 18178 verlroenen Provinzen
von Kars und Ardahan zurück, doch die Türken bleiben an den neuen Grenzen
nicht stehen, sondern drangen trotz aller deutschen Proteste immer weiter auf
Batum und Baku vor. Aber diesmal stießen sie von seiten der Armenier auf
bewaffneten Widerstand, denn um Erewan und den Ararat herum bildete sich ein armensicehr
Staat, der zwar nur über wenige kampfkräftige Truppen und noch weniger
an Waffen verfügte, der aber mit regulären und irregulären Formationen
die vordringenden Türken an strategischen Punkten aufhielt. Jetzt fanden
auch nicht ganz selten Meldungen über Greueltaten der Armenier an den islamischen
und insbesondere der »tatarischen« (d.h. aserbeidschanischen) Bevölkerung
ihren Weg in die Presse, und sie waren ebenso unglaubwürdig, wie es die entsprechenden
Meldungen im Jahre 1915 gewesen waren. ... Doch im tiefen Schatten der bevorstehenden
Niederlage eroberten die Türken Baku und richteten dort unter den Armeniern
ein Blutbad an, das an die 30000 Tote forderte und unverkennbar an die in Urfa
und Adana erinnerte. (Ebd., 2002, S. 145-146).Das
Provozierende an den Opfern war mithin nichts anderes als ihre bloße Existenz.
(Ebd., 2002, S. 150).Das wirkliche Ausmaß der Vernichtung
ist von keinem statistischen Amt dokumentiert worden, und die großen Zahlen
beruhen, wie die meisten großen Opferzahlen, auf unsicheren Schätzungen.
Die größte Wahrscheinlichkeit dürfte der Zahl von 1200000 umgekommenen
Armeniern zuzuschreiben sein, die damit nahezu 50% der ungefähr zweieinhalb
Millionen Armenier ausmachen würden, welche vor 1914 in der Türkei lebten..
Dennoch darf man von »vollständiger Vernichtung« der türkischen
Armenier sprechen, denn diejenigen, die heute noch in Ostanatolien leben, bilden
nur eine mikroskopische Minderheit. (Ebd., 2002, S. 151-152).Ein
schlimmeres Massenleiden als dasjenige der armenischen Frauen ... ist unvorstellbar.
(Ebd., 2002, S. 152).Eine besondere Würdigung muß
dem evangelischen Pfarrer Johahhes Lepsius aus Potsdam zuteil werden. (Ebd.,
2002, S. 152).Nur in Rußland gab es eine genuine
Analogie in Form der antijüdischen »Pogrome« .... (Ebd.,
2002, S. 155).Meist als liberaler und auch jüdischer
Kampfbegriff verwendet, stellte der »Antisemitismus« oft nichts anderes
dar als die von vielen Juden akzeptierte Bestrebung, den Prozeß der dritten
großen »Assimilation« voranzutreiben, der »europäischen«
und vornnehmlich »deutschen« nach der »hellenistischen«
und der »spanischen« Assimilation; darin stimmten die beiden bekanntesten
Antagonisten des sogenannten Berliner »Antisemitismusstreites«, Heinrich
von Treitschke und Theodor Mommsen, durchaus überein. (Ebd., 2002,
S. 155).Es ist allgemein bekannt, daß Adolf Hitler
die Juden für ein menschheitsgefährdendes Volk hielt und daß er
ihre Vernichtung nicht bloß postulierte, sondern tatsächlich verwirklichte,
nämlich durch den »Holocaust« der Jahre 1941-1945, der zwischen
... 50% der europäischen Juden das Leben kostete. So sehr amgesichts des
Ungeheuerlichen den Nachlebenden »das Blut in den Adern erstarrt«,
so sollte dennoch nicht vergessen werden, daß die Verluste der Armenier,
wie erwähnt, ebenfalls 50% waren und daß die Täter einschließlich
Hitlers ebensoviel Anspruch auf die Kenntnisnahme ihrer Motive und Ziele haben
wie Enver, Talat und die »Spezialorgansiationen« der Ittihadisten
(Ebd., 2002, S. 155).Dieses Motiv konnte nicht wie im
armensichen Falle die Beseitigung eines geschlossen siedelndes Volkes als »Sperriegel«
gegen die Konstituierung eines weit größeren Nationalstaates sein,
denn die Juden bewohnten kein relativ geschlossenes Gebiet, aber eine gewisse
Analogie läßt sich in dem selten ausdrücklich zu Wort gebrachten
Tatbestand finden, daß die drei Millionen polnischen Juden als ein ernstes
Hindernis für die Eroberung von deutschem »Lebensraum im Osten«
angesehen werden konnten. Unter Vernachlässigung vieler Komplexitäten
kann man indessen zwei Äußerungen Hitlers und eine Feststellung eines
untergeordneten Beamten als den Kern der Motivation betrachten, die sich den »Holocaust«
als Ziel setzte oder ihn als unvermeidlich in Kauf nahm. Schon in »Mein
Kampf« hatte Hitler den mit Recht vielzitierten Satz geschrieben, wenn es
dem Juden »mit Hilfe seiner marxistischen Weltanschauung« gelinge,
den Sieg über die Völker dieser Welt zu erringen dnn werde seine Krone
der Totenkranz der Menschheit sein und am Ende werde der Planet, wie einst vor
Jahrmillionen, menschenleer durch den Äther ziehen. (Vgl. Adolf Hitler, Mein
Kampf, 1925, S. 69-70). Diese Aussage ... ist ... eine der frühesten
Manifestationen einer heute allverbreiteten Furcht, daß die Menschheit sich
selbst physisch zugrunde richten könnte. Niemand sieht heute mehr in »den
Juden« die Ursache, aber jeder muß bei einiger Überlegung zugeben
(und kann durchaus einen positiven Sinn mit der Feststellung verbinden), daß
einzelne Juden sowohl bei der Entwicklung der Atom- und der Wasserstoffbombe wie
bei der umweltgefährdenden »Globalisierung« eine weit überproportionale
Rolle gespielt haben und spielen. In einer seiner spätesten Äußerungen,
der »Rede auf dem Platterhof« im Juli 1944, behauptete Hitler, auf
längere Sicht werde derjenige »Rassekern im deutschen Volk, »der
eine kommerzielle Begabung ohne schöpferische Tätigkeit besaß«,
nämlich das Judentum, zur stärksten Kraft geworden sein und dabei wäre
das deutsche Volk völlig zersetzt worden. (04.07.1944; vgl. in: Bundesarchiv
NS 19/1452). Damit stellte er sich in eine Tradition hinein, die auch auch für
die Frühsozialisten und nicht zuletzt für Marx bestimmend gewesen war,
nämlich die Vorstellung von einem kausalen Zusammenhang zwischen Judentum
und »kapitalistischer« Geldwirtschaft. Die Ähnlichkeit mit jener
eher marginalen Äußerung Envers liegt auf der Hand: das deutsche Kriegervolk,
das »letzte Volk des Mars in Europa«, wie man es genannt hat, werde
durch die Kommerzialisierung und durch die Aktivität der unkriegerischen
Intellektuellen auf das ernsteste gefährdet. Aber gleich farauf bringt Hitler
ein ganz andersartiges Motiv zu Wort und stellt dadurch unter Beweis, daß
jener frühere Beweggrund, der antibolschewistische und im Kern antimarxistische,
für ihn der stärkere war: »der Bolschewismus würde Millionen
und Millionen unserer Intellektuellen abgeschlachtet haben« (Unter »unseren
Intellektuellen« versteht Hitler hier zweifellos die »nationale Intelligenz«,
die er von früh an positiv bewertet hatte). Offensichtlich will Hitler sagen,
daß nur er die Entschlußkraft besitze, die beiden gleich verhängnisvollen
Entwicklungen abzuwenden und zwar durch die Vernichtung der Juden. Diese seine
Interpretation ist also durchaus »intentionalistisch«, »von
oben her« gedacht, und ihr rationaler Kern ist offenbar jene »Rolle
des Juden als Mitwirkender, Ärgernis, Täter, Testfall und Opfer«
in der weltgeschichtlichen Auseinandersetzung, von welcher der jüdische geschichtsdenker
Jacob Talmon spricht, und eben dieser Talmon erkennt unzweifelhaft auch den Begriff
des »jüdischen Bolschewismus« einen rationalen Kern zu, wenn
er darauf hinweist, daß »praktisch alle Unterhändler in Brest-Litowsk
Juden waren« und wenn er von dem »jüdisch geführten kommunistischen
Regime in Bayern« spricht. (Ebd., 2002, S. 156-157).Das
Argument der Absicht »vollständiger Vernichtung« als eines Kennzeichens
bloß der Judenausrottung ist nicht haltbar, denn diese Intention war auch
bei den Ittihadisten gegeben, und in beiden Fällen war die zahl der Überlebenden
keine »quantité négligeable«. Überdies hatten die
Armenier nicht die Möglichkeit der Auswanderung, wie sie die deutschen Juden
von 1933 bis 1939 besaßen. Es ist daher wahrscheinlich, daß Hitler
bis zum September 1939, ja bis zu Umschlag der Kriegssituation ..., nur jene Vertreibung
der Juden im Sinn hatte, die re in seiner Frühzeit 1919 »Entfernung«
genannt hatte (z.B. in dem Brief an Gemlich vom September 1919; vgl. Eberhard
Jäckel / Axel Kuhn, Hitler - Sämtliche Aufzeichnungen, S. 88-90).
(Ebd., 2002, S. 158).Ebensowenig kann das Ausmaß
der leiden ein adäquates Kriterium sein, denn als Massenleiden konnte das
armensische, wie oben festgestellt wurde, nicht übertroffen werden.
(Ebd., 2002, S. 158).Von einer »Singularität«
der Judenvernichtung darf nur dann die Rede sein, wenn man den planetarischen
und metaphysischen Charakter von Hitlers Vernichtungswillen unterstreicht und
ihn nicht als »Wahnsinn« unbegreifbar macht, sondern mit der jahrtausendealten
Singularität der jüdischen Existenz zusammenbringt. (Ebd., 2002,
S. 159).Daher halte ich es für richtig. selbst dann
den Terminus »Holocaust« auch für den armenischen Fall zu verwenden,
wenn die Singularität der »Judenvernichtung« mit richtigem und
nicht mit unzureichenden und/oder falschen Argumenten begründet wird.
(Ebd., 2002, S. 159).In einem Ausblick ist nun festzustellen,
daß der Vergleich zwischen den beiden »Holocausts« als solcher
keinerlei kausalen Nexus in sich schließt. (Ebd., 2002, S. 159).Deutschland
konnte die Vernichtung der Armenier nur dadurch stoppen, daß es das Bündnis
mit der Türkei aufkündigte und das sei aus militärischen und vitalen
Interessen schlechterdings unmöglich. (Vgl in: Johannes Lepsius [Hrsg.],
Deutschland und Armenien 1914-1918 - Sammlung diplomatischer Aktenstücke
[Nr. 300 vom 29.09.1916], 1919, S. 294). (Ebd., 2002, S. 160).
Historische Tabuisierungen in Deutschland
(Vortrag
vor dem Harnack-Haus-Kreis der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft am 07.12.2000)»Tabu«
ist ein Begriff, der ursprünglich in die Ethnographie hineingehört:
Er bezeichnet - unter verschiedenen Namen wie auch »mana« - dasjenige,
was in archaischen Kulturen für alle oder mindestens für die gewöhnlichen
Zugehörigen dieser Kultur unzugänglich oder unberührbar ist: in
positivem Sinne »das Heilige« und in negativem das Bedrohliche und
Schadenstiftende. Häufig dürfen nur die Priester das Heiligtum betreten,
und bloß den Zauberern wird zugetraut, daß sie sich dem Drohenden
nähern, ohne Schaden zu nehmen. Aber auch in der Gegenwart findet der Begriff
Verwendung, und er bedeutet nach wie vor das Unberührbare, dem man sich,
wenn überhaupt, nur zaghaft und unter Inkaufnahme von Gefahren zuwendet.
Doch während in archaischen Gesellschaften ein konkretes Tabu etwas Unvordenkliches
ist, kann in der Moderne die Entstehung eines Tabu beobachtet und unter Umständen
durch menschliches Handeln inauguriert - oder, wie postmoderne Schriftsteller
gern sagen, - erfunden werden. Daher läßt sich hier der Begriff »Tabuisierung«
bzw.« Tabuierung« bilden. (Ebd., 2002, S. 180).»Historische
Tabuisierungen« beziehen sich auf das Gebiet der Geschichtswissenschaft
.... (Ebd., 2002, S. 180-181). Historische Tabus und Tabuisierungen
jedoch kann und darf es nicht geben. (Ebd., 2002, S. 181).Dieses
Urteil ist indessen vorschnell. Politik und Geschichtswissenschaft lagen in der
Geschichte nicht so weit auseinander, wie hier vorausgesetzt wird, und das wesentliche
dürfte sich auch in der Gegenwart nicht geändert haben. (Ebd.,
2002, S. 181).Als Georg Gottfried Gervinus, der als Politiker in
der Revolution von 1848 eine bedeutende Rolle gespielt hatte, aber schon längst
vorher und auch als einer der »Göttinger Sieben« in der Wissenschaft
eine rühmliche Stellung einnahm, im Jahre 1850 seine umfangreiche »Einleitung
zur Geschichte des 19. Jahrhunderts« veröffentlichte, die als ein Muster
liberalen und progressistischen Denkens gelten darf, da wurde von der badischen
Regierung ein Prozeß gegen ihn angestrengt, weil diese Schrift den Tatbestand
«des Hochverrats und der Gefährdung der öffentlichen Ruhe und
Ordnung« erfülle. In der Sache handelte es sich um die militante, wenn
man will, »streitbare« Verteidigung der Grundordnung der Restaurationszeit,
und Gervinus wurde tatsächlich in der ersten Instanz verurteilt. Die höhere
Instanz hob das Urteil jedoch auf, und die badische Regierung begnügte sich
damit, Gervinus die »Venia legendi« zu entziehen. (Ebd., 2002,
S. 181).Der durch seine Arbeiten zur ostfriesischen Geschichte
und zur Sukzession der Dynastie Hannover in England bekannte, heute so gut wie
vergessene Historiker Onno Klopp kritisierte, obwohl zunächst Protestant,
die Reformation und dann Friedrich II. von Preußen aufs schärfste,
und er ergriff im deutschen Bürgerkrieg von 1866 mit großer Tatkraft
die Partei des blinden Königs von Hannover, Georgs V., mit dem er nach dem
Triumph Bismarcks das Exil in Wien teilen mußte. Wie hätte dieser Vorkämpfer
der katholisch-großdeutschen Geschichtsauffassung, für den Preußen
das Prinzip des Bösen bedeutete, im preußisch-kleindeutschen Kaiserreich
der Sybel und Treitschke eine Stelle finden können? Aber seine Bücher
wurden publiziert und auch in Preußen gelesen, wenngleich durchweg scharf
bekämpft. (Ebd., 2002, S. 181).Von eben dieser kleindeutsch-liberalen
Tradition in ihrer hansestädtisch-großbürgerlichen Ausprägung
kam Ludwig Quidde her, der aber wie nicht wenige seinesgleichen an der Figur Wilhelms
II. Anstoß nahm und im Jahre 1894 ein Büchlein mit dem Titel »Caligula«
publizierte, das innerhalb weniger Monate dreißig Auflagen erreichte, weil
zahlreiche Leser in dem römischen Imperator den deutschen Kaiser erkannten
und der ätzenden Kritik innerlich zustimmten. Aber Quidde hatte damit ein
genuines Tabu verletzt, nämlich die geheiligte Majestät von Gottes Gnaden,
und er wurde gleich vor Gericht gezogen. Seine Anwälte erwirkten jedoch einen
Freispruch ..., und Quidde schied dann, von nahezu allen Fachkollegen gemieden,
aus der Wissenschaft mehr oder weniger aus, um sich ganz »dem Kampf um den
Frieden« zu widmen, einer Aktivität, aufgrund deren er 1927 den Friedensnobelpreis
erhielt. (Ebd., 2002, S. 182).Es ließen sich noch eine
ganze Anzahl von Historikern aufzählen, die den vorherrschenden Tendenzen
der Geschichtsschreibung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ablehnend
oder mindestens kritisch gegenüberstanden und meist Nachteile in ihrer Laufbahn
zu erleiden hatten: Eckart Kehr, Johannes Ziekursch, Veit Valentin, Ludwig Bergsträsser,
Arthur Rosenberg und sogar Karl Lamprecht, der freilich ein Mitglied des »Alldeutschen
Verbandes« war. Aber alle fanden doch Publikationsmöglichkeiten und
Fürsprecher, ja Anhänger; und erst die nationalsozialistische Machtergreifung
brachte sie zum Schweigen oder trieb sie wie Valentin und Rosenberg in die Emigration.
(Ebd., 2002, S. 182).Nach der Katastrophe von 1945, die außer
den politisch und »rassisch« Verfolgten zunächst von niemandem
als »Befreiung« empfunden werden konnte, meldeten sich diejenigen,
die hatten schweigen müssen, wieder zu Wort, und ein Teil der Emigranten
kehrte zurück - ich nenne nur Friedrich Meinecke und Hans Rothfels. Doch
wenn der Staat Preußen von den Alliierten aufgelöst wurde, so verschwand
die preußisch-deutsche Geschichtsauffassung keineswegs, wie schon an der
beherrschenden Figur Gerhard Ritters deutlich wurde, aber in aller Regel übten
ihre Vertreter ein beträchtliches Maß an Selbstkritik und insofern
an »Vergangenheitsbewältigung«. Daraus hätten neue Fragestellungen
hervorgehen können, aber was es davon gab, wurde rasch überdeckt von
dem Wiederaufgreifen der alliierten Kriegsschuldthese hinsichtlich des Ersten
Weltkrieges durch Fritz Fischer und durch die Radikalisierung seines Ansatzes
vonseiten einer jüngeren Generation von Historikern, die den NS als eine
konsequente Folge eines alten und antidemokratischen deutschen Sonderweges verstanden
(in Wahrheit war Deutschland
früher demokratischer als z.B. England, und die These vom deutschen Sonderweg
ist sowieso falsch, sie diente und dient stets der deutschfeindlichen aus- und
inländischen Propaganda; Anm. HB), welcher mit nur allzu großer
Konsequenz seinen Höhepunkt in der »Endlösung der Judenfrage«,
im millionenfachen Massenmord, in »Auschwitz« gefunden habe.
(Ebd., 2002, S. 182-183).Von einer
überwältigenden Erfahrung ausgehend und von machtvollen Tendenzen in
aller Welt unterstützt, hat die Konzeption von der weltgeschichtlichen, aber
in der deutschen Geschichte begründeten Einzigartigkeit von Auschwitz - die
ursprünglich alles andere als populär war und nicht von einem Vertreter
der neuen Sozialgeschichte zuerst entwickelt wurde - einen solchen Vorrang gewonnen,
daß sich ein Tabu gebildet hat, das weitaus stärker ist als irgendeins
der Tabus, die sich früher im Grenzbereich von Politik und Geschichtswissenschaft
gebildet hatten. Sogar eine Frage wie etwa »Ist Auschwitz ein Problem?«
begegnet dem größten Mißtrauen und setzt sich dem Verdacht aus,
eine »Verharmlosung« zu intendieren, die seit 1994 unter Androhung
einer sehr schweren Strafe verboten ist (wie in einer Diktatur,
denn auch dies ist eindeutig eine Einschränkung der Freiheit, insbesondere
des Rechts auf freie Meinung! Anm. HB [**|**]),
wenngleich eine Ausnahmeklausel für »wissenschaftliche Forschung«
im Strafgesetzbuch nicht fehlt. Aber die Frage nach den »Problemen«,
die sich mit einer geschichtlichen Gestalt oder einem historischen Phänomen
verbinden, ist die Grundfrage der Geschichtswissenschaft überhaupt, der Geschichtswissenschaft
in ihrer weitesten Bedeutung, und der Historiker sieht sich durch das praktische
Verbot der Problematisierung vor das größte Problem gestellt, dem er
begegnen kann. Allem zuvor ist nämlich festzustellen, daß es sehr gute
Gründe für diese Tabuisierung gibt. (Ebd., 2002, S. 183).Jeder
Mensch, der die Zeit des »Dritten Reiches« mit wachem Bewußtsein
erlebt hat, erinnert sich nur allzu gut, welchen Angriffen und Herabsetzungen
nicht etwa bloß die eingewanderten »Ostjuden«, sondern auch
die jüdischen Staatsbürger einschließlich der ehemaligen und oftmals
hochdekorierten Frontkämpfer unterlagen. Niemand, der Augenzeuge war, kann
die Erinnerung an die Nacht vom 9. zum 10. November 1938 mit ihren Inbrandsetzungen
von Synagogen, Verwüstungen von Geschäften und der Verhaftung von vielen
Tausenden jüdischer Mitbürger aus seinem Gedächtnis verdrängen.
Aber das Ziel aller dieser Vorgänge war die Emigration, die jeder Einzelne
betreiben konnte, und grundsätzlich war die Rechtssicherheit noch nicht in
Frage gestellt. Einen qualitativen Umbruch bedeutete nicht so sehr der Kriegsbeginn
im September 1939, der bekanntlich für die meisten der deutschen Emigranten
in Frankreich und Großbritannien und wenig später für die japanischstämmigen
Staatsbürger der USA die Internierung nach sich zog, sondern der Ausbruch
des deutsch-sowjetischen Krieges, dessen - höchst strittige - Kennzeichnung
als »Präventivkrieg« zu den kleineren Tabus der deutschen Geschichtsschreibung
gehört. (Ebd., 2002, S. 183-184).Vom 2. Juli 1941 stammt
der offizielle Einsatzbefehl Heydrichs für die Einsatzgruppen und -kommandos,
der ihnen die Exekution ohne Gerichtsverfahren mehrerer feindlicher Gruppen aufgibt
und der so etwas wie eine Erweiterung des so genannten »Kommissarbefehls«
der Wehrmacht darstellt. An der ersten Stelle werden die Funktionäre der
Komintern genannt, es folgen die höheren, mittleren und radikalen unteren
Funktionäre des Apparats der KPdSU, die »Volkskommissare« und
am Ende die »sonstigen radikalen Elemente (Saboteure, Propagandeure, Heckenschützen,
Attentäter, Hetzer u.s.w.) Hier handelt es sich durchweg um politische Funktionen
oder Aktivitäten, aber vor den »Volkskommissaren« erscheint eine
Gruppe, für die partiell ein ethnisches oder »rassisches« Merkmal
bestimmend ist, nämlich »Juden in Partei- und Staatsstellungen«.
Es ist möglich, daß schon vor Kriegsbeginn bei einer Besprechung mit
den Kommandanten der Einsatzgruppen in Pretzsch an der Elbe von Heydrich ähnliche
oder noch umfassendere Kategorien aufgezählt wurden; sicher ist, daß
innerhalb weniger Wochen von den Einsatzgruppen eine starke Ausweitung vorgenommen
wurde, partiell wohl autonom, im Kern aber auf Befehl von Himmler, und daß
ab September mehr und mehr sämtliche erreichbaren Juden, soweit sie nicht
zur Arbeit für die Wehrmacht unentbehrlich waren, erschossen wurden ... Die
zunächst noch zahlreichen - schon in sich als Symptome einer »kollektivistischen
Schuldzuschreibung fragwürdigen - Hinweise auf »Vergeltung« für
die NKWD-Massenmorde an Ukrainern oder auf die Tötung und Verstümmelung
gefangen genommener deutscher Soldaten sind um diese Zeit bereits so gut wie verschwunden.
(Ebd., 2002, S. 184-185).Es ist nach meiner Ansicht unbestreitbar,
daß ... bald nach der Kriegserklärung an die USA im Dezember 1941 ...
eine abermalige qualitative Veränderung erfolgte und mit dem Bau jener Lager
begonnen wurde, in denen nun die Juden ganz Europas »betreut« werden
sollten, um den Terminus der Gruppe Arlt zu verwenden. Aber was der Oberscharführer
Arlt dachte, war lange zuvor von Adolf Hitler in einer umfassenden Perspektive
vorgedacht worden, als er im ersten Band von »Mein Kampf« folgendes
schrieb »Siegt der Jude mithilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses
über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totenkranz der
Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer
durch den Äther ziehen. Die ewige Natur rächt unerbittlich die Übertretung
ihrer Gebote. So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers
zu handeln: Indem ich mich der Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk
des Herrn.« (Adolf Hitler, Mein Kampf, Band I, 1925, S. 69-70).
(Ebd., 2002, S. 185-186).Darf der Historiker, der Wissenschaftler,
der rationale Mensch indessen ohne ein Aufbegehren damit einverstanden sein, daß
alles Nachdenken erstirbt und durch eine Haltung des Schauderns ersetzt wird,
wie sie einem authentischen Tabu gegenüber tatsächlich angemessen ist?
Muß der Historiker auf sich als Wissenschaftler Verzicht leisten, wenn er
als Mensch in das richtige, auf unverkennbare Weise religiöse Verhältnis
zu dem grundlegenden Tatbestand der Geschichte des 20. Jahrhunderts, ja möglicherweise
der Geschichte im ganzen treten will? (Wenn das der Fall
ist [und in Deutschland bzw. in Europa bzw. im Abendland, d.h. in der westlichen
Welt scheint das der Fall zu sein], dann leben wir in einer Diktatur, in der u.a.
aus Geschichte eine Religion gemacht werden soll [nämlich genau so, wie die
Nazis das auch schon wollten; also sind und werden so immer mehr ausgerechnet
die Antinationalsozialisten - bewußt oder unbewußt - zu den Vollendern
des Nationalsozialismus]! Anm. HB). (Ebd., 2002, S. 186-187).Götz
Aly kritisiert in seinem 1995 erschienenen Buch »Die Endlösung«
jene zahlreichen Historiker, welche die Endlösung »vom offenkundigen
Gesamtzusammenhang isolierten und sich dadurch der Möglichkeit begaben, die
Himmlersche Rassen- und Umsiedlungspolitik in ihrer komplexen Gesamtheit und aus
ihrer inneren Logik heraus zu analysieren.« Vor allem ist nach seiner Auffassung
der Zusammenhang zwischen der Aussiedlung der volksdeutschen Minderheiten aus
der Sowjetunion und der Vertreibung der Juden in der frühen Phase des Krieges
nicht genügend beachtet worden. Ein solcher Zusammenhang sei von Himmler
selbst zunächst nicht gesehen worden, weil eine Umsiedlung der Baltendeutschen
in das Reich nicht geplant gewesen sei. Aber dann habe einer der Führer der
lettischen Deutschen Himmler ausgemalt, »wie lebendig die Angst vor dem
Bolschewismus in Riga sei, wie gut sich die Deutschen dort an das Massaker vom
22. Mai 1919 erinnerten.« (Ebd., S. 39) (**).
Damit sei Himmler vor eine Situation gestellt worden, die ebenso unvorhersehbar
gewesen sei wie der Abschluß des Stalin-Hitler-Paktes, und in der Folge
sei eine Fülle von Improvisationen, ja von chaotischen Zuständen entstanden,
wobei es vor allem um die Beschaffung von Wohnraum für die Umgesiedelten
ging, welche die Juden in den ehemals polnischen Gebieten zwar besonders stark,
aber nicht ausschließlich betroffen habe; Aly behauptet sogar, schon im
Herbst 1939 seien gebrechliche Baltendeutsche von SS-Leuten abgeholt und getötet
worden. Im Spätherbst 1940 hätten Hunderttausende von Menschen in Umsiedlerlagern
festgesessen - Juden, Polen und Deutsche, die zwar unterschiedlich ernährt
wurden, aber in ganz ähnlicher und kümmerlicher Lage waren. In dieser
Lage habe die Beseitigung der Juden den einfachsten Ausweg dargestellt, und die
ersten Maßnahmen hätten rasch eine spezifische Dynamik gewonnen, die
schließlich zur definitiven Endlösung führte. Durch diese Auffassung
werde »der Holocaust historisch faßbar« gemacht; er erscheine
nicht länger als »rassistische Wahnsinnstat«, sondern als Ereignis,
das »der Analyse zugänglich« sei, und zwar mit gewöhnlichen
historischen Mitteln. In der Tat erhalten jetzt Zufälligkeiten, Überraschungen,
Improvisationen, Ratschläge und Initiativen von untergeordneten Stellen einen
Platz, den sie nicht oder nur ganz am Rande haben würden, wenn der »Holocaust«
auf eine einsame Entscheidung Hitlers zurückzuführen wäre. (Dazu
gehört auch die Auswirkung der Nachricht von der Deportation der Wolgadeutschen,
die Anfang September 1941 bekannt wurde. Zu den Folgen der Ermordung vieler Tausender
von Gefängnisinsassen durch den NKWD in Lemberg und zahlreichen anderen Orten
Ostpolens wenige Tage nach dem 22. Juni 1941 vgl. Bogdan Musial, Konterrevolutionäre
sind zu erschießen ..., 2000.). (Ebd., 2002, S. 187-188).In
dem umfangreichen Buch von Christian Gerlach »Kalkulierte Morde. Die deutsche
Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944«
hat ein Begriff zentrale Bedeutung, der bis dahin in der Holocaust-Literatur kaum
je erwähnt wurde, nämlich der Begriff der (englischen) Blockade, die
Deutschland bekanntlich von der Nahrungsmittelzufuhr weitgehend abschloß
und die ja schon bei der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg eine entscheidende
Rolle gespielt hatte. Daher habe es ein Ziel gegeben, das von der gesamten deutschen
Führungsschicht geteilt worden sei, nämlich »Blockadefestigkeit
zu erreichen, sei es auch mit den mörderischsten Mitteln«. Dieses Ziel
sei der Grund für die »kalkulierten Morde« gewesen, je keineswegs
allein die jüdische Bevölkerung, sondern in noch stärkerem Maße
die sowjetischen Kriegsgefangenen und auch die ganze Stadtbevölkerung betroffen
habe ..., und daher erscheine »mit Blick auf Weißrußland eine
ausschließlich auf die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung
beschränkte Darstellung zu den nationalsozialistischen Zielen nicht sinnvoll«.
Wie Aly sucht Gerlach also einen rationalen, verstehbaren Grund für die Massentötungen,
und er findet ihn in Erwägungen, die er »ökonomisch« nennt.
Damit taucht aber eine Metapher auf, die der Verfasser nicht unterstreicht, die
aber trotzdem unumgänglich ist, nämlich das Bild Deutschlands als einer
von feindlicher Übermacht und von der Aushungerung bedrohten Festung wie
Numantia oder Masada. In keiner Festung dieser Art kommen die Befehlshaber um
die Frage herum, welche Teile der Bevölkerung zugrunde gehen müssen,
wenn die Besatzung kampfkräftig bleiben und imstande sein soll, die Festung
bis zum Entsatz durch verbündete Truppen oder bis zu einem heroischen Ende
zu verteidigen. Unzweifelhaft würde es sich um die Alten, die Kranken, die
Kinder und natürlich die etwa feindlich eingestellten Bevölkerungsteile
handeln. Vielleicht würde es in den Augen des Kommandanten sogar als human
gelten, diese Schwachen gleich zu töten, statt sie den Qualen des langsamen
Hungertodes und die Besatzung der Gefahr von Seuchen auszusetzen. Die einzige
Alternative zu dieser furchtbaren, ja tragischen Situation würde die Kapitulation
sein. Beispiele für eine so humanitäre Klugheit sind jedoch in der Geschichte
nicht viele zu finden; fast immer wurde der heroische Untergang vorgezogen. So
ist der Verfasser zwar von einer »Rechtfertigung« oder auch nur »Verharmlosung«
des großen »Judenmordes« in Weißrußland weit entfernt,
den er in zahlreichen, Abscheu und Schrecken hervorrufenden Details beschreibt,
aber »verstehbar« (nicht »verständlich«) wird die
Massentötung in hohem Grade. (Ebd., 2002, S. 188-189).Im
Warschauer Getto, schreibt Lustiger (vgl. Arno Lustiger, Zum Kampf auf Leben
und Tod, 1994), hätten sich auch sowjetische Fallschirmspringer befunden
und beachtliche Organisationsaktivitäten seien im Gange gewesen, bevor die
Massendeportation am 22. Juli 1942 begann. Offenbar nimmt Lustiger auch eine starke
Beteiligung von Juden an, wenn er ein Schreiben des Generalgouverneurs Frank an
den Reichsminister Lammers vom April 1943 zitiert: »Die Morde an den Deutschen
nehmen in furchtbarer Weise zu.« So kann er behaupten, »daß
die jüdische Beteiligung an der polnischen Partisanenbewegung als unverhältnismäßig
hoher Beitrag herausragt«, eine Beteiligung, zu der auch »11-bis 14jährige
Kinder« und erst recht die Frauen einen Beitrag leisteten. Und dieser jüdische
Widerstand begann nach Lustiger nicht etwa erst mit dem Kriegsausbruch: Der jüdische
Anteil an den Internationalen Brigaden des Spanischen Bürgerkrieges war weit
überproportional hoch, und im ganzen macht Lustigers Buch deutlich, daß
die deutschen Armeen in der Sowjetunion sich in einer »Losowski-Situation«
befanden, jener Situation, die der hohe sowjetische Funktionär S.A. Losowski,
auch er jüdischer Abkunft, im Jahre 1936 noch voller Zuversicht den »Imperialisten«
vor die Augen gehalten hatte: »Ihr wollt Krieg haben, ihr Herren? Probiert
es. Und ihr werdet in euren eigenen Werken, Fabriken und Kolonien Krieg haben«.
In den deutschen Industriebezirken gab es allerdings nicht einmal Ansätze
zu einem solchen Krieg, und wenn Sebastian Haffner sein Kapitel über »Hitlers
Erfolge« noch etwas ausgeweitet hätte, würde er auch diesen Umstand
erwähnt haben, aber im russischen und polnischen Hinterland spielte sich
trotz der großen anfänglichen Sympathien der ukrainischen und der baltischen
Bevölkerung dieser Krieg tatsächlich ab, und bekanntlich hat das Oberkommando
der sowjetischen Partisanen 1945 die Behauptung aufgestellt, nicht weniger als
500000 deutsche Soldaten seien von Partisanen getötet worden. Die exzessive
Reaktion, die Künftiges und noch Unbewiesenes vorwegnahm, war nichts anderes
als jenes »Auschwitz in der weitesten Bedeutung«, der präventive
Partisanenkampf, welcher nach dem Kriege von den Franzosen in Algerien und von
den US-Amerikanern auf den Philippinen und in Vietnam mit ähnlichen, wenngleich
längst nicht so umfassenden Methoden geführt wurde. (Ebd., 2002,
S. 190).Im Hinblick auf dieses »Auschwitz« gibt es
meines Wissens auch in der so genannten »revisionistischen« oder negationistischen
Literatur (diese »revisionistische« Literatur ist in Deutschland entweder
unbekannt wie die zahlreichen Bände des us-amerikanischen »Journal
of Historical Review« und der französischen »Annales d'histoire
révisionniste« oder verboten wie die von »Ernst Gauss«
(Germar Rudolf) herausgegebenen »Grundlagen
der Zeitgeschichte - Ein Handbuch über strittige Fragen des 20. Jahrhunderts«;
die vollständigste Sammlung von Studien und Stellungnahmen des wichtigsten
der Vorkämpfer dieses »Revisionismus« ist: Robert Faurisson,
Escrit révisionistes; 4 Bände, 1999**)
keine ernsten Zweifel, obwohl hier und da Belzec und Sobibor für »Durchgangslager«
erklärt wurden und sogar die Existenz von Treblinka bestritten worden ist.
Alle Kritik und aller Zweifel konzentrieren sich auf das »Auschwitz in der
engsten Bedeutung«, auf das Lager Auschwitz. Hier liegt also jene Differenz
in der Darstellung von Ereignissen vor, eine Differenz, welche in der »etablierten«
Literatur aber nicht ausgetragen wird, weil vielfach sogar besonders prononcierte
Zeugenaussagen als »Tabus« betrachtet werden, wenngleich gewiß
nicht durchweg. (Ebd., 2002, S. 190-191).Die frappierendste
Negation war eine »offizielle«, nämlich die Ersetzung der bis
dahin fast allgemein vorherrschenden Zahl der Auschwitz-Opfer von vier Millionen
auf 1,1 bis 1,5 Millionen einschließlich der Seuchentoten. (Und
insgesamt waren es ca. 2 Millionen ermordete Juden, doch die Propaganda spricht
sogar - bedenkenlos und gegen jede wissenschaftliche Erkenntnis sich wehrend -
weiterhin von insgesamt 6 Millionen, und Erich Böhme brachte in seiner Fernsehsendung
Talk in Berlin sogar das Kunststück fertig, während eines
Gesprächs mit Jörg Haider die Zahlen der ermordeten Juden alle 2 Minuten
um 2 Millionen zu erhöhen, weil er gegen den
ihm intellektuell zu sehr überlegenen Jörg Haider einfach keine Argumente
hatte! Anm. HB). Auswirkungen auf die jüdische
Gesamtopferzahl von »sechs Millionen« hatte diese Reduzierung allerdings
nicht, und das kann nur so erklärt werden, daß die polnisch-kommunistische
Lagerleitung der Nachkriegszeit die Zahl so außerordentlich erhöht
hatte, um ein Gleichgewicht zwischen jüdischen und polnischen Opfern wahrscheinlich
zu machen. Gravierender war die Behauptung, in den »angeblich« zur
Menschentötung verwendeten Gaskammern in Auschwitz-Birkenau sei nur wenig
von den so gut wie unzerstörbaren Zyanid-Rückständen zu finden,
während in den der Entwesung dienenden Gaskammern sogar eine Blaufärbung
der Wände zu beobachten sei. Noch frappierender war die von denselben »Negationisten«
um Robert Faurisson herrührende These, die Einwurflöcher in den Decken
der »angeblichen« Gaskammern zur Menschentötung gebe es überhaupt
nicht. In dem sumpfigen Gelände von Birkenau hätten überdies die
vielfach bezeugten Massenverbrennungen in tiefen Gruben nicht stattfinden können.
Die noch häufiger bezeugten meterhohen Flammen, die aus den Kaminen der Krematorien
emporschossen, seien eine technische Unmöglichkeit, ganz wie die spurenlose
Beseitigung von bis zu 24000 Menschen an einem Tage (wer
glaubt denn das? Anm. HB); im übrigen ließen alliierte
Luftaufnahmen des Lagers keinen Rauch aus den Kaminen und keine Menschenansammlungen
vor den Krematorien erkennen. Aus den ebenfalls erst seit kurzem zugänglichen
»Totenbüchern von Auschwitz« gehe hervor, daß sehr wohl
alte Menschen und Kinder im Lager vorhanden gewesen seien, so daß die These
von der sofortigen und nicht registrierten Vernichtung aller Schwachen, Kranken
und Alten nicht stimmen könne. Die »dantesken« Erzählungen
von den massenhaft ins offene Feuer geworfenen Kindern oder den aus Sadismus herrührenden
Begrabungen von lebenden Häftlingen ständen in einem schroffen Gegensatz
zu den gültigen Vorschriften, die selbst für Prügelstrafen die
Genehmigung aus Berlin und im Falle von Frauen sogar von Himmler persönlich
vorsahen. Vor allem aber werde in nahezu sämtlichen Häftlingsberichten
der große Anteil der »Capos« übergangen, um alle Grausamkeit
den relativ wenigen im Lager tätigen SS-Leuten zuschieben zu können
- aus der Empörung darüber, daß die hochprivilegierten Männer
der (meist kommunistischen ) Lagerleitungen sich nach dem Kriege nicht selten
zu Sprechern der von ihnen gequälten »gewöhnlichen« Häftlinge
machten, ist die Arbeit des ersten Revisionisten, des französischen Häftlings
und späteren Abgeordneten der Nationalversammlung Paul Rassinier, hervorgegangen.
(Ebd., 2002, S. 191-192).Auf alle diese Behauptungen und Fragen
gibt es Antworten, die aber kaum je in direkter Auseinandersetzung mit der »revisionistischen«
Literatur artikuliert werden, und ich würde sie anführen, wenn mir mehr
Zeit zur Verfügung stände. Ich begnüge mich mit der Formulierung
eines Postulats: alle großen, viele Menschen hautnah berührenden Ereignisse
erzeugen um sich einen Kranz von Gerüchten, ja oft genug von Mythen. Nicht
ohne weiteres die Zeugenaussagen und die zugrunde liegende Realität zu identifizieren,
gehört auch im Hinblick auf das Lager Auschwitz zu den unverzichtbaren Aufgaben
der Wissenschaft; der Fall Wilkomirski hat ja noch jüngst gezeigt, wie leicht
sich Zeugenaussagen »erfinden« lassen. Ich denke, daß es an
der Zeit ist, mit der »Tabuisierung« des Lagers Auschwitz ein Ende
zu machen und volle Wissenschaftsfreiheit nicht zu unterbinden. Aber selbst wenn
- was in meinen Augen unmöglich ist - die allbekannten Hauptmerkmale des
Lagers Auschwitz: Die Opferzahlen, die spurenlose Vernichtung von mehr als 20000
Menschen am Tag, die Gaskammern zur Menschentötung sich als Mythen erwiesen,
würde jenes andere und größere »Auschwitz« der intendierten
Ausrottung aller Juden bestehen bleiben, und sogar im Vergleich zu »Katyn«
würde weiterhin von »Singularität« die Rede sein dürfen,
denn die Tötung der 15000 polnischen Kriegsgefangenen Offiziere war ein durch
und durch politisches Verbrechen und nicht eine biologische, ja metabiologische
Untat. (Ebd., 2002, S. 192).Läßt sich eine umfassendere,
angemessenere Sichtweise von »Auschwitz« entwickeln? Ich habe in meinem
Buch über den »Europäischen
Bürgerkrieg« versucht, eben das zu tun, und ich zitiere zum Schluß
zunächst einige in meinen Augen überaus erhellende Sätze aus einer
Ereignismeldung der Einsatzgruppe C vom September 1941. Dort heißt es: »Selbst
dann, wenn eine sofortige hundertprozentige Ausschaltung des Judentums möglich
wäre, wird dadurch noch nicht der politische Gefahrenherd beseitigt. Die
bolschewistische Arbeit stützt sich auf Juden, Russen, Georgier, Armenier,
Polen, Letten, Ukrainer; der bolschewistische Apparat ist in keiner Weise mit
der jüdischen Bevölkerung identisch. Bei dieser Sachlage würde
das Ziel einer politisch-polizeilichen Sicherung verfehlt werden, würde man
die Hauptaufgabe der Vernichtung des kommunistischen Apparates zugunsten der arbeitsmäßig
leichteren Aufgabe, die Juden auszuschalten, in die zweite oder dritte Reihe stellen.«
(Vgl. auch: Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg ..., a.a.O,
S. 541 bzw. 592). (Ebd., 2002, S. 192-193).Hier wird also
die Judenvernichtung als eine von der Hauptaufgabe ablenkende Nebenaufgabe verstanden,
denn die Hauptaufgabe ist der Kampf gegen »den Bolschewismus«, der
zahllose nichtjüdische Anhänger hat und kein nationales, sondern ein
internationales Phänomen ist. Die Juden sind gewiß wichtige Mitwirkende,
aber keineswegs die Urheber. (Ebd., 2002, S. 193).Was der
SS-Offizier hier »Arbeitserleichterung« nennt, das muß man im
Blick auf Adolf Hitler »Denkerleichterung« nennen. Selbst wenn man
nur »Mein Kampf« liest, sieht man gleich, daß Hitler zahlreiche,
in seinen Augen negative Phänomene aufzählt, wie etwa die Anonymisierung
der Wirtschaft oder die Zusammenhanglosigkeit der modernen Kultur, die in einen
weltgeschichtlichen Komplex hineingehören, den zu erzeugen auch die begabteste
Menschengruppe nicht fähig ist. Aber in seinem Drang, einen faßbaren
Erreger und Feind wahrzunehmen, macht Hitler »den Juden« zum »Drahtzieher
der Geschicke der Menschheit« und läßt die Juden damit entweder
als »Teufel« oder als »Übermenschen« erscheinen.
(Vgl. Adolf Hitler in Franken - Reden aus der Kampfzeit, 1939, S. 152.
Selbst Hannah Arendt verwendet in ihren Kriegsschriften »Hitler« und
»Teufel« als Synonyme). Ganz in der Spur Hitlers bewegt sich unter
radikaler Umkehrung der Wertung die heute übliche Entgegensetzung von »Tätervolk«
und »Opfervolk«, welche ebenfalls die eigentliche Initiativkraft,
die revolutionäre und übernationale Partei, schlicht fortläßt.
(Ebd., 2002, S. 193).Um zu versuchen, die mythologisierenden
Konkretisierungen, welche zur Tabuisierung herausfordern, auf Menschenmaß
zu reduzieren, will ich in großer Kürze sagen, worüber ich mich
wundere:- | Ich
wundere mich über alle Menschen, die den Bolschewismus nicht ernst nehmen,
welcher mit der Errichtung eines ideokratischen, Welterlösung verheißenden,
sich auf den uralten »Menschheitsgedanken« eines nachgeschichtlichen
Zustandes der Harmonie stützenden Regimes in dem räumlich größten
und an Ressourcen reichsten Staat der Erde nach meiner Auffassung das grundlegende
politische Ereignis des 20. Jahrhunderts war. (Der Nationalsozialismus ist ohne
die Einbeziehung des Bolschewismus nicht zu verstehen, und ohne ihn hätte
Roosevelt die Fesseln der Neutralitätsgesetzgebung nicht abstreifen können.
Der Aufstieg der USA zur »einzigen Weltmacht« setzt den »europäischen
Bürgerkrieg« voraus.). Aber dieses Ereignis hatte zwei unterschiedliche
Aspekte: den enthusiasmierenden, der den englischen Sozialisten Tom Mann 1920
sagen ließ, Sowjetrußland sei einer Riesenglocke gleich, die der ganzen
Welt das Heil verkünde, und den Entsetzen erregenden, der wenige Jahre später
dem Volkssozialisten Melgunov die Feder in die Hand gab, um Vernichtungsvorgänge
zu beschreiben, die auch von den Ereignismeldungen der Einsatzgruppen an Schrecklichkeit
nicht oder allenfalls quantitativ übertroffen werden. Rudolf Höß
schrieb, nach dem Willen des RFSS sei das Lager, dessen Kommandant er war, die
»größte Menschenvernichtungsanlage aller Zeiten« geworden,
aber in einem noch weiter zurückreichenden Rückblick sprach ein hochachtbarer
»jüdischer Bolschewist«, der die Schreckenstaten seiner Jugendzeiten
nicht verleugnete, nämlich Lew Kopelew, von dem sowjetischen Lagersystem,
dem »Gulag«, als von »dieser riesenhaften, vielgliedrigen und
vielstöckigen, unersättlich gefräßigen Menschenvertilgungsmaschine«.
(Wie sehr die deutsche Führungsspitze sich noch im Jahre 1940 in einem Abwehrkampf
gegen »Verbrecher« begriffen sah und wie sogar Himmler und Heydrich
an eine physische Beseitigung der Juden dachten, geht aus zwei einschlägigen
Äußerungen mit großer Klarheit hervor. Himmler lehnte in einer
Denkschrift vom Mai 1940 »die bolschewistische Methode« [sic!] der
physischen Ausrottung eines Volkes aus innerer Überzeugung als ungermanisch
und unmöglich ab [Vjh. f. Zeitgesch., Band 5, 1957, S. 197] und Heydrich
begründete im Sommer 1940 das sogenannte Madagaskar-Projekt mit folgenden
Worten: »Die Juden sind uns wegen unseres Rassestandpunktes feindlich gesinnt
... Wir müssen sie beseitigen. Eine biologische Vernichtung wäre aber
des deutschen Volkes als einer Kulturnation unwürdig ...« [zitiert
in: Götz Aly, a.a.O., S.11].). Die politisch denkenden und handelnden Menschen
des 20. Jahrhunderts mußten sich fast mit Notwendigkeit für einen der
beiden Aspekte entscheiden; der Historiker dieser Epoche muß versuchen,
sie zusammenzusehen und zusammenzudenken. | - | Ich
wundere mich über die Juden, die überall nur bestrebt zu sein scheinen,
sich den Status der wichtigsten Opfer zu erhalten und die anscheinend bis auf
wenige Ausnahmen nicht wahrhaben wollen, daß es sehr wohl eine enge, leicht
begreifliche, sowohl äußere wie innere Beziehung zwar nicht zwischen
»den« Juden, wohl aber zwischen vielen Juden und dem Bolschewismus
gab. Selbst Zitate von bedeutenden Juden sind in Deutschland tabuisiert, wenn
sie dem erwünschten Bild nicht entsprechen, aber ich will trotzdem eine Aussage
von Simon Dubnov anführen, dem jüdischen Historiker, der schließlich
selbst im Holocaust zugrunde ging. Er schrieb im Herbst 1918 nach den Attentaten
auf Lenin und den Tscheka-Chef von Leningrad Uritzki: »Es ist gut, daß
gerade Juden diese Tat vollbracht haben. So haben sie die furchtbare Schuld gesühnt,
mit der sich Juden durch ihre Beteiligung am Bolschewismus beladen haben.«
(Simon Dubnov, Mein Leben, 1937, S. 224). - Dazu wären Aussagen von
deutschen bzw. deutsch-jüdischen Autoren zu vergleichen, die aus den Jahren
1919-1921 stammen. Thomas Mann 1919: »Wir sprachen auch von dem Typus des
russischen Juden, des Führers der Weltbewegung, dieser sprengstofthaften
Mischung aus jüdischem Intellektual-Radikalismus und slawischer Christus-Schwärmerei.
Eine Welt, die noch Selbsterhaltungsinstinkt besitzt, muß mit aller autbietbaren
Energie und standrechtlicher Kürze gegen diesen Menschenschlag vorgehen ....«
(Tagebücher 1918-1921, postum, S. 223). Arnold Zweig 1919 über
Rosa Luxemburg: »Sie war, sie ist die jüdische Revolutionäre des
Ostens, die bis in jede Fiber antimilitaristische, der Gewalt feindliche, schließlich
selbst der Gewalt verfallene, ein Leben lang kämpfende Trägerin der
Idee. Jüdinnen dieser Art, geweiht in ihrer Besessenheit und ganz rein in
ihrem Wollen, haben den Zarismus gestürzt .... Frauen, und darum der gerechten
Gestaltung dieses daseins verschrieben, rastlos und von Ungeduld geschüttelt,
ohne Wissen vonn den besonderen Wegen des russischen oder deutschen Volksgeistes,
haben sie den Ideen der Revolution gelebt, und ihnen sind sie gestorben.«
(»Grabrede auf Spartacus«, in: Die Weltbühne, Jg. 1919,
1, S. 77f.). Jakob Wassermann 1921 (unter Bezugnahme auf eine lange zurückliegende
Begegnung mit einem jungen russischen Juden, dessen Schwester bei einem Pogrom
ermordet worden war): »..., so fühlte ich doch mit jeder Sekunde gewisser:
.... Da ist der Explosivstoff, da ist der Mensch der Katastrophe. .... Die schneidende
Logik und das wissenschaftliche Fundament des Vernichtungswillens rissen die Kluft
zwischen ihm und mir auf. .... Wo das Unbedingte verlangt, wo reiner Tisch gemacht
wurde, wo der staatliche Erneuerurigsgedanke mit frenetischem Ernst in die Tat
umgesetzt werden sollte, waren Juden, sind Juden die Führer. ... Juden sind
die Jakobiner der Epoche.« (Mein Weg als Deutscher und als Jude,
1921, S. 120, 124.) Wer solche Zitate zusammenzustellen wagt, der gilt in Deutschland
als »Apologet Hitlers« und wohl gar als jemand, der nicht die Mörder,
sondern die Ermordeten schuldig spricht. Aber die betreffenden Publizisten und
Historiker geben sich keine Rechenschaft darüber, daß sie ganz in der
Tradition von »Nürnberg« stehen, jenem Prozeß der Sieger
gegen die Besiegten, der nicht zuletzt dadurch charakterisiert war, daß
über die »Kriegsverbrechen« der Alliierten und insbesondere der
Sowjetunion nicht gesprochen werden durfte. Sie wissen anscheinend nicht einmal,
daß nach deutschem Recht die Staatsanwälte nicht lediglich Anklagematerial
sammeln, sondern die Umstände mitberücksichtigen sollen, welche der
Entlastung der Angeklagten dienen. So weigern sie sich, den Gedanken auch bloß
zu erwägen, daß nur vom Verstehbaren her die qualitative Differenz
des Unverstehbaren oder doch Unverständlichen, des Singulären, faßbar
wird. Daher bleibt ihnen eine allerdings kühne, nie gestellte Frage ganz
fern: Sollte »Auschwitz«, d.h. die »Judenvernichtung«,
gerade deshalb so extrem gewesen sein, weil Hitler angesichts der Macht der »kulturstaatlichen«
Traditionen in der deutschen Gesellschaft nur hier der Radikalität eines
Vernichtungswillens freie Bahn geben konnte, die Stalin oder schon Lenin und Sinovjew
gegen viel größere Gruppen der eigenen Bevölkerung entfesselt
hatten? Im Sommer 1944 ließ Hitler dann nicht mehr, wie Stalin, eine
Anzahl seiner Generäle erschießen, sondern das Urteil lautete auf »Erhängen«.
Auch hier wird die qualitative Differenz faßbar, die niemand begreift, der
sie an den Anfang und nicht an das Ende der Erörterung stellt. - Die neben
Herzl bedeutendste Gründergestalt Israels, Chaim Weizmann, hat mit klaren
Worten gesagt, daß die Juden die entschiedensten Feinde Hitlers gewesen
seien, aber ein großer Teil der heutigen Juden wünscht offenbar, daß
ihre Vorfahren nicht ein weltgeschichtliches Volk, sondern eine Gruppe von beklagenswerten
Opfern waren. (Ebd., 2002, S. 193-194). |
Ich
stimme weitgehend einem Satz von Walther Rathenau zu, der 1918 sagte, in hundert
Jahren werde der Bolschewismus überall in der Welt gesiegt haben, aber er
werde sich so verändert haben, daß er für die gegenwärtigen
Bolschewiki nicht mehr erkennbar sein werde. Ich glaube, daß es ein großes
Verfehlen war, als in Deutschland eine aus verständlichen Gründen militant
antibolschewistische und allerdings »unreine«, nämlich zugleich
bloß-nationalistische und biologistisch orientierte Partei zum Siege gelangte
und sich das Ziel setzte, den Bolschewismus ... zu vernichten. Es wäre besser
gewesen, mehr Vertrauen in die eigene Gesellschaftsordnung des »Liberalen
Systems« zu setzen und jener künftigen Veränderung mit einiger
Zuversicht entgegenzusehen, die dann durch den »Kalten Krieg« der
USA und ihrer Verbündeten in den frühen neunziger Jahren tatsächlich
zustande kam. Ob auch Teilaspekten des Nationalsozialismus eine Zukunftsbedeutung
zuzuschreiben ist, lasse ich dahingestellt; der ganze und genuine Nationalsozialismus
Hitlers gehört unwiderruflich der Vergangenheit an. Die Furcht vor seinem
Wiedererstehen und gar vor einer Wiederholung von »Auschwitz« ist
entweder töricht oder Manipulation zu durchsichtigen Zwecken. Ob die weitere
Entwicklung allerdings der Menschheit Gutes oder Schlimmes bringen wird, ist in
der Gegenwart noch nicht zu entscheiden. (Ebd., 2002, S. 195-196).Wenn
ich nun ausdrücklich auf den Anfang dieses Vortrags zurückkommen und
erklären wollte, inwiefern in der deutschen Gegenwart ein Fall von besonders
akuter historischer Tabuisierung vorliegt, müßte ich einen zweiten
Vortrag halten. Aber nicht ganz wenige von Ihnen werden immerhin in Umrissen wissen,
was gemeint ist. (Ebd., 2002, S. 196).* Rudolf
Heß 1927 in einem Brief an eine Cousine: »Der Tscheka ihre Aufgabe
war und ist die Beseitigung der einst führenden Schichten in Rußland,
die Ausrottung der Intelligenz, vom Gelehrten bis zum Unternehmer von einst ...
Die Beschreibungen dieser Blutorgien sind grauenhafter als alle Vorstellungen
der Phantasie. Nach monatelanger Gefangenschaft der ziemlich wahllos zusammengetriebenen
Opfer in kalten finsteren Kellern ... geschah die Abschlachtung auf abwechslungsreichste
und unterhaltsamste Weise, z.B. durch Einblasen überhitzten Dampfes. ...
Dazwischen hat man auch zum Spaß Einzelne nach allen Methoden mittelalterlicher
oder chinesischer Folter umgebracht wie Därme aus dem Leib winden, Augen
ausbrennen u.s.w. .... Wenn ich Dir davon schreibe, so nur aus einem Grunde: Nur
wer sich Obiges lebendig vor Augen hält, darf über uns und unsere Methoden
urteilen.« (Rudolf Heß, Briefe 1908-1933, postum, S. 376 f.).
Das Selbstverständnis der entgegengesetzten Seite läßt sich durch
die Anführung eines Abschnitts aus der Tscheka-Zeitung »Das Rote Schwert«
vielleicht am besten anschaulich machen: »Die alten Systeme der Moral und
der Menschlichkeit lehnen wir ab. Sie wurden von der Bourgeoisie erfunden, um
die unteren Klassen unterdrücken und ausbeuten zu können. Unsere Moral
ist ohne Vorbild und unsere Menschlichkeit absolut, denn sie basiert auf einem
neuen Ideal: jegliche Form von Unterdrückung und Gewalt zu zerstören.
Uns ist alles erlaubt, denn wir sind die ersten in der Welt, die das Schwert nicht
zur Unterdrückung und Versklavung erheben, sondern um die Menschheit von
ihren Ketten zu befreien. .... - Blut? Mag es in Strömen fließen! Denn
nur Blut kann das schwarze Banner der Piratenbourgeoisie in eine rote Fahne verwandeln,
die Fahne der Revolution. Denn nur der endgültige Tod der alten Welt kann
uns auf immer vor der Rückkehr der Schakale bewahren.« (Stéphane
Courtois u.a., Das Schwarzbuch des Kommunismus, 1997, S. 117 f.. Vgl. S.
40 [**]).
Es springt ins Auge, daß dieser »absolute Humanismus« mörderischer
sein muß als jede »Unmenschlichkeit«. Man muß vor Vorurteilen
blind sein, wenn man nicht wahrnimmt, welche Art des Fanatismus die ursprüngliche
und authentische ist. (Ebd., 2002, S. 200-201).
Die Erfahrung des Bösen in der neueren Geschichte
und das Scheitern der Erlösungsideologien
(Vortrag
von der Kanzel der Berger Kirche in Düsseldorf auf Einladung von Pfarrer
Martin Krolzig am 06.06.1994)Müßte
dann aber nicht die Vergangenheit unserer ganzen westlichen Kultur »böse«
genannt werden, da sie doch jahrhundertelang Menschen anderer Rasse und Kultur
verachtet, versklavt und bestenfalls »zivilisiert« hat. War dieses
Böse indessen nicht die Voraussetzung dafür, daß die Mißachteten
zu einem neuen Selbstbewußtsein gelangten und sich einen anerkannten Paltz
in einer umfassenderen Zivilisation erkämpften? Von diesem Verhältnis
zwischen dem Herrn und dem Knecht hat Hegel in einem großen Kapitel seiner
»Phänomenologie des Geistes« gehandelt, und nach Goethes allbekannten
Wort ist der Teufel ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und
stets das Gute schafft. (Ebd., 2002, S. 203).Immanuel Kant
prägte den Begriff des »radikal Bösen« und bezeichnete damit
eine besondere Form des »natürlichen Hanges des Menschen zum Bösen«.
Dessen Stufen sind die menschliche »Ggebrechlichkeit« oder die »Schwäche
des Herzens«, die »Unlauterkeit« als die Vermischung unmoralischer
Triebfedern mit den moralischen und als höchste die »Verderbtheit«
oder »Bösartigkeit«, nämlich die Annahme pflichtwidriger
Maximen. (Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen
Vernunft - 1. Stück - Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben den
guten, oder über das radikale Böse in der menschlichen Natur, 1793).
Da das höchste Gut der Pflicht die Ausrichtung des individuellen Willens
auf den Gesichtspunkt der Allgemeinheit ist, gerät das bloß Individuelle
in den bereich des Bösen, und Schelling erklärt ausdrücklich die
Selbstheit für das Böse, sofern sie sich con dem Universalwillen losgerissen
hat. .,.. Für Kant ist der hang zum Bösen auch wieder die Vorbedingung
aller Moralität. So läßt sich in der Philosophie wie in der Alltagserfahrung
ein Aufeinanderbezogensein des Bösen und des Guten konstatieren, das den
Begriff des »radikal Bösen« weniger eindeutig macht, als er auf
den ersten Blick zu sein scheint. (Ebd., 2002, S. 203).Muß
man nicht mit Kant im Krieg als solchen das Urböse im Menschen sehen, und
ist der Anspruch einer Opfergruppe, aus allen anderen herausgehoben zu sein und
ein singuläres Schicksal erlitten zu haben, nicht sogar ein Ausfluß
jener Selbstigkeit, jenes kollektiven Egoismus, in dem Schelling und Kant das
Böse sahen? Muß man nicht vielmehr allgemein vom »Geschichtsbösen«
sprechen? (Ebd., 2002, S. 203).Die drei Thesen lauten:1. | Ein
Überschwang des Guten brachte Böses hervor. | 2. | Das
Radikal-Böse schloß Gutes in sich. | 3. | Die
guten Menschen waren nicht frei vom Bösen. |
(Ebd., 2002, S. 207).So wird die kollektivistische Schuldzuschreibung,
die als unzulässige Generalisierung einer der wichtigsten Anfänge des
radikal-Bösen war, umgedreht und zu einer Waffe des Guten gemacht, und gerade
dadurch bestätigt sich ihr böser Charakter. (Ebd., 2002, S. 213-214).(Vortrag
vor dem Kuhnke-Kreis in Düsseldorf am 20.01.2001)Ein
zufällig entstandener Zeitungsartikel mit dem nicht von mir selbst gewählten
Titel »Die
Vergangenheit, die nicht vergehen will« löste 1986 den so genannten
»Historikerstreit«
aus, von dem man sagen muß, er habe noch weit mehr an Aufmerksamkeit erregt
als der »Faschismus
in seiner Epoche«, doch diesmal ganz überwiegend im negativen Sinne.
Der am weitesten verbreitete Vorwurf zielte auf die angebliche »Verharmlosung«
oder »Relativierung« des Nationalsozialismus, und es läßt
sich nicht leugnen, daß der weitaus größte Teil der Stimmen aus
Wissenschaft und Publizistik sich mit Nachdruck, ja mit Leidenschaft gegen mich
- und auch gegen Andreas Hillgruber - aussprachen. Bei vielen jüngeren Historikern
wurde es nun rasch zur Gewohnheit, daß ich nicht mehr zitiert wurde und
daß sogar »Der
Faschismus in seiner Epoche« in den Literaturlisten keine Aufnahme mehr
fand. Ich unterlag mithin einer Art von Ächtung, spätestens seit 1994,
nachdem ich mich in der FAZ negativ zur Verschärfung des Gesetzes (vgl.
§1 30 StGB; Anm. HB [**|**])
zur so genannten »Auschwitz-Lüge« ausgesprochen und mit dem »Spiegel«
ein langes Gespräch geführt hatte, das in mancher Hinsicht »politisch
unkorrekt« war. (Ebd., 2002, S. 219).Die Frage ist:
Hatten sich meine Auffassungen zwischen 1963 und 2000 so sehr geändert, daß
ich mit Recht aus einem, wie man sagen könnte, »Liebling« der
öffentlichen Meinung zu deren Haßobjekt geworden war, oder war die
Änderung überwiegend auf der anderen Seite zu verzeichnen?
(Ebd., 2002, S. 219).Ich werde nun folgendermaßen vorgehen:
Zunächst will ich in einem Rückblick die wesentlichen Fragestellungen
und Gedankengänge meiner Bücher herauszustellen versuchen, wenngleich
in stärkster Verkürzung. Dann werde ich, nicht ganz ohne Zuspitzung,
über diejenigen »Thesen« Rechenschaft geben, die am meisten Anstoß
erregt haben. (Ebd., 2002, S. 219).Der
»Faschismus
in seiner Epoche« läßt bereits durch seinen Untertitel erkennen,
daß es sich um ein Werk der vergleichenden Geschichtsbetrachtung handelt;
insofern hätte auch damals schon der Vorwurf der »Relativierung«
erhoben werden können. Aber das geschah allenfalls ganz am Rande, denn der
Ton lag offenbar vornehmlich auf der Unterscheidung, wenn die Action française
als »Frühfaschismus«, der italienische Faschismus als »Normalfaschismus«
und der deutsche Nationalsozialismus als «Radikalfaschismus« charakterisiert
wurden. Wichtiger war jedoch, daß über die einzelnen faschistischen
Bewegungen und Regime nicht nur unter verschiedenen Fragestellungen wie etwa »Geschichte«,
«Doktrin« und »Praxis« viel an Erzählung und Analyse
vorgelegt wurde, sondern daß auch »der Faschismus« als generischer,
übergreifender Begriff eingegrenzt, »definiert« wurde, und zwar
folgendermaßen: »Faschismus ist Antimarxismus,
der den Gegner durch die Ausbildung einer radikal entgegengesetzten und doch benachbarten
Ideologie und die Anwendung von nahezu identischen und doch charakteristisch umgeprägten
Methoden zu vernichten trachtet, stets aber im undurchbrechbaren Rahmen nationaler
Selbstbehauptung und Autonomie.« (Ebd., 1963, S. 51 **).
(Ebd., 2002, S. 219).Diese Definition bedeutet, daß der Faschismus
nicht ohne Bezugnahme auf das ältere Phänomen des Marxismus verstanden
werden kann und daß ... vom Faschismus schweigen soll, wer nicht vom Marxismus
reden will. Aber der Marxismus wird nicht etwa angeklagt und verworfen, sondern
er gilt offenbar als ein ungemein starkes und bedeutendes Phänomen, da er
diesen faschistischen Antimarxismus und offenbar auch andere Antimarxismen zur
Bezugnahme zwingen, ja sogar erzeugen kann. Und beim Marxismus bleibt diese »Faschismustheorie«
nicht stehen, sondern sie nimmt ausdrücklich auf jene Gesellschaftsordnung
Bezug, aus der sowohl der Marxismus wie der Faschismus hervorgegangen sind und
die als die Gesellschaftsordnung des »Liberalen
Systems« bezeichnet wird. Diese wird wiederum mit einem philosophischen
Begriff in Beziehung gesetzt, demjenigen der »Transzendenz«, dem »Wesen
des Menschen«. (Ebd., 2002, S. 220).In
der Gesellschaft des Liberalen
Systems, so heißt es, wird die Transzendenz, die als »Weltbezug«
oder »Weltoffenheit« den Menschen von allen anderen Wesen unterscheidet,
erstmals über Religion und Philosophie hinaus »praktisch«, d.h.
zur konkreten Weltbemächtigung. Von hier aus erklärt sich die zweite
und philosophische Definition des Faschismus, die sich auf den Nationalsozialismus
als »Radikalfaschismus« beschränkt: »Der Nationalsozialismus
war der Todeskampf der souveränen, kriegerischen, in sich antagonistischen
Gruppe. - Er war praktischer und gewalttätiger Widerstand gegen die Transzendenz.«
(Ebd., 1963, S. 507 **).
(Ebd., 2002, S. 220).Gewiß war der ganze Faschismus
schon durch den Ausgang von der »Action française« der europäischen
konterrevolutionären Tradition zugeordnet worden, und die Kennzeichnung der
Intention von Charles Maurras (Mitbegründer und führender
Ideologe der Ende 1898 geründeten Action française; Anm. HB),
den »autark-souveränen, kriegerischen, aristokratischen Staat des Ancien
régime als Paradigma für alle französischen Zeiten« bedingungslos
zu verteidigen bzw. wiederherzustellen, läßt das Verfehltsein und die
Aussichtslosigkeit des Unternehmens noch anschaulicher werden als im Falle Hitlers.
(Ebd., 2002, S. 221).Aber »Transzendenz« bedeutet eben
nicht »Fortschritt« in der üblichen Konnotation mit positiver
Unwiderstehlichkeit, sondern sie ist als »neutraler Strukturbegriff«
gefaßt. (Ebd., 2002, S. 221).Und daher wird der Grundemotion
von Maurras, der Angst, die er angesichts der sich abzeichnenden Weltentwicklung
hin zu Barbarei und Kulturlosigkeit empfindet, viel Verständnis entgegengebracht.
Und ebenso wird eine durchaus menschliche Empfindung, eben die Angst, als Ursprung
der Reaktionen Adolf Hitlers wahrgenommen, so daß die Vorstellung vom »absoluten
Bösen«, so entsetzlich die resultierenden Taten sind, nicht akzeptiert
werden kann. Auch der Marxismus wird ja in der angeführten Definition unzweideutig
als eine »Vernichtungslehre« gekennzeichnet, und bekanntlich hat er
aus seinem Vernichtungswillen noch weniger ein Geheimnis gemacht als der Nationalsozialismus.
(Ebd., 2002, S. 221).Was er vernichten wollte, war »der Kapitalismus«
und in der Praxis »das Bürgertum« oder »das Unternehmertum«.
.... Aber »das Bürgertum« war einer der am meisten charakteristischen
Bestandteile der Gesellschaftsordnung des »Liberalen
Systems«; es mochte mithin sein, daß der Vernichtungswille gegen
»die Kapitalisten« ebenso in die Irre ging wie der Vernichtungswille
gegen die Juden und daß daher sogar in der »Reaktion« von Maurras
und Hitler mehr als bloße Verstehbarkeit enthalten war. (Ebd., 2002,
S. 221).Ein hohes Maß an Anschaulichkeit vermittelt die Figur
Mussolinis, die Hauptperson des Zweiten, dem italienischen Faschismus gewidmeten
Teils. Es wird nachgewiesen, daß der junge Mussolini einer der Hauptvertreter
des »revolutionären Marxismus« (und nicht etwa bloß eines
romantischen Syndikalismus) in Italien war, ja seit 1912 der Hauptvertreter,
welcher innerhalb des europäischen Sozialismus einen Platz neben Lenin und
Rosa Luxemburg beanspruchen durfte. Als solcher macht er im Rahmen des Buches
die wichtigste Ursache der »Angst« sowohl von Maurras wie von Hitler
anschaulich, eben den Marxismus als das erste Phänomen der Weltgeschichte,
in dem das von jeher vorhandene »Aufbegehren« der Armen und Unterdrückten,
doch nun auch der chiliastisch gesinnten Intellektuellen, zu einer großen,
zuversichtlich einen »Endsieg« erwartenden Organisation geworden war
- bei den Reichstagswahlen von 1912 errang die deutsche Sozialdemokratie mehr
als ein Drittel der Stimmen, und Mussolinis »Partito Socialista Italiano«
brachte den Ministerpräsidenten Giolitti bei dessen Kolonialunternehmen gegen
Libyen in schwere Bedrängnis. Aber der Ausbruch des Weltkriegs und das Verhalten
der sozialistischen Massen und Parteien wurde von allen Linkssozialisten wie Lenin
und Luxemburg als »Katastrophe« und als »Verrat« empfunden.
Mussolini dagegen stellte sich auf die Seite der kriegswilligen Strömungen
im zunächst neutralen Italien, weil er - »wie Marx und Engels«
- einen engen Zusammenhang zwischen Krieg und Revolution für gegeben hielt,
und er trat 1919 an die Spitze der neu gegründeten faschistischen Bewegung,
die noch geraume Zeit linkssozialistisch sein wollte und dann immer entschiedener
den Weg des Nationalismus und der Bekämpfung des »bolschewistischen
Revolutionsversuchs« einschlug. Mussolini begnügte sich jedoch nicht
damit, die »bolschewistische Trunkenheit« des italienischen Proletariats
zu geißeln, sondern er setzte seinen ehemaligen Genossen ganz nüchtern
und rational auseinander, sie befänden sich mit ihrer These vom bevorstehenden
Ende des Kapitalismus in einem schweren Irrtum, denn diesem Kapitalismus ständen
noch mehrere Jahrzehnte der Entwicklung bevor. Damit befand er sich offensichtlich
im Recht, und es ist nicht möglich, den »italienischen Bürgerkrieg«
zwischen Kommunisten und faschistischen Antikommunisten bloß zu verurteilen,
so abstoßend die faschistischen Methoden von »Rizinusöl und Schlagstock«
zweifellos waren. (Ebd., 2002, S. 221-222).Als 1974 »Deutschland
und der Kalte Krieg« publiziert wurde, hatte der Antifaschismus der
neomarxistischen Studentenbewegung im Zeichen seiner Lehrer, nicht zuletzt meines
Marburger Kollegen Wolfgang Abendroth, große Schritte in die Richtung einer
andersartigen Auslegungsmöglichkeit getan, und ich sah darin eine regionale
Phase der neuen - in Wahrheit älteren - Auseinandersetzung ideologischer
Mächte, des »Kalten Krieges« zwischen der bolschewistischen,
sich als realisierten Marxismus verstehenden Sowjetunion und den kapitalistischen
Vereinigten Staaten von Amerika. An die Stelle des »europäischen Bürgerkrieges«
trat also der »Weltbürgerkrieg«, und Deutschland spielte darin
eine bedeutende Rolle, aber die merkwürdige Rolle des Heraustretens aus dem
Zentrum der Ereignisse. So wurde der Gegenstand sehr stark ausgeweitet, sowohl
in zeitlicher wie in räumlicher Hinsicht: nicht nur von »Präfigurationen«
des Kalten Krieges in der Antike war nun die Rede, sondern auch von Korea, von
Vietnam und von Israel. Aber das Thema des Faschismus verschwand so wenig wie
dasjenige des Marxismus oder des Liberalen
Systems. (Ebd., 2002, S. 223).Nach den schweren Turbulenzen
des »maoistischen« Endstadiums der Studentenrevolution ging ich für
ein Jahr von Berlin nach England und leistete hier die wichtigsten Vorarbeiten
zu »Marxismus
und Industrielle Revolution«, dem einzigen meiner Bücher, das im
engen Sinne ein »gelehrtes« heißen darf, weil es die Wurzeln
des Marxismus in der seit etwa 1760 stattfindenden intellektuellen Auseinandersetzung
um das neuartige Phänomen der »Industriellen Revolution« entdeckt
und auf ungewohnte, auch den Toryismus und den frühesten Antikapitalismus
einbeziehende Weise zum Thema macht. Abermals geht es zugleich um das »Liberale
System«, das ja nirgendwo bereits so weit ausgebildet war wie in dem
England einer überall sonst unbekannten »Volksfreiheit« und einer
»deliberierenden Aristokratie«. Der »dialektische Denkansatz«
wird so charakterisiert, daß er Marx und Engels in Stand gesetzt habe, »die
beiden Hauptauslegungen der Industriellen Revolution, die toryistische und die
frühsozialistische bzw. antikapitalistische auf der einen Seite und die nationalökonomische
auf der anderen, zu einer Einheit zusammenzufassen, die zugleich einen schroffen
Angriff gegen beide in sich schloß«. Die Vorstellung eines Endzustandes
und der vorherigen Vernichtung aller entgegenstehenden Realitäten war ein
notwendiger Bestandteil dieses Denkansatzes, und so konnte Friedrich Engels zu
einem Zeitpunkt, wo bedeutende englische Nationalökonomen wie Robert Torrens
und Richard Jones die Bedeutung des Unternehmertums für die wirtschaftliche
Entwicklung mit deutlicher Kritik an Adam Smith herausgearbeitet hatten, den »gnädigen
Herren vom Kapital« im Januar 1848 höhnisch zurufen: »Wir haben
euch vorderhand nötig....ihr müßt den Patriarchalismus vernichten,
ihr müßt zentralisieren......Zum Lohn dafür sollt ihr eine kurze
Zeit herrschen......ihr sollt bankettieren im königlichen Saal und die schöne
Königstochter freien, aber, vergeßt es nicht, Der Henker steht
vor der Türe«. (Ebd., 1983, S. 461f.). (Ebd., 2002, S.
224).Ein Gesang von Henker, Tod und Grab ist auch der intellektuelle
Marxismus von Marx und Engels immer geblieben, der auf seine Weise eine nur halb
versteckte Angst in eine Anklage gegen »Urheber«, ja an einigen Stellen
gegen die »bis ins innerste Herz jüdische« moderne Welt ummünzte,
aber ich sage ausdrücklich, von Marx abstraktem und insofern scheinbarem
Antisemitismus könne man nur durch ein Mißverständnis zu Hitlers
konkretem und wirklichem Antisemitismus kommen, obgleich dieses Mißverständnis
begreiflich sei. (Ebd., 2002, S. 225).Trotzdem bedeutet die
»Transformation des Marxismus durch den Leninismus«, die als »Ausblick«
das Thema des letzten Kapitels ist (vgl. ebd., 1983, S. 481f.), einen qualitativen
Umbruch, da »nie zuvor ein zivilisierter Staat Geiselnahme und Sippenhaft
zu seiner offiziellen Politik gemacht hatte« (ebd., 1983, S. 525) und da
sich schon sehr rasch die bolschewistische Partei unter dem Zeichen eines »Klassenkampfes«,
der gegen eine große Minderheit der Bevölkerung geführt werden
mußte, als »die größte Kraft planmäßiger Vernichtung«
erwies, die es in der modernen Geschichte der Menschheit gegeben hatte (vgl. ebd.,
1983, S. 525). Und Adolf Hitler, der im Personenregister neben Michail Bakunin,
Jeremy Bentham, Thomas Robert Malthus und vielen anderen kaum auftaucht, ist gleichwohl
in doppelter Weise anwesend: als Widerlegter, der seinem Hauptfeind, dem Marxismus,
eine ganz unzureichende Deutung zukommen ließ, der jedoch gerade deshalb
das Konzept einer Gegenvernichtung entwickeln konnte, das aus Nebenbemerkungen
von Marx eine ganze Geschichtsphilosophie vom Unheil des für »jüdisch«
erklärten »Fortschritts« machte. (Ebd., 2002, S. 225).Ich
muß es im Rückblick für ein Unglück halten, daß das
Thema des »Europäischen
Bürgerkrieges 1917-1945«, das im Kern schon im »Faschismus
in seiner Epoche« enthalten war und dessen detaillierte Behandlung sich
nach den weiteren Büchern von 1974 und 1983 sozusagen aufzwang, durch einen
von zufälligen Umständen verursachten Zeitungsartikel mit ziemlich plakativen
Formulierungen vorweggenommen wurde. In der Tat war das gleichnamige Buch, das
dann im Herbst 1987 erschien, im Frühjahr 1986 in den Grundzügen fertig,
als ich mich veranlaßt sah, einen für die Frankfurter »Römerberggespräche«
vorgesehenen und mir nachträglich entzogenen Vortrag mit der vielzitierten
Überschrift als Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«
zu publizieren. Zwar hatte ich schon längst zuvor einige der von Zorn, Haß
und Erbitterung erfüllten Äußerungen Adolf Hitlers zu den Vernichtungsvorgängen
der Russischen Revolution - dem »GULag«, wie man abkürzend und
vorwegnehmend sagen mag - angeführt, aber seine Aussage über den »Rattenkäfig«
als singuläres Folterinstrument der Tscheka wirkte offenbar für viele
Leser wie ein Schlag, so überaus erhellend für Hitlers Nichtvergessenkönnen
sie war, und die zentrale Frage schien alles auf den Kopf zu stellen, was es an
»Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland gab: »Vollbrachten
die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine »asiatische« Tat
vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche
Opfer einer »asiatischen« Tat betrachteten? War nicht der Archipel
GULag ursprünglicher als Auschwitz?« Damit schien das seit vielen
Jahren - man könnte sogar sagen, seit dem »Faschismus
in seiner Epoche« - so sehr Herausgestellte, »Auschwitz«,
aus einem Primären zu etwas Sekundärem herabgesetzt zu sein, und während
Hitler seit kurzem mehr und mehr für eine Personifizierung des »absoluten
Bösen« erklärt worden war, schien ihm hier ein Maß an Verständnis
entgegengebracht zu werden, das mit dem Begriff der »Verharmlosung«
nicht zu erfassen war. Es fehlt mir daher nicht an Verständnis für die
Explosion an Empörung, welche die Folge dieses Artikels und der Hauptinhalt
des so genannten Historikerstreits
war. (Ebd., 2002, S. 225-226).Aber kaum einer der Publizisten
und nur wenige der Historiker nahmen die Erläuterungen, Einschränkungen
und Qualifizierungen zur Kenntnis, die ein Jahr später in Gestalt des Buches
greifbar wurden. Mit ihm wurde abermals ein Stück vergleichender, sowohl
erzählender wie analysierender Geschichtsschreibung vorgelegt, die nun auch
im Detail ebenso sehr auf die Russische Revolution und umrißhaft auf die
Geschichte Sowjetrußlands wie auf die nationalsozialistische Machtergreifung
und umrißhaft auf die Geschichte des Dritten Reiches einging. Die bolschewistische
und bereits marxistische Vorstellung vom »bevorstehenden Untergang der Weltbourgeoisie«
wurde ebenso ernst genommen und doch »relativiert« wie das nationalsozialistische
Schreckbild von »dem Juden«, der die Russische Revolution »gemacht«
habe und sogar der »Drahtzieher der Geschicke der Menschheit« sei.
Insofern erschien das bisher als »primär« Angesehene, der Nationalsozialismus,
in der Tat als sekundär, ja als eine »verzerrte Kopie«, die freilich
auch ältere und eigenständige Wurzeln hatte. Aber zumal in dem umfangreichen
Vierten Kapitel »Strukturen zweier Einparteistaaten« wird auch der
schroffe Unterschied zwischen den beiden Vernichtungskonzeptionen herausgearbeitet,
derjenigen des »absoluten Humanismus« und des radikalen Egalitarismus,
welche alle geschichtlich gewordenen Differenzen zwischen Klassen, Staaten und
Geschlechtern zerstören will, auf der einen Seite, und derjenigen der Beseitigung
alles dessen, was in eine ursprüngliche und gesunde Welt der kriegerischen
Gruppen Schwächung und Krankheit » und insofern Geschichte - hineingebracht
hat, auf der anderen. Zwei im Grunde archaische Konzeptionen sind also einander
konfrontiert, die aber als militanter Universalismus bzw. militanter Partikularismus
in einem verschiedenartigen Verhältnis zu der erkennbaren Welttendenz stehen,
die man heute meist »Globalisierung« nennt. (Ebd., 2002, S.
226-227).Von einer »Gleichsetzung« kann also keine
Rede sein, wohl aber von einem »Ernstnehmen« und von der Skepsis
gegenüber einer Parteinahme, die sich immer auf die Besiegten und die Opfer
der Vergangenheit beruft und nicht wahrhaben will, daß die Nachfahren dieser
Besiegten und dieser Opfer die Sieger und teilweise die Täter von heute sind,
so daß der Moralismus der Nachgeborenen vom Opportunismus nicht leicht unterscheidbar
ist. (Ebd., 2002, S. 227).Sowohl Publizisten wie Historiker
hätten aber nach der Lektüre des »Europäischen
Bürgerkrieges« sagen können und sagen müssen: Hier ist
nach dem negativ-nationalistischen, dem marxistischen, dem progressivistischen,
dem jüdischen, und dem strukturell-totalitarismustheoretischen Paradigma
der Interpretation der Geschichte des 20. Jahrhunderts in Anknüpfung an die
früheren Bücher des Autors ein weiteres Paradigma entwickelt worden,
das von allen das älteste und einleuchtendste sein sollte, weil es die schroff
entgegengesetzten und doch im Prinzip übereinstimmenden Interpretationen
der kämpfenden Ideologiestaaten nicht von außen kritisiert, sondern
aus der Distanz heraus objektiviert und ihrer Ein-Seitigkeit entkleidet. Aber
nicht zufällig ist das im Ältesten Begründete dasjenige, was als
wissenschaftliches Werk das Jüngste ist, nämlich die »historisch-genetische
Version der Totalitarismustheorie«, welche den übrigen Versionen ihr
Recht läßt, weil sie weiß, daß die geschichtliche Realität
viel zu umfangreich und widerspruchsvoll ist, als daß sie mit einem Paradigma
zureichend erfaßt werden könnte. Diese ganz einfache Überlegung
ist allerdings bisher so gut wie nie vollzogen worden, weil sogar Historiker es
in der Regel vorziehen, als »anstößig« empfundene Sätze
oder Halbsätze herauszugreifen und zu kritisieren. (**).
(Ebd., 2002, S. 227).Ich will nun über die Verwendung eines
Begriffs und den Sinn eines Satzes Rechenschaft geben, die in einen Bereich gehören,
welcher der meisttabuisierte von allen ist und der in meinen Büchern zwar
auf vielfältige Weise umrissen, aber nicht als solcher thematisiert worden
ist. Es handelt sich um den Begriff »jüdischer Bolschewismus«
und um meinen Satz, der etwa im Briefwechsel mit François Furet zu finden
ist, auch in dem Antisemitismus Hitlers habe es einen »rationalen Kern«,
d.h. einen verstehbaren, nachvollziehbaren Gehalt gegeben. Kein Begriff unterliegt
in Deutschland und der ganzen Welt einer einhelligeren Verurteilung, keine meiner
»Thesen« ist so einmütig zurückgewiesen worden, auch von
Furet. Und doch muß sich in diesem Bereich am ehesten zeigen, ob auch auf
Adolf Hitler die Maximen der Geschichtswissenschaft Anwendung finden können,
nämlich die Forderung, im Rahmen des irgend Möglichen auch das Unverständliche
verstehbar zu machen, den Motiven aller Handelnden gerecht zu werden und Objektivität
selbst dann anzustreben, wenn aufseiten des Historikers leidenschaftliche und
gerechtfertigte Impulse vorliegen. (Ebd., 2002, S. 227-228).Ich
richte zunächst die Hauptaufmerksamkeit auf das Substantiv »Bolschewismus«
und fasse das Adjektiv »jüdisch« nur nebenher ins Auge. Dabei
beschränke ich mich zunächst auf den Zeitraum von 1919 bis 1923, in
dem Hitlers Ideologie sich ausbildete und jedenfalls erstmals artikuliert wurde.
(Ebd., 2002, S. 228).In dem frühesten und besonders wichtigen
Zeugnis von Hitlers Denken, dem im Auftrag des Hauptmanns Mayr geschriebenen Brief
an Adolf Gemlich vom 16. September 1919 kommt das Wort »Bolschewismus«
nicht vor. Hauptthema ist das Streben nach Geld, der »Tanz um das goldene
Kalb«, die das Wesen der Juden ausmachten und die das Verlangen nach »Entfernung
der Juden« zu einem elementaren Gebot der Bewahrung der eigenen Lebensform
werden ließen. Erst am Schluß schreibt Hitler die Juden seien »ja
auch die treibenden Kräfte der Revolution« gewesen. Der Zusammenhang
von Judentum und Geldwirtschaft wird auch in den Reden, die Hitler nach seinem
Eintritt in die »Deutsche Arbeiterpartei« vom Oktober 1919 an hielt,
immer wieder hervorgehoben; offensichtlich handelte es sich um eine Verarbeitung
der von den Linksparteien ins Zentrum gestellten Verdammungsurteile über
den »Kapitalismus«. Das zweite immer wiederkehrende Hauptthema ist
der Friede bzw. das Diktat
von Versailles, also der aktuellste aller Gegenstände der damaligen Diskussion,
dem Hitler durch den Vergleich mit dem Frieden von Brest-Litowsk einen besonders
eindrucksvollen Aspekt abzugewinnen suchte. Im Dezember wird den Juden wie in
dem Brief an Gemlich der Vorwurf gemacht, »durch Hetze und Aufwiegeleien
den Bruderkrieg zu schüren«. Am 16. Januar 1920 wird erstmals von den
Kommunisten gesprochen, die nicht erkennen, daß sie »dem Großkapital
dienen«, dessen »Schützer« die Juden sind. In den Notizen
zu einer Rede am 9. Februar 1920 sind folgende Stichworte verzeichnet: »Diktatur«,
»Marx und Engels«, »Bestrafung gegen Wucherer (Galgen)«,
und es folgen die Sätze: »Bolschewisten im Anmarsch« sowie »Die
Russen stehen vor Polen«. Hitler nimmt offensichtlich auf den von Pilsudski
initiierten Krieg gegen Sowjetrußland Bezug, der den Polen und Ukrainern
inzwischen die ersten großen Rückschläge gebracht hatte und der
nach einer für ganz Europa angstvollen Periode erst im August durch das unerwartete
»Wunder an der Weichsel« entschieden werden sollte. In der folgenden
Zeit häufen sich die Bezugnahmen auf den Bolschewismus und Sowjetrußland,
und ich verzichte jetzt auf die Terminangaben. Am meisten und nachdrücklichsten
bringt Hitler mit unverkennbarer Leidenschaft den »Massenmord an der nationalen
Intelligenz« bzw. deren »Ausrottung« zur Sprache, und er nennt
das Regime »die jüdische Blutdiktatur« oder »die Diktatur
einer rücksichtslosen Minderheit«. An der Spitze stehe Lenin, »der
Massenmörder«; nicht weniger als 300000 Hinrichtungen seien unter den
scheußlichsten Umständen vorgenommen worden. Im »russischen Leichenhaus«
vollziehe sich »das Abschlachten der Geistigen« und dadurch werde
das Volk zu «Sklaven« gemacht, obwohl »das Jammern der Millionen
dem rettungslosen Hungertod geweihten Arbeiter, Weiber und Kinder« die Massen
zum Aufstand von Kronstadt getrieben habe. Der Bolschewismus sei eine »Geisteserkrankung«,
die entweder im »Blutrausch des Wahnsinns« enden oder zur »Abrechnung«
führen müsse. In »Räte-Rußland« ständen
»Trotzki, Lenin, Sobelsohn« an der Spitze, »drei Juden«,
die dem Volk 14 Stunden an täglicher Arbeit aufzwängen, nachdem sie
den »Sozialismus des Klassenkampfes« gepredigt hätten, der etwas
ganz anderes sei als der »wahre deutsche Sozialismus«, den die NSDAP
vertrete. Im Sommer 1922 verknüpft Hitler die russische Schreckensherrschaft
mit der Vergewaltigung des Rheinlands durch die Franzosen: »Chinesische
Henker treiben in Petersburg ihr Handwerk, und am Rhein steht die schwarze Schmach«.
Die Geschichte vom Rattenkäfig der chinesischen Tscheka wird von Hitler in
seinen öffentlichen Reden nicht wiedergegeben, aber sie war im »Völkischen
Beobachter« zu lesen, der sie anscheinend aus der dänischen »Berlingske
Tidende« übernommen hatte, und zwanzig Jahre später sollte sich
zeigen, daß sie sich Hitler tief eingeprägt hatte. Es handle sich um
einen Kampf auf Leben und Tod zwischen zwei Weltanschauungen, in welchem es nur
Sieger und Vernichtete geben werde, denn diese Einstellung sei dem Marxismus in
Fleisch und Blut übergegangen. Die Bolschewisierung Deutschlands bedeute
jedoch die Vernichtung der gesamten christlich abendländischen Kultur überhaupt.
Sie schließe »Brand und Scheiterhaufen und Blutgerüste«
ein; vor wenigen Jahren habe man ja in München ein kleines Beispiel erlebt.
(Ebd., 2002, S. 228-229).Ich breche hier ab und weise lediglich
darauf hin, daß sich die frappierendsten Außagen in »Mein Kampf«
nahtlos an diese frühen Äußerungen anschließen, zumal in
dem großen Sündenregister«, das »den Juden« kurz
vor dem Ende des Ersten Bandes vorgehalten wird: »Nun beginnt die große,
letzte Revolution. Indem der Jude die politische Macht erringt, wirft er die wenigen
Hüllen, die er noch trägt, von sich. Aus dem demokratischen Volksjuden
wird der Blutjude und Völkertyrann. In wenigen Jahren versucht er, die nationalen
Träger der Intelligenz auszurotten und macht die Völker, indem er sie
ihrer natürlichen geistigen Führer beraubt, reif zum Sklavenlos einer
dauernden Unterjochung. Das furchtbarste Beispiel dieser Art bietet Rußland,
wo er an dreißig Millionen Menschen in wahrhaft fanatischer Wildheit teilweise
unter unmenschlichen Qualen tötete oder verhungern ließ, um einem Haufen
jüdischer Literaten und Börsenbanditen die Herrschaft über ein
großes Volk zu sichern. Das Ende aber ist nicht nur das Ende der Freiheit
der vom Juden unterdrückten Völker, sondern auch das Ende dieses Völkerparasiten
selber. Nach dem Tode des Opfers stirbt auch früher oder später der
Vampir.« (Adolf Hitler, Mein Kampf, 1925, S. 358). (Ebd., 2002,
S. 230).Es wird meines Erachtens zu wenig wahrgenommen, daß
gerade die wichtigsten »antisemitischen« Außagen einen Bezug
zum »Marxismus« aufweisen, wie etwa in der vielzitierten Prophezeiung
über den möglichen Sieg des Juden über die Völker dieser Welt,
der den Untergang der Menschheit implizieren würde, denn es heißt,
daß der Jude diesen Sieg »mithilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses«
erringen könnte. (Vgl. Adolf Hitler, Mein Kampf, 1925, S. 69-70).
Und als von Versailles und Brest-Litowsk, ja vom »Kapitalismus« kaum
noch die Rede ist, bleibt die anklagende Bezugnahme auf Sowjetrußland und
die Verknüpfung von Bolschewismus und Judentum unverändert erhalten:
der neu ernannte Reichskanzler scheut sich Anfang März 1933 nicht, der Sowjetunion
die »Hunderttausende, ja Millionen« von Erschossenen vorzuhalten,
und der Herr Europas sagt dem ungarischen Reichsverweser Horthy im März 1943,
man solle »die Bestien« nicht schonen, »die uns den Bolschewismus
bringen wollten« - nur der Kenner weiß, daß Hitler 20 Jahre
zuvor in einem Interview mit einem amerikanischen Journalisten dem Sinne nach
dasselbe gesagt hatte: Japaner und Juden seien alte Völker mit alten Kulturen,
aber in den USA könnten die Japaner nicht zu Staatsbürgern werden, obwohl
sie doch nie einen Staat zugrunde gerichtet hätten und nicht, wie die Juden,
»carriers of Bolshevism« seien. (Ebd., 2002, S. 230).Es
kann also kaum einen Zweifel geben, daß das Verhältnis zum Bolschewismus
eine von Angst, Haß und Zorn geprägte Grundbeziehung im Leben Adolf
Hitlers war. Den möglichen Einwand, es habe sich um einen bloßen Vorwand
zum Zweck des Machtgewinns und der Machterhaltung gehandelt, halte ich für
unbegründet. (Ebd., 2002, S. 230).Die zweite Frage,
die auch in vergleichbaren Fällen zu stellen ist, nämlich ob die leidenschaftliche
Erfahrung in der Realität begründet oder vielleicht eine bloße
Obsession war, beantworte ich folgendermaßen: Wer die Schilderungen des
»Roten Terrors« liest, die der »Volkssozialist« Melgunov
in seinem 1924 auf deutsch publizierten Buch gab, dem mußte das Blut in
den Adern erstarren; wer 1938 wie Joseph Goebbels das Buch von Iwan Solonewitsch
»Die Verlorenen« zur Kenntnis nahm, eine der frühesten und bewegendsten
Schilderungen des »Gulag«, der mußte vor Entsetzen aufschreien;
als 1973 der »Archipel Gulag« von Alexander Solschenizyn erschien,
da vollzog sich zwar nicht in Deutschland, wohl aber in Frankreich ein tief greifender
Umschlag der Stimmung gegenüber der bis dahin vorherrschenden Sowjetfreundlichkeit,
und als 15 Jahre später in Paris das »Schwarzbuch des Kommunismus«
(**)
veröffentlicht wurde, gab es gegenüber dem Kern der Feststellungen keine
begründeten Einwände. Heute ist um die Einsicht, so bestürzend
sie sein mag, nicht mehr herumzukommen: daß die späteren Massenmörder
- Hitler, Goebbels, Himmler - von Schrecken und Zorn über einen früheren
großen Massenmord erfüllt waren und daß sogar die exorbitant
scheinenden Zahlenangaben Hitlers aus den 1920er Jahren keinesfalls erfunden oder
aus der Luft gegriffen waren. Diese Männer waren von derjenigen Empfindung
geprägt, welche Lenin und Sinovjew zu Unrecht der ganzen »Bourgeoisie«
zuschrieben, nämlich einer »bis zum Wahnsinn reichenden Angst und Erbitterung«;
und hier einen »kausalen Nexus« abzustreiten, grenzt selbst an Irrsinn.
(**).
(Ebd., 2002, S. 230-231).Margret Boveri druckt in ihrem
Buch »Wir lügen alle« einen Artikel Paul Scheffers ab, der damals
- 1927 - der Korrespondent des »Berliner Tageblatts« in Moskau war
und der zu der schweren Krise Stellung nahm, die damals einen Krieg zwischen England
und der Sowjetunion in den Bereich des Möglichen rückte. Scheffer schrieb,
die wirklichen Machthaber im Kreml seien für Journalisten unzugänglich
und nur mit ihren weltrevolutionären Projekten beschäftigt. Daher befänden
sich die Engländer »dem einzigen weltumspannenden politischen Antrieb«,
der heute existiere, unmittelbar gegenüber. Diese Männer aber seien
»Kämpfer wie niemand sonst.« (Margret Boveru, Wir lügen
alle, S. 149). Scheffer will nur den weltpolitischen Vorrang der bolschewistischen
Sowjetunion herausstellen, und er spricht nicht von »Juden«. Aber
es ist in der wissenschaftlichen Literatur unbestritten, daß der zahlenmäßige
Anteil von Menschen »jüdischer Abstammung« auch nach der Entmachtung
Trotzkis noch sehr beträchtlich war, und mit ebenso großer Selbstverständlichkeit
wird von jüdischen Autoren festgestellt, daß die zahlreichen »jüdischen
Bolschewisten«, keineswegs, wie die Zionisten behaupteten, »entjudete
Juden« waren, sondern daß sie aufs tiefste von der »jüdischen
Utopie« des »Reiches Gottes« geprägt waren, freilich eines
»Reiches Gottes« ohne Gott. Einer der geistvollsten Juden der Gegenwart,
George Steiner, nennt den Marxismus »that utterly Judaic secular messianism«,
und Arnold Zweig charakterisierte Rosa Luxemburg im Januar 1919 mit folgenden
Worten: »Sie war, sie ist die jüdische Revolutionäre des Ostens,
die bis in jede Fiber antimilitaristische, der Gewalt feindliche, schließlich
selbst der Gewalt verfallene, ein Leben lang kämpfende Trägerin der
Idee. Jüdinnen dieser Art, geweiht in ihrer Besessenheit und ganz rein in
ihrem Wollen. .... Frauen, und darum der gerechteren Gestaltung dieses Daseins
verschrieben, rastlos und von Ungeduld geschüttelt, ohne Wissen von den besonderen
Wegen des russischen oder deutschen Volksgeistes, haben sie den Ideen der Revolution
gelebt, und ihnen sind sie gestorben.« (»Grabrede
auf Spartacus«, in: Die Weltbühne, Jg. 1919, 1, S. 77f.).
Und wenn hier die Bewunderung mit Distanz verbunden ist, so hat sich doch auch
wieder und wieder jüdische Selbstkritik gegen dieses jüdische Engagement
gerichtet - angefangen von dem großen Historiker Simon Dubnov, der im September
1918 schrieb, durch die Attentate gegen Lenin und den Petrograder Tscheka-Chef
Uritzki hätten die Juden Leonid Kannegiesser und Fannija Kaplan das »furchtbare
Unrecht« gesühnt, das die Juden durch ihre starke Beteiligung an der
bolschewistischen Revolution auf sich geladen hätten (vgl. Simon Dubnov,
Mein Leben, 1937, S. 224), bis hin zu Sonja Margolina, die sich
stolz als die »Tochter eines jüdischen
Bolschewisten« bezeichnete und den fast unglaublichen Mut besaß, in
einem Deutschland, das unter dem Schatten der Nürnberger Prozesse steht und
stehen will, wo bekanntlich nur von »deutschen Kriegsverbrechen«
gesprochen werden durfte, folgendes zu schreiben: »So
wurde der nicht selten gebrochen russisch sprechende jüdische Kommissar mit
Lederjacke und Mauserpistole typisch für das Erscheinungsbild der revolutionären
Macht .... Die Tragödie des Judentums bestand darin, daß es keine politische
Option gab, um der Rache der geschichtlichen Sünde der Juden - ihre exponierte
Mitwirkung am kommunistischen Regime - zu entgehen. Der Sieg des Sowjetsystems
hatte sie zeitweilig gerettet, die Vergeltung stand ihnen noch bevor«.
(Sonja Margolina, Das Ende der Lügen - Rußland und die Juden im
20. Jahrhundert, 1992, S. 45, 67). (**).
(Ebd., 2002, S. 232-233).Ich bin daher überzeugt, daß
der Begriff des »jüdischen Bolschewismus« nicht bloß eine
bösartige Erfindung zu politischen Zwecken darstellt, sondern daß er
geschichtlich gut genug begründet ist, um nicht von der Wissenschaft ausgeschlossen
zu werden, wie grauenhaft die nationalsozialistische Konsequenz auch gewesen ist.
Nur wenn er nicht mehr von vornherein ausgestoßen und tabuisiert wird, kann
»Auschwitz« der eigentlichen Gefahr entgehen, die ihm heute droht,
daß es durch die Isolierung vom »Gulag« und von der kriegerischen
Auseinandersetzung der beiden großen Ideologiestaaten des 20. Jahrhunderts
zwar nicht zur Lüge, wohl aber zum wissenschaftswidrigen Mythos wird. Wenn
»der Andere«, d.h. dessen abweichende, argumentativ vertretene Interpretation,
verfemt oder gar verboten, statt bloß zurückgedrängt ist, fehlt
der Wissenschaft der Spielraum, ohne den sie nicht existieren kann. (Ebd.,
2002, S. 233-234).Ich muß indessen zum
Abschluß noch in äußerster Kürze auf dasjenige Buch zu sprechen
kommen, das eines fernen Tages als mein Hauptwerk gelten mag und das im Untertitel
zu diesem Vortrag genannt wurde, nämlich auf die »Historische
Existenz - Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?«, das 1998,
wie 35 Jahre zuvor »Der
Faschismus in seiner Epoche«, im Piper Verlag erschienen ist.
(Ebd., 2002, S. 234).Die drei Bücher vom Anfang der neunziger
Jahre, diejenigen über Nietzsche, Heidegger und das Geschichtsdenken im 20.
Jahrhundert, gehören insofern eng zu den vorhergehenden, als sie zu zeigen
versuchen, daß die Auseinandersetzung zwischen dem Marxismus und einem ganz
überwiegend nicht-faschistischen Antimarxismus im 20. und ansatzweise bereits
im 19. Jahrhundert die philosophische Parallele zu dem Ringen zwischen dem militanten
Universalismus und dem militanten Partikularismus in der Politik gewesen ist.
(Vgl. »Nietzsche
und der Nietzscheanismus«, 1990, »Geschichtsdenken
im 20. Jahrhundert - Von Max Weber bis Hans Jonas«, 1991, »Martin
Heidegger - Politik und Geschichte im Leben und Denken«, 1992). Daß
der Nationalsozialismus im Rahmen dieser Konzeption nicht mit einer Serie von
Schimpfreden abgetan werden kann, springt ins Auge, aber ebenso klar sollte sein,
wie sehr für mich der Umstand der bewegendste Grund zum Nachdenken über
die europäische Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte gewesen ist, daß
der re-aktive Fanatismus der nationalsozialistischen »Weltanschauung«
den ursprünglichen Fanatismus der bolschewistischen Ideologie ... noch übertraf
und daß mithin aus der »Entsprechung« eine »Über-Entsprechung«
wurde. Doch auch ohne Studium sollte für jedermann erkennbar sein, daß
zwei große und überaus wichtige Menschengruppen im Zwanzigsten Jahrhundert
zu Zielen eines ernsthaften und in der Geschichte tief verwurzelten Vernichtungswillens
wurden, nämlich »Bourgeois«, Bürger, und Juden - zwei Gruppen,
die sich zwar vielfältig überschnitten, die aber durch ihre Feinde weitgehend
voneinander getrennt wurden. Gerade deren Angehörige sollten sich dem Nachdenken
über die Zusammenhänge nicht verweigern. (Ebd., 2002, S. 234-235).Wer
in meinem Denkversuch, demjenigen eines »bürgerlichen Intellektuellen«
und selbstkritischen Angehörigen der Gesellschaft des »Liberalen
Systems«, eine Bagatellisierung oder gar Propagierung des Nationalsozialismus
sieht, wie Marcel Reich-Ranicki es tut, stellt damit, wie ich meine, nur den Mangel
an Bereitschaft unter Beweis, sich auf wissenschaftlich notwendige Unterscheidungen
einzulassen. Nicht weniger gedankenlos sind diejenigen, die mir ein »Eintreten
für die radikale Rechte« zum Vorwurf machen; sie haben nicht zur Kenntnis
genommen, daß es schon im »Faschismus in seiner Epoche« für
das singuläre Hauptkennzeichen des Liberalen
Systems erklärt wird, es lasse auch den grundsätzlichen, den »systemfeindlichen«
Gegner zu Wort kommen, freilich nicht zur Tat. (Ebd., 2002, S. 235).Das
Werk über die »Historische
Existenz« kann dem informierten Leser als etwas ganz Neues erscheinen,
und er dürfte verwundert sein, wenn er auf den ersten 500 Seiten noch nichts
über Marxismus, Faschismus und Kalten Krieg, ja kaum etwas über das
Liberale
System gelesen hat, wohl aber ganze Kapitel über das Gilgamesch-Epos,
über das Alte Testament und sogar über »Ökonomie und Sexualität«.
Die auf den ersten Blick verwirrende Vielfalt wird indessen dadurch strukturiert,
daß es sich um die Darlegung und Analyse der Kategorien der »Historischen
Existenz«, ihrer »Existenzialien«, handelt. Eine solche
Darlegung und Analyse ist jedoch erst dann möglich, wenn ein anderer, ein
»nachgeschichtlicher« Zustand in den Blick getreten ist, und der informierte
Leser wird sich bei der Lektüre zum »Faschismus in seiner Epoche«
zurückgeführt glauben, wo gesagt wird, die Gestalt Hitlers sei als der
»Abschluß eines Weltalters« anzusehen. So wird der Kampf zwischen
Nationalsozialismus und Bolschewismus bzw. Amerikanismus nicht mehr nur als Ringen
zwischen einem mit partikularen Zügen behafteten - insofern »unreinen«
- Universalismus und einem wider seinen Willen von universalistischen Zügen
durchdrungenen - mithin ebenfalls »unreinen« - Partikularismus gesehen,
sondern als die Auseinandersetzung zwischen zwei Mächten, die sich als Vorkämpfer
der Nachgeschichte verstehen, und einem ebenfalls ideologisch ausgerichteten Staat,
der die Geschichte retten will und doch deren Hauptwesenszüge zerstört.
(Ebd., 2002, S. 235).Und damit treten die Juden und mit ihnen der
Zionismus in einer Weise hervor, zu der es in den früheren Büchern nur
Ansätze gab, denn die Israeliten und deren Nachfahren, die Juden, haben sich
... als das »Volk der Nachgeschichte« verstanden, und man kann sie
nicht stärker herabwürdigen als durch die Annahme, sie hätten in
einer Epoche, als es um ihre eigenste Sache ging, kein stärkeres Bestreben
gehabt, als ein ruhiges und unangefochtenes Leben zu führen (**).
Daher ist es vorstellbar, daß jener Leser mich fragte: »Warum verkünden
Sie nicht als Endergebnis Ihres Nachdenkens von vier Jahrzehnten die Einsicht,
daß »die jüdische Idee« gesiegt hat? Warum beziehen Sie
nicht von neuem jene eindeutige Position, die man Ihnen im Jahre 1963 zuschrieb?«
(Ebd., 2002, S. 235-236).Darauf muß ich mit einem Geständnis
antworten: Ich habe während meiner ganzen bewußten Existenz jene »Menschen,
die glauben«, als welche Romain Rolland im Jahre 1920 die Bolschewiki bezeichnete,
am höchsten geschätzt - nicht nur die Bolschewiki - und neben den großen
Denkern als die einzig würdigen, wenngleich oft genug erschreckenden Gegenstände
meiner Studien betrachtet, aber ich habe, vielleicht nur aus Gründen einer
allzu späten Geburt, mich keiner dieser Glaubensrichtungen anzuschließen
vermocht, und ich habe mich ihnen überall entgegengestellt, sei es auch auf
bloß intellektuelle Weise, wo sie nach der totalen Macht zu greifen versuchten.
Daher blieb mir nur der Weg des Geschichtsdenkens, der in meinem Fall mit dem
der Geschichtswissenschaft mehr oder weniger eng verknüpft war. So habe ich
nicht zuletzt den »Verkehrungen und Paradoxien« des realen Geschichtsverlaufs
nachgespürt, und so kann ich zwar vom Sieg einer Idee sprechen, aber nicht
vom Sieg bestimmter Gruppierungen, an denen sich vielmehr jene Verkehrungen auf
besonders frappierende Weise vollziehen mögen. Und die Idee selbst darf letzten
Endes nicht als ethnisch bestimmt gedacht werden, so daß nur der folgende
Satz mir verläßlich begründet zu sein scheint: Auch wir Europäer
sollten die »Nachgeschichte« oder die »Weltzivilisation«,
über die Heidegger so harte Worte gesagt hat, ohne grundsätzliches Widerstreben
akzeptieren, aber wir sollten uns, anders als die große Mehrzahl der Amerikaner,
bewußt sein, daß diese Nachgeschichte für unabsehbare Zeit stärker
von Geschichtlichem durchdrungen sein wird, als ihre Lobredner wahrhaben wollen,
und wir sollten das Vertrauen haben, daß diese widerspruchsreiche Realität
nicht etwas bloß Negatives ist. (Ebd., 2002, S. 236).
Europa vor der Jahrtausendwende(Vortrag
an der Scuola Superiore dell'Amministrazzione dell'Interno in Rom am 11.12.1997)Die
»Erfolgsgeschichte« des Zusammenschlusses von EU-Europa
erfolgte also auf der Basis einer fundamentalen Erfolgslosigkeit oder sogar eines
Versagens der Unfähigkeit: der Unfähigkeit, die eigenen Angelegneheiten
in die eigenen Hände zu nehmen und ohne die ständige Hilfe des »großen
Bruders« auszukommen, der noch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ein
gefährlicher und durchaus nicht immer fairer Konkurrent war. (Ebd.,
2002, S. 255-256).Es dürfte indessen viel wahrscheinlicher
sein, daß gerade die Erweiterung um viele weitere Staaten mit ihren unvermeidlichen
Differenzen und ganz unterschiedlichen Potenzen ökonomischer Art ein einheitliches
und entschiedenes Handeln unmöglich machen wird, so daß Europa noch
mehr als bisher ein ohnmächtiger Großraum aus Kleinstaaten würde.
(Ebd., 2002, S. 256).Selten hat ein Zeitschriftenaufsatz
so großes Aufsehen erregt wie derjenige von Francis Fukuyma, der im Sommer
1989 in der Zeitschrift »The National Interest« erschien und noch
vor Ablauf des Jahres ins Deutsche und andere Sprachen übersetzt wurde. Dieses
Aufsehen war eigentlich nicht recht verständlich, denn von der bevorstehenden
»Nachgeschichte« war zumal in europäischen Büchern und Zeitungen
oft die Rede gewesen, und der Begriff schien geradezu ein fester Bestandteil des
der »Postmoderne« zu sein. ... Der Autor begründete seine Auffasung
durch einen Rückgriff auf Hegel und den Hegelianer Alexandre Kojève.
Mit starker Betonung verkündete Fukuyama den »Triumph des Westens,
des westlichen Denkens«, der vor allem in der völligen Erschöpfung
aller Alternativen zum westlichen Liberalismus bestehe - das 20. Jahrhundert kehre
an seinem Ende zu den Überzeugungen sener Anfänge zurück: nicht
eine Konvergenz von Kapitalismus und Sozialismus sei das letzte Wort des Zeitalters,
sondern »der klare Triumph des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus.«
(Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte?, in: Europäische
Rundschau, 1989, S. 3-25, hier: S. 3f.). Sogar in der Sowjetunion und in derVolksrepublik
China setze sich die konsum-orientierte westliche Kultur« mehr und mehr
durch, und so gelangte Fukuyama gleich zuAnfang seines Aufsatzes zu einer weitreichenden
Schlußfolgerung: »Vielleicht sind wir nicht zeugen der Beendigung
des Kalten Krieges oder des Abschlusses einer bestimmten Phase der Nachkriegsgeschichte,
sondern des Endes der Geschichte schlechthin, das heißt, des Endes der ideologischen
Entwicklung der Menschheit sowie der allgemeinen Einführung der westlichen
liberalen Demokratie als finaler Regierungsform.« (Ebd., 1989, S. 6). Offenbar
war man auch im Sommer 1989 von der Macht und Dauerhaftigkeit der Sowjetunion
trotz aller Nachrichten über unerwartete Wirkungen von »glasnostj«
und »perestroika« noch sehr überzeugt und den Wechselfällen
des Kalten Krieges so nahe, daß man diese zuversichtliche Siegesmeldung
eines Autors, der als der stellvertretende Leiter des Planungsstabes des us-amerikanischen
Außenministeriums vorgestellt wurde, mit einer nur von leisen Zweifeln eingeschränkten
Hoffnung zur Kenntnis nahm, während die These vom baldigen Ende der Geschichte
im allgemeinen nicht akzeptiert wurde. Fremdartig und herausfordernd war ja auch
die Bezugnahme auf Kojève, für den schon Napoleon das Zeitalter des
auf den Ideen der französischen Revolution beruhenden homogenen Universalstaates
heraufgeführt hatte, ein Zeitalter, das nach Kojève seine Verwirklichung
in den westeuropäischen Nachkriegsstaaten fand, welche Fukuyama seinerseits
als »jene festen wohlahebenden, selbstzufriedenen, nur sich selber sehenden,
willensschwachen Staaten« charakterisiert, »deren größtes
Vorhaben nichts Heroischeres was als die Schaffung des Gemeinsamen Marktes.«
(Ebd., 1989, S. 6). Nicht Despotismus ist also nach Kojève und Fukuyama
das Kennzeichende des homogenen Universalstaates, sondern gerade das Aufgehen
aller Individuen in dem Bemühen um ökonomisches Wohlergehen, das für
Aufschwünge, Ideen und Heroismus keinen Raum läßt. Daher ist ein
resignativer Ton nicht zu überhören, wenn Fukuyama schreibt: »Wir
können den Inhalt des homgenen Universalstaats definieren als eine liberale
Demokratie im politischen Bereich, verbunden mit der mühelosen Beschaffung
von Videorekordern und Stereoempfängern im wirtschaftlichen Bereich.«
(Ebd., 1989, S. 11). Eben dieser Zustand ist aber in großen Teilen derWelt
offensichtlich nicht gegeben. Fukuyama schränkt daher seine These vom »Ende
der Geschichte« ein: In der »Dritten Welt« geht die Geschichte
weiter und spielen sich noch für unabsehbare Zeit Kriege sowie Bürgerkriege
ab, getragen von der Opferbereitschaft oder dem Fanatismus zahlreicher lndividuen,
nur in der »westlichen Welt« d h. in Westeuropa und in Nordamerika,
ist die Geschichte an ihr Ende gekommen. Der Rest der Welt ist lediglich nicht
imstande, ideologische Ansprüche zu erheben und höhere Formen der menschlichen
Gesellschaft repräsentieren zu wollen .... So werden Terrorismus und nationale
Befreiungskriege nur noch in den Randbezirken der Welt einen Platz haben. Aber
das Ende des Aufsatzes ist auf einen ganz pessimistischenTon gestimmt, der erkennen
läßt, daß Fukuyama der Gesellschaftsordnung, deren definitiven
Sieg er verkündet, keineswegs in kritikloser Bewunderung gegenübersteht.
»Das Ende der Geschichte wird eine sehr traurige Zeit sein. Der Kampf um
Anerkennung, die Bereitschaft, sein Leben für ein völlig abstraktes
Ziel einzusetzen, der weltweite ideologische Kampf, der Wagemut, Tapferkeit und
Phantasie hervorbrachte, und der ldealismus werden ersetzt durch wirtschaftliche
Kalkulationen, endloses Lösen technischer und Umweltprobleme und die Befriedigung
ausgefallener Konsumentenwünsche. In der posthistorischen Periode wird es
weder Kunst noch Philosophie geben, sondern nur mehr bloß die ständige
Pflege des Museums der Menschheitsgeschichte.« (Ebd., 1989, S. 25). Er habe
äußerst ambivalente Empfindungen, »in bezug auf die Zivilisation,
die ... in Europa geschaffen wurde mitsamt ihren nordatlantischen und asiatischen
Ablegern«, und er schließt mit der eigenartigen Vermutung, daß
vielleicht gerade die Aussicht auf kommende Jahrhunderte der Langeweile die Geschichte
wieder in Gang setzen werde. Fukuyama schreibt also ... Europa ... eine sehr große
Bedeutung zu und zählt die USA zu seinen bloßen »Ablegern«.
Aber aus einzelnen Nebenbemerkungen, die in seinem späteren Buch weiter ausführte,
geht hervor, daß für ihn die japanisch-ostasiatische Kultur mehr Zükunft
hat als die europäisch-amerikanische, weil sie Tugenden aufrechterhalte,
die in Nordamerika und Europa vergessen seien oder sogar verächtlich gemacht
würden: Fleiß, Disziplin, Respekt vor dem Alter. (Ebd., 2002,
S. 257-259).Aus all dem läßt sich ein ganz anderes Szenario
der Weltentwicklung ableiten, wenn man einige Akzente anders setzt. Europa und
die USA erscheinen dann nicht mehr als die siegreiche, aber dekadente Spitze der
Weltentwicklung, sondern als ein zwar hochentwickelter, aber bedrängter und
in einer Verteidigungsposition befindlicher Teil der Welt; denn andere Teile der
Welt formieren sich auf der Basis ihrer uralten Traditionen neu und treten in
ein Konkurrenzverhältnis zum »Westen«, insbesondere der Islam
entwickelt einen Fundamentalismus, der die alte Idee Mohammeds vom Gegensatz zwischen
dem »Kriegsgebiet« und dem islamischen Friedensgebiet wieder aufgreift,
und die Welt stellt sich also als ein Konfliktgebiet verschiedener »Kulturen«
dar, die in neuzeitlichem Gewande alte historische Kämpfe wiederaufnehmen.
Der westlichen Welt kommt zwar ein gewisser Vorrang zu, aber sie hat längst
ihre temporäre Suprematie verloren und kann nur durch Mühe und Entschlossenheit
die großen Gefahren überwinden, die sogar ihre bloße Selbstbehauptung
keineswegs gesichert sein lassen. Ein solches Szenario schlösse natürlich
einen Aufruf zur Kampfbereitschaft in sich, und man könnte behaupten, es
wandle die Feindschaft zwischen Ideologien, welche die Ära des Kalten Krieges
bestimmte, in eine Feindschaft zwischen Kulturen und altüberlieferten Lebensformen
um, während Fukuyamas Zukunftsbild gerade den Verlust des Feindes als den
neuartigsten, aber durchaus nicht rundum positiven Tatbestand erscheinen lasse.
(Ebd., 2002, S. 259-260).Vier Jahre nach dem
Erscheinen von Fukuyamas Artikel hat in der Tat ein anderer Zeitschriftenaufsatz
dieses entgegengesetzte Geschichtsbild entwickelt und dadurch mindestens ebensoviel
Aufsehen erregt, mit dem Unterschied freilich, daß dem Autor nicht bloß
viel Kritik, sondern auch ausgeprägte Feindseligkeit begegnete. Es handelt
sich um den us-amerikanischen Politikwissenschaftler Samuel Huntington und seinen
Aufsatz »The Clash of Civilizations«, der im Sommer 1993 in den »Foreign
Affairs« erschien und ebenfalls später zu einem Buch ausgearbeitet
wurde. Wie Oswald Spengler und Arnold Toynbee unterscheidet Huntington eine Reihe
von »Kulturen«, aber er läßt deren Entwicklung nicht wie
Spengler auf einen jeweils gleichartigen Zustand, nämlich die erstarrte und
seelenlose »Zivilisation« hinauslaufen (**),
und er sieht sie nicht wie Toynbee auf dem Wege zu einer gemeinsamen und positiven
»Weltzivilisation«, sondern er hebt die Differenzen und die Konflikte
zwischen ihnen aufs nachdrücklichste hervor. Diese Kulturen sind: die westliche,
d.h. westeuropäisch-nordamerikanische, die christlich-orthodoxe Rußlands
und einiger Teile Osteuropas, die vom Konfuzianismus bestimmte »sinische«,
die davon verschiedene japanische, die hinduistische, die islamische, die afrikanische
und die lateinamerikanische. Einen Vorrang der westeuropäisch-nordamerikanischen
Kultur sieht er darin, daß sie es war, die erstmals die »Modernisierung«
in die Welt brachte, welcher sich heute keine der anderen Kulturen entziehen kann.
Aber diese Modernisierung zerstört nicht etwa die Eigenart der anderen Kulturen,
sondern bringt neuartige, zur Selbstbehauptung, ja zum Ausgreifen entschlossene
Formen dieser Kulturen hervor, die man Fundamentalismen nennt. Als einen anschaulichen
Beweis für den Vorrang der Kulturkonflikte führt Huntington das ehemalige
Jugoslawien an, wo ... die Grenzlinien zwischen dem westlich-christlichen Abendland,
der byzantinisch-orthodoxen Welt und dem Islam ihre geschichtsbestimmende Kraft
an den Tag legten. Seine Aufmerksamkeit wendet Huntington vornehmlich dem Islam
zu, der in seinen Augen eine besonders aggressive Form des Fundamentalismus entwickelt
hat und dem gegenüber die westliche Kultur in einer Verteidigungsposition
ist, nicht zuletzt deshalb, weil die islamischen Völker des Maghreb und des
Nahen Ostens »junge Völker« sind, die den alternden Völkern
des Westens an demographischer Vitalität weit überlegen sind. Für
die Zukunft schließt Huntington daher Kriege zwischen den Kulturen nicht
aus, anscheinend nicht so sehr Kriege zwischen dem Islam und dem Westen, die ja
in der Gegenwart schon seit Jahrzehnten stellvertretend ... geführt wurden
und werden, sondern einen Krieg zwischen China und den USA. Huntington teilt also
nicht die Meinung Fukuyamas, Kriege seien nur noch in der Dritten Welt möglich
und »große Kriege« seien ausgeschlossen, er sieht vielmehr ein
langes und durchaus »geschichtliches« Zeitalter der Kulturkonflikte
heraufziehen, welches das Zeitalter der nationalen und der ideologischen Konflikte,
das 20. Jahrhundert, ablöst und doch in gewisser Weise fortsetzt. (Ebd.,
2002, S. 260-261).Die Gedankengänge dieser beiden Denker zeichnen
große Linien, aus denen sich ein unterschiedliches, ja gegensätzliches
Selbstverständnis gerade der Europäer ergibt, die dieses Selbstverständnis
nun nicht mehr, wie während der langen Jahrzehnte des »kurzen 20. Jahrhunderts«
zwischen 1914 bzw. 1917 und 1989 bzw. 1991 aus dem Gegensatz von Liberalem
System und Totalitarismus, von Kommunismus und Faschismus, von Sozialismus
und Kapitalismus herleiten können. (Ebd., 2002, S. 261-262).Wenn
ich mich nun den inneren Schwächen und Gefährdungen des Europas der
(gegenwärtig noch) Fünfzehn, der »Europäischen Union«
zuwende, deren innenpolitische Erfolge und außenpolitische Schwächen
ich umrissen habe, übergehe ich vieles Einzelne und zweifellos Wichtige,
um einige wenige zentrale Tatsachen und Probleme ins Auge zu fassen. Ich übergehe
die Umweltgefährdung und den Kampf dagegen, so gewiß er in Europa größere
Fortschritte gemacht hat als in anderen Teilen der Welt, und weiterhin die Nationalitätenkonflikte
von der zivilisierten Unfreundlichkeit ... über den punktuellen Terror im
Baskenland und Nordirland bis zu den blutigen Auseinandersetzungen von ... genozidalem
Charakter im ehemaligen Jugoslawien und an den Rändern der früheren
Sowjetunion. Ich spare den Regionalismus und dessen Infragestellung der Nationalstaaten
»von unten« statt wie durch einen Brüsseler Eurozentralismus
»von oben« aus, ferner die Problematik der Ölversorgung und der
Atomenergie, das Vordringen einer linksorientierten Medienelite durch die populäre
Kritik an Ungleichheit und Eliten, das Aufkommen rechter Massenparteien wie des
»Front National« in Frankreich und der »Alleanza Nazionale«
in Italien, das Anwachsen von Kriminalität und Drogenhandel und vieles andere.
Ich konzentriere mich vielmehr auf drei Probleme, deren innerer Zusammenhang nicht
auf den ersten Blick erkennbar ist:1. | Deutschland, | 2. | Antiokzidentalismus, | 3. | Migration.
(Ebd., 2002, S. 262). |
(1.)
Deutschland scheint im Rahmen der Einigung Europas viel weniger ein »Problem«
zu sein als etwa Frankreich und gar Großbritannien, von denen das eine Land
den Einigungsprozeß lange Zeit blockiert hat, während das andere sich
nur unter vielfältigen Widerständen einigermaßen einbeziehen ließ.
Die Bundesrepublik Deutschland gab vielmehr einige der wichtigsten Impulse und
hat schon ganz früh in ihrer Verfassung die Möglichkeit, ja Wünschbarkeit
weitgehender Souveränitätsverzichte zugunsten eines übernationalen
Zusammenschlusses festgelegt. Aber beruhte der ausgepr>e »Europäismus«
der Deutschen nach 1945 nicht auf zwei Grundtatsachen, von denen die eine durch
Schwächung der Erinnerung, aber auch durch »Historisierung« allmählich
an Kraft verliert, während die zweite bereits durch den realen Geschichtsgang
aufgehoben ist: nämlich auf dem Versuch des »Dritten Reiches«,
durch Gewalt eine Einigung Europas herbeizuführen und darüber hinaus
durch eine unfaßbare Untat einen anderen und angeblich besseren Weltzustand
hervorzubringen sowie auf der Faktizität der Teilung des ehemaligen Reiches
in zwei ideologisch tief verfeindete Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und
die Deutsche Demokratische Republik (und einen Teil, der
vom Reich auf brutalste Weise abgetrennt wurde, aus dem die Deutschen vertrieben
wurden, wobei nicht wenige von ihnen auf genozidale Weise getötet wurden;
Anm. HB)? Es gibt keinen natürlicheren Affekt als den, daß jüngere
Menschen sich dagegen auflehnen, durch eine unablässige, von leicht erkennbaren
und sicher durchaus nicht unberechtigten oder gar unverständlichen Interessen
geleitete Erinnerung an Untaten einiger oder sogar zahlreicher Väter und
Großväter, an denen aber in Wahrheit auch sehr viele nichtdeutsche
Väter und Großväter Anteil hatten, in eine Art von Schuldhaft
genommen und ihrer geistigen Bewegungsmöglichkeiten beraubt zu werden. Und
seit 1990 ist der größere deutsche Teilstaat, die Bundesrepublik, nicht
mehr eine »Mark des Westens« im Schatten der Befestigungen und Mauern
einer Weltgrenze, sondern das durch die Kriegsfolgen allerdings erheblich verkleinerte
Deutschland ist wieder ein Staat unter anderen Staaten in der Mitte Europas geworden.
Ein Autor, den man nicht eines konventionellen Nationalismus bezichtigen kann,
der sich vielmehr als Anhänger und Biograph Adenauers einen Namen gemacht
hat, publizierte vor kurzem ein Buch mit dem Titel »Die Zentralmacht Europas.
Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne«. (Hans-Peter Schwarz,
Die Zentralmacht Europas - Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne,
1994). Unter den Fragen, die er stellt, sind solche wie die folgenden: Werden
die Deutschen nach dem Beispiel ihres Bundespräsidenten immer das Empfinden
haben, durch den Vertrag von Maastricht »aus der Mittellage erlöst«
zu werden, oder werden sie sich irgendwann dem Gulliver Jonathan Swifts vergleichen,
der von Zwergen gefesselt wurde? Werden sie sich damit abfinden, daß eine
weit höhere Zahl von deutschen Stimmen erforderlich ist, um einen Abgeordneten
in das Europäische Parlament zu entsenden, als z.B. portugiesische Stimmen
für einen Portugiesen? Werden sie es widerstandslos auf sich nehmen, viel
größere finanzielle und sonstige Lasten (sehr
viel größere als ohnehin schon, denn viel größere fiannzielle
und sonstige Lasten sind es schon seit Beginn der EU!
Anm. HB) zu tragen als die übrigen Europäer; werden sie nicht
auf die Dauer jenen Stimmen wieder Gehör schenken, die ihnen sagen, sie seien
während der Bonner Periode ein »entkernter Staat«, ein Satellit
der US-Amerikaner gewesen und sie würden immer noch in diesem Zustand festgehalten?
Werden sie nicht eines Tages die ihnen von der eigenen Regierung und den Brüsseler
Behörden aufgezwungene Einheitswährung wieder abschütteln, falls
sich herausstellen sollte, daß ihnen der »Euro« nicht, wie einst
die DM, Wohlstand verschafft, sondern ihr Volksvermögen vermindert? Werden
sie nicht jene wohltuende Analogie zwischen der Entwicklung des Deutschen Zollvereins
und der Europäischen Gemeinschaft mit der einfachen Bemerkung zurückweisen,
schon längst (1500 Jahre mindestens! Anm. HB)
vor 1800 habe es ein deutsches Volk mit einheitlicher Sprache gegeben, aber im
Jahre 2000 existiere kein »europäisches Volk« und es werde vermutlich
niemals existieren? Werden die Deutschen es in indefinitum widerspruchslos hinnehmen,
daß der Anti-Germanismus bei den Miteuropäern und zumal in den USA
immer neue Blüten treibt und daß sogar jede Regung selbständigen,
um Objektivität bemühten Denkens als »rechtsextremistisch«
oder sogar als »neonazistisch« angeprangert wird? Könnten nicht
am Ende sogar die heute noch ganz wenigen Stimmen die Oberhand gewinnen, die dazu
raten, sich von der Scheinfreundschaft der US-Amerikaner abzuwenden und mit den
so viel näher stehenden Russen ein Bündnis zu schließen, das Europa
wieder autonom machen und die US-Amerikaner in den großen und selbst genügsamen
Weltwinkel verweisen würde, den sie ... ihr eigen nennen? Die Angst vor einem
erneuten Auftauchen des deutschen Nationalismus, ja sogar eines normalen deutschen
Nationalbewußtseins durchherrscht ohne Worte oder auch mit Worten den Prozeß
der weiteren Einigung Europas: die Furcht vor einem »Vierten Reich«
ist in der politischen Klasse Bonns ebenso verbreitet wie in Paris und London.
So übertrieben solche Befürchtungen auch sind, so gewichtige Gegenargumente
ins Spiel gebracht werden können, richtig ist so viel: auch z.B. Frankreich,
Großbritannien und Italien können den weiteren Fortgang der europäischen
Einigung zwar verzögern, wenn sie ihre Interessen ernsthaft beeinträchtigt
sehen, aber nur Deutschland kann diese Einheit möglicherweise sprengen. Deshalb
geht die nachdrücklichste aller Forderungen dahin, es müsse alles Erdenkliche
getan werden, um die Sprengkraft eines neuen deutschen Nationalismus zu entschärfen,
ja zu beseitigen. Die Frage ist allerdings nicht zu umgehen, ob der richtige Weg
darin besteht, auch das Wiederentstehen eines »normalen«, dabei sicherlich
sehr komplizierten, von allem »Hurrapatriotismus« weit entfernten
Nationalbewußtseins zu bekämpfen oder ob nicht der alternative Weg
der Hinnahme und Bejahung der bessere wäre. Aber ließe sich eine solche
modifizierende Wiederherstellung nicht allenfalls bei Mitgliedern der italienischen
»Alleanza Nazionale« akzeptieren, die den Beweis erbracht hätten,
daß sie den Expansionismus und die Minderheitenunterdrückung der faschistischen
Ära in aufrichtiger Überzeugung verurteilen und lediglich darauf bestehen,
die italienische Geschichte und Identität im ganzen zu bejahen und auch Mussolini
nicht ohne Differenzierungen in den Abgrund der Verdammung oder des Vergessens
zu stoßen! In Deutschland jedoch, so ist gerade in Deutschland zu hören,
habe im Nationalsozialismus Hitlers das absolute Böse Gestalt angenommen
.... Diese Verwerfung des bisherigen Deutschlands, vor 1990 oft mit der Bejahung
der Zweistaatlichkeit verbunden, fand einen symptomatischen Ausdruck in der Behauptung
eines der bedeutendsten deutschen Schriftsteller im Jahre 1990, die Wiedervereinigung
Deutschlands sei abzulehnen .... Eine solche Selbstverwerfung, welche die ganze
deutsche Geschichte von Auschwitz her interpretierte, war seit dem Beginn der
Achtundsechziger-Bewegung in Deutschland weit verbreitet, und es ist leicht zu
sehen, daß ihre Folge nur ein neuer deutscher Sonderweg sein kann, allerdings
ein Sonderweg der Selbstlähmung und alltäglichen Zerknirschung. Dabei
war der Weg zu einem gerechteren Verständnis der deutschen und europäischen
Geschichte zu Anfang der 1960er Jahre offen gewesen: Man wußte damals noch,
daß man den Nationalsozialismus nicht ohne seine innere Bezogenheit auf
den sowjetischen und deutschen Kommunismus verstehen kann und daß auch Auschwitz
kein unbegreiflicher Einbruch des Außerhistorischen in das Historische war,
sondern letzten Endes auf einer zwar ungerechtfertigten, aber nicht etwa völlig
grundlosen Schulderklärung beruhte, nicht anders als die negativ-nationalistischen
Attacken gegen »das deutsche Volk«. Es war bereits unter Beweis gestellt,
daß keine »Apologie Hitlers« die Folge sein mußte, wenn
das allgemein-europäische Moment am Aufkommen von Faschismus und antibolschewistischem
Antijudaismus herausgestellt wurde. Aber unter dem Eindruck des Vietnam-Krieges
und auch des weltweiten Verlangens nach »Entspannung« ließ sich
die 68er Generation zu einem blindwütigen Kampf gegen ihre Väter hinreißen,
in dem ein berechtigter Kern mit vielen Übersteigerungen verknüpft wurde.
In den folgenden Jahrzehnten führte diese Generation mit großem Erfolg
den angekündigten »Marsch durch die Institutionen« durch, und
wenn sie sich auch beträchtlich veränderte und - selbst ganz bürgerlicher
Abkunft - »verbürgerlichte«, so vermochte sie doch eine eigene
Partei, die sogenannten »Grünen«, hervorzubringen und nicht nur
unter den Sozialdemokraten, sondern auch in den Reihen der Christdemokraten großen
Einfluß zu gewinnen. Daher ist es in hohem Maße unwahrscheinlich,
daß die Wiedervereinigung Deutschlands zu den eben umrissenen »rechten«
Konsequenzen führt; die viel größere Wahrscheinlichkeit besteht
darin, daß der »negative Nationalismus« der Linksparteien die
Direktion der deutschen Politik übernimmt. Man könnte meinen, die übrigen
europäischen Staaten hätten Grund, sich dazu zu gratulieren, denn alle
Befürchtungen über eine Wiederkehr deutscher Machtansprüche und
deutschen Auftrumpfens würden damit definitiv hinfällig werden. Aber
diese Erwartungen dürften sich als illusionär erweisen. Vermutlich würde
ein Deutschland der »Achtundsechziger« rasch die Rolle des Lehrmeisters
des übrigen Europas übernehmen, des Lehrmeisters im Moralisieren, in
ökologischen Diktaten und in der Bekämpfung der sogenannten »Fremdenfeindlichkeit«.
Auch in dieser Rolle könnte Deutschland also zu einem Sprengstoff für
die Einheit Europas werden. (Ebd., 2002, S. 262-266).(2.)
Immerhin könnte ein Deutschland, das die Bundeswehr abschafft, für die
Auflösung der NATO plädiert und einen quasi-religiösen Erinnerungskult
um den als »absolutes Böses« verstandenen Nationalsozialismus
und dessen Opfer institutionalisiert, für die übrigen europäischen
Partner ein wünschenswerter ... Partner sein, wenn nicht in nahezu allen
Ländern Europas die Tendenz erkennbar wäre, die isolierende Verwerfung
des Nationalsozialismus zu einer entschiedenen Selbstkritik Europas, d.h. zum
Antiokzidentalismus hin auszuweiten. Es gibt ja gute und objektive Gründe
für eine solche Selbstkritik, und man muß sogar sagen, daß Selbstkritik
eine der kennzeichnendsten Eigentümlichkeiten gerade der europäischen
Kultur ist. Die Europäer haben tatsächlich im Mittelalter große
Angriffskriege gegen die islamische Welt geführt, die sie selbst als »Kreuzzüge«
bezeichneten, sie haben am Beginn der Neuzeit Süd- und dann Nordamerika mit
Methoden erobert, die als genozidal zu bezeichnen sind, sie haben den »Negerhandel«
in Gang gesetzt, der im ganzen kaum weniger an Opfern forderte als die Unterwerfung
der Indios und die Bekämpfung der Indianer, sie haben sich schließlich
im Zeitalter des Imperialismus unter rücksichtsloser Gewaltanwendung zu Herren
der Welt gemacht .... Sie waren überdies die Vorkämpfer einer patriarchalistischen
Religion, die ihnen das feindselige Ausgreifen gegen die Welt und die Unterdrückung
des weiblichen Geschlechts als der »Pforte zur Hölle« vorschrieb;
Ökologisten, welche die Naturfrömmigkeit der Indianer beschwören,
und Feministinnen, die bei den Kanaanäern die Freizügigkeit eines orgiastischen
Geschlechtslebens rühmen, sind zwar entschiedene Gegner des »Antisemitismus«
(aber nur angeblich - wegen der Diktatur der politischen
Korrektheit!Anm. HB), aber sie greifen den Fanatismus der monotheistischen
Propheten mit ebenso scharfen Worten an, wie einst die Nationalsozialisten den
angeblichen »Händler- und Zuhältergeist« des Alten Testaments
angegriffen hatten. Auch der anti-industrielle Teil der Linken führt die
Entstehung der verhängnisvollen »Megamaschine«, welche dabei
ist, die Menschheit in einer Welt der Künstlichkeit zugrundezurichten, auf
okzidentale Prämissen zurück, ganz wie es Max Weber mit entgegengesetzter
Wertsetzung getan hatte. Als gefährliche Apologeten werden daher nicht nur
diejenigen verdammt, die einen Zusammenhang zwischen »Auschwitz« und
dem »Gulag« sehen, sondern auch diejenigen, welche der Meinung sind,
den christlichen Kreuzzügen sei die große Offensive der islamischen
Kriegerreligion vorhergegangen, die Kolonialisierung Amerikas habe auch dessen
Erschließung bedeutet, der »Negerhandel« habe nicht bloß
ökonomische, sondern auch humanitäre Ursachen gehabt und die imperialistische
Herrschaft ... habe in Afrika und Indien weitaus weniger an Blutopfern gefordert
als die »Entkolonialisierung« und deren Nachgeschichte. Ein okzidentales
Kulturbewußtsein ist heute sicherlich ebensowenig ohne Selbstkritik möglich
wie ein deutsches Nationalbewußtsein, aber es muß nicht notwendigerweise
selbstzerstörerisch sein, denn ohne grobe Einseitigkeiten und die Verleugnung
historischer Tatsachen ist eine solche Selbstzerstörung und Selbstverwerfung
nicht möglich. Letzten Endes handelt es sich, um an Fukuyama anzuknüpfen,
um eine Verdammung der Geschichte mit ihren Kriegen und Konflikten aus der Perspektive
einer »Nachgeschichte«, in der Friedenserhaltung und ungestörter
Handelsverkehr die obersten Postulate sind. (Ebd., 2002, S. 266-267).(3.)
Huntington würde freilich (mit Recht! Anm. HB)
einwenden, eine so wohlmeinende und humanitäre Einstellung sei leider keineswegs
universal, sondern nur für den gegenwärtigen Geisteszustand der okzidentalen
Kultur charakteristisch, so daß sie eine vielleicht entscheidende Schwächung
in einem weltweiten Ringen bedeute, bei dem es für den Westen längst
nicht mehr um Eroberungen, sondern um die bloße Selbstbehauptung gehe. Man
braucht Huntingtons Befürchtungen hinsichtlich künftiger kriegerischer
Zusammenstöße zwischen den Kulturen nicht zu teilen, um hier in der
Tat das größte aller inneren Probleine Europas zu erkennen, das in
der großen Einwanderung aus aller Welt und vornehmlich den Faktoren besteht,
welche sie ermöglichen. Migration ist ein Hauptmerkmal menschlicher Existenz
überhaupt, ja man kann sie in biologischen Tatsachen begründet sehen.
Die Idee, daß Flüchtlingen geholfen und Verfolgten Asyl gewährt
werden solle, ist eine der ältesten und edelsten in der Menschheitsgeschichte.
Die Einwanderung der in Frankreich unterdrückten Hugenotten nach Preußen
erwies sich als großer Gewinn, und was wäre Sizilien, wenn nicht Welle
um Welle von Einwanderern dorthin gelangt wäre! Die Vereinigten Staaten würden
gar nicht existieren, wenn sie nicht ein Einwandererland wären. Aber alle
diese Migrationen waren entweder von dem aufnehmenden Staat gewollt und gesteuert,
oder es handelte sich um gewalttätige Invasionen, die auf bewaffneten Widerstand
stießen, oder es ging um die Besiedlung relativ leerer Räume .... Völlig
neuartig in der Weltgeschichte aber ist der Sachverhalt, daß ein Recht von
Menschen, die irgendwo unter Diskriminierung leiden, auf Aufnahme in einem Land
ihrer Wahl festgelegt wird, daß diesen Flüchtlingen ein Anspruch auf
Unterhalt gewährt wird und daß starke Strömungen in den Zufluchtsländern
auf den Fortfall aller Beschränkungen, auf »offene Grenzen« drängen,
obwohl es sich in der Regel um dichtbesiedelte Länder handelt. Auch in den
USA ist dieser Sachverhalt gegeben, aber er kann sich relativ leicht in die Tradition
des Einwandererlandes einfügen. In Europa dagegen kommt die ganze Paradoxie
und Konfliktträchtigkeit der neuen Situation zum Vorschein. Die Maxime, daß
jeder Mensch als Mensch das Recht hat, dort seinen Wohnsitz zu nehmen, wo er ein
besseres Leben erwarten darf, kann eine Konsequenz der urliberalen Lehre von den
Vorteilen der Freizügigkeit und von der Mobilität der Produktionsfaktoren
sein, aber sie wurde von jeher durch das entgegengesetzte Postulat eingeschränkt,
daß jeder Staat das Recht haben muß, Zuziehende, für die er keine
Verwendung hat, zurückzuweisen. Das humanitäre Prinzip der »offenen
Grenzen für alle Hilfsbedürftigen« zerbricht diese Einschränkung
und ist dadurch in Gefahr, auf doppelte Weise die gute Intention in ihr praktisches
Gegenteil zu verkehren: Dieses Prinzip läßt sich nicht verallgemeinern,
denn es müßte, konsequent umgesetzt, dazu führen, die zuerst Anklopfenden
zunächst einmal zurückzuweisen, da es sich bei ihnen in der Regel gerade
um die »Bessergestellten « und Aktiveren aus den armen Ländern
handle, und den wirklich Bedürftigen, den Ärmsten der Armen, Transportmöglichkeiten
zur Verfügung zu stellen, die sie nach Europa bringen würden. Die entfernte
Folge würde sein, daß auf künstliche Weise der Zustand eintreten
würde, den Malthus für das schließliche Resultat einer natürlichen
Entwicklung hielt: daß auf einen Menschen ein Quadratmeter Land entfallen
würde. Die nächste Folge wäre aber zweifellos das rapide Anwachsen
von Kriminalität und der Aufstieg von neuartigen Parteien der extremen Rechten,
die mit großer Heftigkeit die »demographische Aggression « der
ebenso kinderreichen wie armen Länder anklagen würden. (Ebd.,
2002, S. 267-269).Wir halten einen Augenblick inne und stellen
ein Gedankenexperiment an: Angenommen, im Jahre 1910 wäre ein Plan der Vereinigung
Kerneuropas, insbesondere Deutschlands und Frankreichs, ernsthaft erwogen worden.
Damals war die Geburtenrate in Deutschland bekanntlich erheblich höher als
in Frankreich. Die Konsequenz der mit der Vereinigung eng verknüpften Freizügigkeit
hätte aller Vermutung nach darin bestanden, daß die Franzosen innerhalb
von drei Generationen zur Minderheit im eigenen Lande geworden wären. Es
kann nicht den geringsten Zweifel geben, daß die damaligen Franzosen, die
sich ihrer Eigenart gegenüber den Deutschen sehr bewußt waren, den
Unionsplan einhellig und leidenschaftlich abgelehnt haben würden. Heute hat
sich die positive Einschätzung nationaler Differenzen sehr verringert, und
das ist im Prinzip ein begrüßenswerter Tatbestand, aber es ist gleichwohl
unwahrscheinlich, daß viele Europäer derselben Meinung sind wie viele
Deutsche, es mache im Grunde keinen Unterschied, ob die eigenen Nachkommen oder
eine Bevölkerung ganz anderer Art im jeweiligen Teil Europas lebe; jede abweichende
Auffassung sei sogar zu verdammen, da sie auf dem »Blutprinzip« beruhe
und »rassistisch« sei. In der Tat dürften diese Menschen auch
die Tatsache als positiv werten, daß die Fertilitätsrate der Ehen in
Deutschland und ebenso in Italien (und in vielen anderen
Ländern in Europa; Anm. HB) auf 1,3 Kinder abgesunken ist (und
in einigen Ländern sogar darunter; Anm. HB), d.h. zur Selbsterhaltung
längst nicht mehr ausreicht. Das wiederum ist die Folge eines weltgeschichtlich
völlig neuartigen Tatbestandes: eines der zahllosen Lebewesen hat sich infolge
seiner Ausstattung mit Vernunft und bestimmter geschichtlicher Umstände so
weit von dem »Gattungscharakter« entfernt, der alles individuelle
Leben beherrscht, daß für zahlreiche Einzelne die egoistische »Selbstverwirklichung«
zum obersten Ziel wird. Jenes »humanistische« Konzept und diese Wirklichkeit
eines neuen »Liberismus«
verstärken einander wechselseitig, und das Resultat ist zwingend: in spätestens
200 Jahren wird es die Nationen der Deutschen, der Franzosen und der Italiener
nicht mehr geben, und Europa wird von einer gewiß recht heterogenen »Bevölkerung«
bewohnt sein, für die der Begriff der »europäischen Kultur«
ein Fremdwort ist - es sei denn, die fernliegende, aber nicht völlig auszuschließende
Möglichkeit habe sich verwirklicht, daß eine einflußreiche Minderheit
der Nachkommen von Chinesen, Ghanaern und Indonesiern ein näheres Verhältnis
zu Goethe und Hegel, zu Beethoven und Schubert, zu Dante und Manzoni entwickelt
hätte als die zu bloßen Supermarktkunden herabgesunkenen »Alteinwohner.«
(Ebd., 2002, S. 269-270).Einen solchen Gedankengang auch nur zu
artikulieren, ohne ihn zugleich einer scharfen Kritik zu unterziehen, gilt freilich
in weiten Kreisen zumal Deutschlands als »politisch inkorrekt«, als
nationalistisch, partikularistisch, ja »rassistisch«. Die Konsequenz
könnten nur der Aufbau einer »Festung Europa« (**)
sein, die sich von der übrigen Welt abschließe, eine Haltung unmenschlicher
Härte gegenüber Hilfsbedürftigen und am Ende sogar die Forderung
nach positiver Diskriminierung von kinderreichen Familien und eine am Vorbild
der faschistischen Regime orientierte »Bevölkerungspolitik«.
(Ebd., 2002, S. 270).An all diesen Einwänden ist so viel richtig,
daß es einen Rückweg vom emanzipatorischen Liberismus
und Individualismus
zu naturhafter Gattungsmäßigkeit nicht gibt. Aber es ist sehr wohl
möglich, daß mehr und mehr junge Menschen aus Einsicht und freiem Entschluß
die Opfer der Kinderzeugung und -erziehung auf sich nehmen, welche ihren Vorfahren
von der Natur oder von einer naturorientierten Konvention aufgezwungen wurden.
Es ist ebenfalls richtig, daß die bloß-egoistische Verteidigung regionalen
Wohlstands ohne moralische Berechtigung ist. Aber sehr wohl ist der Gewinn der
Einsicht möglich, daß Universalität und Unterschiedlichkeit so
wenig einen genuinen Gegensatz darstellen wie Gattung und Individuen, daß
aber gewisse Differenzen wie Hunger auf der einen Seite und Übersättigung
auf der anderen nicht hinzunehmen sind. Daher ist eine große Anstrengung
der entwickelten Teile der Welt und nicht zuletzt Europas mit Nachdruck zu fordern,
um dem Übel an der Quelle entgegenzutreten, so daß sie guten Gewissens
ihr Recht auf die veränderungsbereite Erhaltung ihrer jeweiligen Identitäten
wahrnehmen und von den Ländern der »Dritten Welt« verlangen dürfen,
ihre Bevölkerungsprobleme wie die Volksrepublik China in eigener Regie und
auf jeweils eigene Weise zu lösen. Weder Fukuyamas »Ende der Geschichte«
noch Huntingtons »Kampf der Kulturen« müssen, zumal für
Europa, das letzte Wort sein. (Ebd., 2002, S. 270).Zum Abschluß
komme ich auf die Ausgangsfrage zurück: Wenn über die Gegenwart und
die Zukunft Europas nur so viel zu sagen wäre, daß sich in den neunziger
Jahren aus dem »Europa der Zwölf« das »Europa der Fünfzehn«
gebildet hat und daß daraus wohl innerhalb weniger Jahre das »Europa
der Einundzwanzig« werden wird, dann wäre in der Tat der Titel »Europa
im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts« der adäquatere. Aber ich
habe, wenngleich nur im flüchtigsten Umriß, zu zeigen versucht, daß
weit größere Fragen zur Entscheidung anstehen und daß viel dunklere
Wolken am Horizont aufgezogen sind, als sie aus der möglichen Verwässerung
des europäischen Einigungsprojekts durch die Aufnahme allzu vieler Mitglieder
resultieren können, und deshalb glaube ich, daß der Titel »Europa
vor der Jahrtausendwende« gerechtfertigt ist. (Ebd., 2002, S. 270-271).
Die europäische Geschichte: ein Prozeß der
Selbstzerstörung?(Vortrag
bei der Jahrestagung des VPM in Zürich am 20.12.1997)Die
Frage, ob die europäische Geschichte als ein Prozeß der Selbstzerstörung
zu betrachten sei, muß auf den ersten Blick befremdend wirken. Einer der
bemerkenswertesten und erfreulichsten Vorgänge des letzten Jahrzehnts war
ja die fast einmütige Hinwendung der osteuropäischen Intellektuellen
zu »Europa«, d.h. zu jener Gesamtheit von Lebensweisen und Traditionen,
denen der »reale Sozialismus« der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten
mit seinem engen Dogmatismus, seiner Polizeistaatlichkeit und seinem Kampf gegen
alle »bürgerlich« genannten Überlieferungen schroff entgegengesetzt
war. (Ebd., 2002, S. 272).Es handelte sich dabei offensichtlich
um eine Entsprechung zu jener Hinwendung zum »Abendland«, die sich
nach 1945 überall in jenen Teilen Europas vollzog, die nicht von sowjetischen
Truppen besetzt waren. Hier lag vornehmlich die Überzeugung zugrunde, daß
der Nationalsozialismus, der sich mit lauten Worten für den entschiedensten
Gegner des sowjetischen Kommunismus erklärt hatte, in Wahrheit ein Regime
gewesen sei, das ebenfalls gegen die bedeutendsten Traditionen Europas gerichtet
war, und wenn damals die »Tischgespräche« Hitlers schon bekannt
gewesen wären, würde man der Behauptung eine höchst anschauliche
Bestätigung entnommen haben, wenn die Germanen Mohammedaner geworden seien,
würden sie die Welt erobert haben. Aber man hätte in dieser Äußerung
sicherlich einen bloß punktuellen, von einer abseitigen, wenngleich überaus
mächtigen Persönlichkeit herrührenden und keinesfalls symptomatischen
Verzicht auf eine Bejahung der geschichtlichen Eigenart Europas gesehen und daher
solche Worte schwerlich alseine innere Selbstzerstörung Europas betrachtet.
(Ebd., 2002, S. 272).Heute, an der Schwelle der Jahrtausendwende,
würde es wohl niemand wagen, mit positivem Akzent vom »christlichen
Abendland« als einer Realität zu sprechen. Es löst in Europa offenbar
weithin Zustimmung im Sinne selbstkritischer Empörung aus, wenn die Türkei
der Europäischen Union den Vorwurf macht, durch ihre Ablehnung der Aufnahme
des islamischen und außereuropäischen, aber immerhin säkularen
Landes gebe sie zu erknnen, daß sie sich als einen »christlichen Klub«
betrachte, und in der Mitte eben dieses »christlichen Klubs« konnte
der Religionsstifter als »Balkensepp« verhöhnt werden, ohne daß
die Justiz einschritt. (Ebd., 2002, S. 272-273).Seit geraumer
Zeit ist die Familie der Gegenstand heftiger Angriffe, und diesseits aller intellektuellen
Attacken gegen Patriarchalismus und autoritäre Erziehung wird sie gerade
dann am meisten geschwächt, wenn Eltern und Kinder sich zwar sehr häufig
in der Wohnung aufhalten, aber als Mitglieder einer »modernen Familie«,
jeweils innerlich voneinander weit entfernt, vor dem eigenen Fernsehapparat oder
dem eigenen Computer sitzen. Wer anti-autoritär erzogen worden ist, hält
es für unzumutbar, im Autobus oder im Zug für einen alten und gebrechlichen
Menschen den Platz zu räumen, aber die Gefahr, daß er oder sie selbst
zum Opfer eines Verbrechens wird, ist weit größer als zu den fernen
Zeiten des autoritären und reaktionären Bildungswesens. Kaum eine Vorstellung
ist heute grotesker als die, in den Universitäten seien » Tempel der
Wissenschaft« zu sehen; in deren Fluren werden die riesigen Massen der Studierenden
vielmehr zum Kampf gegen die »Leistungsgesellschaft« sowie die »Eliten«
aufgerufen, und »Schwule und Lesben« machen mit großer Lautstärke
auf ihre angebliche Diskriminierung aufmerksam, ja sie bilden wichtige Teile der
organisierten Selbstregierung der Studenten. In allen Städten blüht
der Drogenhandel, und die Polizei ist nicht zuletzt deshalb nahezu machtlos, weil
ihre Angehörigen schon seit Jahrzehnten auf dehumanisierende Weise als »Bullen«
und als »Schweine« attackiert werden. Wer Soldaten als »Mörder«
beschimpft, bleibt straflos; wer denselben kollektivistischen Schuldvorwurf allerdings
gegen Gruppen richten würde, die als verfolgt gelten oder ehemals verfolgt
waren, hat mit schweren Strafen zu rechnen, und daran wäre gewiß kein
Anstoß zu nehmen, wenn nicht so sehr gegen Gleichmäßigkeit und
Gerechtigkeit verstoßen würde. Von Tugenden oder gar »Kardinaltugenden«
wagt niemand mehr zu reden, sofern sie nicht den Kampf gegen alle möglichen
Arten der Ungleichheit befördern, denn sie gelten als »Sekundärtugenden«,
deren sich angeblich auch die Bewachungsmannschaften von Konzentrationslagern
rühmen konnten, und solche Bewachungsmannschaften scheint es nur im nationalsozialistischen
Deutschland gegeben zu haben (in Wirklichkeit existierten
die von den Engländern zuerst gebauten Konzentrationslager und deren Bewachungsmannschaften
bereits sehr lange vor der der Zeit des Nationalsozialismus - wer das immer noch
nicht weiß, ist dumm und sollte deshalb zu diesem Thema schweigen; Anm.
HB). (Ebd., 2002, S. 273).Der Alltag in den Ländern
Europas und zumal in den USA wird allerdings ganz und gar von einer »Totalkommerzialisierung«
bestimmt, und wenn Pierre de Coubertin von der Hoffnung erfüllt war, durch
die Olympischen Spiele werde die »Jugend der Welt« in eine Sphäre
edlen und von materiellen Interessen gelösten Wettstreits emporgehoben, so
gleichen die Spitzensportler am Ende des 20. Jahrhunderts bunten Litfaßsäulen,
und die Werbeeinnahmen, die daraus erwachsen, übertreffen nicht selten die
»Preisgelder«, mit denen verglichen die viel bekämpften Profite
kleiner Unternehmer gering sind. Wie wenig der »Kapitalismus« des
19. Jahrhunderts, den Marx im Auge hatte, wirklich ein Kapitalismus, nämlich
von bedenkenlosem Gewinnstreben erfüllt war, macht ein einziger Blick auf
das Verhalten der Sensationspresse und bestimmter Verlage klar: wenn nicht die
staatliche Gesetzgebung immer noch gewisse, wenngleich sehr weit gezogene Grenzen
setzte, würde es sicher nicht an einem Mangel von Anbietern liegen, daß
das interessierte Publikum sich auch an genuinen Vergewaltigungen, ja sogar an
Lustmorden ergötzen dürfte. Das »Streben nach Glück«,
das die Verfassung der USA als »Menschenrecht« proklamiert, wird offenbar
weithin als die Aufforderung zu bloß individueller »Selbstverwirklichung«
verstanden, und die einfachste Form dieser Selbstverwirklichung ist der Gewinn
von Lust, worin alle Menschen gleich sein können, sobald sie sich aus den
Gefängnissen ihrer geschichtlichen Traditionen mit deren unterdrückenden
Verboten und Geboten befreit haben. (Ebd., 2002, S. 273-274).Freilich
können aus dieser allgemeinen Tendenz keine gemeinsamen Überzeugungen
erwachsen, die sich eben nur aus dem Gegensatz zu Anderem gewinnen lassen, und
schon heute denkt mancher mit Nostalgie an die Zeit zurück, da die Existenz
der bedrohlichen kommunistischen Supermacht im Osten den Bewohnern der »westlichen
Welt« und am meisten den eingeschlossenen Bürgern von Berlin-West das
Gefühl vermittelte, im Kampf für die edle Sache der Freiheit eng miteinander
verbunden zu sein. Wenn die Freiheit aber keinen Feind mehr hat, dann stehen nur
noch Ansprüche gegeneinander, und alle Einzelnen machen rasch die Erfahrung,
daß mit dem Fortfall des »Feindes der Freiheit« zahllose kleine
Freiheiten sich miteinander konfrontiert finden und daß daraus ein allgemeines
Klima der Frustration, des Verdrusses und einer meist noch dumpfen, manchmal aber
auch schon akuten Feindseligkeit entsteht. (Ebd., 2002, S. 274).Es
gibt also sehr viele gute Gründe für die »Kulturkritik«.
Konrad Lorenz schreibt, alles, was dazu angetan scheine, menschliches Leiden zu
mildern, wirke sich »in entsetzlicher und paradoxer Weise zum Verderben
der Menschheit aus«, und er scheut sich nicht, die gegenwärtige Zivilisation
mit einem bösartigen Tumor zu vergleichen. (Vgl. Konrad Lorenz, Die acht
Todsünden der zivilisierten Menschheit, 1973, S. 18, 28). Die Entfesselung
der Triebe zerstöre die Kultur, und man müsse von einer »fortschreitenden
Infantilisierung« des Zivilisationsmenschen sprechen. Neil Postman stimmt
ihm insofern zu, als er feststellen zu dürfen glaubt, daß durch das
Fernsehen, insbesondere das us-amerikanische, dem Kindwerden der Erwachsenen ein
»Erwachsenwerden« der Kinder und damit ein »Verschwinden der
Kindheit« entspreche. Im Fernsehen werde alles zur Story, als Narkotikum
ohnegleichen mache es sowohl die Vergangenheit wie die Geschichte zu Belanglosigkeiten.
(Ebd., 2002, S. 274-275).Günter Anders sprach schon in dem
1950er Jahren von der »fleischlichen Tölpelhaftigkeit« des Menschen,
der sich neben der Perfektion seiner Apparate »antiquiert« vorkommen
müsse. Erwin Chargaff, Naturforscher und jüdischer Emigrant aus Deutschland,
scheut vor der schroffen Aussage nicht zurück, die Menschen der Gegenwart
lebten und stürben »auf einem gottverlassenen Misthaufen«, und
der Entgottung der Natur entspreche die Verarmung der Menschenseele. (Ebd.,
2002, S. 275).Aussagen wie diese kann man schwerlich als »reaktionär«
oder »nostalgisch« abtun, denn Männer wie Lorenz und Chargaff
sind Wissenschaftler höchsten Ranges, und sie üben mithin Selbstkritik,
wenn sie, wie Chargaff, von der »unseligen Imprägnierung unseres Lebens
durch die Wissenschaften« sprechen. (Vgl. Erwin Chargaff, Kritik der
Zukunft, 1983, S. 11, 58, 63). Und ein Begriff, der bei ihnen eher implizit
ist, hat ja in der Gestalt von Massenbewegungen, die sich selbst in betonter Weise
einen modernen Charakter zuschreiben, eine machtvolle, schlechterdings unübersehbare
Verkörperung erfahren, nämlich der Begriff der »Selbstvernichtung«.
Daß die Menschheit am Rande der Selbstvernichtung stehe, hat die »Friedensbewegung«
immer wieder hervorgehoben, aber sie sah die Gefahr ganz vornehmlich in der atomaren
Rüstung der zwei feindlichen und im Kalten Krieg befindlichen Supermächte;
die Umweltbewegung dagegen brauchte auf ihre Hauptthese nicht zu verzichten, als
der Kalte Krieg zu Ende gegangen war, denn für sie kann auch eine in Frieden
lebende Menschheit sich selbst zugrunde richten, indem sie den Boden und die Flüsse,
ja die Meere durch die Abfallprodukte ihrer Industrie vergiftet, die lebenserhaltende
Ozonschicht zerstört und im eigenen Müll erstickt. (Ebd., 2002,
S. 275).Aber wenn die Furcht vor der Selbstvernichtung der Menschheit
durch ihre eigenen Fortschritte vermutlich das neuartigste und kennzeichnendste
Phänomen am Ende des 20. Jahrhunderts ist, so ist doch der Fortschritts-
und Wissenschaftsglaube, der im 19. Jahrhundert die fast unbestrittene Vorherrschaft
besaß, keineswegs erstorben, zumal nicht in den USA, und es wäre eine
grobe Einseitigkeit, wenn wir ausschließlich auf die Stimmen der Kulturkritiker
hören wollten. Autoren wie Nicholas Negroponte, Marvin Minsky, Bill Gates
und Alvin Toffler unterstreichen mit größtem Nachdruck die außerordentlichen
Erfolge, welche die mit der Technik verschmelzenden Naturwissenschaften gerade
in den letzten Jahrzehnten errungen haben: die Überwindung aller Entfernungen
im »Weltdorf« der mehr und mehr zu Einheit gelangenden Welt, in welcher
grundsätzlich jedes Individuum in Sekundenschnelle mittels Telefon, Fax und
vor allem »E-Mail« mit jedem anderen Individuum Kontakt aufnehmen
kann, die erstaunlichen Fortschritte der Medizin, die dazu geführt haben,
daß die durchschnittliche Lebensdauer in den fortgeschrittenen Teilen der
Welt nahezu doppelt so hoch ist wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts, und auch die
ständig anwachsende Produktivität der Wirtschaft, die mit immer weniger
Menschen immer größere Gütermengen erzeugt. Zwar stellen sie in
der Regel nicht in Abrede, daß diese triumphalen Erfolge nicht ohne Kehrseite
sind - sie verschweigen nicht die »strukturelle« Arbeitslosigkeit
großer Massen von Menschen, welche gerade durch die Rationalisierung der
Produktion hervorgebracht wird, und sie könnten die steigende Abstraktheit
der menschlichen Beziehungen anführen, die dem Charakter der Beziehungen
in einem genuinen Dorf so sehr entgegengesetzt ist -, doch sie heben mit Nachdruck
hervor, daß nur bessere und umfassendere Technik die Wunden zu heilen vermag,
welche die Technik geschlagen hat und daß die Empfehlungen einer Rückkehr
zum »einfachen Leben«, die von radikalen Okologen wie Rudolf Bahro
gegeben werden, nichts anderes als phantasievoller Unsinn sind. Aber über
die Auffassungen und Empfehlungen eines so geistvollen Philosophen wie Hans Jonas
können sie sich nicht ebenso leicht hinwegsetzen, und in dem Werk über
das »Prinzip Verantwortung« dieses Denkers ist ein Satz zu lesen,
der die schlichte, auf Beobachtungen beruhende Kulturkritik und deren Begriff
der Selbstzerstörung mit der »europäischen Geschichte« in
Zusammenhang bringt, indem es heißt, das Prinzip einer »Zukünftigkeitsethik«
könne nicht bei dem »rücksichtslosen Anthropozentrismus«
stehenbleiben, der die herkömmliche und besonders die ... Ethik des Abendlandes
auszeichne. (Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung - Versuch einer Ethik
für die technologische Zivilisation; 1979, S. 95). (Ebd., 2002,
S. 275-276).So läge denn in den ersten Anfängen der »europäischen«,
d.h. der »abendländischen« ... Geschichte der Anfang jener Phänomene,
die auf den ersten Blick nur wie eine von außen oder allenfalls vom Rande
herkommende Zerstörung erscheinen? Dem kann man nicht zustimmen, bevor man
sich nicht andere geschichtliche Beispiele vor Augen gestellt hat, in denen Zerstörung
oder Klagen über Zerstörung und Niedergang noch handgreiflicher vorzufinden
sind, als es heute von seiten der Kulturkritik geschieht. (Ebd., 2002, S.
276-277).Die »Kulturrevolution« in China ging vermutlich
auf Machtkämpfe in der obersten Führung der KP Chinas zurück, d.h.
Mao Tse-tung wollte da durch die schon verlorene Alleinherrschaft zurückgewinnen
und noch fester begründen. In all dem war sie gleichwohl eine »Revolution
gegen die Kultur«, nämlich gegen die spezifische Überlieferung
Chinas und insofern gegen dessen Geschichte, also, wie es schien, ein Prozeß
der Selbstzerstörung. (Ebd., 2002, S. 277).Ich zitiere
aus den Erinnerungen einer jungen Chinesin, der Tochter eines hohen Parteifunktionärs:
»Lin Biao hielt eine Rede und rief die Roten Garden auf, die Schulen zu
verlassen und die »vier alten Dinge« zu zerschlagen - nämlich
die »alten Ideen, die alte Kultur, die alten Gewohnheiten und die alten
Sitten. Auf diese Aufforderung hin gingen die Roten Garden in ganz China auf die
Straßen ..., sie brachen in die Häuser ein, zerschlugen deren alte
Kunstwerke, zerrissen die Gemälde und die kalligraphischen Arbeiten. Sie
zündeten Scheiterhaufen an, um Bücher zu verbrennen. Sehr bald waren
nahezu alle Kostbarkeiten, die sich in privatem Besitz befanden, zerstört.
.... Museen wurden geplündert. Paläste, Tempel, alte Gräber, Statuen,
Pagoden, Stadtmauern: alles, was alt war, wurde attackiert. .... Im Zentrum Pekings
wurden einige Theater und Kinosäle in Folterkammern verwandelt. Von ganz
Peking wurden die Opfer hierhergebracht«! (Ebd., 2002, S. 277).Aber
all das war nicht wirklich neu. Es war eine Fortsetzung jener großen Kampagne
gegen »die Rechten«, mit der Mao ein Jahrzehnt zuvor alle Ansätze
zum Wiedererwachen der überlieferten chinesischen Kultur nach dem unerwarteten
Erfolg der »Hundertblumenbewegung« zerschlagen hatte, und der Korrespondent
eines deutschen Magazins beschrieb im Rückblick voller Wehmut, wie im Verlauf
der kommunistischen Herrschaft aus dem geheimnisvollen alten Peking, in dem es
300 Buch-Antiquariate gegeben hatte, eine »moderne« Stadt geworden
war, in deren Zentrum man mehr als tausend Fabriken eröffnet hatte, nachdem
die schönen alten Innenhofhäuser mit ihren Toiletten und Badezimmern
als Brutstätten des »Klassenfeindes« durch slumartige Massenquartiere
ersetzt worden waren. (Ebd., 2002, S. 277).Zwar könnte
man einige Analogien aus der jüngsten Geschichte Europas anführen, sowohl
im deutschen Jahr 1933 wie in der deutschen, italienischen und französischen
»Studentenrevolution« von 1968, aber ein so offenkundiger und verbreiteter
Prozeß einer Selbstzerstörung hatte doch nirgendwo stattgefunden. Handelte
es sich in China indessen wirklich um eine »Selbstzerstörung«?
Handelte es sich nicht vielmehr um einen Prozeß, der »von außen«,
eben vom »Westen«, induziert war und der hier lediglich eine Gestalt
annahm, die in hohem Maße extremistisch und doch auch wieder sehr »chinesisch«
war? Ruft etwa eine tendenzielle Selbstzerstörung der europäischen Kultur
im Bereich anderer Kulturen eine bloß noch viel anschaulichere Form der
Selbstzerstörung hervor, die mithin so etwas wie eine zur Karikatur verzerrte
Spiegelung ist? (Ebd., 2002, S. 278).Wir wollen jedoch
noch einen weiteren Ansatz machen, um zu überprüfen, ob nicht ein nostalgischer
Pessimismus, zu dem jeder neigen muß, welcher an der »neuen Unübersichtlichkeit«
der desinformierenden und manipulierenden »Informationsgesellschaft«
Anstoß nimmt, das Urteil trübt und die eigene Neuartigkeit überschätzt.
(Ebd., 2002, S. 278). Die Vorstellung vom Niedergang
in der Geschichte ist ja viel älter als das Fortschrittsbewußtsein,
so gewiß die Idee der allmählichen Verbesserung nicht fehlt. Folgendermaßen
beschrieb Hesiod, neben Homer der älteste Dichter Griechenlands, um 700 vor
Christus seine Gegenwart:»Faustrecht
gilt, da der eine die Stätte des andern zertrümmert. // Nicht wird
Eidestreue gewürdigt, nicht erntet die Güte, // Nicht die Gerechtigkeit
Dank .... // .... Nur trauriges Elend // Bleibt den sterblichen Menschen, //
Und nirgends ist Abwehr des Unheils.« | Diesem traurigen
Zustand stellt der Dichter die früheren Geschlechter der Menschen gegenüber,
die allesamt besser waren, zummal das erste, das »goldene«, dem alles
Erwünschte eigen war, weil der »nahrungspendende Acker unbestellt in
neidloser Fülle Frucht trug«. In moderner Ausdrucksweise könnte
man sagen: angesichts der in der Vorzeit verwirklichten Utopie stellt sich die
Realität der Gegenwart als böse und verwerflich dar. Aber der Niedergang
der Geschichte entspringt offenbar dem Willen der Götter: er ist kein Prozeß
der Selbstzerstörung. (Ebd., 2002, S. 278).Anders
sehen die Dinge bei Platon und Polybios aus, wo die beste Verfassungsform, die
Monarchie, sich von sich aus zum Abstieg in die Aristokratie, die Demokratie und
schließlich in die Tyrannis forttreibt. Aber der tiefste Punkt ist kein
endgültiger, sondern gerade das Übermaß des Bösen und Negativen
erzeugt den Umschlag zur Monarchie zurück, so daß ein Kreislauf, eine
»anakyklosis«, eintritt, die im Prinzip unaufuebbar ist, die bei Polybios
jedoch den Ausweg der »gemischten Verfassung« offenläßt,
welche die Stärken der reinen Typen vereinigt und eben dadurch deren Schwächen
vermeidet, so daß sie dem Prozeß der Selbstzerstörung oder Selbstüberholung
nicht mehr ausgesetzt ist. (**)
(Ebd., 2002, S. 278-279).Eine Vorstellung
vom Niedergang, der indessen nicht unaufhebbar ist, liegt auch den Predigten der
Propheten des Alten Testaments zugrunde .... Und der große islamische Historiker
und Geschichtsphilosoph Ibn Chaldun alle Geschichte von der »aschabija«,
dem Gemeinschaftsempfinden der ursprünglichen Sippen und Stämme ausgehen,
einem Empfinden, das sich auch noch einige Zeit hält, wenn ReichsgrÜndungen
und Luxus die Glanzlichter der Kultur erzeugen, das sich aber immer mehr abschwächt
und schließlich eine letzte Stufe hervorbringt, die Stufe einer bloßen
Zivilisation, die dem Untergang vorausgeht. Selbstzerstörung ist also der
Grundcharakter jeder Kultur, und damit nimmt Ibn
Chaldun wesentliche Gedankengänge von Giambattista Vico
und Oswald Spengler
vorweg. Die unumgängliche Konsequenz wäre, daß sich alle diejenigen
täuschen, welche die negativen Phänome der Gegenwart als spezifische
Eigentümlichkeit der europäischen Kultur und Geschichte charakterisieren;
es würde sich vielmehr um allgemeine Phänomene handeln, deren Analogien
sich in weit entfernten Zeiten aufweisen lassen. Naturwissenschaftler machen sogar
darauf aufmerksam, daß Prozesse der Selbstzerstörung schon unter Tieren,
ja sogar letzten Endes als kosmische Prozesse zu beobachten sind: Seefahrer setzten
einst auf der Insel Fernando Póo einige Ziegen an Land, für die sie
keine Verwendung hatten, und als sie nach vielen Jahren wieder an der Insel vorbeikamen,
stellten sie fest, daß die Tiere, da sie auf der Insel keine Feinde vorfanden,
sich sehr rasch vermehrt hatten, deshalb alle Pflanzen auffraßen und schließlich
allesamt zugrunde gegangen waren; gewisse Ameisenarten halten sich Blattläuse
als eine Art Sklaven und werden dadurch allmählich so träge, daß
sie bald den Angriffen anderer Ameisenarten zum Opfer fallen; der Weltprozeß
im ganzen ist ein Prozeß der Entropie,
in dem schließlich alle Energiedifferenzen ausgeglichen werden, so daß,
wenngleich nach dem Verlauf gigantischer Zeitspannen, die Erstarrung im »Kältetod«
die unvermeidliche Folge ist. (Ebd., 2002, S. 279).Aber es
sind schwerlich diese Thesen von allgemeiner Art, welche die »Kulturkritiker«
zum Innehalten und zum erneuten Nachdenken veranlassen sollten, sondern es ist
die Erinnerung an frühere Denker, die uns zeitlich noch recht nahe sind,
und die etwas spezifisch Europäisches zu beobachten und zu kritisieren glaubten,
einen Prozeß der Zersetzung und der Auflösung, zu dem es in anderen
Kulturen kein Analogon gebe. Es sind die Vorkämpfer der »alten Kirche«,
des Katholizismus, die im Protestantismus ein verhängnisvolles Prinzip bekämpfen,
das andere zerstörerische Phänomene wie den Liberalismus und den Sozialismus
hervorbringe. (Ebd., 2002, S. 280).Jacques-Benigne Bossuet,
der große Kanzelredner der Zeit Ludwigs XIV., schreibt um 1680 seine »Histoire
des Variations des Eglises protestantes«, welche die Wandelbarkeit und Vielfalt
der protestantischen Lehrmeinungen, Kirchen und Sekten der Festigkeit und Dauerhaftigkeit
der »katholischen Wahrheit« gegenüberstellt und daraus ein sehr
negatives Urteil ableitet. (Ebd., 2002, S. 280).Joseph de
Maistre nennt zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Protestantismus »den größten
Feind Europas, ein verhängnisvolles Geschwür, den Vater der Anarchie«,
weil er die individuelle Vernunft auf den Thron erhebt und einer »Aufklärung«
den Weg bereitet, die jeden einzelnen Menschen in die Haltlosigkeit seines einsamen
Urteils stürzt und damit einer radikalen Fehleinschätzung der menschlichen
Natur zur Existenz verhilft, denn der Mensch habe, um sich richtig verhalten zu
können, Glaubensüberzeugungen nötig und nicht Probleme. Die Wissenschaft
aber könne solche bindende Überzeugungen nicht vermitteln, und deshalb
kämen die Naturwissenschaften die Menschen teuer zu stehen, denn sie nährten
die Illusion, daß dasjenige, was in ihrem Bereich sinnvoll sei, nämlich
die Diskussion, auf die Politik und das Staatsleben übertragen werden könne.
(Ebd., 2002, S. 280).Juan Donoso Cortes verknüpft die zerstörerische
Tendenz zur Diskussion mit einer bestimmten sozialen Klasse, dem Bürgertum,
das er geringschätzig, aber auch anklagend als die »clase discutidora«
bezeichnet. Als Hauptphasen des historischen Zerstörungsprozesses nennt er
die Reformation, die Renaissance, die Aufklärung und den Absolutismus, und
er stellt die These auf, die Erde, ȟber die die philosophische (d.h.
protestantisch-aufklärerische) Zivilisation hinweggeschritten« sei,
werde verflucht sein, denn es werde die Erde des Verderbens und des Blutvergießens
sein; schon jetzt habe sie die Wege »für einen gigantischen, universellen,
unmeßbaren Tyrannen bereitet«. Als Rettungsmittel empfiehlt Donoso
in seiner berühmten Rede vom Januar 1849 die Diktatur, nämlich die »Diktatur
des Säbels«, d.h. des Militärs, zwecks Vermeidung der »Diktatur
des Dolches«, d.h. der Machtergreifung der Verschwörer und Agitatoren,
aber es besteht kaum ein Zweifel, daß er gegen Ende seines Lebens von tiefem
Pessimismus erfüllt war und daß er ganz wie de Maistre hätte sagen
können »Ich sterbe mit Europa«. (Ebd., 2002, S. 280-281).Handelte
es sich bei diesen Denkern nicht offensichtlich um »Reaktionäre«,
um Verteidiger einer verlorenen Sache! Aber klingen nicht viele Aussagen der zu
Beginn zitierten Kulturkritiker der Gegenwart ganz ähnlich! Hat nicht Donoso
Cortes den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts mit viel größerer Bestimmtheit
vorhergesagt als etwa Herbert Spencer, obwohl dieser große Vorkämpfer
von Handelsfreiheit und Pazifismus am Ende seines Lebens von bohrenden Zweifeln
nicht frei war. Hat nicht auch Alexis de Tocqueville von der zukünftigen
und ganz neuartigen Tyrannei gesprochen, der »Tyrannei der demokratischen
Majorität«, die freilich als Konsequenz des Individualismus »sanft«
und dennoch eine »pouvoir immense et tutelaire« sein würde, das
den jeweils auf sich allein zurückgeworfenen Individuen schließlich
»die Anstrengung des Denkens und die Mühe des Lebens abnehmen«
könnte, um sie, wie sich hinzufügen ließe, in dasjenige zu verwandeln,
was Nietzsche »die letzten Menschen« nannte. Und nicht einmal der
Großmeister derjenigen Lehre, die von de Maistre und Donoso sicherlich als
die verhängnisvollste von allen bezeichnet worden wäre, wenn sie ihnen
bekannt gewesen wäre, nämlich Karl Kautsky, blieb von Sorgen und Bedenken
hinsichtlich der Zukunft frei, als er den in Rußland siegreichen Bolschewismus
einen »tatarischen Sozialismus« nannte.Und
nun ist nochmals die Frage zu stellen: Brach hier ein fremdes Element ein - das
Barbarentum des »zurückgebliebenen« Rußland -, so daß
Europa von außen mit der Zerstörung bedroht war, oder war am Ende der
Sozialismus selbst, ja schon der Liberalismus und die liberale Demokratie die
Selbstzerstörung Europas! Aber müßte dann nicht die unerträgliche
Folgerung lauten, daß diejenigen am meisten recht hatten, die am offenkundigsten
einem längst vergangenen Geschichtszustand zugehörig waren und daß
nahezu alle heute noch lebenden geistigen Mächte - Protestantismus, Liberalismus,
Sozialdemokratie, Sozialismus - sich wechselseitig als Faktoren der Selbstzerstörung
der europäischen Geschichte und der europäischen Kultur betrachten und
anklagen müßten! (Ebd., 2002, S. 281). |
Hier
scheint ein Rückblick auf Hegel den besten Ausweg zu weisen. Was de Maistre
mit negativem Akzent als »Auflösung« und »Zersetzung«
versteht, wird von Hegel gerade als »Realisierung«, als »Verwirklichung«
aufgefaßt, als ein Sich-Durchsetzen des Neuen, welches das Alte in der Tat
aufhebt, aber nicht vernichtet, sondern auf eine höhere Stufe und zu neuen
Synthesen gelangen läßt. So nimmt der Protestantismus von der mittelalterlichen
Askese Abschied, und er wendet sich »der Welt« zu, aber er macht eben
diese Welt »sittlich«, und das konnte er nur, weil die katholische
Askese ihm vorhergegangen war und die »heidnische« Unmittelbarkeit
der Weltbeziehung aufgehoben hatte. Der Protestantismus ist also eine höhere
Stufe als der Katholizismus, aber er bewahrt wesentliche Merkmale dieser früheren
Stufe, indem er sie verändert. Mithin ist dasjenige, was in den Augen von
de Maistre eine »Selbstzerstörung Europas« war, in Wahrheit die
Selbstverwirklichung der europäischen Geschichte mittels der Selbstüberwindung
ihrer früheren Stufen. (Ebd., 2002, S. 282).Aber die
höchste Stufe, die Selbstüberwindung des Protestantismus, ist für
Hegel nichts anderes als seine eigene Philosophie, in der Gott zum Selbstbewußtsein
gelangt und der auf dem politischen Gebiet die konstitutionelle Monarchie entspricht.
Es gibt bei Hegel einige Andeutungen, die mit negativem Akzent auf den dogmatischen
Liberalismus, das Prinzip der Atome, verweisen, und auf US-Amerika als Macht einer
zukünftigen, auch den Alltag durchdringenden Vernünftigkeit. Aber im
ganzen ist Hegels Dialektik eine Vollendungsdialektik, die den Anfang in einer
Endstufe zu sich selbst zurückkommen läßt. Noch deutlicher ist
dieser Charakter bei Marx, wo die klassenlose Gesellschaft des Sozialismus die
Rückkehr auf höherer Stufe zum »Urkommunismus« ist, d.h.
zur Gleichheit, Freiheit und Konfliktlosigkeit eines angeblichen Anfangszustandes,
der leicht als die älteste aller Utopien der Menschheit zu erkennen ist.
Ohne jeden Zweifel würde Hegel den intellektuellen Zustand der Gegenwart
nicht als das »Selbstbewußtsein Gottes« anerkennen, und Marx
würde die soziale Realität der Zeit vor der Jahrtausendwende einschließlich
der Überreste des »realen Sozialismus« wohl seiner klassen-,
staat- und konfliktlosen Gesellschaft stärker entgegensetzen als dem noch
sehr begrenzten und zahmen »Kapitalismus« des 19. Jahrhunderts.
(Ebd., 2002, S. 282).Ich umreiße abschließend mit freilich
allzu knappen Worten einen Denkweg, der es möglich macht, die »Selbstzerstörung«
der europäischen Geschichte sowohl als Realität wie als Herausforderung
wahrzunehmen, d.h. als einen Prozeß, dessen Ausgang offen und nicht von
menschlichen Entscheidungen unabhängig ist. (Ebd., 2002, S. 282-283).Alle
Philosophen aller Zeiten und aller Länder stimmen im Grunde darin überein,
daß der Mensch sich als solcher dadurch von sämtlichen anderen Lebewesen
unterscheidet, daß er eine Beziehung zum Kosmos, zu Gott oder zum Weltgrund
hat und daß er aus dieser Beziehung heraus lebt, ob er nun die Welt und
sich selbst von übermächtigen Kräften, von Göttern, beherrscht
sieht, ob er alles Seiende als Kreaturen eines allmächtigen Schöpfers
betrachtet oder ob er das Universum als ein sich selbst verschlingendes Ungeheuer
versteht, das von Leiden und Qualen erfüllt ist. Nur deshalb hat er zugleich
eine Beziehung zu sich selbst, ist er ein »Selbst« und also eine Person.
Aus diesen grundlegenden Konzeptionen leiten sich die Hauptregeln seines Verhaltens
ab: ob er die Götter durch die Darbietung von Opfertieren zu besänftigen
sucht, ob er sich den Geboten des allmächtigen Schöpfergottes unterwirft,
ob er aus dem leiderfüllten Kreislauf der Geburten auszubrechen und im »Nirwana«
Erlösung zu erlangen strebt. Dieser den Menschen als Menschen konstituierende
Urbezug ist die »theoretische Transzendenz« zu nennen, das keineswegs
nachträgliche, sondern vorgängige Hinausgreifen des Menschen über
die Alltagsnotwendigkeiten und Alltagswelten von Nahrungserwerb und Schutz gegen
physische Unbilder, die denjenigen mancher Tiere so ähnlich sind. »Theoria«
heißt in diesem Zusammenhang nicht »wissenschaftliches Erklärungssystem«,
sondern »Schau«, etwa in dem Sinne, wie Kant ihn zugrundelegt, wenn
er den Menschen als »Kosmotheorós« bestimmt. Nichts war für
Griechen und Römer selbstverständlicher als ihr Götterglaube; keine
Gemeinsamkeit unter Menschen war je stärker und machtvoller als diejenige,
die auf einem Glauben beruhte und sich einem anderen Glauben entgegenstellte:
christliche Märtyrer überwanden das Römische Weltreich, islamische
Glaubenskrieger unterwarfen innerhalb kurzer Zeit den größeren Teil
der damals bekannten Welt: buddhistische Mönche und Kaufleute trugen ihre
Religion über Tausende Kilometer von Wüsten und Gebirgen hinweg bis
nach China. (Ebd., 2002, S. 283).Gewiß muß man
sagen, daß in all dem auch Kämpfe politischer Gebilde um Macht und
Einfluß, ja um den Besitz von Land und Reichtümern ausgefochten wurden,
und es sticht insAuge, daß fast überall auf der Erde sich eine Entwicklung
vom Einfacheren zum Komplizierteren, ein Aufbrechen von Abgeschlossenheiten, eine
Verfeinerung der Lebensführung vollzogen hat, aber die These bleibt trotzdem
richtig, daß alle menschlichen Gruppierungen »der Natur« nahe
blieben und sich den »Geboten Gottes« unterwarfen, so oft sie dagegen
verstoßen mochten, daß trotz aller Verbesserungen und Sublimierungen
die Menschheit durch die »theoretische Transzendenz« oder die Religion
bestimmt blieb. Noch die Heere Karls V. bewegten sich nicht wesentlich schneller
als die Heere Hannibals, und die Zerstörungskraft der Kanonen Wallensteins
war nur quantitativ größer als diejenige der Waffen, mit denen die
Römer Numantia bestürmten. (Ebd., 2002, S. 283-284).Aber
die theoretische Transzendenz kann nur praktische Transzendenz werden, wenn der
Mensch nicht mehr bloß einzelne Naturkräfte wie das Wasser in seinen
Dienst nimmt, sondern wenn er eine Kraft herstellt, die in der Natur nur marginal
vorkommt und unbenutzbar bleibt, nämlich den Dampf, wenn er sich mit Hilfe
von Maschinen von der Erde in die Luft erhebt oder in die Wasser der Ozeane hinabtaucht,
und wenn er sich selbst und die Verhältnisse, in denen er lebt, systematisch
zu verändern und zu verbessern bestrebt ist. Und hier kommt die europäische
Geschichte ins Spiel, denn dieser Fortgang von der theoretischen zur praktischen
Transzendenz hat sich nur in Europa vollzogen, obwohl die Chinesen das Pulver
und den Buchdruck eher kannten, und seine Voraussetzung waren Maximen von Denkern
wie Bacon und Descartes, daß die Menschen sich zu Herren und Meistern der
Natur machen sollten - Maximen, die ihrerseits nicht hätten artikuliert werden
können, wenn nicht die rigorose Ethik des Alten Testaments und die im Prinzip
unbegrenzte »Neugier« der frühen griechischen Wissenschaft vorangegangen
wären. Die Eroberung von Nord- und Südamerika durch die Europäer
beruhte großenteils noch auf der Kraft eines missionarischen Glaubens, aber
mit der Industriellen Revolution - besser: mit der ersten industriellen Revolution
- kam von Europa aus ein Prozeß in Gang, der sich als Weltwirtschaft und
Weltpolitik allmählich auf die ganze Welt ausdehnte und nur für kurze
Zeit den Charakter eines machtpolitischen Imperialismus trug. (Ebd., 2002,
S. 284).Aber diese »Modernisierung« war nicht bloß
auf Bibelsprüche und philosophische Maximen gegründet, sondern sie hatte
sehr wesentlich damit zu tun, daß seit der Reformation jene Glaubensgemeinschaften
zu »Konfessionen« wurden und in einen Konflikt gerieten, in dem sie,
als solche »unmodern«, sich immer weiter zur Modernität forttrieben.
Nicht nur »praktische Transzendenz« kennzeichnet das neuzeitliche
Europa, sondern in eins damit das »Liberale
System« als relativ freie Auseinandersetzung geistig-politischer Mächte,
die in ihrem Sich- Weitertreiben den Individuen sowohl im intellektuellen wie
auch im wirtschaftlichen Leben einen Spielraum gewährten, wie es in keiner
anderen Kultur je der Fall gewesen war. Joseph de Maistre hatte nicht einfach
unrecht, als er über »Zersetzung« klagte, während seine
Gegner rühmend von »Emanzipation« sprachen. Andere Kulturen,
die russisch-orthodoxe, die islamische, die chinesische, sollten später ganz
ähnliche Klagen über die Zersetzung ihres Gemeinschaftsgeistes erheben
und dann aber nicht »den Protestantismus«, sondern »den Westen«
verantwortlich machen. Dieser Individualismus, der sich in Europa allmählich
vom Bürgertum auf die Volksmassen ausbreitete, ist die kennzeichnendste Blüte
der europäischen Geschichte und zugleich das mächtigste Auflösungsmittel
der religiösen Glaubensrichtungen, aus deren Zusammenstoß und Wettbewerb
er entstand. (Ebd., 2002, S. 284-285).Aber die Individuen
werden nicht bloß aus überlieferten Zusammenhängen, insbesondere
aus der tief verwurzelten Bodenständigkeit gelöst, sondern sie werden
auch zu neuen Kombinationen zusammengefügt, sie werden »flexibel«,
und einige Zukunftsforscher entwerfen das Bild eines künftigen Kapitalismus,
wo völlig fließende Konfigurationen jenseits aller Unterscheidungen
nach Nationen oder Glaubensrichtungen sich zusammenschließen und wieder
auflösen, ohne daß eine andere Macht lenkend wäre als »der
Markt«, der auch die größten Firmen gnadenlos ausschaltet, sobald
sie den Ansprüchen des in ständiger Bewegung befindlichen Ganzen nicht
mehr entsprechen. Diesen Individuen würden sich sicherlich die ausgedehntesten
Möglichkeiten des Genusses bieten, und eines Tages würde sich für
viele von ihnen sogar die Möglichkeit einer Weltraumfahrt ergeben, die sie
noch mehr der Unsterblichkeit nahebringen könnte, als es auf der Erde die
Fortschritte der Medizin zu tun vermögen, welche das Genom beherrschbar gemacht
hat und eine unbegrenzte Anzahl von künstlich gewonnenen Körperteilen
bereithält, mit denen die Leiden kranker Menschen behoben werden können.
Dies wäre der Zustand, in dem die europäische Geschichte sich selbst
zerstört oder besser aufgehoben hätte, um jener Weltgesellschaft und
Weltzivilisation den Platz zu räumen, die Turgot und Condorcet in ihren Werken
vorweggenommen hatten. Es ist zugleich der Zustand, den - oder dessen Kehrseiten
- die Kulturkritiker im Auge hatten, von denen ich im Anfang gesprochen habe.
(Ebd., 2002, S. 285).Und nun komme ich in leider unumgänglicher
Kürze zu einigen Thesen, die man, wenn man will, politische nennen mag.
(Ebd., 2002, S. 285).Unter all den Millionen von Gattungen auf
der Erde und vermutlich im Weltall gibt es eine einzige, die durch ein Sich-Übersteigen
oder durch Transzendenz gekennzeichnet ist und die sich damit von der Natur so
weit entfernen kann, daß heute die Forderung unüberhörbar ist,
die irdische Natur vor ihr zu schützen. (Ebd., 2002, S. 285-286).Aber
auch die Natur im Menschen selbst entzieht sich dem Zugriff nicht mehr. Dieser
Fortgang von der theoretischen zur praktischen Transzendenz vollzog sich ursprünglich
in der europäischen Geschichte. Heute scheint die einzigartige Blüte
dieser Geschichte, der Liberalismus,
als Liberismus
die Alleinherrschaft gewonnen zu haben und die Individuen sogar von derjenigen
Gattungshaftigkeit zu emanzipieren, die in den Wandlungen der Geschichte zwar
verändert und geschwächt, aber nie in ihrem Kern angegriffen worden
war. Die liberistische Gesellschaft ist höchst komplex, aber sie ist vor
allem eine Gesellschaft ohne Kinder, d.h. ohne eine zur Selbsterhaltung ausreichende
Zahl von Kindern. Es ist nicht nur das in der us-amerikanischen Verfassung als
Grundrecht verankerte »Streben nach Glück«, das vielen modernen
Individuen die Erzeugung und das Aufziehen von Kindern als unzumutbar erscheinen
läßt, sondern es ist eine im uralten Egalitätsverlangen erst jetzt
hervortretende Tendenz, die immer noch sehr ungleichmäßige Belastung
von Frauen und Männern als Ungerechtigkeit zu bekämpfen und möglichst
»abzuschaffen«. (Ebd., 2002, S. 286).Aber es
gibt nur zwei konsequente Wege der Bekämpfung: entweder muß diese Ungleichheit,
statt als ein Naturzwang für selbstverständlich gehalten oder erlitten
zu werden, als bejahtes und glückbringendes Schicksal angenommen werden,
oder auch die Fortpflanzung muß der Natur entrissen und in den Bereich der
Kunst gerückt, d.h. mittels hochkomplizierter Maschinen vollzogen werden.
(Ebd., 2002, S. 286).Aber diese Alternative existiert faktisch
erst in der europäisch-amerikanischen Kultur, von wo die neue Grundtatsache
ihrenAusgang genommen hat: daß die Transzendenz im Menschen so praktisch
geworden ist, daß sie zahllose Individuen von ihrer Gattungshaftigkeit loslösen
und also jene »Zersetzung« bis zu einem Punkt vortreiben kann, der
für de Maistre und Donoso Cortes, aber auch für die Progressivisten
des 19. Jahrhunderts unfaßbar gewesen wäre. Im nächsten Jahrhundert
wird es sich um ein Problem Europas und des europäisch bestimmten Amerika
handeln. Wenn die durchschnittliche Kinderzahl pro Ehe weiterhin wie in Deutschland
und Italien (und in vielen anderen europäischen Ländern)
nur 1,3 beträgt oder noch darunter absinkt, wird die europäische Geschichte
in einem ganz buchstäblichen Sinne ein Prozeß der Selbstzerstörung
genannt werden müssen. Europa wird dann nach einer turbulenten und schmerzhaften
Übergangszeit der Masseneinwanderung aus Ländern, die der Natur und
damit der Religion näher geblieben sind, allenfalls auch noch von einer kleinen
Minderheit der Nachkommen der heutigen Bewohner bewohnt sein. Nicht ganz wenige
Europäer begrüßen diese Möglichkeit schon heute, weil sie
nicht nur die nationalen, sondern sogar die kulturellen Unterschiede als unbedeutend,
ja gefährlich betrachten, und dasjenige für richtig halten, was dem
von Nationalsozialisten und Faschisten realisierten Extrem am vollständigsten,
mithin auf extreme Weise entgegengesetzt ist. (Ebd., 2002, S. 286-287).Aber
muß man nicht auch sagen, es sei ein Menschenrecht, daß jeder Mensch
auf der Erde einen Platz habe, wo er sich »zu Hause« und unter seinesgleichen,
d.h. in einern abgegrenzten Sprachraum fühlen dürfe, sofern er nicht
den Übergang in einen anderen Sprachraum vorziehe oder zu der gewiß
nicht kleinen Anzahl von professionellen Vermittlern gehöre? Letzten Endes
handelt es sich eben nicht bloß um ein Problem der europäischen Kultur
und Geschichte. Was dort eingesetzt hat, nämlich die Loslösung des Menschen
von Natur und Gattungshaftigkeit, kann auf die ganze Menschheit übergreifen,
und eine realistische Vorstellung vom »Ende der Zeiten« wäre
die einer letzten Generation von langlebigen, lustsuchenden, von ihren Apparaten
längst überholten, schließlich aber doch sterbenden Individuen,
die sich für »Universalisten« halten und doch bloß Egoisten
sind. Was Ludwig Klages einst als den »Untergang der Erde am Geist«
beschrieben hat, wäre Wirklichkeit geworden. (Ebd., 2002, S. 287).Aber
müssen wir, wie Klages, eine Unabwendbarkeit annehmen? Ich bin davon überzeugt,
daß der Prozeß, den de Maistre »Zersetzung« und Hegel
»Realisierung« nannte und der heute meist als »Emanzipation«
bezeichnet wird, nicht rückgängig gemacht werden kann. Mit den alten
idealistischen Termini kann er als Prozeß der Ausweitung der individuellen
Freiheit beschrieben werden, von dem die Männer des Deutschen Idealismus
einschließlich ihres Nachfahren Karl Marx allerdings eine allzu idyllische
Vorstellung hatten. Aber die Freiheit eröffnet auch die Möglichkeit,
sich bewußt zu demjenigen zurückzuwenden, was einstmals bloßer
Zwang oder fraglose Sitte war. Eine Rechristianisierung auch nur der europäischen
Welt scheint mir ausgeschlossen zu sein. Eine ideologisch begründete »Bevölkerungspolitik«
wäre selbst dann nicht vorstellbar, wenn sie sich von biologistischen Gedankengängen
fernhielte. (Ebd., 2002, S. 287).Der Pluralismus muß
als Grundgesetz anerkannt werden, so wenig er in triumphalistischer Weise verherrlicht
werden sollte, und damit ist das Hauptkonzept der großen totalitären
Ideologien des 20. Jahrhundert zu verwerfen, nämlich die zur Hälfte
durchaus verstehbare, zur anderen Hälfte aber verdammenswerte Vorstellung,
daß eine »Weltkrankheit« durch die Beseitigung einer bestimmten
Gruppe, sei es der Kapitalisten als Protagonisten des »weltgeschichtlichen
Sündenfalls«, nämlich des Privateigentums, sei es der Juden als
Vorkämpfer eines angeblich »reinen« und deshalb verhängnisvollen
Universalismus geheilt werden könne. Aber ein geschichtsbewußtes, d.h.
nicht auf die soziale Komponente reduziertes und der Tendenz zur Selbstverwerfung
widerstehendes Christentum, das nur noch in relativ kleinen Kirchen und Gemeinden
gelebt wird, kann zur Mäßigung des schicksalsfeindlichen Überschwangs
einen bedeutenden Beitrag leisten, und wenn eine größere Anzahl von
jungen, akademisch ausgebildeten Paaren bewußt auf Karrierevorteile verzichtet,
um den Vorfahren trotz der radikal veränderten Situation in dem entscheidenden
Punkte ähnlich zu bleiben, könnten sie zum Ausgangspunkt einer tiefgreifenden
Wandlung werden. In der Spur Hegels das Selbstbewußtsein Gottes zu sein,
werden sich diese jungen Menschen freilich nicht vornehmen, und über die
Auflösung der religiösen und gemeinschaftsorientierten Bande werden
sie nicht, wie de Maistre, bloß klagen. Daß die höchste Auszeichnung
des Menschen zugleich die äußerste Gefahr darstellt und zwar keineswegs
bekämpft werden darf, wohl aber gemäßigt werden muß, konnte
nie zuvor die Einsicht einer ganzen Generation sein, und sie ist heute nur aus
einem Blick auf den Prozeß der europäischen Geschichte zu gewinnen,
der die Vorstellung der Selbstzerstörung ernst nimmt und dennoch an der eigenen
Freiheit nicht verzweifelt. (Ebd., 2002, S. 287-288).
Modernität und Transzendenz(Vortrag
bei einer Tagung in Mailand am 17.12.1996)Ich
verstehe mein Thema nicht so, daß ich darüber referiere, auf welche
Weise die Begriffe »Modernität« und »Transzendenz«
am Ende des 20. Jahrhunderts von bestimmten Autoren in Beziehung zueinander gesetzt
werden; ich versuche vielmehr zu bestimmen, wie ihr Verhältnis nach meiner
Auffassung gekennzeichnet werden sollte. (Ebd., 2002, S. 289).Es
dürfte nur wenige Termini geben, deren Anwendungsbereich sich über so
lange Zeiten erstreckt wie der Terminus »modern«. In Lehrbüchern
der Geologie ist zu lesen, vor 2 Milliarden Jahren habe mit dem Erreichen eines
bestimmten Prozentsatzes des Sauerstoffs in der Atmosphäre »die moderne
Klimageschichte« begonnen, und die Prähistoriker belehren uns darüber,
daß nach dem Aussterben des Neandertalers mit dem Cro-Magnon-Menschen »der
moderne Mensch« auf der Erde erschienen sei. Andererseits ist allgemein
bekannt, daß ein moderner Computer schon nach zwei bis drei Jahren »veraltet«
und mithin nicht mehr »modern« ist. (Ebd., 2002, S. 289).Wir
wollen uns für ein paar Augenblicke einige der historischen und der heutigen
Verwendungsweisen des Terminus vor Augen stellen. (Ebd., 2002, S. 289).In
der griechischen Antike konnte der Begriff, der von lateinisch »modus«
zuerst zu »modo« (kürzlich) abgeleitet ist, natürlich noch
keine Verwendung finden, aber offensichtlich fühlten sich die Sophisten mit
ihrer Herausstellung der Relativität der Wahrheit und mit ihrer Skepsis gegenüber
dem überlieferten Götterglauben sowie mit ihrer Kritik an dem Gegensatz
von »Hellenen« und »Barbaren« betontermaßen als
die Vertreter eines »Neuen«, bisher in der Geschichte so nicht Vorhandenen,
und sicherlich hätten sie Männer wie Aischylos und Pindar, die an den
überkommenen Vorstellungen und Maximen festhielten, als »unmodern«
oder als Gegner der Moderne bezeichnet, wenn ihnen der Terminus geläufig
gewesen wäre. Andererseits gibt es heute Historiker, welche die Stätte
der modernen Denkweise im Athen des 5. Jahrhunderts in den antidemokratischen
Hetärien finden und also dieses »Neue« nicht in den Auffassungen
sehen, die den unseren verwandt erscheinen, sondern in einer Rücksichtsund
Bedenkenlosigkeit, die in den älteren Zeiten noch nicht zu finden war.
(Ebd., 2002, S. 289-290).In beiden Fällen ist aber der Gegensatz
zu etwas »Altem« kennzeichnend, und das Neue gilt zwar als das Bessere,
aber es fehlt die Vorstellung, daß dieses Neue sich unablässig selbst
erneuere und daher Teil eines Fortschrittsprozesses sei, der möglicherweise
in etwas definitiv Neuern seinen Höhepunkt und sein Ende finden werde. Die
Überzeugung, daß die Staatsverfassungen und die menschlichen Dinge
überhaupt sich in einem Kreislauf bewegten, war zu stark, und auf den »glücklichen
Inseln «, deren Bild nicht selten gezeichnet wurde, lebten Menschen, die
sich gerade durch eine einfachere, wenngleich gerechtere Lebensführung von
den Zeitgenossen in der zivilisierten Gegenwart unterschieden. (Ebd., 2002,
S. 290).Daß das Alte und Überlieferte, nicht aber das
Bloß-Einfache, ein Vorbildliches sei, war dagegen der Ausgangspunkt für
jene Entgegensetzungen und Streitigkeiten, in denen am Ende des Mittelalters und
zu Beginn der Neuzeit der Begriff »modern« als solcher Verwendung
findet .... Das Neue wird hier entweder nur beschrieben, etwa als eine bisher
wenig gepflegte Art der Innerlichkeit und Versenkung, oder es muß sich angesichts
der Klassizität der Überlieferung rechtfertigen. Was uns als weltgeschichtliche
Erneuerungsbewegung erscheint, zumal die Reformation, war, wie schon der Name
zeigt, für die Zeitgenossen eine Rückkehr zur alten, zur unverfälschten
Wahrheit, und es wäre weder Luther noch auch Calvin eingefallen, sich als
Vertreter von etwas Neuern und Modernem gegenüber dem Alten und Überholten
zu verstehen. Eher zeigen sich heute Historiker geneigt, den Täufern der
Reformationszeit moderne Tendenzen zuzuschreiben, denn ein Teil von ihnen ließ
das quälende Sündenbewußtsein im Gefühl des Auserwähltseins
hinter sich, und sie bekämpften durchweg die »magischen« Sakramentsvorstellungen
und das äußerliche Zerernonialgepränge der Kirchen - wer sich
allerdings des Zungenredens und der phantastischen Visionen erinnert, die unter
den Wiedertäufern zu Münster im Schwange waren, wird eher zu der Meinung
neigen, diese Menschen seien sehr unmodern gewesen. (Ebd., 2002, S. 290).Die
Humanisten und die anderen Vorkämpfer der Renaissance scheinen sich dagegen
eindeutig einer versinkenden und dunklen Vergangenheit entgegenzustellen, aber
gerade sie fanden in dem noch älteren, eben dem Antiken, das Wahre und Vorbildliche.
Für Vasari ist das Moderne gerade das »Gotische«, ein Produkt
mittelalterlicher Barbarei, das für ihn allerdings nicht durch einen bloßen
Rückgriff auf die klassische Antike überwunden werden kann. Immer wieder
ist in diesen Zeiten ein merkwürdiges Ineinander von Zügen zu konstatieren,
die uns als »modern« und als »unmodern« anmuten: Was könnte
moderner sein, was hat tatsächlich die moderne Zeit stärker begründet
als die Entdeckungsfahrten der Spanier und Portugiesen um die Wende des 15. zum
16. Jahrhundert - und dennoch glaubte Kolumbus, als er die Mündung des Orinoco
erreichte, einen der vier Ströme des Paradieses zu erblicken!
(Ebd., 2002, S. 290-291).Eindeutigkeit gewinnt der Terminus »modern«
erst, als er mit dem Begriff des »Fortschritts« zusammengebracht wird.
In Fontenelles »Digression sur les anciens et les modernes« verteidigen
sich die Modernen nicht mehr, sondern sie greifen an: Die Erfahrung ist zweifellos
in ständiger Vermehrung begriffen, der größeren Erfahrung entspringen
alle diejenigen Instrumente, über die Aristoteles noch nicht verfügte
- das Mikroskop, das Thermometer, die Luftpumpe -und deren Fortentwicklung behindert
werden würde, wenn die Aristoteliker mit ihrer Abneigung gegen Experimente
wieder die Oberhand gewännen. Schon für Francis Bacon war die Wahrheit
bekanntlich die Tochter der Zeit und nicht der Autorität. Die moderne Zeit
ist also der Erfahrung und dem Experiment zugewandt, daher erfindungsreich, kritisch
gegenüber der Autorität sowohl der Kirchen wie der alten Philosophen,
auf Verbesserung auch der konkreten Lebensumstände der Menschen ausgerichtet,
an der Zukunft statt an der Vergangenheit orientiert, von der Perfektibilität
des Menschen überzeugt, die Vernunft zum Maßstab erhebend. Modern war
auch die Milderung des überkommenen und barbarisch harten Strafrechts, modern
war die Bekämpfung der Kindersterblichkeit und der unhygienischen Verhältnisse
in den Städten, modern war, mit einem Wort, die »Verbesserung«,
die schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert zur Maxime wurde und
die dann zu der eigentlichen Fortschrittsphilosophie ausgebaut wird, welche in
Hegel ihre spirituellste Gestalt gewinnt. (Ebd., 2002, S. 291).Aber
schon bei Hegel tritt eine Kehrseite des Modernen in den Blick, und es ist nicht
zufällig, daß er auch das pejorative Wort »Aufkläricht«
verwendet, obwohl er sich niemandem stärker verpflichtet weiß als den
großen Denkern der Aufklärung: die Moderne kann sich sozusagen in sich
selbst verfangen, selbstzufrieden und philisterhaft werden oder auch die Vergangenheit
bloß abweisen, statt in ihr, wie zum Beispiel in der mittelalterlichen Askese,
ein notwendiges Moment der dialektischen Bewegung zu erkennen. Marx widmet dieser
Kehrseite schon ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit: der industrielle Kapitalismus
der Gegenwart ist die höchste Stufe der Moderne, aber er hat die mittelalterliche
und freilich noch »bornierte« Einheit des Menschen mit seiner Lebenswelt
zerstört, er hat das Leben in abstrakte Momente auseinandergelegt, er schließt
»Entfremdung« und »Verdinglichung« des Menschen in sich,
und er würde einen Sturz in den Abgrund herbeiführen, wenn er sich nicht
notwendigerweise zum Gegenteil seiner selbst forttriebe, das zugleich seine Erfüllung
ist: zum Sozialismus, welcher Staaten und Klassen beseitigt und den Menschen die
Konkretheit und Unmittelbarkeit ihres vorgeschichtlichen Lebens zurück gibt,
allerdings »auf höherer Stufe«. Für Nietzsche ist diese
große Hoffnung zu einem Faktor innerhalb der »Gesamtentartung der
Menschheit« geworden, die als verächtliches Verfallsprodukt schließlich
den »letzten Menschen« hervorbringt. Aber Marx' Entdeckung des Negativen
in der Moderne und Nietzsches Verwerfung der Moderne fanden in der öffentlichen
Meinung und im politischen Geschehen des 19. Jahrhunderts wenig an Entsprechungen:
Das Thema aller Gespräche unter gebildeten Menschen der 1830er und 1840er
Jahre war nach der Feststellung eines zeitgenössischen Historikers die erstaunliche
Überwindung der Entfernungen durch den Bau der Eisenbahnen; die erste industrielle
Weltausstellung im Jahre 1851 in London erzeugte einen nahezu ungemischten Enthusiasmus;
und daß Nationalsprachen im Okzident längst die einstige Universalsprache
des Lateinischen abgelöst hatten, wurde nicht als Widerspruch empfunden.
Das 19. Jahrhundert verstand sich als »Zeitalter der Verbesserungen«,
als das »age of improvement«, und es hatte Grund zu dieser Selbsteinschätzung.
Schon der »code civil« Napoleons begründete sich aus »den
wesentlichen Maximen der modernen Gesellschaft«: der persönlichen Freiheit,
der Gleichheit vor dem Gesetz, der Gewissensfreiheit, der Gewerbefreiheit und
nicht zuletzt der Laizität des Staates; aber ihren Höhepunkt erreichte
die uneingeschränkte Affirmation des »Modernen« wohl erst im
Selbstverständnis der Dritten Französischen Republik, die sich als Fortsetzung
und Verwirklichung all des Modernen verstand, das mit der Revolution von 1789
eingetreten war - nicht zuletzt als Ersetzung der »feudalen Herkunfts-Gesellschaft«
durch die Leistungsgesellschaft, allerdings unter Verwerfung der jakobinischen
Tradition, die nach Jules Ferry als ein beklagenswerter Rückfall in einen
archaischen Fanatismus anzusehen ist. (Ebd., 2002, S. 291-292).Aber
als 1914 der erste Weltkrieg ausgebrochen war, als die Revolution der Bolschewiki
in Rußland stattgefunden hatte, als der Friede (das
Diktat!
Anm. HB) von Versailles geschlossen war, welcher sich so sehr von den Friedensschlüssen
des 19. Jahrhunderts unterschied, da mochte man in der Mitte der 1930er Jahre
meinen, daß fanatischer Enthusiasmus und rücksichtsloser Vernichtungswille
nach dem Muster der Jakobiner die Oberhand gewonnen hätten, sowohl im bolschewistischen
Rußland wie im faschistischen Italien wie im nationalsozialistischen Deutschland,
den »totalitären« und insofern zweifellos modernen, aber doch
anscheinend aus vormodernen, ja archaischen Impulsen erwachsenden Regimen. Und
doch hatte dieser Krieg Entwicklungen gefördert, die das Moderne noch viel
moderner, das Neue dem Alten weit unähnlicher machten als irgend etwas Vorhergehendes:
Flugzeuge stiegen in die Luft empor, und Unterseeboote durchfuhren die Tiefe der
Weltmeere; wenn es noch 1813 neun Tage gedauert hatte, bis die Nachricht vom Sieg
bei Waterloo nach Berlin gelangt war, so erreichte die Nachricht vom Abschluß
des Waffenstillstands in Sekundenschnelle durch den Telegraphen die USA und Japan.
(Ebd., 2002, S. 293).Der Zweite Weltkrieg fand durch die modernste,
bis dahin schlechterdings unvorstellbare Waffe im August 1945 sein Ende, und doch
war der Abwurf der Atombombe nur der Anfang der Ausbreitung einer völlig
neuen Technik, die, wie es schien, die Menschheit von allen Sorgen ob einer möglichen
Erschöpfung der Energiequellen befreite. Im Zweiten Weltkrieg nahm auch der
Vorstoß in den Weltraum seinen Anfang, der 1969 die ersten Menschen auf
den Mond führte. Schließlich zerbrach die Grenze, die zwei politische
Welten voneinander getrennt hatte, zwei Welten, die indessen beide die Bezeichnung
»modern« mit Nachdruck in Anspruch genommen hatten. Heute ist die
moderne Welt die im Prozeß der unwiderstehlichen »Globalisierung«
begriffene Menschheit, innerhalb deren nur marginal einige partiell »vormoderne«
Lebensweisen zu finden sind, sie ist die universale Kommunikationsgemeinschaft,
in der im Prinzip jeder mit jedem in Sekundenschnelle Kontakt aufnehmen kann,
sie ist der grenzenlose Weltmarkt, der in der unüberschaubaren Fülle
zahlloser Angebote und zahlloser Nachfragen unablässig gravierende Veränderungen
herbeiführt und nichts beim Alten läßt. Als der eigentlich moderne
Mensch, die Verkörperung der Modernität, erscheint dann derjenige, welcher
dieser universalen Bewegung am besten und bereitwilligsten entspricht, weil er
alles hinter sich gelassen hat, was seine Flexibilität einschränkt.
Einschränkender Art ist der Ort seiner Geburt, ist die unaufhebbare Bindung
an einen anderen Menschen, ist die Kettung an Kinder, ist die Zugehörigkeit
zu einem eng begrenzten »Vaterland« und zu dessen Sprache, welche
die Kommunikation mit entfernten Menschen behindern: Der Mensch, der die Modernität
verkörpert, ist wie ein Atom, das jederzeit bereit wäre, sich im Wandel
der Bedingungen mit anderen Atomen zu neuen Molekülen zusammenzuschließen,
welche sich wieder auflösen, sobald sie die jeweilige Aufgabe erfüllt
haben. Dieser moderne Mensch würde vielleicht nicht einmal zögern, gegen
ein gutes Angebot ein Weltraumfahrzeug zu besteigen, das ihn nicht nur für
kurze Zeit die Erde umkreisen ließe, sondern das ihn über die Grenzen
des Sonnensystems hinausführte, so daß er vielleicht als ein nur wenig
gealterter Mensch erst zur Erde zurückkehren würde, wenn seine weniger
modernen Mitmenschen längst ins Grab gesunken wären. Wir
kommen mithin zu dem Ergebnis: das Moderne in allem Modernen, die Modernität
selbst, ist das immer weitergehende Überschreiten vorhandener Grenzen und
Schranken. Ein solches Überschreiten heißt Transzendenz. Wir gelangen
mithin zu einer Gleichsetzung, die den Eindruck, daß unsere Fragestellung
sich auf ein Verhältnis zwischen nicht-identischen Größen bezieht,
aufzuheben scheint: Modernität ist Transzendenz. (**).
(Ebd., 2002, S. 293-294).Ugo Spirito hat in seinem Beitrag von
1971 zur Auseinandersetzung mit Augusto Del Noce den planetarischen Vereinheitlichungsprozeß
und die Universalisierung der Werte mit großer Kraft und Entschiedenheit
herausgestellt, und er benutzt dabei auch den Terminus »trascendere«:
Wir werden jeden Tag in stärkerem Maße Weltbürger; das Fernsehen,
die Kernenergie, die Weltraumfahrt bedeuten eine Weltrevolution; das wissenschaftliche
Wissen verdrängt als universales das bloß partikulare Wissen der verschiedenen
Religionen und Metaphysiken, denn ein ökumenisches Denken erkennt »die
Partikularität jedes metaphysischen Glaubens« und ist gewillt, »sie
alle in einem Forschungsunternehmen überlegenen Begreifens zu überschreiten«.
(Ugo Spirito / Augusto Del Noce, a.a.O., 1971, S. 23). Diesen Prozeß sieht
Spirito mit erstaunlicher Ungebrochenheit als einen ganz und gar positiven: auch
die politischen Ideologien schwächen sich dauernd ab, Film und Fernsehen
machen allen Menschen die einst auf Wenige beschränkten Kenntnisse zugänglich,
die Arbeitszeit wird immer geringer, es wird in Zukunft keinen Dualismus von Regierenden
und Regierten mehr geben, für Aversions- und Haßgefühle jeglicher
Art gibt es keine Berechtigung mehr; indem der Mensch zum Objekt der Wissenschaft
und damit veränderbar wird, eröffnet sich die Perspektive auf den Übermenschen
der Zukunft, der die ganze Geschichte als bloße Vorgeschichte betrachten
darf. So sind die Werte, die zugrunde gehen (»tramontano«) diejenigen,
welche auf mehr oder weniger begrenzte Bezirke beschränkt sind, während
die aufsteigenden Werte (»i valori che sorgono«) einen universalen
Charakter haben. (Ebd., 2002, S. 294-295).Für Spirito
ist also die Modernität als die stetige Selbstüberholung des jeweils
Modernen, welche sich vornehmlich in den Fortschritten des wissenschaftlichen
Wissens und des technischen Vermögens artikuliert, rÜckhaltlos zu bejahen,
und dadurch setzte er sich dem Vorwurf Del Noces aus, er falle selbst einem »Mythos«
zum Opfer, dem Mythos vom Fortschritt, genauer gesagt: von der Eindeutigkeit und
schrankenlosen Positivität des Fortschritts, und dadurch bilde sein Denken
lediglich einen Höhepunkt und Abschluß der Tradition des italienischen
Aktualismus und des Comteschen Szientismus. (Ebd., 2002, S. 295).In
der Tat tauchten, wie eben hervorgehoben wurde und wie allgemein bekannt ist,
schon bei Hegel, bei Marx und bei Nietzsche Kehrseiten des Fortschritts und damit
der Modernität auf. (Ebd., 2002, S. 295).Seit etwa einem
Vierteljahrhundert, also auch seit dem Erscheinen von Spiritos Buch, sind die
negativen Züge der Modernität und ihres »Überschreitens«
von den verschiedensten Denkern und Schriftstellern, ja von der »öffentlichen
Meinung« immer wieder herausgestellt worden. Das begann auf eine noch recht
simple Weise mit der Furcht vor einer Selbstvernichtung der Menschheit durch einen
atomaren Krieg; es verstärkte sich durch den Glaubensverlust marxistischer
Intellektueller, die kein Vertrauen in den künftigen Umschlag des gegenwärtigen
Unheils in das vom Sozialismus zu bringende Heil mehr aufbrachten, aber die kapitalistische
Gesellschaft nun als das Reich einer bloß instrumentellen Vernunft oder
als eine »Gesellschaft des Verschwindens« weiterhin ganz negativ bestimmten;
das nahm die Gestalt der Warnungen vor einer Zerstörung der Umwelt an, das
gewann auch in Gestalt der Diskussion um die »Postmoderne« eine neue
Erscheinungsform. Aber die größte Sorge ließ sich aus einem Höhepunkt
des szientistischen Optimismus herleiten, nämlich aus der These us-amerikanischer
Physiker, der Mensch werde imstande sein, das Weltall zu erobern und zu kolonisieren
- freilich nicht in der Realität aus Fleisch und Blut, die man bisher allein
als »Menschen« bezeichnet hat, sondern in der Form seiner in Gestalt
von Computern und Raumfahrzeugen selbständig gewordenen Intelligenz, die
das Erdenwesen Mensch weit hinter sich gelassen habe, so daß dessen Existenz
oder Nicht-Existenz zu etwas Gleichgültigem werde. (Ebd., 2002, S.
295).Meines Wissens machen in der Diskussion um Modernität,
Fortschritt und Wissenschaft, die sich gutenteils in den harmlosen Bezirken des
»postmodernen« Relativismus und der »Beliebigkeit« bewegt,
die Hauptbeteiligten - Jürgen Habermas, Gianni Vattimo, Jacques Derrida,
Jean François Lyotard, Stefan Breuer und andere - keinen Gebrauch von dem
Begriff »Transzendenz«, der ja ein philosophischer ist und durch die
bloße Verwendung des Verbums »überschreiten« noch nicht
erfüllt wird. Daher läßt sich die These begründen: wenn Modernität
Transzendenz ist oder auch nur mit Transzendenz zu tun hat, dann muß sie
als »Fortschritt« zu Bacons »regnum hominis«, aber auch
als Niedergang zum »letzten Menschen« unzureichend bestimmt sein.
Die Geschichte des Begriffs »Transzendenz« läßt sich ebensoweit
zurückverfolgen wie diejenige des Terminus »modern«, auch wenn
sich im Anwendungsbereich keine Analogie zu der »modernen Klimageschichte«
aufweisen läßt. Altetabliert ist der Begriff jedoch nur in der Form
der »Transzendentalien«, jener allgemeinsten Seinsbestimmungen, die
der Differenzierung in Kategorien vorausliegen und jedem Seienden als solchem
zukommen: ens, res, unum, verum, bonum. Aber das Philosophieren, ja das
Nachdenken als solches schloß von jeher ein »Übersteigen«
in sich, das seinerseits die Bildung des Begriffs »Transzendentalien«
ermöglicht und erst recht die bunte Vielfalt der existierenden Dinge in die
Richtung auf ein »Ganzes« überschreitet, das sich von allem Teilhaften
unterscheidet. Für das altindische Denken sind »brahman« und
»atman«, sind »Welt« und »Seele« identisch,
und der zentrale Satz des Parmenides lautet: »Denn dasselbe sind Denken
und Sein«. Das philosophische Denken ist in sich selbst ein Übersteigen
aller Dinge auf einen Welthorizont hin, der als »Kosmos« verstanden
werden mag, dessen Unbestimmbarkeit aber besser durch Termini wie »Deus
absconditus« oder »Nichts« getroffen wird. Doch ein Bezug zu
einem » Jenseits« der konkreten Umwelt liegt auch dann schon vor,
wenn der Mensch sich nur einem höheren »Ding«, etwa einer numinos
verstandenen Naturkraft, dem Gott des Feuers oder des Wassers, flehend oder verehrend
nähert. Kein Tier hebt die Arme zur Sonne empor, um sie anzubeten, kein Tier
schlägt sich reuevoll an die Brust, weil es gegen ein göttliches Gebot
verstoßen hat. (Ebd., 2002, S. 296).Ein Überschreiten
wird auch in der zweiten Abwandlung von »Transzendenz« gemeint, die
in der Philosophie geläufig ist, nämlich im Begriff des »Transzendentalen«,
wie Kant ihn ausgebildet hat. »Transzendental« ist der Komplex des
Apriorischen, der reinen Anschauungsformen und der reinen Verstandesbegriffe,
die alle Dingerkenntnis erst möglich machen. Dieses Überschreiten oder
auch Vorwegnehmen, das zum Wesen des Menschen gehört, ja dieses Wesen überhaupt
erst konstituiert, nenne ich »theoretische Transzendenz«, wobei »theoria«
nicht als wissenschaftliche Theorie, sondern im ursprünglichen Wortsinne
als »Schau« oder als »Blick« verstanden werden soll. Der
alte Kant nannte den Menschen den »Kosmotheorós«, und die folgende
Formulierung dürfte zulässig sein: der Mensch steht als solcher und
von Anfang an in einem Weltbezug, selbst wenn er in archaischen Zeiten nur den
Geist des nächsten Berges anbetet, er ist ein religiöses und philosophisches
Wesen, auch wenn seine Religion primitiv und sein Denken unbeholfen ist. Nur weil
er durch Transzendenz bestimmt, »weltoffen« ist, ernährt er sich
nicht nur, wie die Tiere es tun, sondern er kann seinen Nahrungsspielraum erweitern;
verendet er nicht wie alle Tiere, sondern er wird von seinesgleichen bestattet;
bewegt er sich nicht bloß wie alle Lebewesen, sondern er erfindet Mittel,
um sich schneller zu bewegen. Schon das tägliche, das praktische Leben der
Menschen ist anders als das der Tiere, mag es auch in noch so enge Grenzen eingeschlossen
sein. Daß er »Kosmotheorós«, »weltoffen«
ist, wirkt sich auch in seinem praktischen Dasein aus, und zwar derart, daß
sich dessen Reichweite vergrößert, wenngleich vielleicht nur im Verlauf
vieler Generationen. Daher ist von der »theoretischen Transzendenz«
die »praktische Transzendenz« zu unterscheiden, obwohl beide eng zusammengehören.
(Ebd., 2002, S. 296-297).Aber die praktische Transzendenz bleibt
hinter der theoretischen Transzendenz für lange Zeiträume weit zurück.
Zwar könnte ein Wesen, das ohne Weltbezug wäre, das nicht den Göttern
opferte, nicht zu den Sternen aufsähe und nicht von einem letzten Grund der
Welt spräche, aus der Existenz der Sammler und Jäger nicht zur Existenzweise
der seßhaften Bauern übergehen; zwar könnte ein solches Wesen
sich nicht des Pferdes bedienen, um weit größere Strecken zurückzulegen,
als die Vorfahren es vermochten, aber faktisch bleibt das Leben doch in enge Grenzen
gebannt, so weit der verehrende, der fürchtende oder der denkende Geist sich
darüber hinausschwingt. Noch Napoleon konnte seine Heere nicht wesentlich
schneller bewegen als Alexander der Große, und die Nachricht vom Fall Trojas
gelangte durch Feuerzeichen ebenso schnell nach Griechenland wie die Nachricht
von der Niederlage des Korsen nach Berlin. Bei allem Respekt für die Fortschritte
der Technik in der Antike, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit kann
man doch folgendes sagen: eine qualitative Differenz zu allem Vorhergehenden ergab
sich erst mit der Industriellen Revolution, als etwas so schwer Begreifbares,
in natürlicher Gestalt kaum Vorhandenes und jedenfalls nicht Verwendbares
wie der Dampf in den Dienst des Menschen gestellt wurde, als die Eisenbahn Menschen
und Güter mit einer bis dahin unerhörten Geschwindigkeit bewegte, als
der Telegraph über die Weltmeere hinweg Verbindungen herstellte, als aber
auch der »erste moderne Krieg«, nämlich der us-amerikanische
Bürgerkrieg, eine bis dahin unvorstellbare Zerstörungskraft in Erscheinung
treten ließ. Heute ist die praktische Transzendenz schlechterdings unübersehbar
geworden: der Mensch hat das Element der Luft erobert, er taucht in die Tiefen
des Meeres hinab, ja er hat die Grenzen der Erde überschritten und ist bis
auf den Mond gelangt. Erstmals ist nun denkbar geworden, was Tausende von Menschengenerationen
als ruchlose Hybris empfunden haben würden: daß der Mensch in seiner
praktischen Transzendenz tatsächlich dorthin kommt, wohin alle früheren
Menschen auf bloß illusionäre Weise zu gelangen glaubten, zum »Absoluten«,
zur »Welt selbst«, zu ihrem Grunde, sei es auch nur durch »Forschung«,
die ja eine Weise der Praxis ist. (Ebd., 2002, S. 297-298).Es
gibt im Buch Genesis des Alten Testaments zwei merkwürdige Auslagen Gottes
über den Menschen. Als Adam und Eva erst eben geschaffen sind, sagt Gott
zu seinen Engeln - oder zu den anderen Göttern, den Elohim: »Seht,
der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Daß er jetzt
nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt und davon ißt
und ewig lebt.« (Genesis, 3, 22). Deshalb vertreibt er die Menschen aus
dem Paradies. Aber als die vertriebenen Menschen den Turm von Babel zu bauen beginnen,
da sagt Gott etwas ganz Ähnliches: »Seht nur, ein Volk sind sie, und
eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird
ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen.« (Ebd.,
11, 6 ff.). Deshalb verwirrt der Herr ihre Sprache, so daß sie einander
nicht mehr verstehen und zerstreut sie in allen Teilen der Welt leben. Aber vom
Text her ist nicht auszuschließen, daß ein dritter Versuch gemacht
werden könnte. Der Verfasser, wohl der »Jahwist«, ahnt offenbar
etwas von der »praktischen Transzendenz«, und vielleicht hätte
er Gott folgendes sagen lassen können: »Das Wesen, das Gott denkt,
wird einmal in der Praxis Gott gleich sein wollen. Aber ich habe seinen Geist
und seinen Willen an einen Körper gekettet. Wenn er diese seine wesentlichste
Begrenzung überschreiten will, dann muß er sich entweder selbst zersprengen
oder eine Intelligenz in Form von ingeniösen Apparaten aus sich heraussetzen.
So wird er entweder sich selbst ein physisches Ende bereiten, oder er bleibt als
gleichgültige Hülse auf der Erde zurück, während seine Intelligenz
verselbständigt der Welt zustrebt, der er mit seinen Gedanken schon in Urzeiten
nahe war.« (Ebd., 2002, S. 298-299).Erst
mit der Unterscheidung von »theoretischer« und »praktischer«
Transzendenz ist, wie ich meine, die angemessene Dimension für die Bestimmung
von »Modernität« erreicht. Es ist nicht richtig zu sagen: Modernität
ist Transzendenz. (**). Modernität
ist die bisher klarste Erscheinungsform von praktischer Transzendenz, aber Transzendenz
als solche und gerade ihre früheste und beständigste Gestalt, die theoretische
Transzendenz, liegt der Modernität voraus, macht Modernität überhaupt
erst möglich. Mit einfachen Worten: der Mensch ist nicht weltoffen, weil
er modern ist, sondern er kann nur modern sein, weil er von jeher schon weltoffen
ist. Weltoffenheit, Transzendenz, ist nicht vom Menschen hervorgebracht, sondern
sie ist die Bedingung der Möglichkeit allen Hervorbringens; sie ist, so könnte
man sagen, das Geschenk der Welt an eins ihrer Wesen, und dieses Geschenk ist
als solches nicht erforschbar, weil alles Forschen auf ihm beruht. Es ist dem
Menschen übergeben, aber dadurch wird es nicht zu dessen Eigentum. Mit Wendungen
wie »Entwicklung der Intelligenz« von den Blaualgen über Dinosaurier
und Affen bis zum Menschen ist es bloß äußerlich beschrieben
und abgeleitet. (Ebd., 2002, S. 299).Daher sind die großen
Formen der theoretischen Transzendenz oder des Weltbezuges des Menschen von der
Entfaltung der praktischen Transzendenz unabhängig, denn sie sind nicht nur
älter, sondern sie gehören zu einem anderen Bereich. Daß die Welt
im ganzen einem sich selbst verschlingenden, leiderzeugenden Ungeheuer gleicht,
dem indessen keine definitive Realität zukommt, so daß für den
Menschen eine Erlösung, ein Verlöschen im Nirwana möglich ist,
kann vom wissenschaftlichen Denken weder bewiesen noch widerlegt werden. Das gleiche
gilt vom Gedanken der Harmonie zwischen Kosmos und Mensch, wie er von den Griechen
entwickelt worden ist, und nicht anders steht es um den christlichen Begriff der
»Gerechtigkeit«, die in der Gegenwart fehlt, aber in Zukunft auf der
Erde oder jenseits der Erde verwirklicht werden wird. Soweit in den religiösen
und philosophischen Weltentwürfen Aussagen über dingliche Zusammenhänge
wie etwa die Entstehung der Erde gemacht werden, sind sie durch wissenschaftliche
Forschung überholbar und sogar falsifizierbar, aber solche Beschreibungen
und Erklärungen gehören zur Oberfläche dieser Entwürfe, ihr
Kern ist der Zusammenhang von Weltentwurf und menschlicher Lebensführung,
den sie allein zu erzeugen vermögen. Wissenschaftliches Denken kann einen
solchen Zusammenhang nicht herstellen, denn in der Fülle seiner Spezialisierungen
informiert es den Menschen, aber es ergreift ihn nicht, auf originäre Weise
bringt es nur das Ethos der Wissenschaftlichkeit selbst hervor. (Ebd., 2002,
S. 299-300).Das Äußerste, was es im Hinblick auf das
menschliche Zusammenleben und auf den Weltbezug schaffen kann, ist so etwas wie
die Maxime »Seid nett zueinander«, d.h. »Tragt eure Konflikte
maßvoll aus, gönnt jedem Individuum und jeder Gruppe das Bemühen
um eine Besserung seiner bzw. ihrer Lage«. Ob diese treffliche Maxime noch
haltbar ist, wenn sich als Realität erweisen sollte, daß der Denkansatz
von Malthus tiefer greift als diejenigen von Adam Smith und Karl Marx, nämlich
daß die natürlichen Ressourcen nicht hinreichen, das zahlenmäßige
Übergewicht und die mentale Übermacht der Gattung Mensch zu tragen,
ja auszuhalten, ist zweifelhaft. Modernität als Gestalt der praktischen Transzendenz
könnte sich selbst den Boden unter den Füßen wegziehen, und unter
welchen Erschütterungen und Kämpfen derartiges vor sich gehen würde,
ist nicht vorauszusehen. Aber die aus der theoretischen Transzendenz hervorgehenden
Weisen des Weltbezugs sind autonom und unüberholbar; wenn sie als »Werte«
gefaßt werden, sind sie nicht »partikular«, wie Ugo Spirito
meint, und durch den Universalismus der Wissenschaft ersetzbar, denn sie gehören
nicht demselben Bereich an. Das buddhistische Weltverhältnis ist nicht auf
Inder und Ostasiaten beschränkt und das christliche nicht auf Europäer
und Amerikaner. Insofern ist Del Noce recht zu geben. Nicht ein Partikularismus
der »religiösen und philosophischen Werte« ist zu überwinden
oder zu verwerfen, sondern der militante Missionarismus, der sich mit Einzelinteressen
und -wirklichkeiten mannigfaltiger Art verquickt und die Konflikte bis zum Untragbaren
verschärft. In Zukunft muß es in weit höherem Maße Sache
der Entscheidung des Einzelnen sein, welchen der Weltentwürfe er wählt,
um inmitten der direktionslosen und unübersichtlichen Vielfalt des modernen,
von der Wissenschaft geprägten Lebens Orientierung, Halt und Gemeinsamkeit
zu gewinnen. (Ebd., 2002, S. 300).Wenn das richtig ist, wird
es unumgänglich sein, von dem am meisten charakteristischen Gedanken der
Moderne Abschied zu nehmen, dem Gedanken, daß die praktische Transzendenz
die theoretische Transzendenz einholen, erfüllen oder mindestens verdrängen
könnte. Der Mensch wird nie das Weltall »kolonisieren«, denn
als solcher bleibt er an die Erde und deren nächste Umgebung gebunden, und
nicht einmal seine zu Apparaten transformierte Intelligenz wird ihm aus den »Tiefen
des Weltraums« Meldungen erstatten, sofern die These zutreffend bleibt,
daß die Lichtgeschwindigkeit unüberholbar ist. Nicht auszuschließen
ist, daß jene dem wissenschaftlichen Denken benachbarte Maxime für
die Lebensführung der Menschen eines Tages Wirklichkeit wird: das bereits
von den Stoikern umrissene und von der europäischen Aufklärung übernommene
Leitbild einer Menschheit, der alle der theoretischen Transzendenz entspringenden
Entwürfe gleichgültig geworden sind, die aber auch allen »Weltraumphantasien«
abgeneigt ist und ihr Leben auf der Erde zum Vorteil aller Individuen eingerichtet
hat. Dann ließe sich auch jenes »altmoderne« Zukunftsprojekt
des 19. Jahrhunderts realisieren, das am Ende des 20. Jahrhunderts noch um keinen
Schritt vorwärts gekommen ist: die Verwandlung der Sahara in einen blühenden
Garten. Alle Gestalten der theoretischen Transzendenz wären dann nicht universalisiert,
wie Spirito verlangte, sondern schlicht verdrängt, und dem Streben nach einer
letzten Konsequenz der praktischen Transzendenz hätte man sich entschlagen.
Aber die Frage ist, ob das durch Transzendenz bestimmte Weltwesen Mensch jemals
in einer so bequemen, bloß »humanistischen« Transzendenzlosigkeit
wird leben können und wollen, sofern es ihm gelingt, die ungeheuren Schwierigkeiten
zu überwinden, die den Weg dahin umstellen. (Ebd., 2002, S. 300-301).Wahrscheinlicher
dürfte sein, daß aus der Erfahrung der Modernität eine neue Gestalt
des Weltbezuges im ganzen erwachsen und neben den älteren Entwürfen
der theoretischen Transzendenz einen Platz finden kann: Die Erfahrungen der Moderne
haben unter Beweis gestellt, daß der Grundgedanke der platonischen und schon
der altindischen Metaphysik realer war als alle vorhandenen Realitäten, die
er herabsetzte, nämlich der Grundgedanke, daß der Geist den Körper,
daß das Denken die Sinnlichkeit unendlich übersteige. In der praktischen
Transzendenz der Modernität haben Geist und Denken den Körper und die
Sinnlichkeit so sehr überstiegen, daß der Mensch selbst überholt
und zu einer obsoleten Wirklichkeit gemacht werden kann. Daraus mag die behagliche
Selbstzufriedenheit des Sich-Einrichtens entstehen oder das verzweifelte Rütteln
an den unzerstörbaren Gitterstäben eines kosmischen Gefängnisses,
aber auch die liebevolle Zurückwendung zum Überholten und Obsoleten,
zur Endlichkeit und Sinnlichkeit des menschlichen Daseins, nicht in der naiven
Weise des Sensualismus oder Hedonismus, sondern einschließlich neuer Grenzziehungen
und Bindungen gerade aus der Distanz einer höheren Stufe der Reflexion hinaus.
Diese antimoderne Modernität würde die theoretische Transzendenz nicht
mehr verdrängen, weil sie sich dem Impuls der praktischen Transzendenz nicht
mehr widerstandslos und unreflektiert überließe. Das wäre nicht
ein Rezept zur Heilung oder Vermeidung von Schäden, sondern es würde
sich um die Wahrnehmung einer Möglichkeit handeln, die sich von dieser unserer
Epoche an aus dem Verhältnis von Modernität und Transzendenz ergibt.
(Ebd., 2002, S. 301-302).
Die Begriffe Autorität und Macht
in der Diskursethik(Vortrag
bei einer Tagung über Augusto Del Noce in Turin am 15.03.2000)Ich
werde folgendermaßen vorgehen: Zunächst will ich in engem Anschluß
an die einschlägigen Ausführungen von Habermas und Apel des einen oder
anderen ihrer Schüler oder auch Kritiker darlegen, was unter »Diskursethik«
zu verstehen ist. Dann werde ich unter Rückgriffauf Horkheimer und Adorno
zu zeigen versuchen, von welchen konkreten Erfahrungen und Fragestellungen die
spätere »Diskursethik« ihren Ausgang genommen hat. Am Ende will
ich zu einem Schlußurteil gelangen. (Ebd., 2002, S. 303-304).Lassen
Sie mich aber zunächst in wenigen Worten etwas Selbstverständliches
formulieren, was als Hintergrund bei allen Überlegungen über »Autorität«
und »Macht« gegenwärtig sein sollte, nämlich die Konzeption
der christlichen und teilweise schon der antiken Überlieferung, die für
zwei Jahrtausende der europäischen Geschichte letzten Endes bestimmend war:
Macht im ursprünglichsten Sinne ist für sie die Allmacht Gottes, und
die dem Menschen zugewandte Seite dieser Allmacht ist die unantastbare Autorität
seines Wortes, wie es in der Bibeloffenbart ist. Die christliche Auffassung von
Macht und Autorität ist theozentrisch und bibliozentrisch und zugleich identitär,
denn die Allmacht ist identisch mit Wahrheit, Vernunft und Güte, weil sie
die Alleinheit ist. Nur im menschlichen Leben kann es Unterschiede zwischen Autorität
und Vernunft oder Ratio, zwischen Wahrheit und Irrtum, zwischen Einheit und Vielheit
geben, aber unter der Leitung der Kirche und ihrer Tradition läßt sich
auch in den alltäglichen Dingen des Lebens das richtige Verhältnis zwischen
Autorität und Macht finden, das jedenfalls keine Trennung nach dem Muster
des Satzes von Hobbes sein darf, daß die Autorität und nicht die Wahrheit
das Gesetz, d.h. die legitime Macht hervorbringe. (Ebd., 2002, S. 304).»Diskurs«
heißt nichts anderes als »Gespräch« und setzt mithin mehrere
Partner voraus, die eine Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus angehen oder
erhellen und insofern »durchlaufen« (discurrere); der Gegenbegriff
ist »Intuition«, die einem Einzelnen möglicherweise eine Sache
besser und vollständiger zu erschließen vermag als die Diskussion unter
zahlreichen Gesprächspartnern. In seinen »Erläuterungen zur Diskursethik«
definiert Habermas »Diskurs« nicht etwa als bloße Diskussion,
sondern als »anspruchsvollere, über konkrete Lebensformen hinausgreifende
Kommunikationsform, in der die Präsuppositionen verständigungsorientierten
Handelns verallgemeinert, abstrahiert und entschränkt, nämlich auf eine
ideale, alle sprach- und handlungsfähigen Subjekte einbeziehende Kommunikationsgemeinschaft
ausgedehnt werden.« (**).
Die intensiven Erörterungen, die in allen großen Staaten Europas hinsichtlich
der zweckmäßigsten Strategie eines kommenden Krieges während der
Jahre vor 1914 geführt wurden, wären also unter den Begriff »Diskurs«
nicht zu subsumieren. Der so verstandene Diskurs ist mithin in sich schon ethisch,
da er eine große Anzahl von Erörterungen von vornherein als »bloß
strategisch« und damit unethisch ausschließt. Die Diskursethik stellt
nach Habermas den Grundsatz »D« auf: »daß nur diejenigen
Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen
als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden könnten.« (**).
Eine solche Norm oder Regel wäre etwa der Satz: »Salus populi suprema
lex esto«. Alle Angehörigen des Volkes können dieser Norm zustimmen,
wenn auch die Meinungen darüber, was der beste Weg zu dem »Heil«
sei, sehr rasch auseinandergehen dürften. Eine Entscheidung darüber
kann offenbar nur gefällt werden, wenn das Mehrheitsprinzip eingeführt
und den Abstimmenden eine adäquate Frage vorgelegt wird. Mutatis mutandis
gilt das auch für kleinere soziale Realitäten, etwa für ein Dorf,
dessen Bewohner die Entscheidung darüber zu treffen haben, ob sie gegen die
Gewährung eines großzügigen Ausgleichs bereit sind, die Fläche
ihres Dorfes einer Gesellschaft für den Abbau von Braunkohle zu überlassen.
Das Prinzip, daß keiner der Bewohner einen materiellen Schaden erleiden
darf, ist zustimmungsfähig, aber die konkrete Entscheidung wird mit hoher
Wahrscheinlichkeit Unzufriedenheit oder sogar Widerstand bei einigen der Betroffenen
hervorrufen. Alle Fälle solcher Art schaltet Habermas indessen aus seinem
Diskursbegriff aus, indem er folgendermaßen fortfährt: »Zugleich
wird der Kategorische Imperativ zu einem Universalisierungsgrundsatz »U«
herabgestuft, der in praktischen Diskursen die Rolle einer Argumentationsregel
übernimmt: bei gültigen Normen müssen Ergebnisse und Nebenfolgen,
die sich voraussichtlich aus einer allgemeinen Befolgung für die Befriedung
der Interessen eines jeden ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können.«
(**).
Da Kants Kategorischer Imperativ den Befehl impliziert, so zu handeln,
»daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines
Gesetz werden« (**)
und zwar ein Gesetz »für alle vernünftigen Wesen«, muß
er auch in seiner »herabgestuften Form« sich mindestens an alle Menschen
wenden. Alles Partikulare ist also von vornherein ohne Relevanz, es sei denn,
es könne eine gesetzförmige Gestalt annehmen, wie etwa in dem Satz:
»Jedes Volk hat das Recht der Selbstbestimmung«. Jedenfalls ist die
Diskursethik von vornherein eine Welt-Ethik und damit anscheinend eine Ethik für
Weltbürger, die allerdings möglicherweise in »multikulturellen«
Formationen zusammenleben, aber so, daß die Interessen der einen Kultur
niemals über die Interessen der anderen Kulturen gestellt werden dürfen.
Kant setzte jedoch die »Pflicht« den »Neigungen« entgegen
und konnte daher von jedem Menschen verlangen, daß er die Menschenpflicht
des gesetzmäßigen Handelns über die Neigungen, ja über die
Glaubensüberzeugungen der jeweils eigenen Kultur stellte, aber »die
Interessen« sind im Kantschen Sinne durchweg Neigungen, und da Habermas
deren Befriedigung zum Postulat macht, verwickelt er sich in Schwierigkeiten,
die für Kant nicht existierten. Darauf ist später zurückzukommen.
(Ebd., 2002, S. 304-304).Unbestreitbare Überzeugungskraft
wohnt den Ausführungen von Habermas und Apel am ehesten dort inne, wo von
wissenschaftlichen Diskursen die Rede ist. So liegt eine sehr schöne Formulierung
vor, wenn Habermas schreibt: »Der in Diskursen allein zugelassene Zwang
ist der des besseren Argumentes; das einzig zugelassene Motiv ist das kooperativer
Wahrheitssuche.« (**).
Das gleiche gilt für den Satz: »Die Basis der Aufklärung ist eine
an das Prinzip herrschaftsfreier Diskussion gebundene Wissenschaft.« (**).
Herrschaft und Macht sind also durch einen anderen Zwang als denjenigen des besseren
Arguments zu definieren, und legitime Autorität darf nur das Prinzip der
Wissenschaftlichkeit als solches beanspruchen. Aber selbst in Wissenschaft und
Philosophie hat es Autorität und Macht von anderer Art immer wieder gegeben:
die Autorität eines Schulhauptes, des »ipse dixit«, und die Macht
von Richtungen, die andere Richtungen nicht zu Wort kommen ließen. Das Prinzip
der Diskursethik ließe sich also in bezug auf Wissenschaft folgendermaßen
als Imperativ formulieren: »Erkenne nur die Macht des besseren Arguments
an und unterwerfe dich ausschließlich der Autorität der Wissenschaftlichkeit,
niemals aber derjenigen von einzelnen und noch so berühmten Wissenschaftlern«,
oder, Kantisch gesprochen: »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes
zu bedienen!« Aber Kant traf in seiner Schrift »Was ist Aufklärung?«
eine strikte Unterscheidung zwischen (wissenschaftlichem) »Räsonieren«
und (politischem) Handeln (**),
und auch Habermas will seine »ideale Kommunikationsgemeinschaft« nicht
auf die »scientific community«, auf die weltweite Wissenschaftlergemeinschaft,
eingeschränkt sehen. So bezeichnet er es schon in einer seiner frühesten
Schriften als richtige »Intention: Herrschaft inmitten einer Menschheit
der Verkümmerung preiszugeben, die ihrer selbst gewiß geworden ist
und darin ihre Gelassenheit gefunden hat.« (**).
Es springt ins Auge, daß diese Formulierung eine Version der Marxschen Idee
vom »Absterben des Staates« darstellt. Habermas' und Apels »ideale
Kommunikationsgemeinschaft« ist also innerhalb einer andersartigen Realität
und vorläufig bloß als Wissenschaftlergemeinschaft annähernd verwirklicht,
der Ausgangspunkt eines entscheidenden Handelns, das eine fundamentale Änderung
des menschlichen Lebens nach sich zieht. So gelangt Habermas zu der freilich hypothetisch
formulierten Aussage: »In der Kraft der Selbstreflexion sind Erkenntnis
und Interesse eins. Freilich würde sich erst in einer emanzipierten Gesellschaft,
die die Mündigkeit ihrer Glieder realisiert hätte, die Kommunikation
zu dem herrschaftsfreien Dialog aller mit allen entfaltet haben ....« (**).
Herrschaftsfreiheit, d.h. Verschwinden aller den Individuen vorgegebenen Macht
und Autorität, ist also nicht nur in der Gemeinschaft der Wissenschaftler
möglich, sondern sie soll für die Weltgemeinschaft der »emanzipierten«,
d.h. zu Mündigkeit und Selbstbestimmung gelangten Individuen bestimmend sein.
Die Klage Kants, daß »wir« zwar zivilisiert, aber bei weitem
nicht moralisiert sind, wäre also gegenstandslos geworden, und die Menschen
würden, abermals in den Worten Kants, als »vernünftige Weltbürger«
einen Zustand errichten, der, »einem bürgerlichen gemeinen Wesen ähnlich,
so wie ein Automat sich selbst erhalten kann«, d.h. eine unabsehbare Dauer
vor sich hat. (**).
(Ebd., 2002, S. 306-307).Stärker als Habermas hat Karl-Otto
Apel den großen Unterschied zwischen der gegenwärtigen Realität
und der »idealen Kommunikationsgemeinschaft« herausgestellt, ja es
sieht bei ihm manchmal so aus, als könnten die »realen Kommunikationsgemeinschaften«
angesichts der Notwendigkeit ihrer Existenzerhaltung und Selbstbehauptung niemals
endgültig durch den »ganz anderen Zustand« abgelöst werden.
Deshalb unterscheidet er zwei Stufen der Ethik, von denen die eine der bisherigen
» Verantwortungsethik« entspricht und die andere viel Ähnlichkeit
mit der bekannten »Gesinnungsethik« besitzt. Da »Selbstbehauptung«
sowohl von einzelnen Personen wie von Organisationen oder von Staaten legitim
ist und immer von »strategischen«, d.h. auf die Gewinnung von Vorteilen
oder die Vermeidung von Nachteilen ausgerichteten Gesichtspunkten bestimmt ist,
kann der Kern der Diskursethik nur in der »regulativen Idee« bestehen,
»stets an der langfristigen Beseitigung solcher Verhältnisse mitzuarbeiten,
die eine strategiefreie Verständigung unter Menschen unmöglich machen.«
(**).
Nach Analogie des Kategorischen Imperativs formuliert, könnte die
Maxime der Diskursethik mithin lauten: »Handle stets so, als ob du Mitglied
einer idealen Kommunikationsgemeinschaft wärest.« Das Ziel ist also
eindeutig die möglichst weitgehende Moralisierung und Verwissenschaftlichung
der Welt im ganzen und das heißt die Beseitigung von vorhandener Autorität
und Macht. Allerdings wird eine gewaltsame Durchsetzung »vernünftiger
Verhältnisse« anscheinend ausgeschlossen, denn Zwang und Leiden haben
keinen legitimen Platz, wenn tatsächlich »das Hauptprinzip der Diskursethik«
darin besteht, »praktische Fragen in fairem Diskurs zwischen möglichst
allen Beteiligten und Betroffenen einer vernünftigen konsensuellen Lösung
zuzuführen«. (**).
(Ebd., 2002, S. 307-308).Abkürzend läßt sich also
sagen: Die Diskursethik hat als praktisches Programm die nicht-revolutionäre
und vermutlich nie zur Vollendung zu bringende Herbeiführung eines an den
Prinzipien der Wissenschaft orientierten Zustandes von globalem Anarchismus und
Kommunismus. In ihrer Einheit würden sie das Ende aller bisherigen Autoritäten
und Machtverhältnisse bedeuten. Vielleicht darf man noch einen Schritt weitergehen
und folgendes behaupten: da die Diskursethik sowohl den Nihilismus wie den Relativismus
als in sich widersprüchliche Einstellungen ablehnt, realisiert die in ihrem
Zeichen geeinigte Menschheit die Qualitäten, die in der Frühgeschichte
der Menschheit dem fremden Wesen »Gott« zugeschrieben wurden: grenzenlose
Macht und unstrittige Autorität. (Ebd., 2002, S. 308).Die
meisten Vertreter der Diskursethik werden diese Deutung vermutlich für überschwenglich
und spekulativ erklären, aber jedenfalls kommt darin eine unverkennbare Tendenz
zu Wort, eine Tendenz, die von Condorcet über Marx und Comte bis heute der
»progressivistischen« Denkweise immanent ist. Es ist indessen unverkennbar,
daß die Diskursethik, so negativ sie sich auch über »Gegenaufklärer«
ausspricht, nicht einfach dem aufklärerischen Optimismus zugezählt werden
darf, denn sie ist von den düsteren Vorstellungen eines möglichen »Endes
der Menschheit« durch entfesseltes Gewinnstreben und unkontrollierte Wissenschaft
nicht unberührt geblieben. (Ebd., 2002, S. 308).Es ist
daher angebracht, die Frage nach ihren Anfängen und nach ihren konkreten
politischen und intellektuellen Ausgangspunkten zu stellen, wenn der Versuch gemacht
werden soll, zu einem abwägenden Schlußurteil zu gelangen. (Ebd.,
2002, S. 308).Horkheimer und Adorno waren diejenigen »westlichen
Marxisten«, welche es vorzogen, von »kritischer« und nicht von
»marxistischer« Theorie zu sprechen, weil sie sich eines starken Gegensatzes
zur angeblich marxistischen KPdSU bewußt waren und darüber auch öffentlich
kaum einen Zweifel ließen. Gleichwohl war es nicht inkonsequent, daß
Adorno sich in der us-amerikanischen Emigration nachdrücklich dem »antifaschistischen«
Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland anschloß, und sein Beitrag
zu dem Sammelband »Der autoritäte Charakter«, der 1950 veröffentlicht
wurde, war von großer Bedeutung, da er und seine Mitarbeiter zukunftsvolle
Methoden zur »Messung« dessen entwickelten, was als unmeßbar
galt, nämlich der menschlichen Persönlichkeit und ihrer Charakterstruktur.
So wurden einer großen Zahl von Versuchspersonen Fragen und Sätze vorgelegt,
die sie zu beantworten bzw. zu beurteilen hatten, und aufgrund der Ergebnisse
wurden Skalen gebildet, z.B. die F(aschismus)- und die AS (Antisemitismus)-Skala,
so daß imposante und umfangreiche Zahlenreihen dargeboten werden konnten.
Freilich wurde wenig darüber nachgedacht, ob nicht in den Fragen bzw. Sätzen
schon Vorentscheidungen, ja möglicherweise Vorurteile enthalten waren, die
das Ergebnis zu guten Teilen vorwegnahmen, etwa wenn die Bejahung des Satzes »Sittlichkeitsverbrechen
wie Vergewaltigung und Notzucht an Kindern verdienen mehr als bloße Gefängnisstrafe.
..« (**)
als »autoritäre Aggression« qualifiziert wurde. Aber eine Charakterisierung
wie »unkritische Unterwerfung unter idealisierte Autoritäten der Eigengruppe«
(**)
förderte die » Kritik an etablierten Autoritäten « ungemein,
ja es dauerte nicht lange, bis sie unter der akademischen Jugend »modisch«
wurde. (Ebd., 2002, S. 308-309).Weitaus weniger dem allverbreiteten
»Antifaschismus« der frühen Nachkriegszeit einzugliedern war
jedoch das gemeinsame Werk über die »Dialektik der Aufklärung«,
das nun die aufklärerische »Kritik« selbst einer tiefgreifenden
Kritik unterzog, in deren Licht Odysseus als ein früher »Bürger«
und »der Faschismus« nicht etwa als Etappe eines deutschen Sonderweges,
sondern als die Kulminierung des unbedingten Realismus der zivilisierten Menschheit
erschien - eines Realismus aber, der ein »Spezialfall paranoischen Wahns«
ist, welcher »die Natur entvölkert und am Ende die Völker selbst.«
(**).
Wenn hier ein deutlicher Anklang an die Zivilisationskritik von Ludwig Klages
und anderen »bürgerlichen« Denkern vernehmbar ist, so ist Marx
in der schroffen Wendung gegen die Herrschaft des »Tauschwerts« präsent
und Freud in der Beschwörung der »freien Sexualität«, von
deren lösender Kraft der Mensch im Gefängnis der Zivilisation ausgeschlossen
ist. Die Hoffnung auf die Heraufkunft einer besseren Gesellschaft ließ sich
eine Zeitlang mit der »revolutionären Partei« verknüpfen,
aber diese ist heute (1942) »ihren antiautoritären Zielen« entfremdet
und zu einer »Herrschaft der gerissensten Parteitaktiker« geworden.
(**).
So sieht Horkheimer schon 1942 mit Entsetzen eine »autoritäre Weltperiode«
heraufziehen, aber es ist bemerkenswert, daß er gegen Ende seines Lebens
- wie auch Augusto Del Noce unterstrichen hat - eine tiefgreifende Wandlung seines
Denkens vollzogen hatte und mit unübersehbarer Nostalgie davon sprach, die
Autorität des Vaters gehe zurück und vor allem habe die Liebe der Mutter
nicht mehr die gleiche Bedeutung. (Ebd., 2002, S. 309-310).Es
gibt einigen Grund zu der Annahme, daß Jürgen Habermas, 1929 geboren,
in seiner frühen Jugend der Autorität des »Führers«
nicht weniger ergeben war als irgendein anderer junger Deutscher. Eben deshalb
bedeutete die Einsicht, die er durch die Nürnberger Prozesse gewann, nämlich
»daß das ein politisch kriminelles System war« (**)
etwas wie ein Damaskus-Erlebnis. Von nun an beschäftigte ihn »der Faschismus«
unablässig, aber er nahm keine Differenzierung vor, und weit mehr als eine
Interpretation erarbeitete er Gegenbilder. Dazu gehörte der Begriff der »verallgemeinerungsfähigen
Interessen der Bevölkerung«, denen Hitler und der Nationalsozialismus
mit besonderer Verruchtheit entgegengehandelt hätten, und auch eine unverkennbare
Hochachtung vor der kommunistischen Partei, die zum ersten Mal »den Typus
einer Parteilichkeit für das vernünftige Allgemeine« verkörpert,
aber leider die »Selbstabschaffung« nicht verwirklicht habe. (**).
Ein Gegenbild war auch das Prinzip der »herrschaftsfreien Diskussion«,
das ihm auf besonders eindrucksvolle Weise in dem Marburger Seminar des marxistischen
Politologen Wolfgang Abendroth entgegengetreten sei, wo aus dem Kreis der Teilnehmer
ein Seminarleiter gewählt wurde, der selbst dem Professor das Wort entziehen
konnte. Auf sein Denken übte ferner, neben Horkheimer und Adorno, Hannah
Arendt einen beträchtlichen Einfluß aus, deren Begriff der Kommunikation
für ihn der Ausgangspunkt zu einer Interpretation war, welche in den kommunikativen
Diskursen einen autoritätsauflösenden und zur Herrschaftsfreiheit führenden
Prozeß erblickte. (Ebd., 2002, S. 310).In seinem ersten
und gleich vielbeachteten Zeitungsartikel hatte Habermas als junger Student 1953
eine für die weitaus meisten seiner akademischen Altersgenossen auch damals
noch fast unantastbare Autorität kritisiert, und zwar Heidegger, indem er
das allgemeinere Problem der »faschistischen Intelligenz« aufwarf.
Dazu gab es guten Grund, denn sein eigener Lehrer, Erich Rothacker, hatte dem
Nationalsozialismus mindestens zeitweise recht nahegestanden, und er war ohne
große Schwierigkeiten wieder in sein Lehramt zurückgelangt. So konnte
Habermas feststellen, die deutsche Situation nach 1945 sei »durch das konstante
Ausweichen vor diesem Problem« der faschistischen Intelligenz gekennzeichnet
gewesen und auch Heideggers Spätphilosophie gehöre in den Zusammenhang
einer Denktendenz, die im Kern unverändert geblieben sei, obgleich die Ausdrucksformen
sich geändert hätten. So begründe Heidegger heute seinen eigenen
Irrtum und sogar den »Irrtum« der nationalsozialistischen Führung
aus einer angeblichen »Seinsgeschichte« heraus. Aber lasse sich tatsächlich
»auch der planmäßige Mord«, der heute allen bewußt
sei, »als schicksalhafte Irre seinsgeschichtlich verständlich machen«?
Sei es nicht »die vornehme Aufgabe der Besinnlichen, die verantwortlichen
Taten der Vergangenheit zu klären und das Wissen darum wachzuhalten«?
Stattdessen betreibe jedoch die Masse der Bevölkerung, »voran die Verantwortlichen
von einst und jetzt«, Heidegger eingeschlossen, die fortgesetzte Rehabilitation.
Doch bei aller Kritik ist Habermas in diesem Artikel von dem denunzierenden Ton
und der Attitüde des Staatsanwalts, die erst um 1968 voll zum Durchbruch
kamen, weit entfernt, und im Schlußsatz erhebt er eine Forderung, die in
der Tat richtungweisend hätte sein können: »Es scheint an der
Zeit zu sein, mit Heidegger gegen Heidegger zu denken.« (**).
(Ebd., 2002, S. 310-311).Auch im Jahre 1960 machte Habermas »den
Faschismus« so zum Thema, daß er ihn in einen größeren
Zusammenhang hineinstellte, und zwar im Ausgang von einer Kritik an zwei eben
erschienenen Büchern, deren Autoren - Reinhart Koselleck und Hanno Kesting
- die gegenwärtige Weltkrise »als Ausbreitung der mit der französischen
Revolution ausbrechenden Krise des europäischen Bürgerkrieges über
den ganzen Erdball« zu begreifen suchten. Die welthistorischen Ereignisse
seit 1917 seien als »posthumer Siegeszug« der aufklärerischen
Geschichtsphilosophie zu verstehen; und seitdem seien die Positionen der mit 1789
auf den Plan gerufenen europäischen Bürgerkriegsparteien zu Positionen
der großen Staaten selbst geworden. Sowohl die Bolschewiki wie die Amerikaner
hätten den Anspruch erhoben, die Partei des Menschen gegen die des Unmenschen
zu vertreten, und dadurch hätten sie nach dem einen der beiden Autoren die
Unterscheidung von Feind und Verbrecher aufgehoben und so die Auseinandersetzung
vergiftet. Allerdings wird, so Habermas, »die Gegenpartei, der Faschismus«,
von Kesting ausgespart. Sie wird nur »teichoskopisch vorgeführt, dient
sozusagen als die Kulisse«, vor der »die antifaschistische Front«
als die eigentliche Aktion des Bürgerkriegs sich deutlich - und mit negativer
Akzentuierung - abzeichne. Kesting skizziere lediglich die Vorgeschichte des Faschismus,
nämlich die Reihe der »gegen-aufklärerischen« Denker von
de Maistre und Donoso Cortes bis hin zu Carl Schmitt. So ergreift Habermas die
Gelegenheit, sich nachdrücklich für die »antifaschistische«
Position zu erklären, von der allein ein positiver Weg hin zu einer künftigen
Einheit der Welt und zu einer dauerhaften Friedensordnung führen könne.
Nicht der Rekurs auf angebliche anthropologische Konstanten, sondern »historisch-soziologische
Argumente« machten deutlich, daß die Idee der »Machbarkeit der
Geschichte« keine Utopie, sondern die einzige Praxis des Überlebens
sei - eine Idee also, welche (wie man ergänzen darf) den Abschied vom Weltalter
der nicht -gemachten, der »naturwüchsigen« Geschichte und damit
von deren Autoritäten und Machtverhältnissen bedeutet. (**).
(Ebd., 2002, S. 311-312).Von hier aus, so scheint es, hätte
Habermas als Historiker den Faschismus zum Ausgangspunkt des Begreifens der Gegenwart
machen können. Er hätte dann gewiß in die Fülle der historischen
Details hinuntersteigen müssen, ohne darin zu versinken, und er würde
vermutlich den Begriff »des« Faschismus differenziert und nicht zuletzt
eine Unterscheidung zwischen Mussolini und Hitler getroffen haben, die mit deren
geradezu gegensätzlichem Verhältnis zum »Marxismus« zusammenhängt.
Er würde die gegenrevolutionären Denker kritisch, aber nicht ohne Verständnis
untersucht und er würde den Marxismus aus dieser Perspektive heraus zum Thema
gemacht haben. Wenn ihm die Gegenwart zwischen 1917 und 1945 zurecht als »europäischer
Bürgerkrieg« charakterisiert zu sein schien, hätte er sich vielleicht
seiner andersartigen Fortsetzung als »Weltbürgerkrieg« ... zugewandt.
(Ebd., 2002, S. 312).Habermas hat einen anderen Weg eingeschlagen,
den Weg der »historisch-soziologischen Argumente«, dessen Schlußetappe
die Entwicklung der »Diskursethik« war. Auf diesem Wege hat er ein
ungemein breites, kenntnisreiches und eindringendes Werk geschaffen, das ihm ...
den Namen des »führenden Sozialphilosophen Deutschlands« eintrug
und das ihn zu einer der maßgebenden Figuren einer weltweiten Diskussion
gemacht hat. So hat er sich ebensosehr der Rationalisierungstheorie Max Webers
wie den Handlungstheorien Meads und Durkheims wie der Systemtheorie von Talcott
Parsons und Niklas Luhmann zugewandt; er hat unter Beweis gestellt, daß
er mit den Werken von Foucault und Derrida ebenso vertraut ist wie mit denjenigen
von Hegel, Marx und Nietzsche. Nicht ganz selten kann man den Eindruck haben,
daß er sich in einer selbstgenügsamen Fachsprache bewegt, die für
die transatlantischen Diskurse der Soziologen und Philosophen sehr geeignet ist,
aber den Rückbezug zu den »lebensweltlichen« Problemen des »Faschismus«
und der Antwort darauf vermissen läßt. Ich begnüge mich damit,
als Beispiel einen einzigen Satz aus dem zweiten Band seines Hauptwerks, der »
Theorie des kommunikativen HandeIns«, anzuführen: »Der Macht-Code
schematisiert mögliche Stellungnahmen von Alter (dem Anderen) in der Weise
binär, daß sich dieser Egos Aufforderung unterwerfen oder widersetzen
kann; mit der von Ego für den Fall der Nichtausführung in Aussicht gestellten
Sanktion für Alter ist in den Code eine Gehorsamspräferenz einbgebaut.«
(**).
(Ebd., 2002, S. 312-313).Aber in all der Fülle kluger,
gelehrter und durch die Bank »aufklärerischer«, die »Gegenaufklärung«
und den »Neukonservativismus« hart kritisierender Texte taucht immer
wieder jener Gegner auf, von dem er mit tadelndem Ton gesagt hatte, Hanno Kesting
habe ihn nur »teichoskopisch« behandelt. Manchmal wird er mit der
Wendung »gefährliches Regressionsphänomen« abgetan, aber
dann wird ihm auch wieder eine erstaunliche Fähigkeit zugesprochen, nämlich
»die Fähigkeit fortgeschrittener kapitalistischer Gesellschaften, in
Krisensituationen auf die Gefahr einer revolutionären Veränderung mit
dem Umbau des politischen Systems zu antworten und den Widerstand der organisierten
Arbeiterschaft zu absorbieren.« (**).
Mit dem sonst eher positiv eingeschätzten Anarchismus wird er insofern auf
eine Stufe gestellt, als Tendenzen zur Ästhetisierung, d.h. zu expressiver
Selbstdarstellung und Authentizität, »ebensosehr in autoritären
(Faschismus) wie in antiautoritären Bewegungen (Anarchismus) überwiegen.«
(**).
Im Rahmen einer ziemlich freundlichen Darstellung des Denkens von Georges Bataille
räumt er ein, daß von dem Sieg der faschistischen Bewegung in Italien
und der Machtergreifung des Nationalsozialismus im Deutschen Reich »Wellen
nicht nur der Irritation, sondern auch der faszinierenden Erregung ausgegangen
sind« und daß dem damaligen Marxisten Bataille »vor dem Hintergrund
der interessenorientierten Massendemokratie« Hitler und Mussolini als »das
ganz Andere« erschienenen. (**).
(Ebd., 2002, S. 313).Damit dürfte die These zur Genüge
begründet sein, daß die »Diskursethik« nichts anderes darstellt
als den Versuch, eine radikale Gegenposition zum »Faschismus« als
der höchsten Aufgipfelung der die bisherige Geschichte bestimmenden Phänomene
der Macht und der Autorität zu entwickeln, nachdem die bisher radikalste
Gegenposition, der Marxismus, infolge seines Herabsinkens zum autoritären
Staatssozialismus seine Kraft verloren hat. Was könnte in der Tat dem gewalttätigen
Auftrumpfen und der Machtphilosophie der faschistischen Bewegungen und Regime
stärker entgegengesetzt sein als »die Ethik der idealen Kommunikationsgemeinschaft:
Konflikte nicht durch Gewalt zu lösen, sondern durch argumentative Diskurse,
welche die berechtigten Interessen aller Betroffenen zur Geltung bringen - derart,
daß die zu erwartenden Folgen der Konfliktregelung für alle Betroffenen
konsensfähig sind.« (**).
Und auch die direkten Bezüge zum konkreten Ausgangspunkt werden nicht ganz
selten ausdrücklich formuliert: für die Diskursethik sei der eigentliche
Gegner der »Moralskeptiker«, denn dieser könne »dem NS-Funktionär
nicht objektives Unrecht zuschreiben und nicht den Widerstand grundsätzlich
legitimieren.« (**).
(Ebd., 2002, S. 313-314).Die Diskursethik kann also als das Sprachrohr
einer machtvollen Zeittendenz angesehen werden. Zweifellos ist das Projekt der
Diskursivität und der gewaltlosen Lösung von Konflikten zu einem überragenden
Einfluß gelangt, und es sieht sich oft genug als Gegensatz zu der ganzen,
von gewalttätiger Macht und herrschaftssichernder Autorität bestimmten
Geschichte, d.h. als letzte Wegstrecke hin zur »Weltzivilisation«
und vielleicht sogar zur »Nachgeschichte«. Insofern ist der Diskursethik
ein historisches Recht von weitgehender Art zuzuschreiben. (Ebd., 2002,
S. 314).Aber mit ihrer Qualität als realer und anwendungsbezogener
Ethik ist es schlecht bestellt. Auch wenn man von den Kriegen, Bürgerkriegen
und Völkermorden der Gegenwart absieht, weil es sich dabei sozusagen nur
um die letzten Zuckungen der bisherigen Geschichte handle, und wenn man ohne Widerstreben
zugibt, daß Verhandlungen zwischen Staaten, Staatenkomplexen und nichtstaatlichen
Organisationen heute eine weitaus stärkere Rolle spielen als zu früheren
Zeiten, wird man feststellen müssen, daß immer nur ein »strategisches«
Reden vorliegt, welches man als die »Fortsetzung des Krieges mit anderen
Mitteln« definieren könnte und daß jene »strategiefreien«,
nur der Eruierung der Wahrheit gewidmeten Diskurse sogar in einer Wissenschaft
längst nicht mehr selbstverständlich sind, die mehr und mehr von kommerziellen
Erwägungen oder von politisch-moralischen Zwecksetzungen bestimmt wird.
(Ebd., 2002, S. 314).Und wo läßt sich zu bedrängenden
Fragen des Alltagslebens in der Diskursethik eine eindeutige Antwort finden? Wer
sind z.B. die »Betroffenen«, deren Interessen konsensuell gewahrt
werden sollen, bei der Frage der Abtreibung? Gehört nicht in allererster
Linie der Embryo dazu, dessen ... Leben durch die »diskursive« Konnivenz
von zwei vielleicht höchst egoistischen Personen, nämlich seiner Eltern,
vernichtet wird? Was wird das angeblich konsensuelle Resultat eines intensiven
Diskurses zwischen den Insassen eines bereits überladenen Rettungsbootes
sein, dem sich ein Schwimmer, mithin ein anderer Betroffener, mit der Bitte um
Aufnahme nähert, die doch das Leben aller Insassen in Gefahr bringt? Zeigt
die Diskursethik auf einleuchtende Weise irgendeinen gangbaren Weg, wenn ein Wissenschaftlerteam
eines Tages ein Mittel entdeckt, das die Lebensdauer der gegenwärtigen Generation
um das dreifache verlängert und eben dadurch eine junge Generation zum Nichtsein
oder zur Überflüssigkeit verdammt, so daß einige Anhänger
einer »materialen Ethik« das Tun der menschenfreundlichen Forscher
als ein »Menschheitsverbrechen« singulärer Art qualifizieren
würden? (Ebd., 2002, S. 314-315).Und müssen
nicht gegen die Diskursethik sogar als solche schwere Einwände erhoben werden?
Kann der ganze Aufwand wohlmeinender Intentionen die Tatsache überspielen,
daß sich die Diskursethiker bei ihrem Kampf für eine »postkonventionelle«
Moral häufig und positiv auf ua-amerikanische Wissenschaftler beziehen, welche
die These aufstellen, höchstens 5% der us-amerikanischen erwachsenen Bevölkerung
seien bis zu der Stufe der eigentlichen Ausbildung dieser Moral gelangt? Ist nicht
die Diskursethik die Konzeption einer »wissenden Minderheit«? Und
ist es zufällig, daß meines Wissens weder von Habermas noch von Apel
jemals die Frage gestellt wurde, ob das Scheitern des Progressivismus in Gestalt
des Marxismus-Leninismus nicht auf die »überschießende«
Aktivität einer »wissenden Minderheit« zurückzuführen
war, die das Überschießen der Gegenkraft, nämlich des reaktionären
und dennoch auf seine Weise und in seinen verschiedenen Erscheinungsformen gleichwohl
progressiven Faschismus, überhaupt erst hervorrief? (Ebd., 2002,
S. 315).Wer »Interessen« als individuelle oder kollektive
Neigungen versteht, wird niemals eine konsensuelle, nicht-strategische und eben
dadurch ethische Übereinstimmung auch nur zwischen einer größeren
Zahl von Individuen, geschweige denn zwischen »allen« erzeugen. Die
einzige Möglichkeit wäre dann gegeben, wenn alle diese Individuen so
sehr gleich wären, daß es zwischen ihnen keine Differenzen der Interessen,
Neigungen sowie Überzeugungen und damit keine Herausbildung alter oder neuer
Erscheinungsformen von Macht und Autorität gäbe. So muß vor dem
Auge derjenigen, welche die Konzeption der Diskursethik zu Ende zu denken versuchen,
das Schreckbild einer klonierten Menschheit auftauchen. Aber es ist den Diskursethikern
zuzugestehen, daß sie immer bloß »das Beste gewollt« haben
und weiterhin wollen. Sie pflegen lediglich zu übersehen, daß nicht
nur die bisherige Geschichte voller Verkehrungen und Paradoxien war, sondern daß
aller Vermutung nach auch die mögliche Nachgeschichte, zu deren Vorkämpfern
sie sich machen, davon nicht frei sein wird. (Ebd., 2002, S. 315-316).
Philosophie und Kunst: Heidegger und Jawlensky(Vortrag
auf Einladung des Architekten und Malers Bruno Gutknecht im Künstlerhof
nahe Buch am Erlbach am 16.09.2000)Wer
sich dem antiken Griechenland, dem klassischen Ort von Philosophie und Kunst,
in der Erwartung nähert, er werde hier eine » Philosophie der Kunst«
kennenlernen, welche besonders Tiefsinniges über die Kunst und die Künstler
zu sagen habe, wird mindestens zunächst sehr enttäuscht sein. Er wird
erfahren, daß die Männer, die den Parthenon erbauten, und sogar die
großen Bildhauer wie Praxiteles in der Offentlichkeit als »Handwerker«
betrachtet wurden und längst nicht die Hochschätzung erfuhren, welche
den Siegern in Wettläufen und Ringkämpfen der Olympischen Spiele zuteil
wurde, und er wird seinen Augen kaum trauen, wenn er Platons »Staat«
aufschlägt und dort liest, was der große Philosoph über die Maler
und die Dichter sagt. (Ebd., 2002, S. 318).Der Maler, so
heißt es da, ahmt die Naturdinge nach, die doch ihrerseits bloß Abbilder
der »Ideen« sind, jener Urbilder, die das jeweils Allgemeine jenseits
all des Zufälligen, Wechselhaften, Unbeständigen und mithin der konkreten
Dinge sind und die ihre menschliche Entsprechung nur in den Begriffen der Vernunft
haben. Das Gemälde des Malers ist mithin ontologisch drittrangig, eine Nachahmung
des Abbilds und also zwei Stufen vom eigentlich »Seienden« entfernt.
Zumal die perspektivische Malerei bringt nichts anderes als »Blendwerke«
hervor, die den Geist an den sinnlichen Eindruck, an das bloße Hier und
Jetzt fesseln. (Ebd., 2002, S. 318).Aber auch die Dichtung
ist Nachahmung, Nachahmung der menschlichen Leidenschaften und Gemütsbewegungen,
und sie fördert dadurch im Hörer oder Leser ähnliche Leidenschaften
oder Gemütsbewegungen, die doch von gerechten und vernünftigen Menschen
niedergehalten, ja zum Absterben gebracht werden müßten. Nirgendwo
ist ein Staat durch die Dichtung zu einer besseren Verfassung gelangt; Homer stellt
auf verlockende Weise dar, was von der Ethik scharf verurteilt werden muß:
die wilden Raubzüge seiner Heroen, die schamlose Geschichte von der Fesselung
des Ares und der Aphrodite durch den betrogenen Ehemann Hephaistos,das Jammern
eines Helden wie des Aias - er rührt die niederen Seelenteile im Menschen
an und erzeugt bloße Stimmungen, statt die Herrschaft der Vernunft zu fördern,
die allein dem Menschen die Selbstbeherrschung und damit ein gerechtes Leben sichert.
(Ebd., 2002, S. 318-319).Platons Philosophie ist also ein extremes
Beispiel dessen, was »postmoderne« Denker heute den abendländischen
(dabei ist er antik; Anm. HB [**|**])
»Logozentrismus« nennen, welcher als Rationalismus und Ethizismus
offensichtlich kunstfeindlich ist. Es ist zwar nicht richtig, wie man häufig
lesen kann, daß Platon die Dichter und die Maler aus seinem Staat »vertreiben«
wolle, denn in seiner »Politeia« wird ja kein realer Staat dargestellt
oder auch nur entworfen, aber er läßt diese Künste für seinen
»Idealstaat« nicht zu, und er verneint so zwar nicht ihre faktische
Existenz, wohl aber ihre ontologische Dignität. (Ebd., 2002, S. 319).An
einer anderen und wenig beachteten Stelle spricht Platon jedoch von einem Maler,
der das Bild eines vollkommen schönen Menschen gemalt habe und der nicht
nachzuweisen brauche, daß dieser Mensch auch wirklich existiere. Eben das
versteht Platon als genaue Parallele zu seinem eigenen Unternehmen, nämlich
einen vollkommenen Staat zu entwerfen, der in der Realität nirgends zu finden
sei. Offensichtlich kommen also für Platon Kunst und Philosophie darin überein,
daß sie sich von der alltäglichen Wirklichkeit der Abbilder und Nachahmungen
lösen und einen Weg zu den Urbildern finden können, die ihren ursprünglichen
Ort »im Geiste Gottes« haben. (Ebd., 2002, S. 319).Und
das merkwürdigste ist vielleicht, daß Platons großes Werk nicht
mit der Fortsetzung der langwierigen und häufig »dialektischen«
Erörterungen zu Ende geht, sondern mit der bewegenden, höchst dichterischen
Wiedergabe eines Mythos, des Mythos vom Totengericht und dessen Strafen und Belohnungen,
welcher einem Mann in den Mund gelegt wird, der angeblich gestorben war und sich
einige Tage im Jenseits aufgehalten hatte. Auch und gerade für Platon erschließt
sich also die eigentliche Tiefe der Existenz des Menschen nicht jenem »rechnenden,
messenden und wägenden« Seelenteil, den er an vielen Stellen für
das Beste im Menschen erklärt - nicht dem »Logos«, sondern dem
»Mythos«. (Ebd., 2002, S. 319).Die zwei »trivialen«
Grundauffassungen, die Platon artikuliert oder voraussetzt, wiederholen sich während
der folgenden zwei Jahrtausende des abendländischen oder europäischen
(antik [**]
und abendländischen [**])
Denkens ständig: die Vorstellung, daß die Künstler eine Art Handwerker
seien, ist noch in Zedlers Universal-Lexikon lebendig, wo das Bildermalen zusammen
mit dem Lastentragen als Beispiel für die mechanischen Künste genannt
wird, und der Satz »ars imitatur naturam« ist wohl der meist verwendete
bei allen Philosophen, die auch die Kunst zu ihrem Thema machen. Aber von Anfang
an werden ebenfalls die, wie man sagen könnte, anspruchsvolleren Konzeptionen
Platons aufgegriffen oder variiert, nämlich daß die Kunst ein spezifisches,
mit der Philosophie verwandtes Verhältnis zu den Urbildern und damit zu Gott
habe und daß sie dieses Verhältnis auf andere Weise als diejenige des
rechnenden und zur Selbstbeherrschung führenden Verstandes zum Ausdruck bringen
müsse. (Ebd., 2002, S. 319-320).So hatte ja schon Platons
älterer Zeitgenosse Epicharm gesagt, die göttliche Vernunft begleite
alle Künste, die ausnahmslos von Gott und nicht vom Menschen erfunden seien.
Fünfhundert Jahre später schrieb Cicero, die Idee des Schönen,
die der Künstler in seinem Geist erschaue, sei der Grund der Kunst, von ihr,
und nicht von einem vorgegebenen Gegenstand, lasse er sich leiten. Augustinus
wiederum orientiert sich stärker am Maß- und Zahlhaften der Idee: Gott
habe alles nach Zahl und Maß geordnet und daher sei die göttliche Kunst
das Gesetz aller Künste; das Streben nach Harmonie, so darf man ergänzen,
muß also das oberste Gebot aller Künste sein. Nicht so sehr die Bedeutung
der Harmonie als diejenige des Lichtes hebt Johannes Scotus Eriugena hervor: die
Schönheit der Welt sei nichts anderes als das universale Durchscheinen der
göttlichen Ideen, und daher ist für ihn die höchste Rationalität
der Welt in der Glasmalerei künstlerisch darstellbar, weil diese hier im
Medium des Lichtes erscheine. Für Thomas von Aquin bedeutet die »Nachahmung
der Natur« nicht in erster Linie Nachahmung der vorhandenen Naturdinge,
sondern Nachahmung des Produktionsprinzips der Natur; insofern ist der menschliche
Intellekt in der Kunstproduktion ein der Natur überlegenes Derivat des göttlichen,
und daher vermag er Dinge hervorzubringen, die von der Natur nicht produziert
werden können. Offensichtlich ist der kunstproduzierende Intellekt aber nicht
mit dem rechnenden und wägenden Verstand identisch, und Ficino lokalisiert
ihn in der »Phantasie«. (Ebd., 2002, S. 320).Die
moderne »Kunstphilosophie« oder »Ästhetik« zeichnet
sich ab, wenn Alexander Gottlieb Baumgarten schreibt, das Vorbild der Kunst sei
nicht die »natura naturata« (geschaffene Natur),
sondern die »natura naturans« (schaffende Natur),
d.h. in mittelalterlicher Terminologie, das »Schaffen Gottes«. So
kann Baumgarten den Begriff einer eigenständigen »veritas aesthetica«
bilden, die sich von der logischen Wahrheit grundsätzlich unterscheidet.
Kant stellt die »freie Kunst« in einen Gegensatz zur Handwerkskunst
und auch zur Wissenschaft sowie zur Natur. Friedrich Schlegel dagegen hebt wieder
den Begriff der »Nachahmung« hervor, aber in einer »kosmischen«
Bedeutung: »die heiligen Spiele der Kunst« seien nur »ferne
Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt.« (Ebd., 2002, S.
320-321).Ein ganz neuartiger Gedankengang taucht auf, wenn erstmals
die Kunst in eine Beziehung zu der Zeitsituation im ganzen gesetzt wird, d.h.
wenn gefragt wird, ob die Kunst unter den Bedingungen der modernen Epoche noch
dasselbe sein könne wie in früheren Zeiten. Die Gegenwart wird von Schiller
als ein »künstliches Weltalter« aufgefaßt, in dem die naive
Dichtung etwa Homers durch eine »sentimentalische«, von der Reflexion
bestimmte Dichtung ersetzt werde, und Analoges gilt natürlich für die
Malerei. Aber Schiller schließt eine »Rückkehr zur Natur«
auf einer höheren, durch die Reflexion vermittelten Stufe nicht aus, und
er sieht eine Parallele in der Entwicklung des Staates, der nach seinen Anfängen
mehr und mehr zur Entfremdung der Menschen voneinander beigetragen habe, der aber
eines Tages die Stufe des »ästhetischen Staates« erreichen und
insofern zu seinem Ursprung zurückfinden könne. Schelling führt
den Platonismus der Kunstphilosophie mit der These zu einem Höhepunkt, Kunst
sei die »Darstellung der Urbilder«; die bildenden Künste, die
Malerei sowohl wie die Musik, prägten das Unendliche ins Endliche realiter
ein, so daß »die Materie zum Leib oder zum Symbol« werde, während
die Poesie Ideen durch ein »an sich Allgemeines«, nämlich die
Sprache, realisiert. Zwar repräsentiert sich auch für Hegel im Schönen
der Kunst als »gestalteter Geistigkeit« der »absolute Geist,
die Wahrheit selbst«, aber er führt den Schillerschen Ansatz zu der
These fort, in der Gegenwart hätten Gedanke und Reflexion die schöne
Kunst überflügelt, die Kunst könne hinfort nicht mehr die höchste
Weise darstellen, »sich des Absoluten bewußt zu sein.« Damit
wird die Kunst der Relevanz entkleidet, die sie bis dahin gehabt hatte, und anscheinend
wird der Weg hin zu Marx eröffnet, für den nicht nur die Kunst, sondern
auch die Philosophie »Widerspiegelungen« einer grundlegenden, ökonomischen
und klassenhaften Realität, also Nachahmungen besonderer Art sind, sofern
man die korrigierenden Thesen aus der Einleitung zur »Kritik der politischen
Okonomie« fortläßt, die der Kunst in Analogie zu den menschlichen
Lebensaltern so etwas wie eine relative Ewigkeit zusprechen: ebenso wie die Erfahrungen
der Kindheit im Erwachsenenalter nicht spurlos verschwinden, vermag die Kunst
der Griechen trotz der völlig veränderten Verhältnisse auch moderne
Menschen noch anzusprechen. (Ebd., 2002, S. 321).Aber wie
wenig mit dieser »Relativierung« ein letztes Wort gesprochen ist,
wird schon am Beispiel Schopenhauers klar, der Friedrich Schlegels »Spiel
der Welt« in der Musik unmittelbar dargestellt findet, und auch für
den jungen Nietzsche öffnet diese den Zugang zum »innersten Kern der
Dinge«, während in den Augen Richard Wagners die Kunst in Gestalt des
»Gesamtkunstwerks« sogar imstande ist, eine neue und vollkommene Gestalt
des Staates zu begründen. (Ebd., 2002, S. 322).Nach
dem Ersten Weltkrieg werden aus der neuen Situation heraus alte Positionen und
alte Gegensätze neu formuliert: Ernst Bloch spitzt die Hegelsche These zu
und schränkt sie zugleich ein, indem er die moderne Kunst wegen ihrer Scheu
vor der Utopie als »bürgerlich« charakterisiert und dem Untergang
geweiht sieht; Max Horkheimer und Theodor Adorno kritisieren die »instrumentelle
Vernunft« und die Kulturindustrie auf eine Weise, die den Zweifel erweckt,
ob die negative Beschreibung einer Welt, die schon in Odysseus ihre Augen aufschlug,
wirklich noch mit dem Terminus »bürgerlich« auskommen kann, und
Ernst Cassirer ist dieser Auffassung sowohl nahe wie fern, wenn er darlegt, daß
die Wissenschaft die Welt durch Begriffe und Gesetze vereinfache und damit durch
Abstraktionen entleere und verarme, daß aber die Kunst den Reichtum von
sinnvollen Perspektiven und Formen, die unendlichen Möglichkeiten der Welt
offenbare. In den Zusammenhang dieses modernen Philosophierens über die Kunst
ist offenbar auch Martin Heidegger hineinzustellen, der bekanntlich 1929 in Davos
mit Ernst Cassirer ein öffentliches Gespräch führte, das als Auseinandersetzung
zwischen zwei Traditionen bald einen legendären Ruf gewann. (Ebd.,
2002, S. 322).In Heideggers frühem Hauptwerk »Sein und
Zeit« von 1927 ist freilich von »Kunst« an keiner Stelle die
Rede. Aber es befremdete viele Leser, daß er das »Vorhandensein«
der theoretisch und naturwissenschaftlich erfaßbaren Welt nicht etwa nur
psychologisch aus dem »Zuhandensein« ableitete, d.h. aus den im praktischen
Umgang erfahrbaren Bezügen, z.B. aus der » Welt der Handwerker«,
sondern daß er diesem Zuhandensein auch einen ontologischen Vorrang zuschrieb.
Das wird nur dann verständlich, wenn man sich vor Augen hält, daß
Heidegger als Philosoph von der Phänomenologie Husserls und auch von der
Transzendentalphilosophie Kants herkam und also zwar nicht »den Menschen«,
wohl aber das »Dasein« als das seinsverstehende Wesen zum Ausgangspunkt
seines Nachdenkens machte, wie ja für Kant das »transzendentale Bewußtsein«
der Ausgangspunkt gewesen war. Damit trennt er sich von vornherein etwa von der
»realistischen Ontologie« Nicolai Hartmanns, welche die verschiedenen
Schichten der Welt im Sinne von »Universum« beschreibt und analysiert,
so daß auch der Mensch als ein durch besondere Merkmale gekennzeichnetes
Wesen beschrieben und analysiert werden kann. Für eine transzendentalphilosophische
Denkweise bedeutet dieses Vorgehen eine Naivität, da das beschreibende und
analysierende Wesen zuerst zum Thema gemacht werden muß und das »Sein«
nicht als etwas vom »Dasein« Getrenntes gedacht werden darf. Dann
aber können zwei verschiedenartige Begriffe von »Welt« gebildet
werden: einmal die Welt als »Lebenswelt« und einmal die Welt als erforschbare
Ganzheit der Phänomene, und es wird vorstellbar, daß der im alltäglichen
und nicht-alltäglichen Umgang erfahrenen Lebenswelt eines Volkes, ja eines
Stammes oder einer Kultur gegenüber der abgeblaßten und eingeebneten
»Theoriewelt« der Wissenschaft eine größere Ursprünglichkeit
und Dignität zugeschrieben wird. Dann muß es als möglich erscheinen,
daß die »Welt der Kunst« gegenüber der Welt der bloßen
Betrachtung und weiterhin der Wissenschaft unverwechselbare Selbständigkeit
und sogar den höheren Rang aufweist. Den Schritt hin zu einer solchen Philosophie
der Kunst hat Heidegger erstmals explizit 1935 in dem Vortrag über den »Ursprung
des Kunstwerks« vollzogen. (Ebd., 2002, S. 322-323).Ich
zitiere zuerst eine Stelle, die den »transzendentalphilosophischen«
Charakter von Heideggers Denken besonders deutlich macht, und ich wende mich dann
im nächsten Schritt dem zweiten Beispiel zu, mit dessen Hilfe Heidegger erläutert,
inwiefern das Kunstwerk für ihn nichts anderes bedeutet als das »Sich-ins
Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden«. (Ebd., 2002, S. 323).Auf
Seite 41 des Abdrucks in den »Holzwegen« heißt es: »Inmitten
des Seienden im Ganzen west eine offene Stelle. Eine Lichtung ist. Sie ist, vom
Seienden her gedacht, seiender als das Seiende. Diese offene Mitte ist daher nicht
vom Seienden umschlossen, sondern die lichtende Mitte selbst umkreist wie das
Nichts, das wir kaum kennen, alles Seiende. Das Seiende kann als Seiendes nur
sein, wenn es in das Gelichtete dieser Lichtung herein- und hinaussteht. Nur diese
Lichtung schenkt und verbürgt uns Menschen einen Durchgang zum Seienden,
das wir selbst nicht sind, und den Zugang zu dem Seienden, das wir selbst sind.
Dank dieser Lichtung ist das Seiende in gewissen und wechselnden Maßen unverborgen
....« (Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, 1935, a.a.O.,
S. 41f.). (Ebd., 2002, S. 323).»Unverborgenheit«,
A-letheia, ist nach Heidegger: Wahrheit. Der Prozeß des Entbergens, der
doch zugleich verbirgt, ist das Geschehen der Wahrheit, das sich in verschiedenen
Weisen darstellt. Wenn es den Menschen als »das Dasein« nicht gäbe,
würde es auch keine Wahrheit geben, sondern alles Seiende würde in der
»Seinlosigkeit« verbleiben. Das ist einer von jenen Heideggerschen
Begriffen, gegen die »der gewöhnliche Menschenverstand« aufbegehrt,
dessen Gehalt er sich aber am ehesten klar macht, wenn er sich Kants Begriff des
»transzendentalen Bewußtseins« gegenwärtig hält, das
zwar primär, aber nicht exklusiv auf die Welt der Wissenschaft ausgerichtet
ist, weil aus ihm heraus auch die Ethik begründet wird. Für Heidegger
ist die Kunst eine ausgezeichnete Weise dieses Wahrheitsgeschehens. Als Beispiel
wählt er einen griechischen Tempelbezirk, und er schreibt: »Ein Bauwerk,
ein griechischer Tempel, bildet nichts ab. .... Das Bauwerk umschließt die
Gestalt des Gottes und läßt sie in dieser Verbergung durch die offene
Säulenhalle hinausstehen in den heiligen Bezirk. Durch den Tempel west der
Gott im Tempel an. .... Dastehend hält das Bauwerk dem über es wegrasenden
Sturm stand und zeigt so erst den Sturm selbst in seiner Gewalt. Der Glanz und
das Leuchten des Gesteins, anscheinend selbst nur von Gnaden der Sonne, bringt
doch erst das Lichte des Tages, die Weite des Himmels, die Finsternis der Nacht
zum Vorschein .... Der Baum und das Gras, der Adler und der Stier, die Schlange
und die Grille gehen erst in ihre abgehobene Gestalt ein und kommen so als das
zum Vorschein, was sie sind ....« Und im ganzen wird das Tempelwerk folgendermaßen
charakterisiert: »Das Tempelwerk fügt erst und sammelt zugleich um
sich die Einheit jener Bahnen und Bezüge, in denen Geburt und Tod, Unheil
und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall die Gestalt und den Lauf des
Menschenwesens in seinem Geschick gewinnen. Die waltende Weite dieser offenen
Bezüge ist die Welt dieses geschichtlichen Volkes. ....« (Martin Heidegger,
Der Ursprung des Kunstwerkes, 1935, a.a.O., S. 31ff.). »Welt«
bedeutet hier also offensichtlich nicht die Gesamtheit des Vorhandenen und Erforschbaren.
Sie ist, wenn man so will, eine sowohl subjektive wie überindividuelle Welt:
die »Welt der Azteken«, die »Welt der Römer«, und
diese Welt gibt, anders als die Welt der Wissenschaft, dem Menschen zu erkennen,
was er ist und was er soll; sie hat mit hin den höheren Rang. Kunstwerke
sind für Heidegger offenbar hervorgehobene Bestandteile einer solchen Welt,
und dieser »Weltcharakter« des Kunstwerks war nie zuvor in der Geschichte
der Philosophie so sehr hervorgehoben worden, während die Verbindung von
Kunst und Wahrheit für den Deutschen Idealismus evident war. Aber auch hier
nimmt der gewöhnliche Menschenverstand Anstoß: Wieso geht die Grille
erst angesichts des Tempels in ihre abgehobene Gestalt ein, spricht sich im Begriff
des »geschichtlichen Volkes« nicht ein Nationalismus aus? Der zweite
Vorwurf läßt sich leicht widerlegen, wenn man sich vor Augen hält,
daß Heidegger in seiner Abhandlung über »Bauen, Wohnen, Denken«
den Schwarzwaldhof auf eine ganz ähnliche Weise charakterisiert wie den Tempel.
An dieser Stelle heißt es nämlich, hier habe die Inständigkeit
des Vermögens, Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen einfältig
in die Dinge einzulassen, das Haus gerichtet. Sie habe dem »Herrgottswinkel«
einen Platz eingeräumt und auch den »geheiligten Plätzen für
Kindbett und Totenbaum, so heißt dort der Sarg«, und so habe sie »den
verschiedenen Lebensaltern unter einem Dach das Gepräge ihres Ganges durch
die Zeit vorgezeichnet.« (Martin Heidegger, Bauen, Wohnen, Denken,
1951, in: Vorträge und Aufsätze, 1954, S. 161). (Ebd.,
2002, S. 323-325).Offenbar ist für Heidegger eine »weltende«
Welt nur diejenige, in welcher der Mensch Bedeutsames, »Existenzerhellendes«
erfährt, und erlebt »weltlos«, wenn er sich vor eine schlechthin
unüberschaubare Fülle von bloßen und im Grunde gleichgültigen
Gegenständen gestellt sieht. Von daher resultiert der äußerst
negative Klang, mit dem Heidegger wieder und wieder die moderne Welt kennzeichnet:
die moderne Wissenschaft bereite einen »Angriff auf das Leben und auf das
Wesen des Menschen vor«, und dieser negative Klang kommt vielleicht am erstaunlichsten
in der Feststellung zum Vorschein, der kosmische Raum sei weltlos und der Mond
verschwinde als Mond, wenn er von den Astronauten betreten werde, denn er gehe
nicht mehr auf noch unter. Ist Heidegger mithin nicht als »Reaktionär«,
als »Bauernphilosoph« zu bezeichnen und im besten aller Fälle
als Verteidiger der »Menschenwelt« , die auf diese oder jene Weise
immer eine »Welt der Kunst« ist, gegen die Wissenschaftswelt der modernen
Grenzenlosigkeit und Flächigkeit? Oder spricht nicht doch ein Denker höchsten
Ranges, wenn er 1967 in einem Athener Vortrag genau dasselbe sagt, was heute junge
Informatiker und Biophysiker mit großer Lautstärke für die nahe
Zukunft in Aussicht stellen: daß der Unterschied zwischen den automatischen
Maschinen und den Lebewesen verschwindet. (Martin Heidegger, Denkerfahrungen
1910-1976, S. 142). Eine »Computerkunst« ist für Heidegger
also der schroffste Gegensatz zu der »menschlichen Kunst« und zu den
»menschlichen Welten«, in welche diese Kunst hineingehört.
(Ebd., 2002, S. 325).Die innere Bezogenheit von Kunst und geschichtlichen
Menschenwelten ist mithin das unterscheidende Kennzeichen von Heideggers »Philosophie
der Kunst«, und sie könnte auch dann eine richtige, tiefdringende Einsicht
darstellen, wenn diese geschichtlichen Welten vor dem Andrang einer nivellierenden
»Weltzivilisation« zum vollständigen Untergang verurteilt wären,
denn dann wäre auch die Kunst dem Untergang geweiht und Heidegger hätte
nur jene Hegelsche These verschärft. (Ebd., 2002, S. 325-326).Aber
ich bin über das erste Beispiel hinweggegangen, das Heidegger im Kunstwerkaufsatz
anführt, und gerade dieses Beispiel bringt ihn in eine gewisse Nähe
zu Jawlensky, der bisher in diesem Vortrag noch keinen Platz gefunden hat. Es
handelt sich nämlich um das Gemälde van Goghs, das ein Paar Bauernschuhe
darzustellen scheint. Nach Heidegger liegt hier jedoch so wenig eine bloße
Abbildung vor wie bei jenem griechischen Tempel. Dieses Paar Bauernschuhe ist
nämlich im Werke van Goghs ganz »welthaft«. Ich zitiere: »In
der derbgediegenen Schwere des Schuhzeugs ist aufgestaut die Zähigkeit des
langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des
Ackers, über dem ein rauher Wind steht. Auf dem Leder liegt das Feuchte und
Satte des Bodens. .... In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde,
ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen
in der öden Brache des winterlichen Feldes. ....« Innerhalb der Fülle
der Bezüge, die das Schuhzeug aufweist, ist die Bäuerin »ihrer
Welt gewiß«. Aber das Zeug unterliegt der Abnützung und wird
zu einem gewöhnlichen »bloßen Zeug«. Erst das Gemälde
van Goghs ist »die Eröffnung dessen, was das Zeug, das Paar Bauernschuhe,
in Wahrheit IST. Dieses Seiende tritt in die Unverborgenheit seines Seins heraus.
.... Das Sein des Seienden kommt in das Ständige seines Scheinens.«
(Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, 1935, a.a.O., S. 22ff.).
(Ebd., 2002, S. 326).Und wieder meldet der gewöhnliche Menschenverstand
seine Bedenken an. Wie ist dieses erste Beispiel mit jenem zweiten des Tempels
in Übereinstimmung zu bringen? Van Goghs Gemälde hängt ja in einem
Museum an der Seite von Gemälden anderer Maler, die ganz andere Gegenstände
darstellen, wenngleich vermutlich nicht als isolierte Dinge, sondern ebenfalls
in ihren Weltbezügen. Keins dieser Gemälde ist Teil der geschichtlichen
Lebenswelt eines Volkes oder einer Kultur wie der griechische Tempel oder der
mittelalterliche Dom, zu dem allerdings zahlreiche einzelne Statuen und Gemälde
als notwendige Bestandteile gehörten. Aber ein Museum ist kein Tempel und
keine Kathedrale, es vereinigt nicht Menschen vielfältiger Art in gemeinsamer
Gläubigkeit und zu gemeinsamem Handeln, Nur einzelne Betrachter wenden sich
den einzelnen Werken zu, und nur als Einzelne oder im Gespräch kleiner Kreise
können und sollten sie sich das »Welthafte« der Gemälde
oder der Skulpturen vergegenwärtigen. So wäre Heideggers Philosophie
der Kunst in erster Linie auf die offenkundig welthafte Kunst der Tempel, Kathedralen
und antiken oder mittelalterlichen Städte bezogen und böte im Hinblick
auf die bildende Kunst der Moderne, die ihren Platz in Museen und Privatsammlungen
findet, allenfalls erhellende Hinweise zur Erschließung der welthaften Bezüge,
die keinem Kunstwerk fehlen. (Ebd., 2002, S. 326-327).Es
mag uns einen Schritt weiterbringen, wenn wir uns fragen, welche persönlichen
Beziehungen Heidegger zu Malern und Bildhauern hatte. Für seine Frühzeit
und noch für seine mittlere Lebensperiode sind solche Beziehungen nicht bekannt,
aber seine letzten Jahrzehnte sind davon in starkem Maße bestimmt. (**).
Eine wesentliche Voraussetzung war die Entstehung eines engen Verhältnisses
zu Frankreich und zumal zur Provence, das ihm hauptsächlich durch Jean Beaufret
vermittelt wurde. Beaufret selbst erzählt, Heidegger habe 1958 in Aix-en-Provence
gesagt: »Hier habe ich den Weg Cézannes gefunden, dem mein eigener
Denkweg von Anfang bis Ende auf seine Weise entspricht.« (Ebd., 2002,
S. 327).François Fédier wiederum berichtet von einem
späteren Besuch Heideggers in der Provence folgendes: »Heidegger setzt
sich auf einen Steinblock. Er schaut. .... Er blieb still, der Sainte-Victoire
gegenüber, das Gebirge anblickend. Lange saß er so. Wie lange, könnte
ich nicht sagen: Diese Zeit ist nicht zu messen. Ich liebe den Gestalteneinklang
meines Vaterlandes, sagte Cézanne. Diesen Einklang nahm Heidegger wahr
-was am schwersten zu vollziehen ist. Denn es verbirgt sich darin die unscheinbare
Einheit der Welt, ihre Innigkeit, das Sein selbst.« (François Fédier,
Andenken .... In Erinnerung an Martin Heidegger, 1977, S. 79-85, hier:
S. 11 und 85). Offenbar liebte Heidegger die Gemälde Cézannes vom
Bergmassiv der Sainte-Victoire besonders, aber allem Anschein nach war er weit
darüber hinaus mit dem Gesamtwerk Cézannes gut bekannt. Georges Braque
lernte er persönlich kennen, denn er besuchte ihn in seinem Atelier in Varengeville,
und spontan ent wickelten sich, wie gegenüber dem Dichter René Char,
Verständnis, Sympathie und Freundschaft. Sehr vertraut war Heidegger mit
den Werken von Paul Klee, dessen »Silbermondgeläute« zu seinen
liebsten Bildern zählte, und ein bekannter Klee-Spezialist äußerte
sich dahingehend, niemand könne besser die Bedeutung Klees würdigen
als Heidegger. Ein besonders enges und freundschaftliches Verhältnis hatte
Heidegger zu dem baskischen Bildhauer Eduard Chillida, und vor einer von dessen
Plastiken stellte er als Frage, was er zuvor schon manches Mal durch eine apodiktische
Aussage beantwortet hatte: »Kann der physikalisch-technisch entworfene Raum,
wie immer auch er sich weiterhin bestimmen mag, als der einzig wahre Raum gelten?
Sind, mit ihm verglichen, alle anders gefügten Räume, der künstlerische
Raum, der Raum des alltäglichen Handelns und Verkehrs, nur subjektiv bedingte
Vorformen und Abwandlungen des einen objektiven kosmischen Raumes?«
Seine Antwort lautet hier, daß die Skulpturen Chillidas, Bernhard Heiligers
und anderer zwar keinen Widerstand gegen »die Zerstörung der Dinge
und damit des menschlichen Welt-Raums« zu leisten vermöchten,
wohl aber zu einer Distanzierung gegenüber dem für absolut gesetzten
Raum der Naturwissenschaft verhelfen könnten, der diesen »in seiner
eigenen Relativität, in seiner eigenen Ortlosigkeit« erfahrbar werden
lasse. Und gerade von hier aus kommt ein Grundmotiv Heideggers besonders klar
zum Vorschein: die »gewöhnlichen Dinge« - »ein Baum, ein
Berg, ein Haus, ein Vogelruf« - ihrer Gewöhnlichkeit zu entkleiden
und sie als das Außerordentliche sichtbar zu machen, das sie SIND. Damit
aber steht er den Künstlern weitaus näher als den Wissenschaftlern,
und man ginge vielleicht nicht in die Irre, wenn man behauptete, Heideggers Philosophie
sei nicht nur in einzelnen Kapiteln und Aufsätzen, sondern in ihrem Kern
eine Philosophie der Kunst, d.h. eine Philosophie, die das unvergängliche
Recht der Kunst begründet und verteidigt. Von der »Kunstgeschichte«
freilich ist das weit entfernt, und meines Wissens hat Heidegger Schulbezeichnungen
wie »Impressionismus«, »Expressionismus«, »Fauvismus«
und »Kubismus« nie in den Mund genommen. Aber schon seine jahrzehntelange
Freundschaft mit den Kunsthistorikern Hans Jantzen und Ernst Buschor vermag die
Annahme zu stützen, daß er sich auch im Bereich der Malerei besser
auskannte, als die relativ wenigen persönlichen Bekanntschaften mit Künstlern
erkennen lassen. Der Name Alexej von Jawlensky taucht jedoch, so weit ich sehe,
nirgendwo auf. (Ebd., 2002, S. 327-328).Aber auch Jawlensky
erwähnt Heidegger meines Wissens nirgendwo, jedenfalls nicht in seinen Lebenserinnerungen.
Doch ebenso, wie Heidegger enge innere und auch äußere Beziehungen
zu Künstlern hatte, die für Jawlensky ebenfalls viel bedeuteten - Cézanne,
Braque, Klee -, so gibt es mindestens einen Punkt, wo Jawlensky ganz in die Nähe
Heideggers gelangt, und das ist seine Freundschaft mit Jan Verkade, jenem Malermönch
aus der Abtei Beuron, der den Ordensnamen Willibrord trug. Verkade hatte 1905
monatelang in Jawlenskys Münchener Atelier gearbeitet, und einige der aufschlußreichsten
letzten Briefe Jawlenskys aus dem Jahre 1938 sind an ihn gerichtet. Heidegger
stand seinerseits in engen Beziehungen zum Kloster Beuron, das er häufig
aufsuchte. So nähern sich die Kreise des Lebens von Heidegger und Jawlensky
fast bis zur Berührung, aber zu einem direkten Kontakt kommt es nicht, und
das Thema »Heidegger und Jawlensky« kann nicht so verstanden werden
wie die Themen »Heidegger und Braque« oder »Jawlensky und Rudolf
Steiner« -Jawlensky hatte Steiner ja in München kennengelernt, und
er muß dessen Aussagen über die »befruchtende Kraft der ewigen
Urbilder der Dinge« gekannt haben. (Ebd., 2002, S. 328-329).Man
könnte indessen auf die Suche nach Übereinstimmungen anderer Art gehen,
welche die Verwendung des »und« rechtfertigen würden, denn sogar
eine die Jahrhunderte übergreifende Fragestellung wie »Platon und Schelling«
ist ja legitim. So ließe sich ein gemeinsamer Gegensatz gegen utopistische
Konzeptionen herstellen, und im Hinblick auf Jawlensky könnte man die Maler
der »Brücke« nennen, mit denen er ja unter einem anderen Gesichtspunkt
als ein wichtiger Vorkämpfer der »Moderne« und als Angehöriger
der Neuen Künstlervereinigung München sowie des »Blauen Reiters«
zusammengehört. Aber jene Vorstellung von der befreiten und harmonischen
Natürlichkeit der Zukunft, welche die vielen Akte von Badenden und Tanzenden
bei Heckel, Kirchner und Pechstein prägt, fehlt bei Jawlensky, und es fehlen
auch die Kontrast- und Gegenbilder wie »Der Mörder« von Ernst
Ludwig Kirchner und gar »Der Lustmord« von Otto Dix. Für Heidegger
wiederum war die Zukunft der Menschheit nicht wie bei Marx als befreite und konfliktlose
schon in der Unterdrückung und Entfremdung der Gegenwart angelegt, sondern
sie resultiert aus der »Schickung des Seins« und läßt sich
weder durch Entgegensetzung noch durch Verlängerung aus der Gegenwart errechnen.
Beide haben ein kritisches Verhältnis zu Modernität und urbaner Zivilisation
- wie übrigens auch die Maler der »Brücke« und nicht zuletzt
Wassilij Kandinsky und Franz Marc -, und doch sind beide nicht nur Repräsentanten,
sondern Vorkämpfer der »modernen Kunst« bzw. der »Philosophie
der Gegenwart«, und wenn sie von ihren Gegnern »Reaktionäre«
genannt werden, so gelten sie den Kunsthistorikern und den Geschichtsschreibern
der Philosophie doch mit Recht als »Revolutionäre«. Zu den politischen
Revolutionen der Epoche haben sie ein unklares und widerspruchsvolles Verhältnis,
das man nicht selten »unpolitisch« genannt hat: Jawlensky verliert
wie Marianne von Werefkin durch die bolschewistische Revolution sein Vermögen,
und er erzählt in Randbemerkungen von einzelnen Bekannten, die »von
den Bolschewisten erschossen« wurden, aber dann sieht er sich von den Nationalsozialisten
als einer der »Kulturbolschewisten« angeprangert, ja der »Entarteten
Kunst« zugezählt, und er versichert sich selbst voller Erstaunen, daß
er doch weder im Leben noch in der Kunst ein Bolschewist sei. Heidegger wiederum
ist in viel stärkerem Maße von Furcht vor dem Bolschewismus erfüllt,
mit dem er 1928 bei einer Vortragsreise im Baltikum in nähere Berührung
gekommen war, und er engagiert sich 1933 auf die allbekannte Weise für Hitler
und den Nationalsozialismus, aber er distanziert sich schon nach kaum mehr als
einem Jahr auf klar erkennbare Art. (Ebd., 2002, S. 329-330).Es
gibt eine noch tiefere Entsprechung, welche die Verwendung des »und«
rechtfertigt, und darauf werde ich zum Schluß zu sprechen kommen. Zunächst
ist die Frage aufzuwerfen, ob Heideggers Aussagen über das Wesen der Kunst
und weiterhin jene philosophischen Konzepte, die ich zu Beginn umrissen habe,
für die Interpretation von Werken Jawlenskys dienlich sein können. Vorgreifend
ist festzustellen, daß jene »welthafte« Deutung Heideggers,
als deren Beispiel er den griechischen Tempel wählte, für die Malerei
nur dann zutreffend sein kann, wenn es sich um Altarbilder und Ähnliches
handelt. Aber auch seine Auslegung des Gemäldes von van Gogh war »welthaft«.
Für Jawlenskys Selbstverständnis wiederum überschritt die Kunst
von Anfang an und notwendigerweise die Sphäre des isolierten Gemäldes
und der isolierten Skulptur. Von seinem ersten Besuch in der Tretjakov-Galerie
schreibt er: »Das war für mich ein großes Erlebnis. Ich war wie
in einem Tempel«, und während der Arbeit an den »mystischen Köpfen«
äußerte er sich folgendermaßen: »Meiner Ansicht nach ist
das Gesicht nicht bloß das Gesicht, sondern der ganze Kosmos. Im Gesicht
offenbart sich das Universum.« (Ebd., 2002, S. 330).Unter
kunsthistorischen Aspekten brauche ich über das Werk Jawlenskys nichts zu
sagen - nichts zum Ausgangspunkt der russischen Schule der »Wanderer«
um Ilja Repin, nichts über seine Beziehung zu Marianne von Weretkin oder
über die Vorgeschichte des Blauen Reiters, nichts über die Entwicklung
der abstrakten Malerei in den Spuren von und in Parallele zu Wassilij Kandinsky,
nichts über die »Heilandsgesichter« und das Spätwerk, auf
das ich im nächsten Schritt allerdings noch näher eingehen werde. All
das ist in diesem Kreise offenbar im reichsten Maße geschehen, und ich würde
nur Eulen nach Athen tragen. Ich wähle vielmehr einige wenige Werke Jawlenskys
aus und suche die Begriffe Heideggers bzw. genereller der Philosophie der Kunst
auf sie anzuwenden. (Ebd., 2002, S. 330).Das frühe Porträt
»Anjuta« von 1893 kann noch als »imitatio naturae« gelten;
es unterscheidet sich nicht grundsätzlich, wenngleich in der größeren
Sparsamkeit des Beiwerks, von Repins Porträts des Grafen Iwan Tarxanov oder
der Gräfin Natalia Golovina der Jahre 1892 bzw. 1896. »Helene im spanischen
Kostüm« von 1901 betont durch den langen roten Rock und den roten Schal
die Farbe in ungewöhnlichem Ausmaße, während die Gesichtszüge
ein wenig verschwimmen und die großen Augen besonders hervortreten.
(Ebd., 2002, S. 330-331).Das Landschaftsbild »Bei Ansbaki«
von 1902 ist schon kein Abbild, keine Schilderung mehr, aber der Himmel, die große
Wiese und der Rand des Kornfelds im Vordergrund weisen die natürlichen Farben
Blau, Grün und Braun auf, es kommt offenbar nicht auf »diese«
Landschaft an, sondern auf Landschaft überhaupt in ihrem Anderssein gegenüber
allem Menschlichen und insbesondere der Stadt. Das Allgemeine wird im Konkreten
wahrnehmbar, platonisch gesprochen: die Idee, das Urbild, zeigt sich mit ten im
Seienden als ein Seiendes, das ganz anders ist, als die geglückteste Farbphotographie
es darzustellen vermöchte. (Ebd., 2002, S. 331).Im »Gelben
Klang (Murnauer Sonnenuntergang)« von 1909 sind Bäume und Dächer
höchstens andeutungsweise wahrzunehmen, die Farben stimmen mit den vorstellbaren
Dingen der Natur und der Architektur nur teilweise überein, es handelt sich
um ein Fest der Farben, so etwa könnte die Murnauer Landschaft, ja die Erde
im ganzen für ein Wesen aussehen, das die Farbigkeit der Welt viel besser
wahrnehmen würde als ihre Figuration und als die Fülle ihrer Einzelheiten.
Gewiß liegt eine Abstraktion vor, aber eine Abstraktion hin zum Wesentlichen,
genauer: zu einem Wesentlichen, eben der Farbigkeit. (Ebd., 2002, S. 331).Völlig
anders als das Porträt der »Anjuta« ist das Bild der buckligen
Frau von 1911. In dem verbogenen, vollständig in Rot gehaltenen Oberkörper
und in der Traurigkeit der großen Augen kommt das ganze Leid der Menschheit
zum Vorschein, kein schreiendes und häßliches, sich in den Vordergrund
drängendes Leid, sondern die Ergebung in den übermächtigen Lauf
der Welt, der das Leid und das Unnormale ebenso hervorbringt wie die Freude und
das Gesunde. Man kann dieses Bild lange betrachten, und man erschöpft es
nicht, obwohl nur wenig an auffallenden Details aufzuweisen ist, etwa die großen
roten Flecken auf dem Gesicht und die unnatürliche Mischung von Blau mit
Schwarz in den Haaren. (Ebd., 2002, S. 331).Noch mehr stilisiert
und vereinfacht ist »La Cocotte« von 1912. Nur zwei senkrechte parallele
Striche deuten die Nase an, und stärker betont sind die nach unten offenen
Dreiecke der Augenbrauen, die dunklen Schlitze der schräg gestellten Augen
und vor allem die vollen, aber nicht eigentlich sinnlich wirkenden Lippen. Nicht
das Voluptuöse der Dirnenhaftigkeit tritt hervor, sondern die zugleich überlegene
und verzweifelte Distanz zu den Liebhabern, die sowohl ausgenützt wie geringgeschätzt
werden. EIN Kennzeichen der runden Realität ist herausgegriffen, aber ein
meist wenig beachtetes und gleichwohl wesenhaftes. (Ebd., 2002, S. 331-332).Abstraktion
und Stilisierung gelangen zu einem frühen Höhepunkt in »Abstrakter
Kopf: Urform« von 1918. »Urform« erinnert nicht zufällig
an »Urbild«, aber dieses Urbild schließt alles aus, was leicht
erkennbar ist, denn das zweite Auge ist nicht, wie das erste, kaum auch nur angedeutet;
die Nase ist nichts als ein schwarzer Strich und der Mund ein gelbschwarzer. Wenn
Gott nach Augustinus alles »nach Zahl und Maß« angeordnet hat,
könnte ihm ein solcher Kopf vorgeschwebt haben, dem alles Schwellende und
Blühende fehlt, das bei einer »imitatio naturae« wahrnehmbar
sein würde. Aber darf man sagen, in diesem Kunstwerk werde, um Romano Guardini
zu zitieren, »das Ganze des Daseins, das sonst nicht erkennbar ist, fühlbar«!
Indessen darf man, obwohl die Farben nur sparsam verwendet sind, vielleicht einen
Satz von Cézanne anführen, der einmal gesagt hat, weil die Farben
»aus den Wurzeln der Welt« aufstiegen, seien sie der Ort, »wo
unser Hirn und das Universum sich begegnen«. Noch unmittelbarer zutreffend
scheint dieser Satz angesichts der vielfältigen und rätselhaften, dennoch
weiterhin geometrisierten Farbigkeit eines Gemäldes von 1933 zu sein, das
den Titel »Abstrakter Kopf: Weltherrschaft« trägt. (Ebd.,
2002, S. 332).Ich schließe die Reihe zunächst mit dem
»Großen Stilleben« von 1937 ab: »Erinnerung an den Sommer«.
In diesen noch zu voller Kraft aufleuchtenden, nach einem Lieblingswort Jawlenskys
»glühenden« Farben waltet gleichwohl keine in sich ruhende Gegenwart,
sondern das bevorstehende Vergehen ist schon spürbar, und die Erinnerung
an den vergangenen Sommer wird wach: die drei Dimensionen der Zeit sind also versammelt,
und insofern ist die ganze Welt gegenwärtig. (Ebd., 2002, S. 332).Das
»und« in der Wendung »Heidegger und Jawlensky« kann mithin
so verstanden werden, daß die Anwendung Heideggerscher Konzeptionen und
Begriffe auf die Kunst Jawlenskys, d.h. ihre Kraft der Erschließung, gemeint
ist. Ich glaube, daß die immanente Frage zu bejahen ist, so sehr ich mir
des Unzureichenden meines eigenen Vermögens und meiner Kenntnisse bewußt
bin. Aber ich glaube, daß diesem »und« noch eine andere und
tiefere Bedeutung zugeschrieben werden kann, als sie in der Entsprechung gewisser
Lebensumstände und Überzeugungen aufgewiesen worden ist. (Ebd., 2002,
S. 332).In seinen Lebenserinnerungen erzählt Jawlensky von
einer Kindheitserfahrung, die ihn tief ergriffen habe. Als er neun Jahre alt war,
habe seine Mutter ihn in eine polnische Kirche nahe der preußischen Grenze
mitgenommen, »in der sich eine berühmte Ikone einer wundertätigen
Muttergottes befand .... Als wir kamen, war das Bild mit einem goldenen Vorhang
verhüllt. Auf dem Boden lagen viele Bauern und Bäuerinnen wie gekreuzigt
mit ausgestreckten Armen. Es war sehr still. Plötzlich zerrissen starke Posaunenklänge
die Stille. Ich erschrak schrecklich und sah, wie der goldene Vorhang zurückging
und die Muttergottes in goldenem Gewand erschien.« (Alexej von Jawlensky,
Lebenserinnerungen, S. 105). Offenbar hat Jawlensky diese frühe Erfahrung
nie vergessen und nie verleugnet; Ikonen scheinen ihm während seines ganzen
Lebens vorgeschwebt zu haben, und sie waren sicher mitgemeint, als er später
schrieb, er habe verstanden, daß Kunst nur mit religiösem Gefühl
gemacht werden solle, und von sich selbst sagte: »Meine russische Seele
war immer nahe der altrussischen Kunst«. Das großartigste Zeugnis
dessen sind seine spätesten Werke, die Reihe der »Meditationen«,
im Kampf gegen die voranschreitende Krankheit unter größten Anstrengungen
gemalt und von einfachstem Aufbau: mit dem großen dunklen Doppelkreuz als
Zentrum und mehrfarbigen Pinselstrichen, welche die Kennzeichen eines Gesichts
aufs sparsamste andeuten. Diese Gemälde sind das Gegenteil aller »imitatio«,
und wer vor der »Meditation« von 1934, die den Titel trägt »Ikonostase,
wo das Ewige Licht leuchtet«, nicht selbst zur Meditation hingezogen wird,
ist eines solchen Aktes nicht fähig. Jawlensky malte diese Bilder, wie glaubwürdig
berichtet wird, mit der Inbrunst der russischen Ikonenmaler. Und dennoch sind
sie keine Ikonen, denn nirgendwo ist die Gottesmutter und ist das Jesuskind auch
nur in Andeutungen erkennbar. Wenn es erlaubt ist, eine bekannte Definition abzuwandeln,
so könnte man sagen: Es ist altrussische Kunst, gesehen und umgestaltet durch
ein modernes Temperament. (Ebd., 2002, S. 332-333).Martin
Heidegger wuchs in der von Schlössern, Domen und Abteien geprägten Umwelt
auf, und in der Sankt Martinskirche zu Meßkirch, wo sein Vater der Küster
war, konnte er ein Kunstwerk sehen, das in einem durchsichtigen Sarg das Skelett
eines vor langer Zeit verstorbenen Ritters zeigte. Noch in seiner Habilitationsschrift
wollte er eine »Philosophie der verehrenden Gottinnigkeit« entwickeln.
Aber gegen Ende der 1920er Jahre galt der junge und schon weitbekannte Philosophieprofessor
als Verkörperung des nihilistischen Geistes der Weimarer Republik, und in
»Sein und Zeit« ist in der Tat an keiner Stelle von »Gott«
oder von »Religion« die Rede. Einer seiner Schüler erzählte
jedoch, daß Heidegger auch in jenen Jahren bei den gemeinsamen Wanderungen
jede Kapelle betrat, auf die man in der Schwarzwaldeinsamkeit traf und daß
er sich dort bekreuzigte. Auf die erstaunte Frage, weshalb er das tue, da er sich
doch nicht einmal einen »Christen« nenne, habe er geantwortet: in
diesen Kapellen sei die jahrhundertealte Frömmigkeit des Volkes so sehr spürbar,
daß er sich ihr nicht entziehen oder entgegenstellen wolle. Und in seiner
Spätphilosophie (**)
stachen bald jedem Leser zahlreiche Wendungen ins Auge, die einen »religiösen«
Charakter zu haben schienen, welcher sich manchmal sogar zum unverständlichen
»Raunen« steigerte. Freilich war der Ton nicht eigentlich christlich,
sondern eher griechisch-heidnisch. Ich führe nur ein einziges Beispiel an,
und zwar aus dem Aufsatz »Das Ding«. Hier heißt es: »Im
Wasser der Quelle weilt die Hochzeit von Himmel und Erde. .... Im Geschenk des
Gusses, der ein Trunk ist, weilen nach ihrer Weise die Sterblichen. Im Geschenk
des Gusses, der ein Trank ist, weilen nach ihrer Weise die Göttlichen. ....
Heute ist alles Anwesende gleich nah und gleich fern. Das Abstandlose herrscht.
Alles Verkürzen und Beseitigen der Entfernungen bringt jedoch keine Nähe.
.... Nähe waltet im Nähern als das Dingen des Dinges. Dingend verweilt
das Ding die einigen Vier, Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen,
in der Einfalt ihres aus sich her einigen Gevierts. .... Die Sterblichen sind
die Menschen. Sie heißen die Sterblichen, weil sie sterben können.
.... Der Tod ist als der Schrein des Nichts das Gebirg des Seins. ..Die Sterblichen.
..sind das wesende Verhältnis zum Sein als Sein.« (Martin Heidegger,
Das Ding, 1954, a.a.O., S. 163-181, hier: S. 171f., 176f.). (Ebd.,
2002, S. 333-334).Das ist keine christliche Philosophie der verehrenden
Gottinnigkeit, und doch stehen ihr diese rätselhaften, vielleicht bloß
raunenden, für viele moderne Menschen geradezu abstoßenden Sätze
weitaus näher als den schwierigen, aber im Grunde wasserklaren Überlegungen
der analytischen Philosophie oder den hypothetischen Erwägungen der Kosmologie.
(Ebd., 2002, S. 334).Jawlensky und Heidegger waren beide Söhne
»Alteuropas« (zu
»Alteuropa« gehört nur Heidegger, während Jawlensky m.E.
noch nicht einmal zu »Europa«, sondern zu »Rußland«
gehört; Anm. HB): der griechisch-russischen Orthodoxie der eine und
des römisch-lateinischen Katholizismus der andere. Beide entfernten sich
von ihren Ursprüngen und galten für eine Zeitlang als bedeutende Vorkämpfer
der säkularisierten Moderne. Beide näherten sich im Alter diesen Anfängen
wieder, ohne zu ihnen zurückzukehren. Aus Nähe und Distanz schufen sie
ein unverwechselbares Spätwerk, das für viele Menschen wie kaum etwas
anderes erhellend und für viele andere bis zur Erbitterung anstößig
ist. Diese ihre Ähnlichkeit schließt bedeutende Unterschiede nicht
aus, etwa den Unterschied zwischen dem weltberühmten Philosophen und dem
nur im Kreise der Kunstliebhaber bekannten Maler. Sie reicht nicht einmal zur
Individuierung aus, denn andere Denker und andere Maler schlugen einen immerhin
vergleichbaren Weg ein. Aber sie ruft die Frage hervor, ob die Welt, in der wir
leben, nicht in aller Wasserklarheit viel trüber wäre, wenn nur scharfsinnig-fortschrittliche
Philosophen und lediglich »gesellschaftlich nützliche« Künstler
in ihr lebten oder gelebt hätten. Und sie macht das »und« legitim,
das in diesem Vortrag Philosophie und Kunst, Heidegger und Jawlensky sowohl miteinander
verbinden wie voneinander trennen sollte. (Ebd., 2002, S. 334-335).DANKREDEN
UND ARTIKEL
Nationalbewußtsein und Europabewußtsein(Dankrede
zur Verleihung des Preises des Tosón d'oro in Vasto am 05.07.1997)Erst
viel später wurde mir der Begriff des »Liberalen
Systems« geläufíg, welches in seinem Ursprung das »europäische
System« des Neben- und Miteinanders geschichtlicher Kräfte ist, die
zunächst den Gegner vernichten wollen und sich doch damit begnügen müssen,
ihn zu schwächen und zurückzudrängen, um dann an seiner Seite einen
Platz einzunehmen, der den eigenen Erwartungen nicht entsprach, der aber das Ganze
reicher und vielfältiger sein läßt, als der Teil es mit seinem
Abolutheitsanspruch je hätte sein können. So erging es dem Protestantismus,
der Aufklärung, dem Positivismus und der Lebensphilosophie, und schon in
der Einheit des »mittelalterlichen« Katholizismus gab es eine Spaltung
oder - besser - eine Differenzierung zwischen Staat und Kirche, zwischen Monarchie
und Adel, zwischen Bürgerstädten und Landbevölkerung. Bis in die
jüngste Zeit ist keiner dieser Faktoren völlig untergegangen ....
(Ebd., 2002, S. 340-341).Der Okzident, so erklären Vorkämpfer
der Dritten Welt oder auch des islamischen Fundamentalismus, führe seit Kolumbus,
ja seit den Kreuzzügen einen Eroberungskampf gegen den Rest der Welt, die
er ausgebeutet habe und heute weiterhin ausbeute; der Fanatismus jüdischer
Priester, so kann man bei radikalen Feministinnen und übrigens schon bei
Voltaire und den französischen Blanquisten des 19. Jahrhunderts lesen, habe
einen Ausrottungskampfgegen die Kanaaniter und deren lebensfreudige, nicht-asketische
Religion in Gang gesetzt, die englischen Puritaner hätten die verhängsnisvolle
Idee des »auserwählen Volkes« aus dem Alten Testament übernommen
und die eingeborene Bevölkerung Nordamerikas nicht minder gnadenlos vernichtet,
als es die spanischen Konquistadoren in Südamerika getan hätten, am
»Megaholocaust« des Sklavenhandels hätten gerade Juden einen
großen Anteil gehabt und heute seien Israelis, größtenteils Osteuropäer
ihrer Herkunft nach, wie einst ihre Vorväter unter Josua, die entschlossenen
Verfechter von Eroberung und Vertreibung. (Ebd., 2002, S. 343-344).Es
wäre keine größere Ungerechtigkeit, kein schlimmeres Unglück
vorstellbar, als ... wenn überall die Weltzivilisation der »Nachgeschichte«
im Hochgefühl ihres Triumphes alles fortstieße, was sie für »antimodern«
oder »archaisch« erklärt. (Ebd., 2002, S. 344).Die
Geschichte des europäischen Adels ist voll von Persönlichkeiten, denen
gegenüber die Politiker der Gegenwart als dürftige Figuren erscheinen
.... (Ebd., 2002, S. 344).Und wo wären jene Kritiker,
wenn es diesen Okzident im ganzen nicht gegeben hätte, der so etwas wie Kritik
und Selbstkritik, ja auch Weltgeschichte überhaupt erst ins Dasein gerufen
hat? (Ebd., 2002, S. 345).Der Versuch, Grenzen zu überschreiten,
war und ist ein Kennzeichen von Europa selbst. Auch der Nationalsozialismus machte
einen solchen Versuch der Grenzüberschreitung zum eigenen Vorteil, und darin
ist das Aufbegehren eines Teils gegen das Ganze zu sehen. Dennoch verkörperte
der Nationalsozialismus insofern ein historisches Recht, als er der wohlmeinenden
Wahnidee des Bolschewismus, durch eine staatliche Planwirtschaft die Welt von
dem bösen Prinzip des Privateigentums zu reinigen und die »schuldigen
Klassen« zu vernichten, 1933 in Deutschland eine nie verwundene Niederlage
beibrachte und 1941 von der möglichkeit stand, den Menschen und Völkern
eines despotischen Imperiums die Freiheit zu verschaffen, die über ein halbes
Jahrhundert später immerhin im Ansatz zur Wirklichkeit wurde. (Ebd.,
2002, S. 345).Die Deutschen können so wenig ein ungebrochenes,
ein naives Nationalbewußtsein zurückgewinnen, wie die Europäer
zu eine Europabewußtsein gelangen können, das die antiokzidentale Kritik
nur negiert hätte, Aber sie dürfen und müssen sich dagegen zur
Wehr setzen, daß ihr Nationalbewußtsein statt einer tiefgehenden Wandlung
der vollständigen Zerstörung unterliegt. Das gleiche gilt für das
Europabewußtsein der Europäer, das vielleicht erst dann wieder an Kraft
gewinnen kann, wenn Europa nicht mehr im Sog einer us-amerikanischen Weltherrschaft
mitschwimmt, sondern bedrängt wird und sich unter Anstrengung behaupten muß.
(Ebd., 2002, S. 345-346).Die Gleichförmigkeit, die sich heute
ausbreitet und die auch diejenigen zu erschrecken vermag, welche durch ihren Widerstand
gegen den Bolschewismus und den Nationalsozialismus migeholfen haben, ihr den
Weg zu bereiten, trägt den Namen »Globalisierung« und ist (die
abendländische Geschichte selbst; Anm. HB) eine Wirklichkeit, die
aus der europäischen Geschichte hervorgegangen ist und doch für Europa
gefährlicher sein könnte als alle Kritik von Antiimperialisten und Feministinnen.
Die Göttin dieser neuen Wirklichkeit heißt »der Weltmarkt«,
und man könnte sie auch ... die »liberale Revolution« nennen.
Ihre Tendenz geht dahin, aus Staatsbürgern und Angehörigen bestimmter
Kulturen bloße Individuen zu machen (**),
die in dem Streben nach Lust und Wohlergehen miteinander konkurrieren .... Unweigerlich
gibt es in diesem Ringen »Verlierer« und »Gewinner« ....
Wenn der Kommunismus sich von jener Wahnidee befreit hat, er könne die Masse
der Verlierer zu Siegern machen, indem er den Markt abschaffe, wenn er also einsieht,
daß ohne Markt und gegen den Markt bloß die Fortschritte einer quasi-militärischen
Mobilisierung zu erzielen sind, dann kann er sich von seiner gewalttätigen
Realisierung im Jahre 1917 lösen und zum Helfer und Beschützer der »Verlierer«
werden, wie es der ursprünglichen Intention jeder »Linken« entspricht.
Für eine solche Hilfe ist indessen der Nationalstaat unentbehrlich, und als
neue Linkspartei werden die Kommunisten und ihre Verbündeten »National-Sozialisten«
sein müssen, aber National-Sozialisten mit einem Bindestrich zur Unterscheidung
von dem historischen Phänomen des deutschen Nationalsozialismus, der in Wahrheit
ein aggressiver und antijüdischer Nationalexpansionismus und insofern ein
Radikalfaschismus war. Dann wäre der National-Sozialismus zum Bestandteil
des Systems geworden wie ebenfalls der Kommunismus und wie einst der Protestantismus,
und nicht zum Nachteil des Systems. (Ebd., 2002, S. 346-347).Aber
nicht nur die Nationen und vornehmlich die »Verlierer« innerhalb der
Nationen bedürfen des Schutzes gegen die bloß formell regulierte Übermacht
des Weltmarktes als des unendlich bewegten Wechselspiels höchst ungleichgewichtiger
Egoismen kollektiver und individueller Natur, sondern auch die Kulturen. So gewiß
sie über zähe Lebenskräfte verfügen, so gewiß ist ihre
Existenz nicht ohne das Engagement von Menschen zu sichern, die von jenem Kulturbewußtsein
erfüllt sind, zu dessen Erscheinungsformen auch das Europabewußtsein
gehört. Es kann sich nirgendwo gegen die Globalisierung und das Bewußtsein
der einen Welt und der einen Menschheit behaupten, sondern es gewinnt sein unveräußerliches
Recht heute erst dann, wenn es Globalisierung und Weltbewußtsein zu einer
selbstverständlichen, aber in sich selbst nicht genügenden Basis macht.
Nur jene Gruppen, die jenseits dieser »Basis«, welche eigentlich ein
Resultat ist, den » Überbau« einer eigenständigen Kultur
aufrechtzuerhalten und fortzuentwickeln mögen, dürfen im vollen Sinne
»menschlich« heißen. (Ebd., 2002, S. 347).Lassen
Sie mich mit einer metaphorischen Wendung zum Schluß kommen, die, nachdem
so viel an Kritik wiedergegeben worden ist, einen nun wohl erlaubten Schritt in
die Gegenrichtung tun: Eine amerikanische Bekannte sagte einmal zu mir: »Ich
reise jedes Jahr nach Europa; denn Europa ist das Juwel der Welt«. Wir müssen
uns darüber im klaren sein, daß es sich um ein Juwel besonderer Art
handelt, nicht um ein leuchtendes Ding, sondern um einen vielfältigen Prozeß,
zu dem auch nicht wenig an Tadelnswertem, ja Schrecklichem gehört, der aber
eine ganz außerordentliche Fülle von herrlichen und zeitüberdauernden
Vergegenständlichungen hervorgebracht hat. Wie sollten wir diesen einzigartigen
Vorgang leugnen dürfen zugunsten eines Prozesses, der weiter nichts als ein
Prozeß und möglicherweise in letzter Konsequenz todbringend ist, weil
er die Natur außerhalb des Menschen und innerhalb des Menschen selbst angreift
und tendenziell zerstört. Da das Goldene Vlies als das Symbol für den,
wie man sagen könnte, europäischen Juwelprozeß angesehen werden
darf, in den wir uns hineinstellen und den wir gegen unberechtigte Angriffe verteidigen
wollen, ist es für mich eine große Freude und eine hohe Ehre, diesen
Preis entgegenzunehmen. (Ebd., 2002, S. 347-348).
Konrad-Adenauer-Preis 2000 für Wissenschaft(Dankrede
zur Verleihung des Preises des Konrad-Adenauer-Preises für Wissenschaft der
Deutschland-Stiftung in München am 04.06.2000)Die
Deutschland-Stiftung gibt mit der Verleihung des Konrad-Adenauer-Preises für
Wissenschaft zu erkennen, daß sie die Urteile von Marcel Reich-Ranicki und
Jürgen Habermas für falsch und mindestens für einseitig hält.
Sie legt mithin den außergewöhnlichen Mut an den tag, von der Hauptströmung
des gegenwärtigen intellektuellen Lebens in Deutschland abzuweichen und denjenigen
Historiker zu ehren, der durch das einmutige Zusammenwirken von nahezu allen Trägern
dieser Strömung aus dem öffentlichen Leben Deutschlands entfernt und
zu einer »Unperson« gemacht worden ist. Dafür gebührt ihr
Respekt und Dank. Ich muß aber vor allem begründen, weshalb ich das
Urteil der Stiftung für richtig halte, und ich muß darlegen, worin
ich den Kern der Differenz sehe, die zu persönlichen Animositäten keinen
Anlaß geben sollte. (Ebd., 2002, S. 350).Von meiner
Familientradition her stand ich einem abweichenden Konzept ... nahe, nämlich
dem katholisch-großdeutschen, wie es etwa im Bismarck-Reich von Konstantin
Frantz, ... von Friedrich Wilhelm Foerster und in der Gegenwart der entstehenden
Bundesrepublik von Franz Schnabel repräsentiert wurde. (Ebd., 2002,
S. 350).Ich ... konnte ... mich nicht mehr ... der Einsicht verschließen,
daß die KPdSU die früheste und stärkste Vernichtungsorganisation
des 20. Jahrhunderts war und das die antionalsozialistische Partei eine spätere
und weniger umfassende Entsprechung darstellte .... heute kann sich auch der entschiedenste
»Linksintellektuelle« aus den Erinnerungen von Lew Kopelew leicht
ein Bild davon machen, was die früheste »Säuberungsideologie«
des 20. Jahrhunderts war und was für grauenhafte Handlungen die Akteure mit
gutem Gewissen begehen mochten. Jedenfalls muß allen, die sich in die frühen
Äußerungen Hitlers und seiner nächsten Gefolgsleute über
den Bolschewismus vertiefen - über die »Blutdiktatur in Rußland«,
die »Schlachthäuser der Tscheka«, die »Ausrottung der nationalen
Intelligenz«, den »Massenmörder Lenin« - der Eindruck sich
aufdrängen, daß die späteren Massenmörder von Empörung,
Angst und Erbitterung im Hinblick auf frühere Massenmorde erfüllt waren
.... (Ebd., 2002, S. 351-352).Gewiß war die »kollektivistische
Schuldzuschreibung«, welche die Nationalsozialisten vornahmen, ganz verfehlt
und die durchsichtige Umkehrung jener dialektischen Schuldzuschreibung, die der
Marxismus gegenüber dem »kapitalistischen System« und »den
Kapitalisten« vorgenommen hatte. Aber in meienn Augen verweigert man dem
Judentum die Ehre, die ihm zusteht, wenn man nicht wenigstens darüber nachzudenken
bereit ist, ob der nationalsozialistische »Antisemitismus« sich in
seinem »rationalen«, nachvollziehbaren Kern nicht letzten Endes gegen
dasjenige richtete, was für Ludwig Klages »der Geist als Widersacher
der Seele« war und was man auch die »Intellektualisierung« als
Grundzug der Geschichte nennen könnte. (Ebd., 2002, S. 352-353)....
Konzeption des »europäischen Bürgerkrieges« und des ihn
ablösenden »Weltbürgerkrieges« bis 1989/'91. Man könnte
sie das siebente der Paradigmen zur Interpretation des 20. Jahrhunderts nennen
- neben dem (1) positiven »germanozentrischen«,
dem (2) negativen »germanozentrischen«,
dem (3) marxistischen, dem (4)
progressivistischen, dem (5) jüdischen und demjenigen
der (6) strukturellen Totalitarismuskonzeption. Durch
seine Mehr-Seitigkeit, die im Hinblick auf die Weltkriegsepoche vorwiegend Zwei-Seitigkeit
bedeutet, steht dieses Paradigma, die (7) historisch-genetische
Version des Totalitarismuskonzepts, dem negativ-»germanozentrischen«
und dessen nachdrücklich bejahter Einseitigkeit am stärksten gegenüber,
obwohl eine Ursprungsähnlichkeit nicht zu verkennen ist. (Ebd., 2002,
S. 353).Das negativ-»germanozentrische«
Paradigma (**)
entwickelte sich seit etwa 1968 genau in die Gegenrichtung, und es verschmolz
weitgehend mit dem jüdischen (**)
...; es tendierte immer mehr dazu, »Einzigartigkeit« als »Einzigkeit«
oder als eine Art »Schwarzes Loch« zu verstehen, daß allen Begreifenwollen
entzogen sei; es bildete sogar eine Quasi-Religion vom »absoluten Bösen«
aus (es ist geanu das, was die Nationalsozialisten auch
intendierten: der Versuch zur Etablierung einer Neu-Religion - in anderen Worten:
die Vertreter des negativ-»germanozentrischen« und des jüdischen
Paradigamas vollenden Hitlers Projekt [abartig!]; Anm. HB), die ... gegenwärtig
dabei ist, sich zu univeralisieren und den ganzen Okzident, ja »die bisherige
Geschichte« statt bloß den Nationalsozialismus zum Angriffspunkt zu
machen. (Ebd., 2002, S. 353-354).Auch in diesem Angriff gibt
es indessen einen »rationalen Kern«, nämlich die Erfahrung des
unaufhaltsamen Übergangs zur »Weltzivilisation«, der aber um
vieles komplizierter und konfliktreicher ist, als seine Ideologen es sich vorstellen,
denn der Mensch ist nicht nur ein entgrenzendes, sondern auch ein Grenzen setzendes
Wesen. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, daß die Menschheit sich
am Ende des 21. Jahrhunderts (oder später; Anm. HB)
auf eine Quasi-Religion geeinigt haben wird, in welcher der deutsche Nationalsozialismus
den Teufel und sie selbst den Gott oder den Götterhimmel spielt, obwohl es
sich dabei um ein (exaktes!) Gegenbild zu der Hitlerschen
Quasi-Religion handeln würde. (Ebd., 2002, S. 354).Ich
setze indessen genug Vertrauen in die Vernunft, um es für wahrscheinlicher
zu halten, daß die historisch-genetische Version der Totalitarismustheorie
(**|**)
sich auf längere Sicht durchsetzen wird, da sie schon heute mit den künftigen
Generationen die Distanz teilt, welche die Voraussetzung von Wissenschaft ist.
(Ebd., 2002, S. 354).Ich breche ab, indem ish feststelle, daß
die Entwicklung einer neuartigen, ungwohnten und als anstößig ampfundenen
Interpretationsweise zweifellos in den Bereich der Wissenschaft, wenn auch nicht
in denjenigen der fachhistorischen Forschung gehört und daß das gleiche
für die Charakterisierung anderer Paradigmen sowie für die Richigstellung
unberechtigter oder überspitzter Vorwürfe zutrifft. Aber es ist nicht
unwissenschaftlich, wenn in diesem Zusammenhang auch praktische Postulate formuliert
werden. Ich umreiße deren drei:1. | Die
»kollektivistische Schuldzuschreibung«, welche ein Hauptkennzeichen
des Nationalsozialismus war und dessen dauerhafteste - heute primnär gegen
»Deutschland« gerichtete - Erbschaft ist, muß überwunden
werden. | 2. | Wir
sollten die Auffassung hinter uns lassen, daß immer das Ggenteil des vom
Nationalsozialismus Erstrebten gut und richtig ist, denn auch eine im Ursprung
völlig legitime Feindseligkeit kann innere Abhängigkeit zur Folge haben
(des negativ-»germanozentrischen« und des jüdischen
Paradigamas ja beweisen [**];
Anm. HB), und innere Abhängigkeit verschließt alle eigenen Wege. | 3. | Das
geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin bedeutet nicht nur die Monumentalisierung,
sondern tendeziell auch die Äternisierung der Ein-Seitigkeit, welche der
negativ-»germanozentrischen« Interpretation (**)
innewohnt. Niemand hat je behauptet, daß sein Bau auf einer Mehrheitsmeinung
der deutschen Nation beruht, er ist vielmehr das Werk einer selbsternannten »...
Minderheit«. .... Einschränkung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit
... | Niemand kann aber einzelne Deutsche und möglicherweise
sogar eine Mehrzahl von nachdenklichen Deutschen und gleichgesinnten Ausländern
daran hindern, gerade in dem Bewußtsein, daß eine »totale Erinnerung«
ebenso widermenschlich ist wie ein »totales Vergessen«, die einseitige
Erinnerung zu erweitern und das mahnmal ao anzusehen, als wäre es »allen
Opfern ... des 20. Jahrhunderts« gewidmet und nicht zuletzt jenen Opfern,
die am meisten vergessen und ohne Freunde sind. (Ebd., 2002, S. 353-354)
Die Rechte im Zusammenhang(Von
der FAZ erbetener und angenommener, jedoch nicht gedruckter Artikel vom Sommer
1994)Die
Linke (aber nur als »Partei«! Anm. HB)
ist also älter als die Rechte (aber nur als »Partei«!
Anm. HB), und die Differenzierung der Rechten nimmt von derjenigen der
Linken ihren Ausgang (das gilt selbstverständlich nur
dann, wenn man beide als »Parteien« ansieht! Anm. HB [**|**]).
Rousseau ist nicht bloß der Zeit nach früher als de Maistre.
(Ebd., 2002, S. 356).Der sowjetische Kommunismus war dann mit seiner
strikten Disziplin und klaren Hierarchie die am meisten rechte der linken Parteien,
und der deutsche Nationalsozialismus stand zu einem Teil in der Nachfolge des
demokratischen Radikalismus der Zeit des Vormärz, so daß er die Rechtspartei
mit den meisten linken Zügen war. (Ebd., 2002, S. 357).Durch
den Zusammenbruch des Kommunismus ... erhielt die Totalitarismustheorie aus der
nun endlich offen hervortretenden Erfahrung von Intellektuellen und einfachen
Menschen eine überwältigende Bestätigung. Ihre historisch-genetische
Version (**|**)
stellt den Zusammenhang heraus, der auch die deutsche Geschichte in ein neues
Licht rückt, indem sie gleichsam das Schemaa der strukturanalytischen, der
»klassischen« Version (**)
in Bewegung bringt. Sie bedeutet keine moralische Relativierung, sondern eine
historische Relationierung. Sie ist auch keineswegs revisionistisch, sondern integristisch,
d.h. sie kann mit einigen Maßnahmen die »etablierte« Auffassung
... in sich aufnehmen, weil sie ein Bild von dem ideologischen Bürgerkrieg
der staatlich verselbständigten Momente des Liberalen
Systems zeichnet und dabei weder Unterschiede noch Verwurzelungen noch die
Rolle der »westlichen Demokratien« übersieht. Sie legt allerdings
die politische Folgerung nahe, daß die einst verselbständigten Extreme
nach genuiner Verarbeitung der Erfahrungen des Jahrhunderts wieder in das System
eingefügt werden sollen. (Ebd., 2002, S. 360).
Die Rechte und die Linke im »Liberalen System«(Von
der Welt erbetener und angenommener, jedoch nicht gedruckter Artikel
vom Sommer 2000)In
einem ganz weiten Sinne ist schon jenes Aufbegehren eine Linke zu nennen, das
in dem Aufruf des Thersistes zur Meuterei in der Ilias, in zahlreichen Wendungen
der israelitischen Propheten und in der Aussage eines altägyptischen Arbeiters
zum Vorschein kommt: »Der Wesir (Tjati)
soll die Bretter selber tragen«. Über die Sklavenaufstände im
Römischen Imperium und mittelalterliche Ketzerbewegungen geht dieses Aufbegehren
(**) .... (Ebd., 2002,
S. 361).Als politische Gruppierung mit fest
umrissenem Programm und damit als Linke im eigentlichen Sinne tritt ein solches
Aufbegehren erst mit der französischen Revolution ins Dasein, und zwar in
Gestalt des radikalen Flügels der Jakobiner. Aber während bis dahin
jedes Aufbegehren gegen »die Verhältnisse« von den Repräsentanten
dieser Verhältnisse, nämlich »den Herrschenden«, mit großer
Energie niedergeschlagen wurde, entstehen nun aus der Gesellschaft selbst Gruppierungen
und Tendenzen, die den (Adels-)Staaten Schwäche bei der Bekämpfung der
Jakobiner vorwerfen und sich selbst als Anti-Jakobiner oder Antirevolutionäre
bezeichnen. Sie bilden die früheste »Rechte«. (**)
.... Die französische Rechte macht sich schon bald den Begriff der »Nation«
zu eigen, der eine Erfindung der Linken zu sein schien .... (Ebd., 2002,
S. 361-362).Der ungeheure, zumal für linke
Zeitgenossen niederschmetternde Eindruck, den der Nationalsozialismus machte,
beruhte nicht zuletzt darauf, daß er die am meisten links stehende der rechten
Parteien war, die revolutionärste Gestalt der Gegenrevolution, welche es
bis dahin gegeben hatte: schroff national und doch als Rassenlehre tendenziell
international, »Führerstaat« und »Volksgemeinschaft«
in einem, von einem »Antisemitismus« geprägt, der fast ebenso
viele linke wie rechte Züge aufwies. (Ebd., 2002, S. 362).Sein
Hauptfeind wiederum, der in Rußland siegreiche Kommunismus, war offenbar
die am meisten rechte der linken Parteien: internationalistisch, aber in schroff
abgeschlossener Staatlichkeit (also tendenziell eher nationalistisch!
Anm. HB); »demokratisch«, aber schon seit Lenin dem nahezu
allmächtigen Parteiführer untergeordnet (also
diktatorisch, ein »Führerstaat«, tyrrannisch! Anm. HB);
marxistisch und antimarxistisch zugleich. (Ebd., 2002, S. 362).Der
ideologische, nationenübergreifende Bürgerkrieg zwischen der in Deutschland
zur Alleinherrschaft gelangten Rechten, die in den Augen des Fürsten Metternich
eine Linkspartei gewesen wäre, und der in Rußland auf totalitäte
Weise herrschenden Linken, die nach dem Urteil Bakunins eine Rechtspartei gewesen
wäre, war das wichtigste Kennzeichen der Epoche. (Ebd., 2002, S. 362).Daß
man heute zum »Kampf gegen rechts« aufruft und sich nicht mit der
Forderung begnügt, die Schutzpflicht des Staates gegenüber allen Einbwohnern
und Besuchern mit größerer Energie wahrzunehmen, ist in hohem Grade
verdächtig. .... Der systemgerechte Lösungsversuch ist das gerade Gegenteil
der in Vorschlag gebrachten Verbotsstrategie: das Wirken einer radikalen rechten
Partei - wie das in Italien bereits der Fall ist - als einen notwendigen Bestandteil
des vollständigen, des nicht-amputierten Parteienssystems anzuerkennen und
sie in Darstellung und Auseinandersetzung nicht anders zu behandeln als die radikale
Linkspartei. (Ebd., 2002, S. 364).
Warnung vor einem Gesetz für das Außergesetzliche(Originalfassung
des Artikels Ein Gesetz für das Außergesetzliche in der
FAZ vom 23.08.1994)In
totalitären Staaten ... sind auch die Meinungen strikt reguliert. (Ebd.,
2002, S. 370).Das Gesetz gegen die sogenannte »Auschwitz-Lüge«
bedroht eine Meinung mit Strafe, sobald sie geäußert wird, obwohl Äußerung
zum Begriff der Meinungsfreiheit hinzugehört. (**|**).
(Ebd., 2002, S. 371).Die Revisionisten weisen darauf hin, daß
das erste Geständnis des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß von
der britsichen Militärpolizei durch Folterungen erzwungen worden sei. ....
Die Aussage von Höß über seine Behandlung durch die Militärpolizei
ist glaubwürdig, und jedermann kann die betreffende Stelle in der von Martin
Broszat besorgten Ausgabe »Kommandant in Auschwitz« nachlesen.
(Ebd., 2002, S. 372).Es ist wirklich ein bemerkenswerter Umstand,
daß die Berichte von genuinen Augenzeugen der Vergasungen gering an Zahl
und unzuverlässig sind; wie ein sehr angesehener us-amerikanisch-jüdischer
Historiker geschrieben hat. Es bedeutet keine Geringschätzung der Leiden
der Opfer, wenn von Brandsachverständigen die Glaubwürdigkeit der Aussagen
von vielen zeugen bestritten wird, welche gesehen haben wollen, daß »meterhohe
Flammen« aus den kaminen der Krematorien herausgeschossen seien, denn Derartiges
stelle eine technische Unmöglichkeit dar. Es gibt einen Augenzeugenbericht,
in dem begauptet wird, in Treblinka seien viele Juden durch vergiftete Bonbons
getötet worden. Es wäre in der Tat wohl das erste Mal in der gesamten
Weltgeschichte, daß ein so viele Menschen aufs tiefste bewegende Ereignis
nicht phantasievolle Ausschmückungen, Legenden und Mythen nach sich gezogen
hätte. (Ebd., 2002, S. 373).Von Legenden und Phantasien
zum Kern des Wirklichen vorzudringen, ist von jeher die Aufgabe der Geschichtswissenschaft
gewesen, und sie kann sich von dieser Pflicht nicht freisprechen, weil Mitleid
mit den Opfern eine selbstverständliche Voraussetzung auch der wissenschaftlichen
Arbeit sein muß. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn aus der legitimen
Infragestellung einzelner oder sogar vieler Zeugenaussagen und Tätergeständnisse
auf die Nicht-Existenz jenes Kerns von Tatsachen geschlossen oder auch nur eine
allzu starke Reduzierung vorgenommen wird. Die leugnung dieses kerns ist unbegründbar,
aber auch sie sollte nicht einem Verbot unterliegen, denn Wissenschaft lebt nicht
zuletzt aus der freien Auseinandersetzung mit falschen Auffassungen und Theorien.
Viele Experten lehnen es allerdings ausdrücklich ab, die Schriften von radikalen
Revisionisten zur Kenntnis zu nehmen und wichtige Erinnerungen einer quellenkritischen
Prüfung zu unterziehen, aber damit verneinen sie diesen sonst allgemein anerkannten
Grundsatz. Der wesentliche Trennungsstrich muß zwischen rationaler Argumentation
auf der einen Seite und kenntnisloser Agitation auf der anderen gezogenw erden.
Nur die letztere sollte in das Gebiet des Strafrechts fallen. (Ebd., 2002,
S. 373).Aber das Gesetz dürfte sogar so verstanden werden,
daß auch die Infragestellung der Zahl von »sechs Millionen«
Opfern, die überwiegend in Gaskammern getötet worden seien, unzulässig
ist. Indessen kamen schon die jüdischen Verfasser von Standardwerken wie
Raul Hilberg und Gerald Reitlinger zu erheblich - wenngleich nicht essentiell
- abweichenden Zahlen. Bekanntlich wurde vor kurzem die Anzahl der in Auschwitz
Getöteten ganz offiziell von vier Millionen auf etwas mehr als eine Million
herabgesetzt, und ein Forscher der »etablieretn Schule«, Jean-Claude
Pressac nannte jüngst die Zahl von 630000 unregistrierten und in Gaskammern
getöteten Juden. Martin Broszat sprach von einer »symbolischen Zahl«,
und ein anderer Historiker schrieb Auschwitz kürzlich eine »mythische
Qualität« zu. Aber eine Wissenschaft, die sich Symbolen und Mythen
unterwirft, ist keine Wissenschaft, und daß auch die Tötung einer halebn
Million von schuldlosen und wehrlosen Menschen ... eine schreckliche ... Untat
darstellt, sollte nicht eigens hervorgehoben werden müssen. Die Frage nach
der Zahl der Opfer sollte nun endlich freigegeben und nicht von vornherein einem
Verdacht ausgesetzt werden. »Einzigartigkeit« freilich ließe
sich nur auf einem Denkweg aufweisen, der - wie der israelische Historiker Yehuda
Bauer vor einiger Zeit sagte - die »quasireligiöse Motivation«
Hitlers und seiner Leute in den Mittelpunkt stellt und den Verfasser dieser Zeilen
schon vor drei Jahrzehnten beschritten hat, allerdings ohne Verwendung dieses
Terminus. (Ebd., 2002, S. 373-374).Doch auch wer dem »Systematischen«
der »Endlösung«, den »Massentötungen in Gaskammern«
und der »Zahl von sechs Millionen« Opfern zwar nicht den Rang der
»offenkundigen Wahrheit« zuschreibt, wohl aber den höchsten Grad
der wahrscheinlichkeit, kann durch das Gesetz betroffen werden, zwar nicht durch
den unmittelbaren Wortlaut, wohl aber durch mögöiche Auslegungen, denn
»Leugnung« kann leicht mit so unklaren und ausdeutbaren Begriffen
wie »Normalisierung«, »Verharmlosung« und sogar »Antisemitismus«
(demnach wäre also der »Philosemitismus«,
genauer: der »Philojudaismus« das »Allerheiligste«, das
»Totem«, und der »Antisemitismus«, genauer: der »Antijudaismus«
das »Allerböseste«, das »Tabu«! Anm. HB) zusammengebracht
werden. (Ebd., 2002, S. 374).Wer der Auffassung ist, das
Unheil der Geschichte des 20. jahrhunderts habe nicht im Jahre 1933 begonnen,
sondern im Jahre 1917, weil zu diesem Zeitpunkt mit der russischen Oktoberrevolution
die tief emotionale und legitime Einsicht, daß der moderne Krieg dabei sei,
einen für die Existenz der ganzen Menschheit gefährlichen Grad der Zerstörungskraft
zu erreichen, von einem großen Staat und einer internationalen Bewegung
auf herausfordernde Art interpretiert und monopolisiert wurde, der sieht sich
dem Vorwurf ausgesetzt, eine »Normalisierung« des Nationalsozialismus
vorzunehmen. Das gleiche kann demjenigen widerfahren, der aus dem Studium der
Quellen zu der Überzeugung gelangt ist, daß die Endlösung gar
nicht möglich gewesen wäre, wenn die an Zahl schwachen Einsatzgruppen
der SS nicht sehr viel Unterstützung von seiten großer Teile der Bevölkerung
fast aller osteuropäischen Länder erhalten hätten. Dadurch könnte
nämlich der Begriff des »Tätervolkes« fragwürdig werden,
und möglicherweise würde den Vorkämpfern dieses Begriffs die Frage
gestellt werden, ob sie, die doch so entschieden gegen »das Vergessen«
kämpfen, etwa vergessen haben oder vergessen wollen, daß die Nationalsozialisten
vor und nach 1933 die Juden dem Sinne nach immer wieder als »Tätervolk«
anklagten. Das war eine objektiv falsche und generell unzulässige »kollektivistische
Schuldzuschreibung«, aber man bleibt in der Spur des Nationalsozialismus,
wenn man bloß die Richtung umkehrt. (Ebd., 2002, S. 374-375).Sobald
man den Begriff des Totalitarismus für wichtiger hält als den Namen
Nationalsozialismus bzw. den Begriff Faschismus, muß man von den Vernichtungsaktionen
und Todeslagern beider Regime sprechen und den Gulag neben Auschwitz stellen,
wenn auch nicht ohne Unterscheidungen. Für eine Autorin wie Hannah Arendt
war das ganz selbstverständlich. Aber eben dies gilt den »Antifaschisten«
heute vielfach als »Verharmlosung« des Nationalsozialismus, und man
zeigt sich durch die Tatsache wenig bewegt, daß man das meist überaus
qualvolle Sterben von Menschen (40 bis 100 Millionen in
der Zeit von 1917 bis 1989; vgl. Ernst Nolte, Streitpunkte,
1993, S. 345, 353f., 358. 363ff.; Anm. HB) in der Stalinschen Sowjetunion
für »harmlos« erklären muß. (Ebd., 2002, S.
375).Immer noch gilt die Auffassung als anstößig und
wohl gar als »antisemitisch«, daß die riesigen Aufwendungen
von us-amerikanischen Juden für Holocaust-Gedenkstätten überwiegend
dem Zweck einer Sicherung der eigenen Identität dienten, die sich durch das
religiöse Konzept der »Auserwähltheit durch Gott« nicht
mehr begründen lasse. Immerhin wird diese Auffassung inzwischen auch von
nicht ganz wenigen Juden vertreten. In der Konsequenz müßten sie für
große Wachsamkeit gegenüber der allgemeineren Gefahr einer »Instrumentalisierung
des Holocaust« plädieren. Sehr moralisch empfindende Menschen würden
wohl noch einen Schritt weitergehen und sagen, nichts sei menschlich verständlicher
und berechtigter, als nach der Erfahrung einer großen Verfolgung mit aller
Kraft am Wachhalten der Erinnerung und an der Existenzsicherung eines Staates
zu arbeiten, der künftige Verfolgung unmöglich mache. Aber eine Leistung
von höchstem ethischen Wert liege erst dann vor, wenn die Erinnerung an die
Verfolgung in der Vergangenheit in einen Kampf gegen die gegenwärtigen Verfolgungen
anderer Völker und Schichten und vor allem gegen die Fortsetzung eigenen
Unrechts transformiert würde. Gerade dieses Postulat einer vielleicht weltfremden
Ethik kann jedoch von Leuten, die sich auf das Konzept der »Instrumentalisierung«
nicht einlassen wollen, als »antisemitisch« oder mindestens als »antizionistisch«
angeklagt werden. (Ebd., 2002, S. 375-376).Diejenigen, die
die Singularität der Endlösung in einer Einmaligkeit der Greuel und
in der vollständigen Verworfenheit der Urheber sehen wollen, kämpfen
in Wahrheit für eine neue Quasi-Religion. Sie brauchen das Absolut-Böse
in der Vergangenheit, um anderes Böses in der Vergangenheit und der Gegenwart
nicht ernst nehmen zu müssen und doch in bestimmten Erscheinungen ein Wiederauftauchen
jenes Absolut-Bösen bekämpfen zu können. Nur dadurch gewinnen sie
das Empfinden, selbst die Protagonisten des Absolut-Guten zu sein. Die welthistorisch
wichtigste Gestalt eines solchen absoluten Anspruchs ist vor kurzem zerbrochen.
Die vornehmlich in Deutschland verbreitete Neben- und Spätform muß
in einer Welt immer randständiger werden, die vom »Normalen«
eines Ineinander von Gut und Böse geprägt ist. Aber noch ist ein solcher
»Antifaschismus« ein gefährlicher Gegner der Wissenschaft und
jenes außergesetzliochen Bereichs, dessen freie Existenz die liberaldemokratischen
Staaten gegenüber den totalitären und autoritären Staaten kennzeichnet.
Zu diesem Bereich gehören verkehrte Meinungen beensosehr wie falsche Theorien.
(Ebd., 2002, S. 376-377).Das Gesetz gegen die »Auschwitz-
Lüge« ... wird ... in seiner praktischen Auswirkung die vorhandenen
antiwissenschaftlichen Tendenzen stärken und bei entsprechender Auslegung
eine schwere Gefahr für die geistige Freiheit ... bedeuten. (Ebd.,
2002, S. 377).ANHANG
Rezension) François Furet: »Das
Ende der Illusion - Kommunismus im 20. Jahrhundert« (1995)Furet
hält an der Selbsteinschätzung des Kommunismus als der wichtigsten politischen
Kraft des 20. Jahrhunderts fest und ebenso an der Kennzeichnung des Faschismus
als spezifischer Reaktion; da er aber nur die historische Wirkungsmacht, nicht
jedoch den Wahrheitsanspruch des Kommunismus anerkennt, kann er die vollständige
Verwerfung dieser Reaktion nicht übernehmen. Weil der Kommunismus unrecht
hatte, das historische Recht zu beanspruchen, muß auch der eigentümlichen
Gegenbewegung ein historisches Recht zuzuschreiben sein: das begrenzte Recht »des
Partikularen gegen das Universale, des Volkes gegen die Klasse, des Nationalen
gegen das Internationale« (S. 43). Da aber der Glaube, daß der Kommunismus
den Universalismus in seiner Reinheit verkörpere, nichts anderes als eine
Illusion ist, steht der Faschismus, obwohl die zeitliche und inhaltliche »Priorität
des Bolschewismus« (S. 38) unbestreitbar ist, doch auf der gleichen Stufe,
nämlich als die »Pathologie des Nationalen«, die sich der »Pathologie
des Universalen« (S. 43) entgegenstellt. Wer das 20. Jahrhundert begreifen
will, der muß »die beiden großen Ideologien« ins Auge
fassen und »die Neuartigkeit der Revolutionen« dieser Epoche herausarbeiten;
sonst unterwirft er sich weiterhin trotz verbaler Vorbehalte jener Illusion, welche
die ältere und stärkere Ideologie des Jahrhunderts und doch nur ein
Teil seiner vollständigen Realität war - er bleibt Parteimann und wird
nicht zum Historiker, schon gar nicht zum Geschichtsdenker. (Ebd., 2002,
S. 389-390).Wenn Furets Buch auf seiner ersten und hervorstechendsten
Ebene eine von Anteilnahme und Sympathie getragene Selbstkritik der europäischen
Linken ist, so stellt es auf der zweiten und eigenartigeren Ebene nichts anders
als die Entfaltung einer historisch-genetischen Version der Totalitarismustheorie
dar, d.h. derjenigen Version, die sich nicht wie das »klassische«
Konzept auf die Herausstellung struktureller Übereinstimmungen von »Diktaturen«
oder »antiliberalen Unrechtsstaaten« konzentriert und auch nicht eine
gleichmäßige Subsumtion unter den Begriff der »Sozialreligion«
vornimmt, sondern die Priorität des Kommunismus und den Reaktionscharakter
des Faschismus herausarbeitet. Daher erscheint die Geschichte des 20. Jahrhunderts
diesem Denkversuch nicht als ein Kampf »der Guten« gegen »die
Bösen«, sondern als das Ringen zweier ideologisch »überschießender«
Mächte und damit als Tragödie. (Ebd., 2002, S. 390). |