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Revolutionen verändern an der Machtgliederung gar nichts!

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - nie kommt es durch Revolution zu diesen vermeintlichen Idealen!
Immer kommt es durch Revolution zu noch mehr Unfreiheit, Ungleichheit, Unbrüderlichkeit !
Nie kommt es durch Revolution zu einem wie auch immer gearteten Umsturz!
Immer kommt es durch Revolution lediglich zu einer veränderten Semantik!
Nie kommt es durch Revolution zu einer Umkehrung von oben und unten!
Immer kommt es durch Revolution nur zu einem veränderten Personal!
Nie kommt es durch Revolution zu besseren materiellen Bedingungen!
Immer kommt es durch Revolution zu schlechteren Bedingungen!

Peter Sloterdijk

Thymotische Revolution

- „Wenn eine Revolution nicht genügt
- „Das Epochenprojekt: Den Thymos der Erniedrigten erregen
- „Theorielose Empörung oder: der Augenblick der Anarchie
- „Klassenbewußtsein: Die Thymotisierung des Proletariats
- „Zum Auftauchen des nicht-monetären Bankwesens
- „Komintern: Die Weltbank des Zorns
- „Zornbeschaffung durch Krieganleihen
- „Der Maoismus: Zur Psychopolitik des reinen Furors

 

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- „Wenn eine Revolution nicht genügt“ -

„Revolution ... führt ... nie zu einer Umkehrung von oben und unten, geschweige denn einer materiellen Gleichheit. Im günstigsten Fall verbreitert der Umsturz das Spektrum der Elitefunktionen, so daß sich eine größere Zahl von Anwärtern ihre Pfründen sichern können. Das Personal und die Semantik ändern sich, die Asymmetrien bestehen fort. .... Da Asymmetrie nur ein technisches Wort für Ungleichheit ist - und unter egalitaristischen Prämissen auch für »Ungerechtigkeit« -, werden alle Revolutionen seit der französischen von 1789 von Heckwellen aus Enttäuschung und Frustration begleitet, aus denen sich neben Resignation und zynischer Abkehr von gestrigen Illusionen immer wieder akute und aktuelle Zornformierungen ergeben. Diesen entsprangen die epochentypischen Aspirationen auf eine erweiterte mal vertiefte Neu-Inszenierung des revolutionären Dramas. Seit den Ereignissen, die auf den Sturm auf die Bastille folgten, wird die ideologische und politische Geschichte Europas durchzogen von dem Warten der Enttäuschten auf die zweite, wirkliche und integrale Revolution, die den Betrogenen und Zurückgebliebenen der Großen Tage nachträglich Genugtuung verschaffen soll. Daher das Epochenmotto: Der Kampf geht weiter !, das mehr oder weniger explizit in allen dissidenten Bewegungen von den Radikalen des Jahres 1792 bis zu den Altermondialisten von Seattle, Genua und Davos nachzuweisen ist. Nachdem 1789 der siegreiche Dritte Stand sich das Seine geholt hatte, wollten endlich auch die Verlierer von damals zum Genuß kommen, namentlich die Versprecher des von den Festmählen der Bourgeoisie ausgeschlossenen Vierten Standes. Die Hauptschuld am Ausschluß der vielen wurde üblicherweise nicht der strukturellen Knappheit von Vorzugsstellen zuerkannt. Man wählte statt dessen eine argumentative Strategie, nach welcher ein Komplex aus Unterdrückung, Ausbeutung und Entfremdung dafür verantwortlich war, daß gute Plätze für alle nicht verfügbar sind.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 172-173).

„Zwar hatte Saint-Just (1767-1794), der Todesengel des Egalitarismus, doziert, die Macht der Erde liege bei den Unglücklichen. Sollte man deswegen, um dem Gesetz der Gleichheit Genüge zu tun, die Minderheit der Glücklichen so unglücklich machen wie die elende Mehrheit?  Wäre es nicht tatsächlich einfacher gewesen, von den 20 Millionen Franzosen die glückliche Million ins Elend zu stürzen, als die Illusion zu wecken, man könne die elenden 19 Millionen in zufriedene Bürger verwandeln?  (Bevölkerung). Viel attraktiver erschien seit jeher die phantastische Idee, die Privilegien der Glücklichen in egalitäre Ansprüche umzuformulieren.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 172-173).

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- „Das Epochenprojekt: Den Thymos der Erniedrigten erregen“ -

„So wird deutlich, daß nach dem Tod Gottes auch ein neuer Träger seines Zorns ausfindig zu machen war. Wer sich für diese Rolle freiwillig meldet, gibt mehr oder weniger explizit zu verstehen: Die Geschichte selbst muß den Vollzug des Jüngsten Gerichts zu ihrer Sache machen. Die Frage »Was tun?«  läßt sich nur stellen, wenn die Beteiligten das Mandat empfinden, die Hölle zu säkularisieren und das Gericht in die Gegenwart zu verlegen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 181).

„Hauptrolle im Drehbuch der Geschichte nach 1789: die des revolutionären Subjekts, das mit langem Atem die von der Bourgeoisie auf halbem Weg unterbrochene Arbeit der Befreiung - und eo ipso die Demokratisierung der Privilegien - zu Ende führen würde. Fast ohne Ausnahme beginnen die Sammlungen des Zorns mit der Anrufung des »Volkes«. In seiner Eigenschaft als Reservoir subversiver Elans und explosiver Unzufriedenheit wurde diese mythische Größe immer von neuem für die Schöpfung aufrührerischer Bewegungen in Anspruch genommen. Aus dieser Matrix aller Matrizen emanierten über zwei Jahrhunderte (gemeint ist: seit 1789; Anm. HB) hinweg die konkreteren Ausgestaltungen der thymotischen Kollektivorgane ....“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 187).

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- „Theorielose Empörung oder: der Augenblick der Anarchie“ -

„In gewisser Weise war die Oktoberrevolution (gemeint ist: Revolution im November 1917 in Rußland; Anm. HB) eine Rache Bakunins an Marx, insofern Lenin im Herbst 1917, in der »unreifsten« aller möglichen Situatione, der bakuninschen Doktrin vom rein destruktiven Ansatz der revolutionären Beginnphase ein weltgeschichtliches Denkmal setzte - um sich dann allerdings dem völlig unbakuninschen Geschäft einer despotischen Staatsbildung zuzuwenden.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 194-195).

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- „Klassenbewußtsein: Die Thymotisierung des Proletariats“ -

„Die bei weitem folgenreichste Zornkörperbildung vollzog sich auf dem linken Flügel der Arbeiterbewegung, als dieser im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mehr und mehr unter den Einfluß der Marxschen Ideen geriet. Die strategischen Erfolge des Marxismus beruhen, wie man rückblickend feststellen kann, auf dessen Überlegenheit bei der Formulierung eines hinreichend präzisen Modells für das potentiell und aktuell geschichtsmäßige Zornkollektiv des damaligen Zeitalters. Die maßgebliche thymotische Wir-Gruppe sollte von da das Proletariat, genauer das Industrieproletariat heißen. Zu dessen Definition gehörte im Marxschen Denken nicht nur ein systematisches Konzept von Ausgebeutet-Sein. Sein Entwurf wurde ergänzt durch eine sittlich anspruchsvolle historische Mission, die um die Begriffe Entfremdung und Wiederaneignung kreiste. Bei der Befreiung der Arbeiterklasse sollte es schließlich um nicht weniger gehen als um die Regeneration des Menschen. Sie würde die Deformationen beseitigen, die aus den Lebensbedingungen der Mehrheiten in den Klassengesellschaften resultierten.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 195-196).

„Es war die Stärke der marxistischen Doktrin, den idealistischen Elan ... durch eine breite Schicht materialistischer und pragmatischer Argumente zu untermauern - und dies zu einer Zeit, als Materialismus und Pragmatismus im Begriff waren, zur Religion der Vernünftigen zu werden. Aufgrund des Marxschen Beitrags verlagerte sich das Schwergewicht der Begründungen menschlicher Würde von dem christlich-humanistischen Begriff der ebenbildlich erschaffenen Gattung zu einer historischen Anthropologie der Arbeit. Der wesentliche Würdegrund wurde nun in der Forderung gefunden, daß Menschen - als Schöpfer ihres eigenen Daseins - auch Anspruch auf den Genuß der Resultate ihrer Tätigkeit besitzen. Infolgedessen war eine semi-religoöse Aufladung der Begriffe »Arbeit«, »Arbeiterschaft«, »Produktionsprozeß« und dergleichen wahrzunehmen, die dem Konzept des Proletariats, das zunächst nur ein ökonomiekritischer Terminus war, eine messianische Note gaben. Wer künftig im Marxschen Wendungen von »Arbeit« sprach, bezeichnete nicht nur den Faktor des Produktionsprozesses, der dem »Kapital« als ausbeutbare Quelle der Wertschöpfung gegenübersteht. Arbeit wurde zugleich zu einer anthropogonischen, ja geradezu demiurgischen Größe, auf deren Wirken das Menschenwesen selbst, die Zivilisation, der Reichtum und sämtliche höheren Werte zurückgehen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 197-198).

„Kein Wunder also, wenn die so getönte Rede von Arbeit zu einem Appell an die thymotischen Regungen des arbeitenden Kollektivs geriet. Das Proletariat war mit einem Mal herausgefordert, zu begreifen, daß es selbst, seiner oft betonten Entmenschung und Verdinglichung zum Trotz, die wahre Matrix aller Humanität und aller Zukunftspotentiale bildete. Umgekehrt erhellte aus dieser Anordnung der Begriffe: Wer als Feind der Arbeiter identifiziert wird, ist zugleich der Feind der Menschheit. Als solcher hat er es verdient, in die Vergangenheit zurückgestoßen zu werden. Nun war nur noch plausibel zu machen, daß die Klasse der Kapitalbesitzer, ungeachtet ihrer zuweilen respektablen privaten Moral, als solche die Position von Arbeiterfeinden einnahm, um die Frontlinien eines Bürgerkriegs von bisher unbekanntem Typ vor Augen zu sehen - Frontlinien, an denen sich die Parteien des unumgänglichen »letzten Gefechts« gegenüberstanden. Der ultimate Krieg sollte Feindschaft ohne Beiwort freisetzen: die kapitalbesitzenden Bourgeois, samt ihrem wohlversorgten Anhang, als die objektiven Unmenschen auf der einen Seite, die allein wertschaffenden Proletarier, mitsamt ihrer Eskorte aus hungrigen Nachkommen, als die objektiv wahren Menschen auf der anderen. In diesem Krieg fechten die ungleichen Hälften der ganzen Wahrheit über den produzierenden Menschen miteinander - und weil die eine Seite, wie es heißt, ein bloß parasitäres Verhältnis zur Produktion unterhält, indessen die andere die authentisch Produzierenden umfaßt, muß letztere auf mittlere und längere Sicht unvermeidlicher- und berechtigterweise siegen. Von da an hieß den Kern der Realität begreifen: den Weltbürgerkrieg denken. Da dieser Krieg als ein umfassender konzipiert war, wurde Neutralität in ihm nicht gewährt.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 198-199).

„Allein vor diesem anthropologischen Hintergrund wird die Karriere des Begriffs »Klassenbewußtsein« verständlich. An ihm ist, wie man jetzt leicht nachvollziehen kann, nicht so sehr der Akzent auf »Bewußtsein« von Bedeutung - da dieses, präzise genommen, unwiderruflich eine Eigenschaft von psychischen Systemen oder Individuen darstellt - als vielmehr der auf »Klasse«. Man würde heute den Ausdruck »Klassenbewußtsein« durch »Klassenkommunikation« ersetzen, wäre der Klassenbegriff als solcher noch operativ. Da es unter bürgerlich-kapitalistischen Bedingungen, der reinen Lehre gemäß, nur eine einzige wirkliche menschliche Klasse gibt, eben die der eigentlichen Produzenten, die einer Klasse von Scheinmenschen oder wertsaugenden Vampiren gegenübersteht, muß die Arbeiterschaft als zum Kampf berufenes Kollektiv bloß noch davon überzeugt werden, daß sie ihrem empirischen Elend zum Trotz die wahre Menschheit und deren futurisches Potential verkörpert. Aus dem gestärkten Selbstverständnis würde unmittelbar revolutionäre Scham entspringen, und aus dieser der revolutionäre Zorn. Sobald das Proletariat in sich selbst die geschändete Menschheit erkannt hätte, würde es sich in seiner aktuellen Verfassung keinen Augenblick länger ertragen. Mit der Lossagung von ihrem Elend - Hegelisch gesprochen: mit der Negation ihres Negiertseins als Menschen - bräche die endlich zum Bewußtsein ihrer selbst erwachte Klasse zu einem globalisierten Bastille-Sturm auf. Indem sie die endgültige Revolution vollendete, entzöge die Klasse der wahren Menschen allen Verhältnissen den Boden, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. (Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1844).“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 199-200).

„Nach dem Gesagten ist evident, daß die Rede vom Klassenbewußtsein der Arbeiter de facto nichts anderes als die Thymotisierung des Proletariats bezeichnete. Thymotisierung meint die subjektive Seite der Vorbereitung zu einem umfassenden Feldzug. Mit dem Konzept war also nie gemeint, der Fabrikarbeiter möge sich nach der Rückkehr von der Arbeit nach Hause zusammennehmen und Schillers Jungfrau von Orleans in der Reclamausgabe lesen, um sein von Lärm und Sorge verengtes Bewußtsein zu erweitern. Erst recht enthielt der Ausdruck nie die Forderung, die Werktätigen möchten ihr Elend in wirtschaftstheoretischen Ausdrücken reflektieren. Authentisches Klassenbewußtsein bedeutet Bürgerkriegsbewußtsein. Als solches kann es nur das Resultat von offensiv geführten Kämpfen sein, in denen die Wahrheit über die Stellung der kämpfenden Klasse im ganzen zutage träte.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 200).

„Da dem so ist, wäre das »wirkliche Klassenbewußtsein«, wenn es sich ausreichend artikulierte, meilenweit entfernt »von den real-psychologischen Gedanken der Menschen über ihre Lebenslage«, wie Georg Lukacs im März 1920 in leise drohendem Ton erklärte (vgl. Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein - Studien über marxistische Dialektik, 1923). Ganz offen drohend dozierte derselbe Autor weiter: Nicht was die Arbeiter hier und jetzt tatsächlich denken, ist angesichts des Kommenden von Belang, vielmehr was sie der objektiven Parteidoktrin zufolge zu denken hätten. Nach der Lehre der Klassenkampfstrategen kann kein Element der sozialen Totalität sich der Herausforderung entziehen, ein wahres Bewußtsein seiner Stellung und Funktion im ganzen zu entwickeln - am wenigsten das Proletariat. Für die Bourgeoisie wäre authentisches Klassenbewußtsein, räumt Lukacs ein, gleichbedeutend mit der Einsicht in die Unausweichlichkeit ihres bevorstehenden Untergangs - ein wenn nicht guter, so doch zureichender Grund, warum das Bürgertum vor seinem tragischen wissen ins Unbewußte und Unvernünftige flieht; die Zerstörung der Vernunft und die Beharrung des Bürgertums auf seinem verlorenen Posten stellen nach ihm ein und dasselbe dar (Ein Jahr nach Stalins Tod publizierte Lukacs sein Buch Die Zerstörung der Vernunft, 1954, das vormacht, wie ein leninistisch-stalinistisch kompromittiertes Denken sich durch die Flucht in ideengeschichtliche Schauprozesse selbst exkulpiert). Nur wenige einzelne bringen die moralische Kraft zum Klassenverrat auf, durch den sie ihrer Herkunft abschwören und auf den »Standpunkt des Proletariats« übergehen. Allein wer diesen einnimmt, wäre imstande, Vernunft und Zukunftsfähigkeit miteinander zu versöhnen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 200-201).

„Für das Proletariat hingegen gerät der Erwerb des Klassenbewußtseins zur fröhlichen Wissenschaft von seiner Berufung zur »Führung der Geschichte«. Leider ist eine derartige souveräne Sicht nicht über Nacht und kostenlos zu erwerben. Nur durch den »unendlich qualvollen, von Rückschlägen vollen Gang der proletarischen Revolution« kann das künftige »Subjekt der Geschichte« sich zum wahren Begriff seiner selbst durcharbeiten - hinzu kommt noch die Last der Selbstkritik (vgl. Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, a.a.0., S. 88), die von den Aktivisten fortwährend zu leisten sei - glücklicherweise nie ohne Hilfe seitens der Partei, die immer recht hat. Durfte man den selbsternannten Vordenkern der Arbeiterklasse glauben, war diese zu dem revolutionären Curriculum mit »historischer Gesetzmäßigkeit« verurteilt: » ...das Proletariat kann sich seinem Beruf nicht entziehen« (ebd., S. 89). Die Prinzipien dieses Selbststudiums laufen auf die Sentenz hinaus, daß man den Krieg nur durch den Krieg lernt.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 201-202).

„Gelangte das Klassenbewußtsein auf die Höhe seines Auftrags, müßte es in sich das vollständige Produkt aus Klassenwissen, Klassenstolz und Klassenzorn erzeugen. Der erste Faktor war nach der Überzeugung von Kommunisten wie Anarchisten schon durch die Lebenserfahrung der Arbeitenden gegeben, sosehr er auch der Vollendung durch Kampferfahrung, Selbstkritik und dialektische Theorie bedurfte. Der zweite war mit menschenrechtlichen, arbeitsanthropologischen und politökonomischen Argumenten zu wecken - sie sollten dem Proletariat helfen, den Kopf so hoch zu tragen, wie es seiner wertschöpferischen Rolle entsprach. Den dritten schließlich galt es mit propagandistischen Mitteln zu schüren und zu kanalisieren: »Das Recht, wie Glut im Kraterherde / Nun mit Macht zum Durchbruch dringt« - so zeichnet die Internationale den Verlauf der thymotischen Mobilisierung bildlich vor. Sinnvolle Eruptionen ereignen sich aber nur, wenn das Proletariat lange genug in die Schule des Zorns gegangen ist. In jedem Fall setzt vollendetes Klassenbewußtsein voraus, daß die Summe aus Stolz und Wissen mit dem Zorn des thymotischen Kollektivs multipliziert wird. Das reife Ergebnis proletarischer Lernprozesse kann sich folglich nur noch praktisch, in militantem revolutionärem Aktivismus, manifestieren. Es erübrigt sich, im einzelnen zu erklären, warum die Vorstellung von der Produzentenklasse als einem siegreich kämpfenden Geschichtssubjekt zu nichts anderem führen konnte als zu einer schlechten Verwirklichung der Philosophie. Der schicksalhafte Fehler der Konzeption lag nicht allein in der abenteuerlichen Gleichsetzung von Industriearbeiterschaft und Menschheit. Er steckte noch mehr in dem holistischen oder organologischen Ansatz, wonach eine ausreichend durchgeformte Assoziation von Menschen die Leistungen und Eigenschaften eines einzelnen Menschen auf höherer Stufe zu wiederholen in der Lage sei. Die klassische Linke betrat hierdurch den Raum der Irrlichter, in dem die seit der Romantik beliebten substantiellen Kollektive und die ominösen höherstufigen Subjektivitäten ihr Unwesen treiben. Die ihrer selbst bewußt gewordene Klasse der Produzenten wäre dennach ein Großmensch - der Idealstadt Platons vergleichbar -, in dem Vernunft, Gefühl und Wille zu einer monologischen, dynamisch-personalen Einheit zusammengeschlossen sind. Die Widersinnigkeit dieser Suggestion wurde von den Vordenkern der Arbeiterbewegung zugleich bemerkt und überspielt, indem sie betonten, das Klassenbewußtsein sei in hohem Maß an das »Problem der Organisation« geknüpft. Das Zauberwort Organisation beschwor den Sprung von der Ebene der »vielen tätigen Einzelwillen« (Engels) zu der des homogen gemachten Klassenwillens. Die Unrealisierbarkeit einer effektiven Homogenisierung von Millionen spontaner Einzelwillen ist jedoch schon in der vordergründigen Anschauung so manifest, um von den prinzipiellen Gründen zu schweigen, daß der Schein der Herstellbarkeit von Klasseneinheit nur durch Ersatzkonstruktionen gewahrt werden konnte.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 202-203).

„Deren folgenreichste trat in Form des Leninschen Parteibegriffs auf die historische Bühne. Es ist unmittelbar einsichtig, in welcher Weise die Konzepte von Partei und Klassenbewußtsein sich gegenseitig stützten: Da das realisierte Klassenbewußtsein als Einsicht des Proletariats in seine Stellung innerhalb der sozialen Totalität von vorneherein als ein Ding der Unmöglichkeit erkennbar war, durfte und mußte die Partei sich als Stellvertreterin des empirisch noch unreifen Kollektivs präsentieren. Folgerichtig vertrat die Partei den Anspruch auf »Führung der Geschichte«. Da aber die Avantgarde ohne Aussicht auf die Gefolgschaft der Massen von ihrer »Basis« abgeschnitten bliebe, hatte sie die Fiktion von der prinzipiellen Vollendbarkeit des Klassenbewußtseins bei den Geführten unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Die praktische Folgerung lautet somit: Allein die Partei verkörpert das legitime Zornkollektiv, sofern sie stellvertretend für die noch nicht urteils- und operationsfähigen »Massen« das Gesetz des Handelns an sich zieht. Die Partei ist somit das wahre Ich des bis auf weiteres entfremdeten Arbeiterkollektivs. Nicht umsonst schmückt sie sich gern mit dem schillernden Titel »Organ des gesamten Proletariats« - wobei man jederzeit berechtigt gewesen wäre, das Wort »Organ« mit Ausdrücken wie »Gehirn«, »Willenszentrum« oder »besseres Selbst« wiederzugeben. Für Lukcács fällt der Partei die »erhabene Rolle zu, ...Gewissen seiner (des Proletariats) geschichtlichen Sendung zu sein«. (Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, a.a.0., S. 53). Die Beschlüsse der Partei sind nichts anderes als Zitate aus dem idealisierten inneren Monolog der Arbeiterklasse. Nur in der Partei hat der Zorn den Intellekt gefunden; ausschließlich der Parteiintellekt darf sich auf die Suche machen nach dem Zorn der Massen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 203-204).

„Wie er fündig wurde, illustriert die Geschichte der Arbeiterbewegung seit den Tagen des Gothaer Kongresses von 1875. Bei seinem langen Marsch durch die Moderne sind ihm, das ist nicht bestreitbar, bedeutende Entdeckungen gelungen. Welche Mißgeschicke ihm dennoch unterliefen, erhellt unter anderem aus der Wahl der kommunistischen Symbole - an erster Stelle dem offiziellen Hammer-und-Sichel-Zeichen, das schon im Horizont von 1917 eine sinnlose Altertümelei bedeutete. Daß die emblematischen Werkzeuge des deutschen Handwerkerkonservatismus (vgl. Karlheinz Weißmann, Schwarze Fahnen, Runenzeichen: Die Entwicklung der politischen Symbolik der deutschen Rechten zwischen 1890 und 1945, 1991) auf der Flagge der Sowjetunion erscheinen sollten, sagt genug über die Unbeholfenheit der Verantwortlichen. Das einfachste Nachdenken hätte den Einwand erhoben, daß die Industriearbeiter nicht hämmern und das Landproletariat längst keine Sichel mehr anfaßt. Fataler noch war die Symbolwahl der radikalen Linken in Deutschland, die sich in der Schlußphase des Ersten Weltkriegs als »Spartakusbund« konstituierte - mit dem Namen eines gekreuzigten Gladiator-Sklaven als Aushängeschild, als habe man bewußt die Analogie zum Christentum gesucht, doch unbewußt eine Tradition der Niederlage zitiert. Nur der rote Stern des revolutionären Rußland wahrte sein Geheimnis über längere Zeit und verriet erst am Ende der sowjetischen Episode seinen apokalyptischen Ursprung als Untergangszeichen (Apokalyptik).“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 204-205).

„Auch die Partei als »Organ« des Proletariats beruhte auf einer Großmenschfiktion zweiter Stufe. Da sie sich als »höherstufiges« Subjekt aus einzelnen entschlossenen Aktivisten konstituierte, deren Synchronie und Homogenität nie zu sichern war (wie die ständige Nötigung zu nicht nur ideologischen Säuberungen zeigte), blieb sie von einer Avantgarde der Avantgarde abhängig, die das letzte Konzentrat des Klassenbewußtseins - gleichsam ihre wahre Seele - bildete. Nach Lage der Dinge konnte dies nur den Cheftheoretiker der Revolution bezeichnen. In seinem Denken allein sollten die inneren Monologe der Partei sich authentisch vollziehen. Er stellte das wahre Ich der Arbeiterbewegung dar, sofern er als Willens- und Zornzentrum die letzte Quelle ihrer Legitimität verkörperte. Der vielzitierten Weltseele vergleichbar, die Hegel nach der Schlacht von Jena zu Pferde vorüberreiten gesehen haben wollte und die den Namen Napoleon trug, wäre der theoretisch-thymotische Kopf der revolutionären Organisation der vitale Ort in der Welt, an dem die Menschwerdung des Zorns ihre aktuelle Vollendung gefunden hätte - fürs erste also niemand anders als Karl Marx in eigener Person. Weit davon entfernt, sich durch seine von Haß und Ressentiment geprägte Persönlichkeitsstruktur für sein historisches Amt zu disqualifizieren (wie die gewöhnliche ad hominem-Kritik am Autor des Kapitals lautet), wäre er genau mit den zur Erfüllung seiner Mission notwendigen Eigenschaften ausgestattet gewesen. Er besaß nicht nur die Luzidität und den Willen zur Macht des geborenen Führers, sondern auch Zorn genug, daß es für alle, die in seine Spuren traten, reichen sollte. Jeder Marx-Nachfolger würde sich an dem Kriterium messen lassen müssen, ob auch er oder sie imstande wäre, in gleicher Weise als Inkarnation des progressiven Weltzorns und als Focus des revolutionären Prozeßwissens zu überzeugen. Nach dem frühen Tod Rosa Luxemburgs gab es im frühen 20. Jahrhundert niemanden mehr, der Lenins Anspruch auf die Marx-Sukzession hätte anfechten können. Er war tatsächlich der Mann, den Gott im Zorn zum Politiker geschaffen hatte - um ein Wort Max Webers über den Dichter Ernst Toller auf einen geeigneteren Adressaten zu übertragen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 205-206).

„Man mag diese Reduktionen des Klassenbewußtseins auf die Partei und der Partei auf ihren ersten Denker für romantische Anmaßungen halten. Sie sind es tatsächlich, doch bieten sie den Vorzug, die spekulativen Übertreibungen, die im Klassen- wie im Parteibegriff stecken, zu Ende zu denken und den Zorn wie das Bewußtsein dort zu lokalisieren, wo sie ihren Sitz im Realen haben: in einem konkreten Individuum. Ein solches darf natürlich nicht als gewöhnlicher Zeitgenosse angesehen werden, vielmehr als exemplarischer Mensch, der, indem er denkt und zürnt, die gerechte Affektlage der Menschheit während der Ära der Klassengesellschaften in sich konzentriert. In ihm ist der Thymos ausreichend erregt, um eine neue Weltordnung fordern zu dürfen. Marx wäre aus dieser Sicht nicht bloß der Philoktet der modernen Philosophie, sosehr manche Züge seiner Existenz an den übelriechenden Trojakämpfer erinnern, dessen unleidliches Geschrei ihn seinen Gefährten auf hoher See unerträglich machte, bis sie ihn mitsamt dem Bogen des Achilles auf der Insel Lemnos aussetzten. Er stellte zugleich einen westlichen Mahatma dar, eine umfassende Seele, die noch im Zürnen übermenschliche Größe zeigte. Seiner radikal parteilichen Intelligenz wäre die Aufgabe zugefallen, als Speichermedium für die gelehrte Unzufriedenheit eines Weltalters zu fungieren.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 206-207).

„Wir werden im folgenden zeigen, daß der politische Agent »Partei« auf eine für ihn selbst kaum durchschaubare Weise von der ideologischen Figur des Führer-Vordenkers abhängig war - und zwar in einem solchen Grade, daß die Partei selbst nur als eine monologische Maschine funktionierte, in der die Selbstgespräche des Führers auf breiterer Basis fortgesetzt wurden. Der Kopf der revolutionären Bewegung mußte sein Wissen und Wollen als theoretischer und moralischer Monarch in den Parteikörper ausstrahlen, um diesen insgesamt, oder zumindest dessen Zentralkomitee, in ein kollektivmonarchisches »Organ« zu verwandeln. Die diskutierenden Episoden der kommunistischen Bewegung waren stets bloße Zugaben zum unerschütterlich monologischen Ideal. Wir haben weiter oben bemerkt, wie der exemplarische militante Mensch im Zeitalter des revolutionären Advents seiner Existenz die Form einer Zornsammelstelle aufprägte. Ziehen wir aus dieser Beobachtung die Konsequenzen, so wird begreiflich, daß das entschlossene »Subjekt der Revolution« sich wie ein Bankier zu verhalten hatte, dem die Leitung eines globaloperierenden Finanzinstituts übertragen wurde. Nur so konnte die revolutionäre Subjektivität den Glauben fassen, sie sei zum Drehpunkt des Weltgeschehens auserkoren: In dieser Bank werden nicht nur die angehäuften Empörungen, Leidenserinnerungen und Zornimpulse der Vergangenheit zu einer aktiven Wert- und Energiemasse komprimiert; von nun an werden diese revolutionären Intensitäten auch für die Reinvestition im Realen zur Verfügung gestellt. Die Zukunft würde dann substantiell identisch mit der Rendite aus den weitsichtig angelegten Summen an Zorn und Empörung.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 207-208).

„Genau diese sammelnden und wiederverausgabenden Tätigkeiten mußten bei der Schaffung eines größeren Militanzkörpers auf einer erweiterten Skala repräsentiert werden. Sobald der Transfer der radikalen Subjektivität vom Führer auf die radikalen Stäbe der Partei (und neben dieser auf die neuen Geheimpolizeien) vollzogen wäre, würde ein politischer Organismus völlig neuen Typs ins Dasein treten: jene Bank des Zorns, die mit den Einlagen ihrer Kunden geschichtliche Geschäfte treiben sollte. Dank ihres Auftritts auf dem Leidenschaften-Markt verwandelt sich der kollektive Zorn von einem bloßen Aggregat psychisch-politischer Regungen in ein Verwertung forderndes Kapital.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 208).

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- „Zum Auftauchen des nicht-monetären Bankwesens“ -

„Bankanaloge Prozesse treten überall dort in Erscheinung, wo kulturelle und psychopolitische Entitäten - wie wissenschaftliche Erkenntnisse, Glaubensakte, Kunstwerke, politische Protestbewegungen und anderes - sich anhäufen, um von einem gewissen Akkumulationsgrad an von der Schatzform zur Kapitalform überzugehen. Konzediert man die Existenz eines nicht-monetären Bankwesens, so leuchtet die Beobachtung ein, daß Banken eines anderen Typs, als politische Affektsammelstellen aufgefaßt, ebenso mit dem Zorn der Anderen wirtschaften können, wie Geldbanken mit dem Geld der Kunden arbeiten. Indem sie dies tun, entlassen sie ihre Klienten von der Verlegenheit der Eigeninitiative und stellen gleichwohl Gewinne in Aussicht, und was im einen Fall die monetären Kapitalerträge bedeuten, sind im anderen die thymotischen Prämien.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 210-211).

„Solche Banken präsentieren sich in der Regel als politische Parteien oder Bewegungen ..,. Die Umwandlung von zornigen Regungen in »konstruktive Politik« darf dabei in jedem Lager als das magnum opus der Psychopolitik gelten. (Im übrigen ist die Vermutung zu wagen, daß die von Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme [vgl. Luhmanns Systemtheorie] herausgestellt funktionale Ausdifferenzierung in Subsysteme wie Recht, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Gesundheitswesen, Religion, Pädagogik u.s.w. den Hinweis auf eine je eigene regionale Kapitalisierung und eine dem in spezifischer Weise entsprechende Bankformation enthält.)  Die Volkswirtschaftslehre definiert eine Bank als eine Kapitalsammelstelle. Deren Hauptaufgabe besteht darin, die Guthaben ihrer Klienten im Sinn der Werterhaltung und Wertvermehrung zu verwalten. In praktischer Hinsicht heißt dies, daß Kundeneinlagen, die im Augenblick ihrer Einzahlung unfruchtbare Geldschätze sind, sich umgehend in Kapitale verwandeln und folgerichtig in gewinnorientierte Geschäfte investiert werden. Es gehört zu den wichtigsten Funktionen einer Bank, als Risikopuffer zu wirken, der die Klienten an Investitionserfolgen teilnehmen läßt, während er sie von Mißerfolgen nach Möglichkeit bewahrt. Dieses Arrangement wird durch den Zins (Zins) gesteuert, welcher der Natur der Sache gemäß um so niedriger ausfällt. je höher der Grad der Risikoausschaltung sein soll. (Vgl. Dirk Baecker, Womit handeln Banken?  Eine Untersuchung zur Risikoverarbeitung in der Wirtschaft, 1991. Mit einem Vorwort von Niklas Luhmann.)  In unserem Kontext ist nun zu beachten, daß das Zeitprofil des Geldes durch den Übergang von der Schatzform zur Kapitalform entscheidend modifizeirt wird. Der einfache Schatz steht noch ganz im Dienst der Wert(auf)bewahrung. Indem er die materiellen Ergebnisse vergangener Ernten und Plünderungen beisammenstellt, besitzt er eine rein konservative Funktion (um für den Augenblick von den imaginären Eigenwerten der Schatzbildung nicht zu reden). Er negiert die ablaufende Zeit, um das angesammelte Gut in einer permanenten Gegenwart zu verankern. Wer vor einer Schatztruhe steht oder eine Schatzkammer betritt, erfährt im vollen Sinn des Wortes, was Anwesenheit bedeutet. Die vom präsenten Schatz gestiftete Zeitform ist dementsprechend die vom Vergangenen gestütze Dauer als das ständige Dableiben des Angesammelten - mit der erhabenen Langeweile als erlebtem Reflex. Im Gegensatz hierzu ist dem Kapital das langweilige Glück der gesammelten Anwesenheit bei sich fremd. Seiner bewegten Seinsweise wegen ist es zur ständigen Entäußerung verurteilt; es kann sich nur episodisch, etwa an Bilanzterminen, als virtuelle präsente Summe vorstellen. Ständig auf Selbstverwertungstour unterwegs, befindet es sich zu zu keinem Zeitpunkt im Vollbesitz seiner selbst. Daraus folgt, daß es wesensmäßig »futuristische« Effekte zeitigt. Es erzeugt eine chronische Vorspannung ins Kommende, die sich auf jedem erreichten Niveau als erneuerte Gewinnerwartung artikuliert. Seine Zeitform ist die kurzweilige Akkumulationsperiode, die sich als Dauerkrise vollzieht. .... Die »permanente Revolution« beschreibt genau den modus vivendi des Kapitals, nicht das Gebaren eine Kaders. Stets für den erweiterten Fortgang seiner eigenen Bewegung zu sorgen ist seine wirkliche Mission. Es weiß sich dazu berufen, alle Verhältnisse umzustürzen, unter denen sich Verwertungshindernisse aus Brauch, Sitte und Gesetzgebung seinem Siegeszug in den Weg stellen. Daher: Kein Kapitalismus ohne die triumphale Ausbreitung jener Respektlosigkeit, der Zeitkritiker ... den scheinphilosophischen Namen Nihilismus (1799 von Jacobi in seinem Sendschreiben an Fichte eingeführtNihilismus) gaben. In Wahrheit ist der Kult des Nichts bloß die unvermeidliche Nebenwirkung des Geldmonotheismus, für den alle anderen Werte bloße Götzen und Trugbilder darstellen. (Im übrigen ist auch dessen Theologie trinitarisch zu entwickeln, weil zum Vater »Geld« der Sohn »Erfolg« und der Heilige Geist »Prominenz« hinzukommen.)  Der kapitalistischen Logik gemäß fällt den Banken die Schlüsselrolle bei der Schaffung allseitig geldbestimmter Verhältnisse zu, weil nur diese Agenturen der permanenten produktiven Unruhe imstande sind, die effektive Sammlung und Lenkung der Geldströme durchzuführen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 211-213).

„Die Idee der Sammelstelle als solcher ist selbstverständlich sehr viel älter als die der Bank, die bekanntlich erst seit der ... Frührenaissance ihre bis heute erkennbaren Umrisse annahm. Sie reicht bis in die Ära der sogenannten Neolithischen Revolution zurück, als sich mit dem Übergang zum Getreideanbau zugleich die Praxis der Vorratshaltung entwickelte. An diese knüpft sich ein langes Gefolge technischer und mentaler Innovationen, welche ebenso die Errichtung von Speicherhäusern wie die Einübung des Haushaltens mit knappen Lagerressourcen einschließen (die Erfindung des Eroberungskriegs als zweiter Ernte durch Zugriff auf die Vorräte anderer nicht zu vergessen). Der wichtigste ideelle Reflex der frühagrarischen Vorratshaltungskultur tritt in dem Handlungsmuster Ernte zutage. Seit es den Saat-Ernte-Zusammenhang gibt, wird das bäuerliche Leben von einem alles durchdringenden Habitus geprägt: dem des alljährlichen Wartens auf den Moment der Reife. Aus der Ernte folgt die Erfindung des Vorrats als Grundlage des gemeinsamen Lebens während eines Jahreszyklus. Der Archetypus Vorrat drängt der Intelligenz der ersten Bauern und Beamten die Handlungsmuster »Sparen«, »klug Einteilen«, »Umverteilen« auf. Wird das Schema der Ernte auch metaphorisch verfügbar, können alle Arten von Schätzen in Analogie zu Früchten als Vorräte angehäuft werden - beginnend mit Waffen und Schmuck bis hin zu den Schätzen des Heils, der Künste, des Rechts und des Wissens, mittels deren eine Kultur ihr symbolisches Überleben sicherstellt.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 213-214).

„Wie man weiß, hat Martin Heidegger den Vorschlag entwickelt, den philosophischen Logos-Begriff, der von dem griechischen Verbum legein herzuleiten ist, an das agrarische Schema der »Lese« zurückzubinden. Demnach wären das logische Erkennen von Schriften und das deutende Wahrnehmen von Umständen in gewisser Weise die Fortsetzung der Erntearbeit mit symbolischen Mitteln. Von hier aus scheint die Vorstellung naheliegend, daß die Sphäre des Wissens ihrer Form nach einen höheren vorratswirtschaftlichen Zusammenhang bildet, bei dem die Saaten der Tradition in den je gegenwärtigen Generationen aufgehen sollen, um bei der immer neu einzubringenden Ernte der Erkenntnis gesammelt zu werden. Unter solchen Bedingungen konnten sich auch Philosophen (ansonsten strikt auf urbane Kontexte angewiesen) noch als hybride Bauern vorstellen. Heideggers Lehre vom Logos als Lese des Sinns bleibt folgerichtig bei einem vormodernen Wissensbegriff stehen. Indem der Denker an dem antiken und mittelalterlichen Archetypus des durch Sammlung gewonnenen Vorrats oder Schatzes festhielt, weigerte er sich, die Modernisierung der Wissensproduktion durch die Forschung mitzuvollziehen. In dieser sah er eine fatale Entstellung der »ursprünglich gewachsenen«, vortechnischen Gegebenheitsweise der Dinge. Tatsächlich wird Forschung - in bemerkenswerter Analogie zur Entfaltung des Bankwesens in der neueren Geldwirtschaft - in Instituten der organisierten Wissensanhäufung und -innovation praktiziert, namentlich den wissenschaftlichen Akademien und den modernen Universitäten. Mit ihren Personalen und Apparaten erfüllen sie die Rolle von authentischen Wissensbanken - und Banken kooperieren bekanntlich stets als Partner und Beobachter von Unternehmen. Im kognitiven Bereich fällt die Unternehmerfunktion den Forschungsinstituten zu. Sobald das Wissen von der Schatzform - wie sie zuletzt von den pansophischen Gelehrten des Barock bis hin zu Leibniz verkörpert wurde - zur Kapitalform übergeht, darf es nicht mehr allein als träger Vorrat akkumuliert werden. Die Bildungsregel »Erwirb es, um es zu besitzen«, tritt bei dem zur Forschung dynamisierten Wissen außer Kraft. Es wird nicht mehr als Besitz angeeignet, sondern dient als Ausgangsmaterial für seine erweiterte Reproduktion, ganz so, wie das moderne Geld, statt in Schatzkisten und Sparstrümpfen gehortet zu werden, in die Zirkulationssphäre zurückkehrt, um sich in Umläufen höherer Stufe zu verwerten. Dieser Formwandel des Wissens stellt keine Innovation des 20. Jahrhunderts dar, obwohl es zutrifft, daß dieses Zeitalter zuerst in expliziten Ausdrücken von Wissensökonomie und Kognitionswirtschaft gesprochen hat, um sich bis zu hybriden Konzepten wie dem der »Wissensgesellschaft« aufzuschwingen. Der Sache nach ist der Prozeß des Wissens auf kapitalanaloge Grundlagen gestellt, seit der jeweils aktuell disponible Vorrat an wissenschaftlichen Erkenntnissen für die erweiterte Reproduktion kraft organisierter Forschung erschlossen wurde. Die von Leibniz so intensiv geforderte Einrichtung wissenschaftlicher Akademien gehört zu den Leitsymptomen des Übergangs. Forschung entspricht somit im Bereich des Wissens dem Komplex von Tätigkeiten, der in der monetären Sphäre als Investieren bezeichnet wird: Sie impliziert das kontrollierte Risiko, bisher Erworbenes zugunsten künftigen Erwerbs aufs Spiel zu setzen. Von der Verlaufskurve solcher Risikooperationen wird erwartet, daß sie trotz konjunktureller Schwankungen eine kontinuierliche Akkumulation beschreibt. Freilich kennt das Wissenskapital, wie das monetäre, spezifische Krisen, in denen seine weitere Verwertbarkeit in Frage gestellt scheint -die Lösung der Krise besteht in der Regel in dem, was die jüngere Wissenssoziologie einen Paradigmenwechsel nennt. In dessen Verlauf werden ältere kognitive Werte vernichtet, indessen der Betrieb unter neuen konzeptuellen Rahmenbedingungen intensiver denn je weitergeht.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 213-216).

„Analoge Beobachtungen lassen sich für die jüngere Kunstgeschichte anstellen. Auch im Bereich der künstlerischen Hervorbringungen hat sich spätestens vom frühen 19. Jahrhundert an (nach Vorbereitungen, die bis ins 15. Jahrhundert zuückreichen) ein Übergang von der schatzförmigen zur kapitalförmigen Sammlung vollzogen, der vor allem an der dynamischen Geschichte des Museums und seines Funktionswandels ablesbar ist. Von diesen Vorgängen sind wir durch die florierende Wissenschaft der Museologie und durch die jüngeren kuratorischen Studien unterrichtet - Disziplinen, die sich während des letzten halben Jahrhunderts als Volks- und Weltwirtschaftlehre des Kunstbetriebs etabliert haben, auch wenn die kuratorische Praxis nur selten ihre neuen theoretischen Grundlagen zur Kenntnis nimmt. Wie freilich Bankangestellte vorzügliche Arbeit leisten können, ohne die allgemeine Logik des Bankwesens zu beherrschen, sind die Kuratoren der zeitgenössischen Kunst- und Kulturszene imstande, sich nützlich zu machen, ohne über die Bewegung des Kunstkapitals im großen nachzudenken. Vor allem den Untersuchungen von Boris Groys ist es zu verdanken, daß man den Eintritt des Kunstsystems in seine endogene Kapitalisierung begrifflich präzise nachvollziehen kann (vgl. Boris Groys, Über das Neue, 1992; ders., Fundamentalismus als Mittelweg, 1997; ders., Politik der Unsterblichkeit. Vier Gespräche mit Thomas Knoefel, 2002): Der Akzent auf dem endogenen Charakter der Vorgänge hebt hervor, daß es hier nicht so sehr um die äußere Wechselwirkung von Geld und Kunst auf den Kunstmärkten geht, auch nicht um den sogenannten Warencharakter des Kunstwerks, dem in der nahezu ausgestorbenen marxistischen Kunstkritik eine Schlüsselrolle zukam. In Wahrheit hat sich das Kunstsystem im ganzen intern zu einem kapitalanalogen Geschehen gewandelt, mit entsprechenden Formen des Zusammenspiels von Unternehmertum und Bankfunktion. In diesem Prozeß bilden Resultate des bisherigen Kunstschaffens einen Kapitalstock, aus dem die aktuellen Kunstproduzenten Anleihen aufnehmen, um mittels ihrer neue, hinreichend verschiedene Werke zu gestalten. Groys hat den Kapitalstock der akkumulierten Kunstobjekte als »Archiv« beschrieben - wobei der Ausdruck, anders als bei Foucault, ironischerweise nicht die staubgraue, tote Seite des Speichers, sondern seine lebendig vorantreibenden, auswahlsteuernden Tendenzen bezeichnet. Als Träger des »Archivs« kommt in letzter Instanz nur der Staat in seiner Eigenschaft als Kulturgarant infrage oder besser die imaginäre Internationale der Staaten (indessen die privaten Sammlungen ihren relativen Wert allein durch den Bezug auf die öffentlichen Sammlungen und deren virtuelle Synthese im »Archiv« behaupten können). Das Archiv ist die intelligente Form des imaginären Museums. Während Andre Malraux mit seiner bekannten Prägung bei einer stumpfen Idee des immer präsenten globalen Schatzes stehenblieb, hat Groys im Archiv, dem Inbegriff des modernisierten hochkulturellen Kunst- und Kulturspeichers, die Funktionen eines sich selbst verwertenden Kapitals ausgemacht. Damit wird der Grund dafür benannt, warum das aktuelle Kunstleben nur noch als Mitwirkung der Künstler und Kunstmanager an der rastlosen erweiterten Reproduktion des Archivs intelligibel zu machen ist. Tatsächlich prägt das stets im Hintergrund präsente Archiv der laufenden Kunstproduktion den Zwang auf, unaufhörlich Erweiterungen des Kunstbegriffs vorzunehmen. Deren Ergebnisse werden von den Agenten des Archivs evaluiert und bei ausreichenden Differenzwerten gegenüber dem gespeicherten Material der Sammlung einverleibt (vgl. den Abschnitt: Das Neue als das wertvolle Andere, in: Boris Groys, Über das Neue, 1992. S. 42f.). Auf diese Weise konnte auch das, was bisher das Gegenteil von Kunst war, ins Sanktuarium der Kunst vordringen. Seit dieses System die Märkte durchdrungen hat, bedeutet die populäre Aussage, eine Sache sei »museumsreif« geworden, das Gegenteil dessen, was sie vormals beabsichtigte. Was den Weg ins Museum, allgemeiner: ins Archiv, geschafft hat, ist von da an für die ewige Wiederkehr des Neuen gut. Doch wie jeder akkumulierte Wertstock ist auch der des Archivs dem Risiko der Abwertung oder Entwertung ausgesetzt. Vor allem das Auftauchen neuer Kunstgattungen infolge der Entwicklung neuer Medien löst Krisen aus, die vom Archiv als effektiver Kunst- und Kulturbank üblicherweise durch Umwertung der Werte überwunden werden.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 216-218).

„Das Phänomen der Schatzbildung, das bis an die Schwelle eines förmlichen Bankwesens führt, ist schließlich auch im religiösen Bereich anzutreffen. Was die Christen seit dem ersten Jahrhundert ihres Bestehens die ekklesia nennen, ist keineswegs nur ein von gemeinsamen Glaubenssätzen zusammengehaltener Personenverband. Von Anfang an bedeutete das Konzept Kirche ebenso eine Sammelstelle für Zeugnisse, die die Wirklichkeit des Heils in der Zeit bekunden. Die ekklesiogene Sammlungsbewegung begann spätestens im zweiten Jahrhundert mit der Zusammenstellung der Evangelien und Apostelschriften. Deren Kondensierung zum neutestamentlichen Kanon besaß schon früh einen hohen polemischen Wert, da die Geschichte der »wahren Religion« sich als permanenter Abwehrkampf gegen Abweichungen vollzog. Zu dem evangelischen Nukleus kamen in stetiger Akkumulation die Apostelgeschichten aus der frühen Mission, dann die Märtyrergeschichten aus der Ära der »bedrängten Kirche« hinzu - ein Zustrom, für den nicht zuletzt das Nachwirken der Apokalyptik (Apokalyptik) und die noch lange lebendige Erwartung der nahen Wiederkehr verantwortlich waren. Seither ist Kirchengeschichte immer in einem gewissen Maß Märtyrergeschichte geblieben - die glücklichen Epochen der Kirche sind die leeren Seiten der Martyrologie. (Das Martyrologicum Romanum, ein literarisches Beinhaus der gesamten Glaubensgeschichte, umfaßte bei seiner Neuausgabe im Jahr 2001 nicht weniger als 6990 Einträge. Es bildet einen Schatz aus Zeugnissen für christliche Opferbereitschaft von den ältesten Verfolgungen bis ins 20. Jahrhundert.)  Dem folgen die Viten der Heiligen, die Legenden der Wüstenväter und die zahllosen Lebensgeschichten der Seligen und Vorbildlichen. Vollendet wird die erbauliche Sammlung christlicher Exempla durch den doktrinalen Schatz der konziliaren Formulierungen (mit dem »Denzinger« als dem Beinhaus der Dogmatik), der in den Beiträgen der akkreditierten Theologen seine körperreicheren Fassungen erlangt. Schließlich fügt die Chronik der Bischöfe und die Geschichte der Orden und Missionen den funkelnden Schätzen des Glaubens ein farbiges Archiv hinzu. Autorität meint im Katholizismus also - neben dem Lehramt der Bischöfe und doctores - stets auch den Glanz des »Kirchenschatzes«, der dank einer zweitausendjährigen Anhäufung in immer neuen Exemplifikationen die in der ekklesia anwesende »Heilswirklichkeit« zu bezeugen hat. Es ist allerdings fraglich, ob die katholische Verwaltung dieser »Realitäten« den effektiven Übergang von der Schatzform zur Kapitalform zu vollziehen imstande ist, da ihre Sorge um Rechtgläubigkeit die Reinvestition überlieferter Werte in innovative Projekte stark behindert. Dennoch ist dem zeitgenössischen Katholizismus die Idee der erweiterten Reproduktion des Heilsschatzes nicht fremd. Johannes Paul II. hat auf seine Weise die Herausforderung der Moderne beantwortet und in Zeiten rückläufiger Betriebserfolge ein wichtiges Segment des sakralen Kapitals, die Schar der Heiligen, um über einhundert Prozent aufgestockt. Die 483 Heiligsprechungen (neben 1268 Seligsprechungen) in seiner Amtszeit sind nur als Teil einer umfassenden Offensive zur Umwandlung träger Heilsschätze in operative Heilskapitale angemessen zu würdigen. Kirchenhistoriker haben errechnet, daß die allein von Johannes Paul II. vorgenommenen Kanonisierungen zahlreicher sind als die der gesamten Kirchengeschichte seit dem späten Mittelalter. Ohne Zweifel wird die Bedeutung dieses Papstes künftig primär an seiner Tätigkeit als Mobilisator des Kirchenschatzes abgelesen werden. Der Hinweis auf diesen römisch administrierten Schatz von Zeugnissen für die permanente »Realität des Heils« macht deutlich, daß die Erfolgsgeschichte des Christentums nicht bloß durch die Errichtung der metaphysischen Rachebank vorangetrieben wurde, von der im vorherigen Kapitel ausführlicher die Rede war (Sloterdijk). Sie verdankt sich ebenso dem hier angedeuteten Vorgang, den man am besten wohl als eine Schatzbildung der Liebe umschriebe, ja vielleicht sogar als die Schaffung einer Weltbank des Heils. An deren Resultaten nehmen auch die Weltkinder teil, die sich nicht für die Heilsschätze der Kirchen interessieren, jedoch bereit sind, zuzugeben, daß erfolgreiche »Gesellschaften« ihr »soziales Kapital« sorgfältig regenerieren und reinvestieren müssen. Selbst Nichtchristen dürfte es nicht schwerfallen, nachzuvollziehen, wieso Vorgänge wie die oben beschriebenen aus innerkirchlicher Perspektive als das Werk des Heiligen Geistes gedeutet werden konnten. In unserem Kontext genügt es, die Realität eines nicht-monetären Bankwesens auch an diesem Beispiel nachzuweisen. Was freilich den Werken der Liebe recht ist, wird denen des Zorns billig sein.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 218-220).

NACH OBEN
- „Komintern: Die Weltbank des Zorns“ -

„Ihre Geschäftsgrundlage ist das Versprechen an ihre Klienten, eine thymotische Rendite in Form von erhöhter Selbstachtung und erweitereter Zukunftsmächtigkeit auszuschütten, wenn sie auf das momenthafte Ausagieren ihres Zorns verzichten. Die Gewinne werden durch die politischen Operationen der Zornbanken erzielt, mit denen sie die existentiellen Spielräume ihrer Mitglieder, materiell wie symbolisch, erweitern.“  (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 221-222).

„Man hat in den Darstellungen des 20. Jahrhunderts den August 1914 unisonso und mit allzu einsichtigen Gründen als das Schicksalsdatum der politischen Moderne ausgemalt. Ebenso einhellig wurde konstatiert, daß der Eintritt der imperialen Nationen Europas in den Ersten Weltkrieg die Katastrophe des sozialistischen Internationalismus nach sich zog, da die große Mehrheit der gemäßigten linken Parteien angesichts der militärischen Frontbildungen eine Bekehrung zum Vorrang der nationalen Kampfmotive vollzog. Das berüchtigte Wort aus der Thronrede Wilhelms II. vom 4. August 1914 im Berliner Reichstag, er kenne keine Parteien mehr, er kenne nur Deutsche (ähnlich schon am 31. Juli bei der zweiten Balkonansprache vor dem Volk), proklamiert und registriert zugleich, am deutschen Beispiel, den vollständigen Kollaps der transnationalen Solidaritäten. Tatsächlich kam es so gut wie überall zur Integration der überwiegend sozialdemokratisch geprägten parlamentarisch integrierten Arbeiterbewegungen in die euphorischen Mobilmachungen der nationalimperialen Staaten. Wie die Quellen beweisen, bedeutete die Bewilligung der Kriegsanleihen durch die SPD für viele Angehörige der Linken einen moralischen Schock.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 222-223).

„In unserem Kontext läßt sich die Fatalität dieser Vorgänge als eine Art von unabwendbarer Bankenkrise beschreiben, bei der die in international agierenden Häusern deponierten Zorneinlagen der »Massen« von den Geschäftsführern in einer jähen Wende den polemischen Geschäften der nationalen politischen Führungen zur Verfügung gestellt wurden. Dies kam einer globalen Vernichtung der angesparten Werte beziehungsweise ihrer Investition in falsche Objekte gleich, da die spezifischen Interessen der Arbeiterdissidenz sich in den kriegerischen Projekten der nationalen Generalstäbe kaum oder gar nicht wiederfinden konnten. Indem sie die in Jahrzenten akkumulierten Zorn- und Dissidenzmengen aus der vordersten Linie des Kampfs gegen die kapitalistische Ordnung zurückzogen und für den Krieg zwischen imperialen Nationen zur Verfügung stellten, begingen die Führer der gemäßigten Arbeiterbewegung ein »Wirtschaftsverbrechen« beispiellosen Ausmaßes. Für die massive Veruntreuung der ihnen anvertrauten Zornkapitale konnten sie sich allerdings partiell entschuldigen mit dem Hinweis auf den kriegsbereiten Enthusiasmus ihrer Kunden. Tatsächlich bleiben die Jubelbilder des August 1914 auch nach nahezu einem Jahrhundert ein Skandal nicht nur in politischer, sondern auch anthropologischer Hinsicht.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 223-224).

„In kulturtheoretischer Perspektive bedeutet die Zornverschiebung vom Internationalismus zum Nationalismus nichts anderes als eine Rückkehr zu den historischen Formaten bei der Bildung von kriegsbelastbaren politischen Streßgruppen. Die Zweite Internationale war eine viel zu lockere Assoziation geblieben, um ihre Angehörigen bei realem Druck in eine effektive Kampfgemeinschaft (in der Terminologie von Heiner Mühlmann: eine operative Maximal-Streß-Kooperations-Größe (vgl. Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen - Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, 1996; vgl. weiter untenMaximal-Stress-Kooperations-Größe ) zusammenziehen zu können. Sie war völlig außerstande, einen kriegsbelastbaren psychopolitischen Körper zu bilden. Unter Kriegsgefahr schwenkten daher auch symbolisch solide Internationalisten nahezu unvermeidlich in die nationalen Fronten ein, weil diese bis auf weiteres mit den Außengrenzen der emotional definierten politischen Streßverarbeitungskollektive identisch sind - ausgenommen jene seltenen Geister, die das Schimpfwort »vaterlandslose Gesellen« als philosophisches Ehrenzeichen trugen. Die Existenz der national formatierten Selbsterhaltungseinheiten wird seit dem 19. Jahrhundert durch das Aufgebot von Wehrpflichtigenarmeen verstärkt, die um berufssoldatische Kerne organisiert sind. Man hat im übrigen bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts warten müssen, bevor in Europa postnationale Militäreinheiten auf die politische Agenda gesetzt werden konnten. Die Sperrigkeit und Trägkeit der entsprechenden Prozesse mag einen Begriff davon geben, wie stark auch heute noch die Gleichsetzung der Nation mit der letztinstanzlichen politischen Überlebenseinheit nachwirkt.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 224).

„In Anbetracht der stets nur lockeren Koordination zwischen den nationalen Komponenten der Zweiten Internationale muß man die oft geäußerte heftige Enttäuschung der Sprecher des radikalen Flügels der Arbeiterbewegung nach dem August 1914 als Zeichen von Naivität oder Heuchelei bewerten - als habe man je im Ernst erwarten dürfen, die Majorität der Proletariate Frankreichs, Englands, Deutschlands u.s.w. könne im Kriegsfall zu ihren jeweiligen nationalen Frontbildungen Abstand halten. Zieht man von den Ereignissen des Jahres 1917 her Bilanz, ist der Eindruck kaum abzuweisen, daß der »imperialistische Krieg« den Vertretern der harten Linie direkt in die Hände arbeitete. Bakunins im Jahr 1875 notierte Hoffnung auf den Weltkrieg als letzte Chance der revolutionären Aspirationen hatte sich kaum vierzig Jahre später erfüllt.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 225).

„Für die politische Prozessierung der populären thymotischen Regungen geriet der Kriegausbruch von 1914 auf jeden Fall zu einer tiefen Zäsur. Sein unmittelbares Resultat bestand, wie bemerkt, in der brüsken Umwertung des größten Teils antikapitalistisch geprägter Zornwerte zu akuten Nationalfeindschaften. Deren psychopolitische Konsequenzen schlagen sich in dem Ereigniskomplex nieder, den man, nicht ohne trügerischen Zungenschlag, als das »Zeitalter der Extreme« bezeichnet hat. Dieses wurde zum einen bestimmt durch den Versuch einer gewaltsamen Wiederaneignung des verlorenen Zorns seitens des Leninismus, in dem man vor allem eine Realpolitik der Revolution um jeden Preis zu erkennen hat. Sein zweites Merkmal war die anhaltende Amalgamierung des Zorns mit den militanten Nationalbewegungen, die nach dem Weltkrieg die politische Szene Europas aufwühlten. Der Kampf um den verratenen Zorn des Proletariats brachte die beiden Formationen extremistischer Militanz in Stellung, deren Duell das Schwergewicht der Weltpolitik zwischen 1917 und 1945 bildete.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 225).

„Der erste Kontrahent, die leninistisch dominierte Dritte Internationale, die Zornbank der Linken, schien erstmals imstande zu sein, mit einem effektiven Weltbankanspruch aufzutreten. Den Sieg der Oktoberrevolution im Rücken, meinten die Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder dieses Unternehmens über ein neues Organ der Zornkollekte zu verfügen, das zu einer operativen Vereinigung der weltweit gestreuten Dissidenzpotentiale in einer einheitlichen antibourgeoisen, antikapitalistischen und antiimperialistischen Politik mit hohen Gewinnspannen für die aktivierten »Massen« geeignet und in der Lage wäre.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 225-226).

„Die Tragödie der neuen Sammlung begann bereits in den ersten Tagen der Russischen Revolution, als sich zeigte, daß Lenins Sachlichkeit die radikale Linke moralisch entzauberte - eine Entzauberung, zu deren Akzeptierung es mehrerer Generationen bedurfte. Schon im Herbst 1918 wurden die Arbeiter Petrograds zu Massakern gegen die russischen Sozialdemokraten aufgerufen: »Genossen, schlagt die rechten Sozialrevolutionäre ohne Gnade, ohne Mitleid, Gerichtshöfe und Tribunale sind nicht nötig. Der Zorn der Arbeiter soll toben ... rottet die Feinde physisch aus.« (Zitiert nach: Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987). Somit war nicht erst nach der Niederschlagung der Matrosenrevolte von Kronstadt im März 1921, bei der die treuesten Leninanhänger rätedemokratische Forderungen gegen die Monopolisierung der Revolution durch die bolschewistische Führung erhoben, unmißverständlich klargeworden, wohin die revolutionäre Reise ging. Daß sich der Organisator der Roten Armee und spätere Hoffnungsträger anti-stalinistischer Illusionen, Leo Trotzki, bei der Abschlachtung der Kronstädter Opposition hervortat, bezeichnet die abschüssige Bahn, auf der sich die Sache der Linken in Rußland bewegte, nicht weniger unmißverständlich als die Tatsache, daß Lenin höchstpersönlich sich nicht zu schade war, auf dem gleichzeitig stattfindenden 10. Parteitag der Kommunistischen Partei Rußlands die in großer Mehrheit bona-fide-sozialistischen Insurgenten summarisch als kleinbürgerliche Konterrevolutionäre zu denunzieren.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 226-227).

„Schon 1918 hatte Lenin sich zu dem Dogma bekannt, der Kampf gegen die Barbarei dürfe vor barbarischen Methoden nicht zurückschrecken. Mit dieser Wendung nahm er die anarchistische Veräußerlichung des Schreckens in den Kommunismus auf. Der Mann, der im Augenblick des Sprungs an die Macht geschrieben hatte: »Die Geschichte wird uns nicht verzeihen, wenn wir nicht jetzt die Macht ergreifen« oder: »Zögern wird jetzt zum förmlichen Verbrechen«, war offensichtlich nicht willens, die Gelegenheit aus der Hand zu geben, mochten auch die kruden Mittel der Eroberung und Monopolisierung von Macht im scharfen Kontrast stehen zu den noblen Zwecken des Unternehmens. Schon damals ließ sich absehen, daß die Revolution in Wahrheit zu einem auf Dauer gestellten Putsch geriet, der einen immer groteskeren Aufwand forderte, um Treue zu seinem Programm vorspiegeln zu können. Indem der Leninismus den Massenterror als Erfolgsrezept für die revolutionäre Staatsbildung postulierte, sprengte er die elanvolle Liaison von Empörung und Idealismus, die bis 1917 das utopiepolitische Privileg der Linken gewesen war.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 227).

„Dies zeitigte weitreichende Folgen für die später so genannte »politische Suspension der Moral«. Daß eine Epoche der Ausnahmezustände angebrochen war, soviel konnte jeder Zeitgenosse von 1917 nachvollziehen. Gewiß war auch: In Zeiten konvulsivischer Neugründungen reichte die Empörung der schönen Seelen über die unerfreulichen Zustände nicht mehr aus. Gleichwohl war niemand auf die Zuspitzungen des revolutionären Exterminismus gefaßt, der quasi vom ersten Tag der Kämpfe an in voller Montur auf die Szene sprang. Nach Lenin war es die erste Pflicht des Revolutionärs, sich die Hände schmutzig zu machen. Aus klarer Witterung für die neuen Verhältnisse hatten die Bolschewisten in ihrem Sprachrohr, der Zeitung Prawda, am 31. August 1918 das Programm verkündet: »Die Hymne der Arbeiterklasse wird von nun an das Lied des Hasses und der Rache sein!« .... Für Lenin wie Lukacs stand außer Zweifel, daß die real geschehende Revolution mit einer purgatorischen Mission betraut war: Aus der Logik des Zwischenreichs zwischen Klassengesellschaft und Kommunismus folgte zwingend das Handlungsmuster der »Säuberung«. Da die Weltgeschichte zum Weltgericht geworden war, durfte der wahre Revolutionär es an Härte gegen die Rückstände der Vergangenheit nicht fehlen lassen. Nicht umsonst lautete die Formel des russischen Avantgardismus: »Die Zeit hat immer recht.« Wenn die Zukunft anklopft, tritt sie durch die Pforte des Schreckens ein.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 227-228).

„In weniger subtilen Kontexten berief sich diese politische Suspension der Moral - einfacher: die Pflicht zum Verbrechen - auf eine schlichte quantitative Überlegung. Um das Leben von vielen Millionen zu retten, müsse man die Opferung einiger tausend Personen in Kauf nehmen - kein urteilsfähiger Mensch, hieß es, könne sich einer solchen Überlegung entziehen. Nur kurze Zeit später bot sich das Schauspiel, wie man Millionen opferte, damit einige Tausend, und letztlich nur einige Dutzend, angeführt von einem argwöhnischen Philosophenkönig, sich an der Macht hielten - sosehr auch die wenigen weiterhin behaupteten, sie übten ihre Macht im Interesse erhabenster Menschheitshoffnungen aus. Nie war das Paradox des Egalitarismus deutlicher auf die Spitze getrieben als in der Blütezeit des Bolschewismus: Damals war es den Alphatieren der Klassenlosigkeit gelungen, die ganze Macht in ihren Händen zu akkumulieren. Nach Stalins Aussage umfaßte die Kommunistische Partei drei- bis viertausend höchste Führer (»die Generalität unserer Partei«), dazu dreißig- bis vierzigtausend mittlere Führer ( »unsere Parteioffiziere«) und einhundert bis einhundertfünfzigtausend unteres Kommandopersonal ( »unsere Parteiunteroffiziere«.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 229).

„Im übrigen waren von diesen tragischen Berechnungen schon früh auch gröbere Varianten zu hören. In Lenins unmittelbarer Nähe wurden Thesen formuliert wie diese: Bei einem ... Volk wie dem russischen dürfe man ohne weiteres ein Zehntel opfern, wenn man mit dem Rest erfolgreich weiterarbeiten könne. (Nach einer konsolidierten Quelle wird diese hunnische These Grigorij Sinovjew, einem der engsten Vertrauten Lenins, zugeschrieben, der auf einer Parteiversammlung in Petrograd am 17. September 1918 erklärte: »Von den hundert Millionen der Bevölkerung in Sowjetrußland müssen wir neunzig für uns gewinnen. Mit den übrigen haben wir nicht zu reden, wir müssen sie ausrotten.« Einem Zeitungsbericht zufolge wurde Sinovjews Rede mit großem Beifall aufgenommen. Zitiert nach: Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987). Der Urheber dieser klassengenozidalen Phantasmen, Lenins engster Mitarbeiter Sinovjew, hätte diese mit Sicherheit nie geäußert, wäre er der Zustimmung des Revolutionsführers nicht gewiß gewesen. Seit 1918 spukte der Archetypus der Dezimierung durch Erlasse des Parteivorsitzenden selbst: Würde da und dort jeder Zehnte eliminiert, verwandelten die übrigen sich wie von selbst in eine formbare Menge. Auch von Trotzki ist überliefert, daß er als Kommandant der Roten Armee aus geringfügigen Anlässen die Maßnahme ergriff, jeden zehnten Soldaten erschießen zu lassen. Lenins Erklärung, nur in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus sei Repression noch nötig, war nie viel mehr als eine Parole zur Außerkraftsetzung von moralischen Bedenken. Das gelegentlich hinzugefügte Argument, es handle sich diesmal um die Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit, was ein verheißungsvoIles Novum darstelle und dem Kampfstil des »sozialistischen Humanismus« angemessen sei, erwies sich als eine Beschwichtigungsformel, die den Aktivisten die Einsicht in die fatale Drift ihres Projekts ersparen sollte. Im Rückblick liegen jedem, der keine Gründe hat, es nicht wissen zu wollen, die Motive vor Augen, warum der Kommunismus an der Staatsmacht vom ersten bis zum letzten Tag eine Übergangszeit vom Schlimmsten zum Schlimmsten blieb. (Dies spiegelt sich noch in der post-kommunistischen Literatur, z.B. in dem satirischen Roman über die Putin-Ära von Viktor Pelewin, Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin, 2004).“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 229-230).

„Sofern man der These zustimmt, wonach der »Faschismus« in seiner Anfangsphase den Versuch bedeutete, den Elan der Kriegssozialismen auf die Lebensformen der Nachkriegs»gesellschaften« zu übertragen, ist eines unmöglich zu leugnen: Lenins Direktiven vom Spätherbst 1917 an lösten die ersten authentisch faschistischen Initiativen des 20. Jahrhunderts aus. Ihnen gegenüber konnten Mussolini und dessen Klone sich nur noch epigonal verhalten. (Die These, daß Lenin den Faschismus inaugurierte, wurde in den fünfziger Jahren von sowjetischen Gelehrten ausgesprochen, etwa dem Physiknobelpreisträger Lew Davidowitsch Landau. Auch Romain Rolland, nach seiner ominösen Begegnung mit Stalin im Juli 1935 Aushängeschild des westlichen Prosowjetismus, hatte Ende der zwanziger Jahre notiert, der Kommunismus habe den Faschismus gezeugt, sofern dieser nur ein »umgekehrter Bolschewismus« sei. .... Antonio Negri gibt zu, daß noch heute gewisse Varianten von Populismus und Faschismus deformierte Abkömmlinge aus dem Sozialismus sind. .... Landaus These ist gegenüber denen von Rolland und Negri radikaler und treffender, weil sie den Leninismus nicht nur »dialektisch« als Provokationsherd des Faschismus identifiziert, sondern als dessen Prototypus.). Die Ansätze der älteren militanten Rechten vor 1914 auf diesem Feld, wie etwa die der Action Française, stellten kaum mehr dar als leichthändige Bricolagen aus den überall bereitliegenden sozialistischen und nationalistischen Versatzstücken. Auch Georges Sorels Appelle an das kämpferische Proletariat waren bloß eine der erfolgreicheren unter den zeitüblichen Hymnen auf die Gewalt als Remedium gegen die liberale »Kultur der Feigheit.«“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 230-231).

„Mit Lenins Intervention erst betrat der mobilisatorische Mythos den Boden des Realen. Am linksfaschistischen Original leninscher Prägung kamen die Merkmale des neuen politischen Stils, der seine Herkunft aus dem Realismus des Weltkriegs nie verleugnete, in endgültiger Prägnanz zum Vorschein. Unter ihnen sind zu nennen: die latent oder manifest monologische Konzeption der Beziehung zwischen dem Führer und den Geführten; die mobilisatorische Daueragitation der »Gesellschaft«; die Übertragung des militärischen Habitus auf die ökonomische Produktion; der rigorose Zentralismus der Führungsstäbe; der Kult der Militanz als Lebensform; der asketische Kollektivismus; der Haß gegen die liberalen Verkehrsformen; der Zwangsenthusiasmus zugunsten der revolutionären Sache; die Monopolisierung des öffentlichen Raums durch Parteipropaganda; die umfassende Ablehnung bürgerlicher Kultur und Zivilität; die Unterwerfung der Wissenschaften unter das Gesetz der Parteilichkeit; die Verächtlichmachung der pazifistischen Ideale; das Mißtrauen gegen Individualismus, Kosmopolitismus und Pluralismus; die ständige Ausspitzelung der eigenen Gefolgschaft; der exterministische Modus des Umgangs mit dem politischen Gegner und schließlich die von der jakobinischen terreur abgelesene Neigung zum kurzen Prozeß, bei dem die Anklage den Schuldspruch einschließt.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 231-232).

„An der Spitze dieser Liste faschismustypischer Merkmale steht die ausdrückliche Außerkraftsetzung des fünften Gebots (Sloterdijk), und sei es nur für die Dauer einer »Übergangszeit« bis zur Ausmerzung des Klassenfeindes (anfangs noch »Volksfeind« genannt). Es handelte sich hierbei wohlgemerkt nicht um jene Ausnahmen vom alttestamentarischen Tötungsverbot, die von alters her jüdischen Kämpfern wie christlichen Soldaten zugestanden waren. Die Nutznießer der Ausnahmegesetze gehörten diesmal einer semi-zivilen Elite an, die als rächende Avantgarde der Menschheit nicht der gewöhnlichen Moral zu gehorchen hatten. Nur für die Mitglieder dieses Opferungsordens galt die Bezeichnung »Berufsrevolutionäre«, mit deren Erfindung Lenin der entscheidende Schritt zu einer Praxis des hypermoralisch motivierten Amoralismus gelungen war. Wenn Albert Camus in seinem klugen Resümee von Hegels amoralisierendem Einfluß auf das Denken der Revolutionäre im 19. und 20. Jahrhundert notierte: » Alle Moral wird provisorisch« (Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, 1951, S. 117), so weist dies auf die zunehmende Entfremdung des revolutionären Aktivismus von seinen idealistischen Ursprüngen hin. Die pragmatischen Gründe für das Provisorischwerden der Moral in Zeiten permanenter Kämpfe kamen im modus operandi der Russischen Revolution zum Vorschein, als das Morden für das Gute chronische, professionelle und institutionelle Züge annahm. Schon nach kurzer Zeit waren die Tötungspraktiken habitualisiert, systematisiert und bürokratisiert, ohne je ihren unberechenbaren Charakter abzustreifen. Da niemand mehr imstande war, zu sagen, ob der moralische Ausnahmezustand je wieder ein Ende finden würde, nimmt es nicht wunder, wenn es nach einer Weile nicht an Stimmen fehlte, die mehr oder weniger unverhüllt eine dem immerwährenden Krieg gemäßere Moral empfahlen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 232-233).

„Von den Aktivisten wurde das Töten im Dienst der großen Sache als tragische Preisgabe der Tugend beschworen. Manche sahen darin ein Opfer ihrer persönlichen Moral zugunsten der Göttin Revolution. Unter den Kommissaren feierte man das Tötenkönnen wie eine priesterliche Kompetenz, die den Revolutionär vor dem Bourgeois auszeichnete. (Bucharin lobte einfühlsam die Angehörigen der Tscheka, die von ihrer »höllischen Arbeit« als »Ruinen ihrer selbst« mit zerrütteten Nerven zurückkamen. Wie wichtig für den Kommunismus die Mobilisierung der Tötungsbereitschaft war, verrät Brechts Lehrstück Die Maßnahme, 1930, mit dem die Freiheit des Tötendürfens und die Verlegenheit des Tötenmüssens im Dienst der revolutionären Notwendigkeit eingeübt werden sollte. In verwandtem Sinn illustrierte André Malraux in der Anfangsszene von So lebt der Mensch, 1933, wie der Held durch den ausgeführten Mord in den Rausch des revolutionären Aktivismus gerät .... Vor entsprechendem Hintergrund hat Heinrich Himmler bei seiner berüchtigten, im Goldenen Saal des Posener Schlosses gehaltenen Rede vom 4. Oktober 1943 den 92 anwesenden SS-Offizieren einzuschärfen versucht, in puncto anständiger Tötungsfähigkeit müßten deutsche Elitetruppen das Niveau der sowjetischen Kommissare einholen. Es beunruhigte ihn, daß die Großtötungsfunktionäre der Sowjetunion zwanzig Jahre Vorsprung hatten. - Im Jahr 2001 empfiehlt Robert Kaplan - Leninist wider Willen - in seinem Buch Warrior Politics - Why Leadership Demands a Pagan Ethos der us-amerikanischen Regierung, die christliche Moral des unbedingten Lebensschutzes beiseite zu stellen und sich im Blick auf die kommenden Aufgaben eine tötungsfähigere »pagane« Mentalität zu eigen zu machen. Etwas diskreter bezeichnen Charles Krauthammer und andere neokonservative Ideologen der Bush-Administration den tötungsbereiten Unilateralismus der USA als »demokratischen Realismus«.). Die Unwilligkeit zu töten war in den Augen der Aktivisten das sicherste Anzeichen für den Fortbestand bürgerlicher Trägheiten. Zur Leninlegende gehörte, wie man weiß, eine starke Prise von moralischem Kitsch, dessen Muster Gorkis Lobreden auf den für seine Aufgabe zu sensiblen Revolutionsführer lieferten.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 233-234).

„Die späteren faschistischen Bewegungen auf dem nationalistischen Flügel, um deren Gefährdung durch übertriebene Sensibilität man sich wenig Sorgen machen mußte, brauchten nur die Kriegserklärung an den Klassenfeind durch die an den Volks- oder Rassenfeind zu ersetzen, um das Leninsche Modell auf die nationalen Bewegungen Mittel- und Südeuropas übertragbar zu machen. Ihr Furor war -auch dies kann nicht bestritten werden - gewiß nicht bloß imitativer Natur. Die Eigenbeiträge der deutschen, italienischen, rumänischen, kroatischen u.s.w. radikalnationalen Parteien zum Gesamtbild der exterministischen Bewegungen in Europa fallen bei einer Bilanz schwer genug ins Gewicht. Begnügen wir uns hier mit der fast resignierten Feststellung, daß die gewöhnliche Moral mit der Evaluierung makrokrimineller Komplexe überfordert ist. Die versteinerten Zahlenkolonnen der Statistik sagen aus, daß im 20. Jahrhundert auf eine Tötung im Namen der Rasse zwei bis drei Tötungen im Namen der Klasse entfallen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 234).

„Aus den antibürgerlich aufgeputschten Modellen des Kriegsnationalismus - man könnte ihn einen Sozialismus der Front nennen - gingen die nominell »fascistischen« Bewegungen in Italien und anderswo hervor, Bewegungen, die man im Rahmen unserer Überlegungen am besten als Volksbanken des Zorns charakterisiert. Ihrem funktionalen Grundzug nach waren auch sie Protestsammelstellen, die deutliche funktionale Ähnlichkeiten mit den Linksparteien aufwiesen - jedoch mit völkischen, regionalistischen und großnationalen Akzenten. Ihr zur Schau getragener Antikapitalismus blieb stets fassadenhaft. Die oft bemerkten Ähnlichkeiten zwischen den kommunistischen und den faschistischen Bewegungen werden im Licht der psychopolitischen Analyse leicht begreiflich. In beiden Fällen liegen Zornkörperbildungen vor, die das Niveau von Großbanken erreichen. Faschismus ist Sozialismus in einem Land - ohne daß internationalistische Ergänzungen intendiert wären. Setzt man den Akzent auf den Kollektivismus der Front und den Egalitarismus der Produktion, ergibt sich die Feststellung, Faschismus sei Sozialismus ohne Proletariat beziehungsweise Egalitarismus auf völkischer Basis. Sein modus operandi ist die Einschmelzung der Bevölkerung in eine thymotisch mobilisierte Meute, die sich durch Anspruch auf Größe im Nationalkollektiv geeint wähnt.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 234-235).

„Die nationalen Volksbanken der Zornsammlung genossen den psychopolitischen Vorteil, direkt mit den Regungen des patriotischen Thymos arbeiten zu können, ohne den Umweg über universalistische Ideen oder andere kraftraubende Fiktionen gehen zu müssen. Dies trug nicht wenig zum Erfolg der militanten Ressentimentbewegungen in den Verliererländern des Ersten Weltkriegs bei, namentlich Deutschland, da hier die Nachfrage nach Optionen für die übereilte Umwandlung von Kränkungen in Selbstaffirmationen begreiflicherweise am heftigsten war. Zieht man in Betracht, daß Nachkriegszeiten seit jeher eine Schlüsselfunktion für die kulturelle Re-Orientierung kämpfender Kollektive zukommen, so begreift man die fatale Drift, von der die deutsche Rechte nach 1918 erfaßt wurde, als sie sich der ihnen aufgegebenen Lektion verweigerte. Auch Italien entzog sich der Aufgabe, die Regelwerke der eigenen Kultur im Licht der Kriegserfahrung neu zu justieren. Indem die Alliierten den Italienern die Tür öffneten, in letzter Minute ins Lager der Sieger überzulaufen, boten sie ihnen eine Gelegenheit, die Arbeit der post-stressorischen Revision zu überspringen und sich in heroische Selbsterhöhungen zu flüchten. (Zur Neueinstellung von Kulturregeln nach den Höchststreß-Phasen vgl. Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen - Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, 1996, S. 50-97.).“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 235-236).

„Im übrigen geschah, was geschehen mußte. Es konnte nicht ausbleiben, daß die beiden Großunternehmen auf dem Feld der politischen Zornbewirtschaftung sich irgendwann gegenseitig als Konkurrenten identifizierten. Kaum hatten sie sich reziprok ins Visier genommen, erklärten sie den Kampf gegen die jeweils andere Seite zu ihrem vorrangigen Daseinsgrund. Der Antibolschewismus der faschistischen Bewegungen und der Antifaschismus der Komintern verschränkten sich quasi a priori ineinander. Warum die nominell ausgewiesenen Faschismen ihre Geschäftsziele von Anfang an antibolschewistisch plakatierten, ergab sich aus der zeitlichen und sachlichen Priorität der kommunistischen Phänomene: Die Radikalen vom rechten Flügel hatten das Exempel des linken Konkurrenten vor Augen, als sie begannen, seine Erfolgsformeln zu kopieren. Beunruhigend blieb für die faschistischen Führer, daß der östliche Rivale im empfindlichsten Punkt der neuen Politik, bei den Großtötungsaktionen, einen nur schwer einholbaren Vorsprung besaß. Der Kommunismus hingegen ließ eine Weile vergehen, bevor er in der Mobilisierung sämtlicher Kräfte für den Kampf gegen den Wettbewerber von rechts seine Chance erkannte.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 236).

„Tatsächlich gingen von Stalins Direktiven gegen die rechtsradikalen Bewegungen Europas fast unwiderstehliche moralische Zwänge aus. Indem der Führer der Bolschewisten sich vor der Welt als Garant des Widerstands gegen Nazideutschland präsentierte, legte er Hitlergegnern jeder Couleur den »Antifaschismus« als die einzige moralisch vertretbare Option der Epoche auf - und immunisierte auf diese Weise die Sowjetunion gegen ihre Kritiker von innen wie von außen. (Sloterdijk). Diese mußten fürchten, als Profaschisten denunziert zu werden, sobald sie die geringsten Einwände gegen Stalins Politik erhoben. Wie berechtigt diese Befürchtung war, bewies die von Stalin gelenkte Propaganda, wenn sie Trotzki und Hitler in einem Atemzug nannte, um die personifizierten Gefahren für das Vaterland des Weltproletariats namhaft zu machen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 236-237).

„Doch gehen wir einen Schritt zurück, um die Formierung des revolutionären Thymos in einem frühen Stadium zu belobachten: Seit Lenins »Dekreten über den Roten Terror« vom 5. September 1918 waren Geiselnahmen und Massenerschießungen von »revolutionsfeindlichen Elementen« zur revolutionären Pflicht erklärt worden. Allein im Jahr 1919 soll es zu einer halben Million Erschießungen gekommen sein; bereits im Jahr davor hatte der Terror massenhafte Züge angenommen - die Tscheka veröffentlichte besonders gern die Listen der Erschossenen, um der Bevölkerung die Tendenz der Maßnahmen einzuschärfen. Der Übergang vom Aufstand gegen die alte Herrschaft zum Terror gegen das eigene Volk, dann auch gegen die eigene laue Gefolgschaft erzeugte ein Klima, das dem von Bakunin geforderten »Amorphismus« nahekam. Im August 1918 hatte Lenin, vom aktivistischen Fieber beflügelt, Telegramme in das ganze Land versandt, in denen er Massenhängungen von widerstrebenden Bauern forderte - »macht es so, daß das Volk auf hundert Werst sieht und erzittert«. In demselben Geist hatte der Volkskommissar für die Justiz, Krylenko, von seinen Untergebenen verlangt, manifest Unschuldige zu liquidieren: Ein solches Vorgehen erst werde den »Massen« gebührend Eindruck machen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 237-238).

„Dem Kalkül, das dem Ausspruch des Kommissars zugrunde lag, mangelte es nicht an Abgründigkeit: Würde man nicht eines Tages vom Übermaß der Exzesse auf die Gerechtigkeit der Sache schließen müssen, für welche diese Opfer nötig waren?  Der polnische Dichter Alexander Wat hat die Logik des kalten Furors in seinen Gesprächen mit Czeslaw Milosz offengelegt: »Aber, weißt du, es geht um dieses abstrakte Blut, dieses unsichtbare Blut, das Blut auf der anderen Seite der Mauer ...Das Blut, das drüben, auf der anderen Seite des Flusses vergossen wird - wie rein und großartig muß die Sache sein, für die so viel Blut, unschuldiges Blut, vergossen wird. Dies übte eine unerhörte Anziehung aus ...«.Wo alles einen Zug ins Maßlose und Massenhafte aufwies, lag es da nicht nahe, auch bei der Vernichtung von Gegnern entsprechende Proportionen zu wählen?  Ossip Mandelstam hatte schon 1922 begriffen, daß die Sowjetunion im Begriff war, sich in eine orientalische Despotie zu verwandeln. »Vielleicht sind wir wirklich Assyrer und verhalten uns deshalb so gleichgültig gegenüber Massenmorden von Sklaven, Gefangenen, Geiseln und Ungehorsamen?« (Nadeschda Mandelstarn, Das Jahrhundert der Wölfe, 1971, S. 297). Die Hinrichtungsstatistiken der Historiker geben in ungerührten Zahlen Auskunft darüber, daß unter Lenins Herrschaft Woche für Woche mehr Menschen ohne Prozeß liquidiert wurden als während der Zarenherrschaft aufgrund von Prozessen in einem Jahrhundert.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 238-239).

„Diese Hinweise stecken den Raum der Mehrdeutigkeiten ab, in dem unzählige compagnons de route des realen Kommunismus sich verirrten. Das Konzept Weggefährtenschaft, könnte man sagen, ist die politische Gestalt dessen, was Heidegger in fundamentalontologischer Sicht als die» Irre« bezeichnet hatte. Wo »geirrt« wird, bewegen sich Menschen in einer Zwischenzone zwischen Wildnis und Route .... Weil Irre einen Mittelwert zwischen Gang und Drift bedeutet, kommen die Reisenden (und Mitreisenden) unvermeidlich anderswo an, als sie beim Antritt der Reise vorhatten. Das »Gehen« mit dem Kommunismus geriet zu einer Irrwegsgefährtenschaft, weil es voraussetzte, was zu keiner Zeit anzunehmen war: daß die kommunistischen Akteure einer halbwegs zivilisierten Straße zu erreichbaren Zielen folgten. Sie unterstützten in Wahrheit eine Entwicklungsdiktatur, die mit exzessiver, idealistisch verbrämter Gewalt herbeiführen wollte, was ein liberaler Staat in kürzerer Zeit spontaner, effektiver und weitgehend ohne Blutvergießen hätte zustande bringen können.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 239).

„Was den Jargon des Antifaschismus angeht, lag es in der Chronologie der Ereignisse, daß Lenin ihn nicht mehr selber zu gebrauchen lernte. Als Mussolini im Oktober 1922 den »Marsch auf Rom« organisierte (seine Partei saß erst seit einem Jahr im römischen Parlament), war Lenin soeben nach zwei Schlaganfällen an seinen Schreibtisch zurückgekehrt. Als sich »der Duce« zum Diktator Italiens aufgeschwungen hatte, war der Revolutionsführer infolge seines dritten Anfalls verstorben. Stalins Propagandaapparat hingegen sollte zu gegebener Zeit in der Proklamation des Antifaschismus seine epochale Chance erkennen. De facto traten der »Fascismus« wie der Nationalsozialismus für die frühe Komintern noch jahrelang in die zweite Reihe. Sie wurden während der zwanziger Jahre überdeckt vom Zerrbild des sozialistischen oder sozialdemokratischen Rivalen im Westen, auf dessen Denunziation sich die kommunistische Bewegung spezialisiert hatte. Ihn vor allem versuchte man unter schimpflichen Etiketten wie »Sozialchauvinismus« unmöglich zu machen oder mittels des Vorwurfs der »Halbheit, Lügenhaftigkeit und Fäulnis« zu zertrümmern. So die Wendungen des Manifests der Kommunistischen Internationale an das Proletariat der ganzen Welt vom März 1919.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 239-240).

„Dies war nur möglich, weil sich der Haß gegen die gemäßigte Linke zur fixen Idee der radikalen entwickelt hatte. Inmitten der Wirren des Herbstes 1918 nahm Lenin sich Zeit für eine fast hundertseitige Tirade im professoralen Stil gegen den »Renegaten Kautsky«, den Kopf der parlamentarischen europäischen Linken, in der er den bekannten Vorwurf erhob, dieser wolle eine »Revolution ohne Revolution« - was deutlich macht, wie sehr schon damals für Lenin praktische Umwälzung und entgrenzte Gewaltausübung synonym geworden waren. (Kautskys Replik ließ an Entschiedenheit nichts zu wünschen übrig: vgl. Karl Kautsky, Terrorismus und Kommunismus, 1919 - worin er den Bolschewismus als »tatarischen Sozialismus« und als antisozialistischen Rückfall in die Barbarei verurteilt.Mehr). Bei der im März 1919 konstituierten Dritten Internationale konnte die Mitgliedschaft nur erwerben, wer sich zu dem Auftrag bekannte, die Sozialdemokratie als den Hauptfeind zu bekämpfen. Erst als die Zeit für effektive Abwehrbündnisse gegen die siegreichen nationalrevolutionären Bewegungen abgelaufen war, stellte die kommunistische Führung in Moskau ihre Optik scharf auf das Bild der Zornsammlungen in den anderen, den nationalen Sozialismen. Zu diesem Zeitpunkt drängten sich Sozialdemokraten und Kommunisten bereits in den Konzentrationslagern zusammen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 240-241).

„Reflexe des Kampfs um das Thymosmonopol drangen auch in das Denken der subtileren Geister des Westens ein. Walter Benjamin tadelte in seinen Reflexionen Über den Begriff der Geschichte, 1940, die Sozialdemokratie für ihre Orientierung an der Vorstellung, die kommenden Generationen sollten dereinst von besseren Lebensbedingungen profitieren. Durch die Ausrichtung an künftigen Erfolgen, wandte er ein, werde der Arbeiterklasse »die Sehne der besten Kraft« durchschnitten, da sie durch die Erziehung zu evolutionärer Geduld »den Haß wie den Opferwillen« verlerne. Wer hassen soll, muß Hoffnungen beiseite lassen und sich an empörenden Bildern der Vergangenheit ausrichten. (Vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, 1940, XII. »Denn beide [Haß wie Opferwillen, P. SI.] nähren sich am Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel.«). Mit Argumenten dieser Qualität erbot sich der Autor der geschichtsmessianischen Thesen, dem von den Kommunisten geschätzten Klassenhaß höhere Weihen zu verschaffen. Wer sich von der Durchdringungskraft der linksfaschistischen Verführung - und vom dezenten Reiz der theologischen Überinterpretation geschehender Geschichte - einen Begriff machen will, muß zur Kenntnis nehmen, daß auch ein Autor vom Rang Benjamins für solche gewaltheiligenden philosowjetischen Gefälligkeiten zu gewinnen war.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 241).

„Wer dagegen wissen möchte, was man zu hören bekommt, wenn die Überinterpretation die Schwelle zur Indezentheit mit klingendem Spiel überschreitet, findet von den 1920er Jahren an Beispiele in Fülle - nicht zuletzt im Lager der politischen Theologen. So bei Paul Tillich, der sich genügend inspiriert glaubte, um die Behauptung zu wagen, die Entscheidung für den Sozialismus könne in einer bestimmten Periode gleichbedeutend sein mit der Entscheidung für das Reich Gottes. Die »bestimmte Periode« war für Tillich mit der Ära nach Lenins Tod identisch: Im Jahre des Herrn 1932 sah sich der entscheidungsfreudige deutsche Protestant aufgerufen, Stalins Kairos bejahend zu begreifen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 241-242).

„Daß der Heilige Geist bei seinem freien Wehen gelegentlich hohe Windstärken erreicht, ist ein religionsgeschichtlich gut belegtes Phänomen. Wie er Orkane auf Bestellung liefert: diese Demonstration war dem parakletischen Frontmann Eugen Rosenstock-Huessy vorbehalten, als er die Geschichte Europas kurzerhand als das Epos des durch Revolutionen schöpferischen Heiligen Geistes erzählte. Im Jahr 195 I hielt dieser phosphoreszierende Laientheologe es für passend, über die Sowjetunion zu dozieren: »Von Rußland werden wir umgeschaffen und revolutioniert, weil dort die Schöpfungsgeschichte des Menschen weitergeht ... in Moskau sitzen die neuen dogmatischen Päpste unseres Lebensheils.« (Eugen Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, S. 527.). Solche Aussagen sind nur dadurch plausibel zu machen, daß illuminierte Interpreten noch unter schwierigsten Verhältnissen auf ihrem Vorrecht bestehen, die Weltgeschichte bis ins Detail als Heilsgeschichte auszulegen. Profane Beobachter solcher Siege über die Wahrscheinlichkeit gelangen zu dem Schluß, Theologie und Akrobatik müßten eine gemeinsame Wurzel haben.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 242).

„Die 1919 gegründete Dritte Internationale trat von Anfang an als das Vollzugsorgan des Leninismus auf, das den Anspruch erhob, »die wirklich revolutionären Parteien des Weltproletariats zu sammeln«. Sie gab vor, dem Proletariat mittels der Räte »einen eigenen Apparat« zu schaffen, der den bürgerlichen Staat zu ersetzen imstande wäre. Hiermit war nicht weniger als ein System des proletarischen Katholizismus auf die Weltbühne getreten. Unmißverständlich war das Verhältnis zwischen der Partei und den Räten dem zwischen der römischen Kirche und ihren lokalen Sprengeln nachgebildet. Nach einigen Jahren hatte sich freilich gezeigt, daß von den klingenden Verkündigungen des Manifests der Kommunistischen Internationale an das Proletariat der ganzen Welt vom 6. März 1919 nichts als das Versprechen übrigblieb, die Kämpfe würden auf unabsehbare Zeit fortgesetzt. Auch das in dem Manifest proklamierte Konzept einer Rätearmee verflog binnen kurzem, um einem konventionellen Militärapparat in den Händen einer monologischen Parteiführung Platz zu machen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 242-243).

„Indem sich die Komintern als »Internationale der Tat« vorstellte, unterstrich sie ihren Anspruch, die verstreuten Dissidenzpotentiale der proletarischen »Massen« bei einer Weltbank des Zorns zu sammeln. Diese versprach ihren Kunden, das thymotische Kapital in revolutionäre Projekte zu investieren, um es im Sinne eines globalen, buchstäblich katholischen, dem »Ganzen gemäß« formulierten Weltprojekts zu verwerten. Die Erfolge dieser Bank hätten sich in der Herausbildung eines stolzen Proletariats und in der globalen Verbesserung seiner Lebensbedingungen erweisen müssen - sofern effektive Renditen aus den thymotischen Einlagen der »Massen« sich in der Umwandlung zornhafter Regungen zu Stolz und Selbstaffirmationen darstellen. Warum es anders kam, muß hier nicht ausführlich erläutert werden. Bekanntlich war Lenin von der Erwartung ausgegangen, der Umsturz in Rußland werde binnen kurzem als Auslösersignal für weltrevolutionäre Unruhen wirken - namentlich beim deutschen Proletariat, dessen Verhalten er eine Schlüsselrolle zusprach. Diese Einschätzung besaß einen semi-realistischen Kern: In der Tat existierten große Protestpotentiale in der westlichen Hemisphäre, und die deutsche Frage war unbestreitbar von ausschlaggebender Bedeutung. Allerdings nahmen die dissidenten Energien eher die Gestalt von nationalrevolutionären Sammlungsbewegungen an, zumal in Mussolinis Italien und im rechtsradikalen Spektrum der unglücklichen Weimarer Republik - und dies aus Gründen, die im Licht der psychopolitischen Analyse verständlich werden.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 243-244).

„Die frühe terroristische Wende der russischen Ereignisse macht eines von vorneherein unmißverständlich klar: Die neue Zentralbank konnte sich zu keiner Zeit mit den realen Einlagen ihrer Klientel begnügen. Da die effektiven Zorndepots der sowjetischen Proletariate für die geplanten Vorhaben viel zu gering waren, mußte die nötigen Aktiva durch Zwangseintreibungen bei den riesigen Bauern»massen« des Landes aufgebracht werden. Gewiß waren auch hier reichliche Zorn- und Dissidenzpotentiale vorauszusetzen. Nichts sprach allerdings dafür, daß sie freiwillig dem kommunistischen Fundus zugeflossen wären, da die Interessen der ländlichen Armen kaum einen gemeinsamen Nenner mit denen der marginalen marxistischen Arbeiterschaft aufwiesen, geschweige denn mit denen der diktierenden Kommissare.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 244).

„In dieser Lage griff die Direktion der massiv unterkapitalisierten Weltbank des Zorns auf eine Erpressungsstrategie zurück, mit deren Hilfe sie die widerstrebenden Bauern»massen« zwingen wollte, ihre thymotischen Ersparnisse bei ihr zu deponieren. Das Managementgeheimnis der Russischen Revolution bestand darin, die fehlenden Zornmengen durch Zwangskredite aufzutreiben. Man erzeugte folglich enorme Mengen an ausbeutbarer Angst - verbunden mit der erpreßten Bereitschaft, Unterstützung für die Projekte der revolutionären Zornpolitik zu heucheln. In diesem Punkt sind die Analogien zwischen der katholischen Erlösungspolitik und dem kommunistischen Evangelismus beeindruckend.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 244).

„Es dürfte der größte Erfolg der Russischen Revolution gewesen sein, daß sie eine breite Welle an Simulationen der Zustimmung zu erzwingen imstande war. Diesem Effekt verdankt man die Entdeckung, wonach der zur Legitimation revolutionärer Politik vorauszusetzende Klassenhaß nicht unbedingt vorhanden sein muß - so wenig wie die institutionalisierte Religion stets den wirklichen Glauben zur Voraussetzung hat. Der Affekt ließ sich ebensogut künstlich herstellen - sei es durch Agitation und mobilisatorische Maßnahmen, sei es durch die Erzwingung von Beifall für die kämpferischen Projekte der Partei.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 245).

„Erst durch die simulatorisch-mobilisatorischen Manöver der sowjetischen Führung wurde die Komintern als Weltbank des Zorns geschäftsfähig. Angesichts der massenhaft erpreßten Zustimmung zu den Unternehmen der Zornbank war freilich a priori evident, daß die Klienten ihre Einlagen nicht wiedersehen würden - die Früchte des Zorns, die in Wahrheit Früchte der Angst vor den Zornpolitikern waren, solltenbekanntlich zur Schaffung eines staatskapitalistischen Systems verwendet werden, das die Umverteilung seiner Renditen auf unbestimmte Zeit, das heißt für immer, vertagen mußte.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 245).

„Da die Erpressung von Zustimmung durch Angst allein die sowjetische Entwicklungsdiktatur nicht zu tragen vermochte, erwies es sich als unumgänglich, einen Katalog von positiven Bildern zu schaffen, in welche die von der Revolution zunächst nur passiv Erfaßten ihre eigenen Ambitionen und Phantasien investieren konnten. Diese Aufgabe wurde von den Dirigenten der bolschewistischen Psychopolitik nicht ohne Sinn für thymotische Realitäten angegangen. Um das nötige Maß an Kollektivstolz zu erzeugen, aktivierten sie einige der machtvollsten mythischen Leitbilder ..., - an erster Stelle den Prometheus-Komplex, der seit jeher für die technophile Grundstimmung der bürgerlichen Moderne bezeichnend war, sodann den Stolz auf die Großtaten der sowjetischen Technik und ihres Städtebaus - man erinnert sich an den Kult um die Moskauer U-Bahn - und schließlich die Figur des Athleten, der durch seine Leistungen die Ehre des Kollektivs verteidigt. Die Versportlichung der industriellen Leistung ging in der sowjetischen Ideologie so weit, daß bei den berüchtigten Stachanow-Arbeitern, diesen Schwerathleten der Planerfüllung, die Gestalt des Proletariers mit der des Siegers im Stadionwettkampf zur Deckung gebracht wurde. Nichtsdestoweniger konnte der künstlich angefachte Stolz der Komsomolzen, der Angehörigen der auf Stalin eingeschworenen Jugendorganisation, die sich freiwillig für die Produktionsschlacht meldeten, die Schäbigkeit der Verhältnisse nicht ganz vergessen machen. Die Empfindlichkeit der Funktionäre gegen die geringste Kritik verriet die Labilität der Lage. Zuweilen genügte ein scheinbar harmloser und sachlich zutreffender Satz wie der, sowjetische Schuhe seien von minderwertiger Qualität, um dem Sprecher die Verschickung in eines der zahllosen Straflager einzubringen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 245-246).

„Das ausschlaggebende Merkmal der neuen Affektwirtschaft bestand darin, die Klienten in eine Zwangsbindung an das Sammlungsinstitut zu bringen. Aufgrund der Abschaffung jeglicher Opposition konnten sie ihre Zornguthaben bei der Partei nicht mehr abheben und in einem anderen Unternehmen deponieren. Hätte die Bank die Angstkredite zurückgezahlt und so ihren Kunden eine freie Entscheidung ermöglicht, hätten die sowjetischen Anleger eher heute als morgen ihre Guthaben von den kommunistischen Instituten abgezogen und in weniger despotische Projekte investiert. So aber hätte eine Kontoauflösung die Trennung von der Partei bedeutet - mit entsprechenden Folgen. Diese Zwangsvereinnahmung der Anleger durch das revolutionäre Kundenbindungssystem ist es, die nicht ganz unpassend mit dem ansonsten fragwürdigen Begriff »Totalitarismus« bezeichnet werden kann. Totalitär ist die Rückverwandlung des Kunden in den Leibeigenen des Unternehmens.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 246-247).

„Man versteht nach alledem, warum der rote Terror nie ein bloßes unumgängliches Übel der »Übergangszeit« war - gleichgültig, ob diese als Episode oder als Epoche konzipiert wurde. Das sowjetische Regime war aus prinzipiellen Gründen auf die stetige Regeneration des Schreckens angewiesen. Ohne die Konfiskation der thymotischen Potentiale breitester Schichten hätten die bolschewistischen Kader sich kaum ein halbes Jahr an der Macht halten können. Für den Erfolg der rigiden Linie darf man darum auf keinen Fall Lenins starren Charakter allein verantwortlich machen, sooft auch die abnorme Unduldsamkeit des Partei- und Revolutionsführers von ihren Zeugen und Opfern zu Protokoll gegeben worden ist. In Wahrheit war die Unterdrückung jeder Opposition eine schlichte geschäftliche Notwendigkeit, wenn die Partei ihren Alleinvertretungsanspruch für die thymotischen Energien der »Massen« in ihrem Herrschaftsbereich nicht aufgeben wollte. Dies war sie ihrem Selbstbild schuldig, das Ganze der Wahrheit über die »Gesellschaft« vor der »Gesellschaft« selbst zu vertreten - hierin einem zweiten Katholizismus vergleichbar. Deshalb stand der Kollaps des kommunistischen Systems vor der Tür, als seine universalistische Autohypnose verblaßte. Solange es sich an der Macht hielt, mußte es sämtliche Mittel des Ausdrucks von Selbstachtung konfiszieren - und da es einen evidenten Zusammenhang zwischen Eigentum und Selbstachtung gibt, war die Vernichtung des Eigentums der sicherste Weg, die Genossen des Sowjetreichs zu demütigen. Sollte das System erfolgreich herrschen, durfte es keinen nicht-bolschewistischen Nukleus für Thymosartikulation im eigenen Lande mehr geben. Um das Bankmonopol des Kommunismus für die Zorn-, Stolz- und Dissidenzvermögen der von ihm erfaßten Population durchzusetzen, war es aus der Sicht der Monopolisten absolut notwendig, den Einzelnen wie den Gruppen jeden Zugang zu alternativen Quellen der Selbstachtung abzuschneiden. (Nikita Chruschtschov hat schon eine Weile vor seiner epochemachenden Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU über Stalins Verbrechen und die Verheerungen des Personenkults die bemerkenswerte Äußerung getan: » Wir haben das angesammelte Kapital des Vertrauens vergeudet, welches das Volk der Partei entgegenbringt. Wir können das Vertrauen des Volkes nicht endlos ausbeuten.« Um welches Kapital es in Wahrheit ging, versuchen wir in dieser Untersuchung zu klären.).“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 247-248).

„Die Langzeitfolgen dieser psychischen Enteignungen sind noch heute, nach Jahrzehnten des Tauwetters und der Desowjetisierung, im post-kommunistischen Universum atmosphärisch gegenwärtig. Aufgrund einer Praxis der Tiefendespotie, zu der die Zornenteignung, die Stolzbrechung und die Oppositionsvernichtung über mehrere Generationen hin gehörten, entstand im Machtbereich des Leninismus und Stalinismus ein Klima allesbeschädigender Entwürdigung, das an Oswald Spenglers ... Diagnosen ... denken läßt. Seine alltägliche Wirklichkeit war die populäre Resignation. Man erduldete das politische Regime wie eine boshafte Zugabe des Schicksals zu den schrecklichen russischen Wintern. Wollte man das Sowjetklima auf die Beiträge einzelner Aktivisten zurückführen, so stieße man unter anderem auf eine Beamtenfigur wie Lasar Kaganowitsch, eine der monströsesten Kreaturen Stalins, von der bekannt ist, daß sie von den Revolutionären mit feierlichem Nachdruck die Preisgabe ihrer Selbstachtung und ihrer Empfindsamkeit verlangte. In dieser Atmosphäre verwandelte sich das russische Volk in ein Kollektivaus passiven Mystikern, denen der Staat die Selbstaufgabe erleichterte. Der Künstler Ilya Kabakov hat in einem autobiographischen Gespräch mit Boris Groys die Grundstimmung der russischen »Gesellschaft« vor und nach Stalins Tod evoziert: »... die Sowjetmacht wurde hingenommen wie ein Schneesturm, wie eine Klimakatastrophe.« »Bei aller Alptraumhaftigkeit des damaligen Lebens hatten wir das süße Gefühl, daß alle so lebten ...« (vgl. Boris Groys, Die Kunst des Fliehens - Dialoge über die Angst, das heilige Weiß und den sowjetischen Müll, 1991.).“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 248-249).

„Die Rethymotisierung der postsowjetischen »Gesellschaft« erweist sich aufgrund der psychischen und moralischen Ressourcenarmut als eine langwierige Unternehmung. Sie konnte zunächst nur über den Nationalismus in Gang kommen - eine für Rußland eher neue Idee. (Vgl. Boris Groys, Die Erfindung Rußlands, 1995, S. 14f..). Kenner der aktuellen Situation berichten, die russische »Gesellschaft« fröne zur Stunde nicht, wie man vermuten könnte, dem Konsumismus ohne Grenzen, sondern habe sich einem täglichen bellum omnium contra omnes verschrieben. Die Rückkehr zu selbstaffirmativen Lebensstilen vollzieht sich eher als generalisiertes Mobbing. Dieser Befund läßt eine günstige Prognose zu. In einem Land, in dem jeder vor jedem die Achtung verloren hatte, weil jeder jeden in entwürdigenden Situationen erlebte, könnte das Aufblühen einer robusten Gemeinheit aller gegen alle ein Zeichen von Erholung darstellen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 248-249).

NACH OBEN
- „Zornbeschaffung durch Krieganleihen“ -

„Die voranstehenden Überlegungen haben erläutert, wieso das Revolutionsprojekt Lenins durch einen massiven Mangel an thymotischem Kapital geprägt war. Die Unvermeidlichkeit dieses Mangels resultierte aus der historischen Lage. Zwar fehlte es um 1917 keineswegs an antizaristischen Affekten. Auch durfte man ein großes Reservoir an Aspirationen in Richtung auf Demokratie, Selbstverwaltung, Freizügigkeit und Landverteilung unterstellen, doch waren diese einfach weckbaren oder verstärkbaren Tendenzen weit davon entfernt, mit den forcierten staatskapitalistischen Entwicklungskonzepten der leninistischen Übergangszeitlehre zu harmonieren. In der Sprache der Revolutions-Insider wurde dieser Befund durch den Hinweis auf das noch fehlende »Klassenbewußtsein« bestätigt. Naturgemäß konnten Lenin selbst diese Verhältnisse nicht verborgen bleiben. Er war daher, um der Kohärenz seiner Visionen willen, auf die Erwartung einer baldigen proletarischen Revolution in Deutschland angewiesen, von der er sich eine Aufstockung der völlig unzureichenden russischen Kapitalbasis versprach. Als diese ausblieb und als deren ohnedies schwachen Ansätze nach der Ermordung ihrer Führer ganz in sich zusammenfielen, wurde die Notwendigkeit alternativer Thymosmobilisierungen in Rußland akut.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 249-250).

„Auf die konstitutive Rolle des Terrors für die Beschaffung von breiter Zustimmung zu den Zielen der Revolution wurde bereits hingewiesen. Ihm sollte bald eine kulturrevolutionäre Front zugeordnet werden: An dieser kämpfte man um die massenhafte Erzeugung der erwünschten Gesinnungen durch intensivste Propaganda in Verbindung mit der Monopolisierung der Erziehung dank bolschewistisch indoktrinierter Lehrer und Lehrpläne. In diese Kampagnen fällt die Blüte der russischen Kunstavantgarde, der erst die neue rigide Kulturpolitik nach der Machtübernahme Stalins ein Ende setzte. Noch folgenreicher war jedoch die Schaffung solidarischer Kampfstreßkollektive, die den Soll-Zustand thymotischer Homogenisierung durch gemeinsame Feindwahrnehmungen herbeiführten.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 251).

„Man kann im Lichte der pychopolitischen Logik ohne Übertreibung behaupten, daß die Russische Revolution in ihren ersten Jahren durch die Konterrevolution gerettet wurde - ebenso wie die chinesische Revolution ihren Triumph letztlich den Japanern verdankte, die im Gefolge ihrer Invasion in China 1937 bis 1945 die Voraussetzungen schufen, unter denen die schwachen kommunistischen Reserven durch den massiven Zufluß nationalpatriotischer Regungen verstärkt wurden. Mao Zedong hat nach dem Sieg seiner Truppen kein Geheimnis daraus gemacht, daß der chinesische Kommunismus ohne den japanischen Überfall auf verlorenem Posten gestanden hätte. Er war humorvoll genug, japanischen Besuchern zu erklären, China sei ihrem Land hierfür ewig zu Dank verpflichtet.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 251-252).

„Beobachtungen wie diese bestätigen die Vermutung, daß auch die thymotische Realpolitik ganz eigenen Gesetzen folgt. Die Direktoren der neuen Weltbank waren dazu verurteilt, sich ihre Unterstützung dort zu holen, wo sie aus streßbiologischen und kulturdynamischen Gründen am leichtesten zu finden war: bei den Stolz-, Zorn- und Selbstbehauptungsquellen der national synthetisierten Kampfgemeinschaften. Daher war es von Anfang an notwendig, die Kapitalbasis der Zornweltbank - neben den terrorerzeugten Anleihen bei der Angst - durch die Mobilisierung der patriotischen Thymotik zu verbreitern. Nicht umsonst beschwor Lenin gern das Bild Rußlands als einer »belagerten Festung«. Obschon sich das sowjetische Experiment in einem postnationalen Horizont vollzog, war die Vorstellung vom bedrohten Vaterland eine unentbehrliche Matrix zur Erzeugung kämpferischer Energien. Immerhin wurde der Begriff des Vaterlandes stets auch in internationalistischen Perspektiven interpretiert, da die Sowjetunion, die »Heimat aller Werktätigen«, einen Hybridkörper darstellte, der zugleich ein Territorium und eine Idee umfaßte. Das ominöse Konzept des »Sozialismus in einem Land« bot nicht bloß eine Notlösung angesichts der beharrlichen Verzögerung der Weltrevolution. Es enthielt das Zugeständnis, daß die dringend benötigten thymotischen Rerserven nur aus einem akut bedrohten Kampfstreßkollektiv zu schöpfen waren.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 252).

„Gewiß besitzt der Kampf gegen den Nationalfeind seit jeher einen hohen Plausibilitätsvorteil. Er erscheint im Ernstfall nach allen historischen Erfahrungen gleichsam natürlich und unvermeidlich. Dies wußte niemand besser als Karl Marx, wenn er im Blick auf das politische Abenteurertum der Pariser Kommunarden von 1871 (die mitten im Krieg gegen Preußen einen Putsch gegen die bürgerliche Regierung Frankreichs unternahmen) streng bemerkte:
»Jeder Versuch, die neue Regierung zu stürzen, wo der Feind fast schon an die Tore von Paris pocht, wäre eine verzweifelte Torheit. Die französischen Arbeiter müssen ihre Pflicht als Bürger tun ....« (Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, S. 277 - eine Aussage, die Marx nicht daran hinderte, bald danach das Gegenteil zu behaupten, um die Akteure der gescheiterten Pariser Kommune in den höchsten Tönen zu feiern.).
Daneben kann auch ein Bürgerkrieg äußerste Motivationen freisetzen, falls die Front gegen die inneren Feinde moralisch klar genug markiert ist. Da den Bolschewisten nach der Beendigung des Bürgerkrieges ab 1921 kein hinreichend externalisierbarer Feind mehr zur Verfügung stand, mußten sie ihre thymotischen Kriegsanleihen intern umschulden und eine neue Front aus dem Geist der puren Mobilisation aufmachen.“  (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 252).

„Mit dieser Operation begann das dunkelste Kapitel in der schattenreichen Geschichte revolutionärer Zorngeschäfte. Wir sprechen von der mutwilligen Umlenkung des »Massenzorns« gegen die wohlhabenderen Bauern der Sowjetunion, namentlich die der Ukraine, die unter dem Namen Kulaken eine traurige Berühmtheit erlangten. Sie bilden noch immer das größte Genozidopferkollektiv der Menschheitsgeschichte - zugleich eine Gruppe von Opfern, die sich gegen das Vergessen des ihnen angetanen Unrechts am wenigsten wehren kann.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 252).

„Der marxistischen Doktrin zufolge war die sowjetische Führung gehalten, in der Bauernschaft des Landes eine produktive, dem Proletariat partiell analoge Klasse zu sehen. Da sie einem prä-industriellen Universum angehörte, bildete sie jedoch eine Kategorie von Produzenten der falschen Art, von denen feststand, daß sie historisch zum Untergang verurteilt waren. So gerieten die Bauern Rußlands und der Sowjetstaaten schon früh gleich doppelt ins Visier der Revolutionäre - zum einen als Verkörperung einer anstößigen Zurückgebliebenheit, die nur durch Maßnahmen der Zwangsmodernisierung aus der Welt zu schaffen war; zum anderen als Erzeuger der Lebensmittel, auf welche die revolutionären Elemente vom ersten Tag der Unruhen an Ansprüche erhoben. Lenin selbst gab den rüden Ton bei der Kulakenpolitik vor, indem er die selbständigen Bauern neben der Bourgeoisie, dem Klerus (»je mehr Vertreter der reaktionären Geistlichkeit wir erschießen können, desto besser« ) und den menschewistischen Reformern als zu liquidierende »Klassen« in die erste Reihe stellte. Nur dank der zwischenzeitlich verordneten Rückkehr zu geldwirtschaftlichen Kompromissen (im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik nach 1921) sollte es für die meisten der genannten Gruppen ein temporäres Aufatmen geben.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 253).

„Dieses war endgültig vorüber, als Stalin um 1930 das Rad zu einer reinen Kommandowirtschaft zurückdrehte. Von da an rückte die »Vernichtung des Bauerntums als Klasse« auf der revolutionären Agenda ganz nach oben. Da es im regulären Marxismus für repressive Maßnahmen gegen das Bauerntum als solches keine Handhabe gab, mußte Stalin, Lenins Direktiven aufnehmend, das Schema des Kampfs zwischen Bourgeoisie und Proletariat so stark ausdehnen, daß es einen unvorhergesehenen Sonderklassenkampf einschloß: den zwischen den ärmeren und den nicht ganz so armen, zum Teil auch wohlhabenden Schichten der ländlichen Bevölkerung. Die letzteren hatten mit einem Mal die bedenkliche Ehre, zu einem Substitut der ausgerottenen Bourgeoisie erklärt zu werden - ja geradewegs zu einem Repräsentanten »des Kapitalismus in der Landwirtschaft«. Folgerichtig wurde die neue Mobilisierung gegen jene Bauern gelenkt, die inmitten des allgemeinen ökonomischen Desasters (von 1917 bis 1921 war die Zahl der Hungertoten in Lenins Reich auf über fünf Millionen angestiegen) noch halbwegs erfolgreich zu wirtschaften imstande waren. Begreiflicherweise legten diese »Großbauern« keine Begeisterung an den Tag, wenn die Funktionäre des revolutionären Staates ihre Ernten beschlagnahmten. Ihr Zögern bei der Herausgabe ihrer Lebensgrundlagen wurde als Sabotage bezeichnet und entsprechend geahndet. Die ominöse Kollektivierung der Landwirtschaft unter Stalin verfolgte den Zweck, die Konfiszierung der Ernten zu vereinfachen, indem man bei der Produktion begann.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 253-254).

„Die »Dekulakisierung« der frühen dreißiger Jahre, die allein im Hungerwinter 1932-1933 bis zu acht Millionen Menschen das Leben gekostet hat, bedeutete eine psychopolitische Zäsur im Geschäftsgebaren der Zornbankleitung. Zu ihrer Durchführung wurden nicht nur jene Affekte herangezogen, die am Beginn der Umwälzungen von 1917 eine Rolle gespielt hatten: der antizaristische Haß in breiten Schichten der Bevölkerung, der Arbeiterzorn gegen die marginale Bourgeoisie, der moralische Idealismus der Gebildeten und der patriotische Affekt der bäuerlichen Menge. In Stalins Kulakenpolitik ab 1930, die in exterministischen Deportationen und genozidalen Aushungerungsbeschlüssen gipfelte, setzten sich die dunklen Seiten des populären Thymos, das Ressentiment, der Neid, das Erniedrigungsbedürfnis in bezug auf scheinbar oder wirklich Bessergestellte, als maßgebliche Triebkräfte in der Geschäftsordnung des revolutionären Unternehmens durch.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 254).

„Wenn man berechtigt ist, die Geschichte der Ereignisse in der Sowjetunion als Drama von der verlorenen Unschuld der Revolution zu erzählen, so markiert die Haßlenkung gegen die größeren Bauern, ab 1934 auch gegen die sogenannten mittleren (die bis zu zwei Kühen besaßen), in der stalinisierten UdSSR den Übergang zu einer offenen Psychopolitik der schmutzigen Energien. In ihrem Verlauf wurde die »Klasse« der Halbverhungerten gegen die »Klasse« der sich so eben noch Ernährenden ins Gefecht geschickt -unter dem Vorwand, dies sei die aktuellste Form des revolutionären Kampfes im Vaterland des Weltproletariats. Die Rechtfertigung hierzu lieferte Stalin eigenhändig, indem er, auf dem Hexenbesen einsamer Erleuchtung reitend, eine neue »Klassenanalyse« beibrachte: Dieser zufolge durfte im Namen der marxistischen Klassiker zur» Liquidierung des Kulakentums als Klasse« aufgerufen werden. Als Kulak oder »Großbauer« galt, wer genug erzeugte, um die eigene Familie und einige Hilfsarbeiter zu ernähren - mit gelegentlichen Überschüssen, die auf den Wochenmärkten oder im städtischen Handel zum Verkauf kommen konnten. Dieses Unrecht an den werktätigen Massen durfte in Zukunft nicht ungeahndet bleiben. Um es zu rächen, wurde demonstriert, was »Terrorismus in einem Land« zu leisten vermag.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 254-255).

„Die unbegriffene Lektion der Vorgänge verbarg sich in der willkürlichen Ausweitung des Konzepts »Klassenkampf«. Plötzlich war keine Rede mehr davon, die Bourgeoisieepoche habe die Klassengegensätze zu der klaren Opposition von Bourgeoisie und Proletariat »vereinfacht«, wie das Kommunistische Manifest statuierte. Nachdem Stalin die Kulaken in den Rang einer »Klasse« erhoben und dieser das Prädikat »konterrevolutionär« aufgeprägt hatte, war diese, stellvertretend für die kaum vorhandene und schnell ausgelöschte Bourgeoisie, über Nacht zur Liquidierung freigegeben. Von da an war für alle, die es wissen wollten, evident, daß mit jeder Art von» Klassenanalyse« virtuell die Demarkation der Grenzen verbunden ist, an denen die Liquidanten den Liquidanden gegenüberstehen. Auch Mao Zedong rückte mit einer neuen »Klassenanalyse« heraus, als er bei der Großen Kulturrevolution die chinesische Jugend gegen die »Klasse« der Alten aufhetzte.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 255-256).

„Hier ist wohlgemerkt nicht nur von terminologischen Finessen die Rede. Wer nach Stalin und Mao weiter von Klassen spricht, macht eine Aussage über die Täter- und die Opfergruppe in einem potentiellen oder aktuellen (Klassen-)Genozid. »Klasse« ist, wie klügere Marxisten seit jeher wußten, nur an der Oberfläche ein beschreibender Begriff der Soziologie. In Wahrheit kommt ihm hauptsächlich eine strategische Realität zu, da sich sein Inhalt allein durch die Formierung eines kämpfenden Kollektivs (einer konfessionell oder ideologisch formierten Maximal-Streß-Kooperations-EinheitSloterdijk) materialisiert. Wer ihn affirmativ, und eo ipso performativ, benutzt, trifft letztlich eine Aussage darüber, wer wen unter welchem Vorwand auszulöschen berechtigt sein soll. (Daher ist es nicht ganz harmlos, wenn Antonio Negri in Multirode, a.a.0., zu der Feststellung gelangt: daß es neben der Primärfront von Arbeit und Kapital »eine potentiell unbegrenzte Anzahl von Klassen« gibt. Auch die postsozialistische Vereinfachung der postmodernen Fronten zur Opposition von Armen und Reichen als »Klassen« wäre nicht ohne Risiken. Man muß vor dem Hintergrund des kommunistischen Terrors die Frage zulassen, ob nicht auch in heutigen Diskursen neue Kampfkollektive mit einem okkulten Mandat zu blutigen Aktionen ausgestattet werden.). Noch hat das Publikum nicht zur Kenntnis genommen, wieweit der Klassismus vor dem Rassismus rangiert, was die Freisetzung genozidaler Energien im 20. Jahrhundert anging.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 256).

„Was den von Stalins Improvisationen ausgelösten Vorgängen ihre beunruhigende Bedeutsamkeit gibt, ist die Leichtigkeit, mit der es den Führern der sowjetischen KP gelang, bei zahllosen Teilnehmern an dem bösen Spiel jenen Rausch der Mißgunst zu induzieren, der seine Träger geeignet macht, als Helfer bei der Auslöschung von abgewerteten »Klassen« zu fungieren. Über die Motive von Hitlers willigen Helfern hat die Forschung reichliche Aufschlüsse erbracht; was Stalins Helferarmeen angeht, halten sie sich in den Katakomben der Geschichte verborgen. Tatsächlich zeigte sich bei den genozidalen Exzessen im Namen der Klasse, in welchem Maß das von Soziologen beschworene »soziale Band« immer auch aus dem Haß gewoben ist, der die Benachteiligten an die scheinbar oder wirklich Bevorzugten bindet. Wo der Neid das Gewand der sozialen Gerechtigkeit überstreift, kommt eine Lust an der Herabsetzung zum Zuge, die schon die Hälfte der Vernichtung ist.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 256-257).

„Von dieser Besudelung - die selbst durch die Moskauer Prozesse kaum noch zu übertreffen war - hätte sich das bolschewistische System nie mehr erholt, wäre nicht der Stalinismus durch den von Hitler in die Sowjetunion getragenen Krieg gerettet worden. Die Idealisierungswut seiner Agenten und Sympathisanten hätte niemals ausgereicht, die Verdunkelungen des sowjetischen Experiments im ganzen zu kompensieren, hätte im Lande eine angemessene und rechtzeitige Aufklärung über die Vorgänge stattfinden können. Der Anti-Hitler-Imperativ jener Jahre sorgte dafür, daß in bezug auf die Greuel des Stalinismus das Interesse an Nicht- Wahrnehmung die Oberhand behielt, gerade auch bei westlichen Parteigängern und Sympathisanten, die auf ihrer gesinnungsstarken Unberührbarkeit durch Tatsachen beharrten. Bei zahlreichen Angehörigen der Neuen Linken im Westen sollte die Wunschnebelphase bis zum Solschenizyn-Schock von 1973 anhalten. Erst mit dem Erscheinen des Archipel Gulag und dank der Schriften der Neuen Philosophen setzte sich eine veränderte Optik durch, obschon sich manche Wortführer der ewigen Militanz auch dann noch damit begnügten, ihren Ignoranzschutz zu modernisieren.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 257-258).

„Nach dem 22. Juni 1941 wurde in der militärischen Abwehrschlacht der Russen (von USA, England [sog. Brit. Empire] u.a. massiv unterstützt! Anm. HB) gegen die deutschen Invasoren noch einmal unter Beweis gestellt, daß durch die Provokation des Nationalthymos die mächtigsten kämpferisch-kooperativen Energien in einem angegriffenen Kollektiv freizusetzen sind, selbst wenn dieses an der inneren Front soeben die tiefsten Erniedrigungen erlitten hat - ja vielleicht gerade dann, sofern der Krieg zwischen Nationen eine gewisse Erholung von der ideologischen Infamie mit sich zu bringen vermag. Daher war es zunächst stimmig, wenn Stalins Propaganda den Kampf gegen Hitlers Armeen als den Großen Vaterländischen Krieg bezeichnete - in bewußter Analogie zum »Vaterländischen Krieg« der Russen 1812 gegen Napoleon. Die bittere Ironie der Geschichte enthüllte sich erst, als der Heroismus und die Leidensbereitschaft des russischen Volkes und seiner Allianzvölker nach der gewonnenen Schlacht auf das Konto des» Antifaschismus« verbucht wurden.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 258).

„Da sich der Kommunismus als Mobilisierungsmacht, wie Boris Groys dargelegt hat, von vorneherein ausschließlich im Medium der Sprache vollzog (vgl. Boris Groys, Das kommunistische Postskriptum, 2005), nimmt es nicht wunder, wenn sich auch in diesem Punkt seine Erfolge vor allem in der Durchsetzung einer strategischen Sprachregelung zeigten. Aus gut verständlichen Gründen reichten diese weit über die Sphäre sowjetischer Diktate hinaus. Die ingeniöse Selbstdarstellung des Linksfaschismus als Antifaschismus wurde im gesamten Einflußbereich des Stalinismus und darüber hinaus in der Neuen Linken zum vorherrschenden Sprachspiel der Nachkriegszeit - mit Langzeitwirkungen, die sich bei dissidenten Subkulturen des Westens, namentlich in Frankreich und Italien, bis in die Gegenwart verfolgen lassen. Man sagt nicht zuviel, wenn man die Flucht der radikalen Linken in den »Antifaschismus« als das erfolgreichste sprachpolitische Manöver des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Daß es die Quelle hochwillkommener Konfusionen war und blieb, versteht sich aus den Prämissen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 258-259).

„Die Fortführung des Spiels durch die westliche Linke nach 1945 geschah vor allem aus dem Bedürfnis nach einer umfassenden Selbstamnestie. Diesem Imperativ blieben die sogenannte Aufarbeitung der Vergangenheit und die Suche nach den »Quellen« des Faschismus untergeordnet - wobei der Rückgang auf Lenins initialen Beitrag von Anfang an durch ein Denkverbot blockiert war. Weshalb die Linke dieser Begnadigung bedurfte, ist ohne Aufwand zu erklären. Angesichts der verheerenden Bilanz des Stalinismus gab es für sie ein Übermaß an Fehlern, Versäumnissen und Illusionen zu vertuschen, zu entschuldigen, zu relativieren. Die gutgesinnten Weggefährten wußten, was sie nicht wissen wollten - und wovon sie zur kritischen Zeit nichts gehört hatten. (Sartre zum Beispiel war im Bilde über zehn Millionen Gefangene in sowjetischen Lagern und schwieg, um nicht aus der Front der Antifaschisten auszubrechen.) Ihre stets problematischen Kooperationen mit den Moskauer Manipulateuren, ihr Sichblindstellen für die ersten Zeichen und den wachsenden Umfang des roten Terrors, ihr einäugiges Sympathisantentum mit der in Theorie und Praxis längst tief kompromittierten kommunistischen Sache - das alles verlangte dringend nach Verständnis, Verklärung und Vergebung. Naturgemäß mußte die Absolution von den eigenen Leuten und aus dem eigenen Fundus erteilt werden, da unabhängige Instanzen, die Pardon hätten geben können, nicht zur Verfügung standen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 259).

„Daß die extreme Linke Europas nach dem Zweiten Weltkrieg an sich selbst gespart hätte, kann nicht behauptet werden. Bei ihrem tief empfundenen Mitgefühl für sich selbst erklomm sie die gähnenden Höhen der Großzügigkeit. Indem sie immer wieder ihren Antifaschismus ins Feld führte, reklamierte sie, zusammen mit der grundlegenden historischen Legitimität - man hatte ja Großartiges gewollt -, das Recht, dort weiterzumachen, wo die Revolutionäre vor Stalin aufgehört hatten. Eine höhere moralische Mathematik wurde erfunden, nach welcher als unschuldig zu gelten hat, wer beweisen kann, daß ein anderer krimineller war als er selbst. Dank solcher Rechnungen avancierte Hitler für viele zum Retter des Gewissens. Um von Affinitäten eigener Engagements zu den ideologischen Prämissen der umfangreichsten Mordaktionen in der Geschichte der Menschheit abzulenken, wurden ideengeschichtliche Schauprozesse inszeniert, in denen alles auf den Weltkriegsgefreiten, den Vollender des Abendlandes, zulief. Dank maßloser Formen von Kulturkritik - etwa der Rückführung von Auschwitz bis zu Luther und Platon oder der Kriminalisierung der okzidentalen Zivilisation im ganzen - versuchte man, die Spuren zu verwischen, die verrieten, wie nahe man selbst einem klassengenozidalen System gestanden hatte.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 259-260).

„Die kluge Umverteilung der Schande hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Man brachte es tatsächlich soweit, fast jede Kritik am Kommunismus als »Antikommunismus« und diesen als eine Fortsetzung des Faschismus mit liberalen Mitteln zu denunzieren. Wenn es nach 1945 tatsächlich keine offenen Exfaschisten gab, so fehlte es nicht an Paläostalinisten, Exkommunisten, alternativen Kommunisten und radikalen Unschuldigen von den äußersten Flügeln, die den Kopf so hoch trugen, als wären die Verbrechen Lenins, Stalins, Maos, Ceausescus, Pol Pots und anderer kommunistischer Führer auf dem Planeten Pluto begangen worden. Die thymotische Analyse macht diese Phänome verständlich. Dieselben Menschen, die aus guten Gründen zu stolz sind für dieWirklichkeit, sind manchmal aus weniger guten Gründen zu stolz für die Wahrheit.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 260).

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- „Der Maoismus: Zur Psychopolitik des reinen Furors“ -

„Wer geglaubt hätte, die Lenkung thymotischer Energien durch das stalinistische Zornmanagement habe einen nicht weiter steigerbaren Grad an realpolitischer Kaltblütigkeit erreicht, wird durch den Maoismus auf zweifache Weise eines Besseren belehrt. Die erste Lektion steckt in der von Mao Zedong vorangetriebenen Erfindung einer neuartigen Guerilla, die ihre Bewährungsprobe in der Zeit der Bürgerkriege zwischen 1927 und 1945 ablegte - und die zahlreichen »Befreiungsarmeen« der Dritten Welt als Inspirationsquelle diente -, die zweite ist durch die berüchtigte Kulturrevolution der sechziger Jahre zu erlernen, bei der, wie man sich erinnert, an die Stelle des Kampfs zwischen sozialen Klassen eine Entfesselung des Hasses von aufgeputschten Jugendlichen gegen die ältere Generation der Kulturträger trat. Auch hier standen Probleme des Zornmanagements im Zentrum. Was Maos Politik vom ersten Augenblick an prägte, war die methodisch betriebene Substitution fehlender revolutionärer Energien durch einen von der militärisch-politischen Führung provozierten und instrumentalisierten Gruppenfuror“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 261).

„Mit Maos Totalguerilla ist eine Vorstellung von »Wachstum« verbunden, die es den anfangs nur schwachen kämpfenden Zellen erlaubt, den Körper des Feindes allmählich zu korrumpieren, indem sie sich selber auf seine Kosten kaum merklich, aber stetig vermehren. Man könnte von einem Kriegsmodell sprechen, das dem Vorbild der Krebserkrankung folgt. Die Strategie Maos besitzt also große Ähnlichkeit mit einer politischen Kanzerologie. In Sebastian Haffners Worten: »den Feind überwachsen, ihn totwachsen« - »das ist das Wesen Maoscher Kriegführung«. (Sebastian Haffner, Der neue Krieg, 2000, S. 60). Die bizarre Vorliebe Maos für unpopulären »langen Krieg« entsprang der Einsicht, daß die revolutionären Zellen für ihr vernichtendes Wachstum in einem großen Land viel Zeit brauchen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 264).

„Wenn die Chinesen im Land nicht selbst nach den Opfern von Maos Politik fragen, sollen Emigranten kein Recht haben, ihnen solche Fragen aufzunötigen, erst recht keine zudringlichen Historiker und Ermittler aus dem Westen. Die seit 1981 in China herrschende Sprachregelung, das Erbe Maos sei zu 70% gut, zu 30% schlecht, läßt die 60 bis 70 Millionen Menschenleben, die auf das Konto des Maoismus nach 1949 gehen, als eine Last erscheinen, die nur durch die landeseigene Kunst des Bilanzenziehens zu bewältigen ist.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 268).

„Die Burleske des Großen Sprungs kostete aktuellen Schätzungen zufolge zwischen 35 und 43 Millionen Menschen das Leben; in manchen Provinzen starben vierzig Prozent der Bevölkerung durch Hunger und verordnete Erschöpfung. Man hat es hier mit dem einzigen Fall einer massiven Vernichtung von Menschen durch Arbeit zu tun, die zu ihrer Durchführung nicht einmal auf die Errichtung von Lagern angewiesen war. Daß die chinesische Führung zugleich auf der Schaffung eines eigenen Gulag bestand, bezeugt die Regel, daß kein Faschismus, einmal an der Macht, sich die Genugtuung entgehen läßt, seine Gegner durch entmenschende Zusammenpferchung zu zerbrechen.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 269).

„Es dauerte mehrere Jahre, bis die Parteiführung bereit war, den Fehlschlag der Kampagne einzugestehen - man fand bis fast zuletzt niemanden, der das Wagnis auf sich nehmen wollte, Mao direkt über seine Mißgriffe aufzuklären. Ausnahmen waren nur der Marschall Peng Te-huai, der angesichts des offenen Debakels schon auf der Konferenz von Lushan im Sommer 1959 Mao persönlich angriff (um gleich darauf aus dem Verkehr gezogen zu werden), und einige Schriftsteller, die umgehend scharfen Repressalien zum Opfer fielen. Die übrigen Mitglieder der Führungskader schwiegen oder zogen sich in diplomatische Krankheiten zurück, um Mao bei den kritischen Konferenzen aus dem Weg zu gehen. Dieser selbst soll, diskret auf diehohe Zahl der Opfer seiner Direktiven hingewiesen, gesagt haben, auch diese Toten könnten nützlich sein, da sie die Erde Chinas düngten.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 269-270).

„Die letzte Kulmination erreichte Mao Zedongs mobilisatorische Technik zwischen 1966 und 1969, als der inzwischen an den Rand gedrängte Führer die Macht wieder an sich ziehen wollte, indem er ein neues, leicht aktivierbares Zornkapital ausfindig machte. Ähnlich wie Stalin, der durch die Erschließung gewaltiger Ressentimentreserven einen Pseudoklassenkampf zwischen den Ärmsten und den nicht ganz so Armen unter der bäuerlichen Bevölkerung der Sowjetunion inszenierte, entdeckte Mao in seinem Reich einen neuen »Klassengegensatz« - zwischen den Jugendlichen und den Älteren, wahlweise den zwischen den lebendigen Elementen der Bewegung und denen der bürokratischen Erstarrung. Die mutwillige Verschärfung dieses »Gegensatzes« sollte Mao helfen, auf sein Konzept der Totalguerilla noch einmal zurückzugreifen. Offenkundig eignete sich seine quasi naturphilosophische Doktrin vom ewigen Krieg der Gegensätze dazu, jede strukturell bedingte soziale Differenz zum Ausgangspunkt eines zum Klassenkampf deklarierbaren Bürgerkriegs zu machen - zehntausend Fuß jenseits der Konfrontation von Arbeit und Kapital. Hiermit erwies sich der Große Steuermann bis zum bitteren Ende der Kulturrevolution als das, was er von Anfang an gewesen war - ein nationalistisch gesinnter Kriegsherr mit linksfaschistischen Grundsätzen und kaiserlichen Ambitionen. Er blieb der Mann, der immer neue Kampfvorwände brauchte, um sich an der Macht zu halten - und der jeden solchen Vorwand mühelos fallenließ, sobald die Umstände es erlaubten oder forderten.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 270).

„Es genügte Mao, ein beliebiges neues Ressentimentkollektiv zu identifizieren, um es auf seinen designierten Feind zu hetzen - schon konnte man den Konflikt als die aktuelle Gestalt des »Klassenkampfs« ausgeben. Daß eine »Klasse« erst in ihrem Kampf oder ihrer Bekämpfung entsteht - dieser strategische Lehrsatz der wendigen Linken sollte sich aus gegebenem Anlaß eklatant bewahrheiten. Für diesmal wollte Mao den Apparat der Partei um Liu Shao-chi zerschlagen, der es gewagt hatte, ihn nach dem Debakel des Großen Sprungs an den Rand zu drängen. In der chinesischen Lehre von den strategischen Listen figuriert die hierzu gewählte Prozedur unter dem Titel: »Den Feind mit einem fremden Messer töten.« (Vgl. Xuewu Gu, List und Politik, in: Harro von Senger [Hg.], Die List, 1999, S. 428f.). Das Instrument fand Mao in einer Flut von in Furor versetzten Jugendlichen, die auf den Ruf des Führers hin ihre Schulen und Universitäten verließen, um sich, wie entfesselte Wandervögel, physischen und psychischen Terror verbreitend, über das ganze Land zu ergießen. Das Stichwort für dieses rebellische Ausschwärmen der Jugend auf die Dörfer hieß wieder einmal Verbindung von Theorie mit Praxis.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 270-271).

„Man erinnert sich an die Bilder von den Pekinger Begegnungen Maos mit jeweils mehr als einer Million euphorisierter Studenten und Rotgardisten aus allen Provinzen, denen er sein Verständnis aussprach für die Übergriffe, die er von ihnen erwartete. Die blutigen Folgen der revolutionären Kommunionen zwischen dem Halbgott und der Menge blieben nicht aus. Ist es nicht immer der Sinn solcher Versammlungen, daß das Volk Gelegenheit erhält, die Gedanken des Fürsten zu lesen?  Zu den prägenden Szenen der Kulturrevolution gehörten die öffentlichen Demütigungen von Gelehrten, die mit Schandhauben auf Plätze gejagt, geprügelt, zu Selbstbezichtigungen gezwungen und in zahllosen Fällen ermordet wurden. Noch heute findet man auf den Trödelmärkten Pekings Keramikskulpturen im sozialistisch-realistischen Stil jener Zeit, die einen knienden Professor unter dem Stiefel einer Rotgardistin zeigen, ein Schild um den Hals, das die Aufschrift trägt: »Ich bin eine stinkende Nummer neun« - was heißen soll: ein Intellektueller.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 271).

„Man tut gut daran, nicht zu vergessen, daß die philosophische Fakultät der Universität von Peking im Jahr 1966 ihr Fach in »Mao-Zedong-Denken« umbenannte. Für die Betreiber der europaweiten Vereinheitlichung der Studienordnungen an den Universitäten und Kunsthochschulen der EU (des sogenannten Bologna-Prozesses) sei angemerkt: Unter den Zielen der chinesischen Kulturrevolution wurde die Verkürzung der Studienzeiten genannt. Es dauerte volle vier Jahre, bis an Chinas Schulen wieder ein regulärer Studienbetrieb möglich wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatten nach jüngeren Schätzungen bis zu fünf Millionen Menschen ihr Leben verloren. Noch ein Jahrzehnt lang litt Chinas Wirtschaft unter dem Ausfall mehrerer Studentenjahrgänge.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 272).

„Die holocaustartigen Rasereien der Kulturrevolution - von westlichen Beobachtern zu größeren Unruhen verharmlost - ereigneten sich in relativer Gleichzeitigkeit mit den Studentenbewegungen von Berkeley, Paris und Berlin, wo es auch überall engagierte Gruppen gab, die das wenige, was sie über die Ereignisse in China und ihre Ursachen wußten, für einen zureichenden Grund hielten, sich als Maoisten zu präsentieren. Manche koketten Maoverehrer von damals, die sich wie üblich seit langem selbst verziehen haben, sind bis heute als politische Moralisten aktiv. Ins Memoirenalter gekommen, stellen sie, nicht ganz zu Unrecht, den westlichen Maoismus und ihre Teilnahme an seinen performances als eine traurige Spätform des Surrealismus dar. (André Glucksmann hat in seinem Ereinnerungsbuch seine Teilnahme an dem wahnhaften Mao-Kult in Frankreich zwischen 1968 und 1972 expressis verbis bedauert.). Andere halten es für unter ihrer Würde, sich zu vergeben, und verkünden weiter ihre Überzeugung, sie hätten im Grunde recht behalten - allein der Gang der Dinge habe (zumal nach dem »Thermidor« des tückischen Deng) die falsche Richtung eingeschlagen, um einmal mehr die »Restauration« ans Ruder zu bringen. Um 1968 schien Paris fest in der Hand des radikalen Feuilletons, das in der Person von Präsident Pompidou, eines Mannes der rechten Mitte, den Rechtsradikalismus an der Macht sah - und das aus seinen Sympathien mit den Vorgängen in China, dem Land der Wandzeitungen, der Mao-Bibel und der Abschlachtung von Gelehrten, kein Geheimnis machte. Wieder einmal vermochte das mal français, die Einteilung der Welt in Revolution und Restauration, eine globale Epidemie auszulösen, obwohl sie sich überwiegend auf akademische Kreise beschränken. Als infolge des politischen Tauwetters im Jahr 1972 erstmals ein (us-)amerikanischer Präsident die Volksrepublik China besuchte, waren viele Angehörige der Neuen Linken in Europa und Amerika entsetzt bei dem Gedanken, eine Lichtgestalt wie Mao Zedong könne einem Schurken vom Schlage Richard Nixons die Hand schütteln. In demselben Jahr brachte André Glucksmann in Les temps modernes seine Ansicht zum Ausdruck, Frankreich sei eine faschistische Diktatur.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 272-273).

„Die hohe Schule der Unbelehrbarkeit fand ihren Meister in Jean-Paul Sartre, der aus der Einfühlung in die revolutionäre Gewalt seit längerem ein selbstquälerisches Exerzitium gemacht hatte. Und doch: Auch er war nicht mehr als ein eminenter Vertreter einer Generation von Fakiren, die sich auf dem Nagelbrett der Selbstunterbietung quälten, um für ihre Zugehörigkeit zum Bürgertum zu büßen. Noch heute ist es für Europäer mit einem Rest an historischem Taktgefühl schmerzlich, die Bilder aus dem Jahr 1970 wiederzusehen, die einen der größten Intellektuellen des Jahrhunderts, den Verfasser von Das Sein und das Nichts und der Kritik der dialektischen Vernunft, zeigen, wie er sich als Straßenverkäufer für ein radikalkonfuses Erbauungsblättchen der maoistischen Gauche proletarienne betätigte, um für die, wie es hieß, bedrohte Freiheit der Andersdenkenden in Frankreich einzutreten.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 273-274).

„Solche Momentaufnahmen gehörten in die Schlußphase eines Lernzyklus, der zweihundert Jahre überspannte. In seinem Verlauf suchte die europäische Linke, ermüdbar und unermüdlich, nach Verfahren, dem Zorn der Benachteiligten eine Sprache zu schaffen, die zu angemessenem politischem Handeln führen sollte. Je grotesker die Bilder, desto deutlicher geben sie einen Begriff davon, in welche Tiefen die Unverträglichkeit zwischen dem Zorn und dem Prinzip der Angemessenheit reicht. An ihnen wird das Paradoxon revolutionärer Politik schlechthin faßbar. Seit jeher arbeitet diese sich an der Aufgabe ab, das Maß für etwas zu ermitteln, was von sich her dem Zug ins Maßlose folgt.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 274).

 

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Anmerkungen:

Louis Antoine Léon Saint-Just (1767-1794), französicher „Revolutionär“, wurde 1792 Mitglied des Nationalkonvents, in dem er 1793/'94 den Sturz der Girondisten (gemäßigte republikanische Gruppe), Hébertisten (sehr radikale Gruppe um Jacques René Hébert) und Dantonisten (Gruppe um George Jacques Danton) betrieb, war 1793 Mitglied des Wohlfahrtsausschusses und wurde mit seinem Kampfgefährten Maximilien Robespierre gestürzt und hingerichtet.

Die Jakobiner, d.h. die Mitglieder des nach ihrem Versammlungsort, dem Kloster Saint-Jacques in Paris, benannten, im Mai 1789 von bretonischen Deputierten gegründeten wichtigsten politischen Klubs der französischen Revolution. Den Klub beherrschten zunächst die Girondisten (gemäßigte republikanische Gruppe), deren Kriegs- und bürgerliche Klassenpolitik die Gegnerschaft der radikalen Republikaner innerhalb der Jakobiner unter Robespierre und Pétion provozierte. Ab Sommer 1791 der Mittelpunkt der radikalen Republikaner, organisierten die Jakobiner 1793/'94 die Diktatur des Wohlfahrtsausschusses. Am 11. November 1794 wurde der Klub geschlossen.

Faschismus (zu fascio = „Rutenbündel“, von: Faszes, Fasces) bezeichnet das von B. Mussolini geführte Herschaftssystem in Italien (1922-1945 darin enthalten ist auch die Zeit der deutschen Besetzung Italiens). Die Faszes bzw. Fasces ist ein sehr wahrscheinlich aus dem antiken Etrurien stammendes, in Rom von den Liktoren getragenes Rutenbündel mit Beil, Symbol der Amtsgewalt der römischen Magistrate (imperium) undd es damit verbundenen Rechts, zu züchtigen und die Todesstrafe zu verhängen; seit der französischen Revolution mit der Jakobinermütze (Vgl. Jakobiner) Sinnbild des Republikanismus; im italienischen Faschismus Sinnbild für Diktatur, Einheit, Kraft und Gerechtigkeit.

Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006. Das Buch hat fünf Abschnitte, nämlich eine Einleitung und vier Kapitel: 1) Zorngeschäfte im allgemeinen;   2) Der zornige Gott (Der Weg zur Erfindung der metaphysischen Rachebank);   3) Die thymotische Revolution;   4) Zornzerstreung in der Ära der Mitte. SloterdijkSloterdijkSloterdijk

Vgl. Peter Sloterdijk, Der zornige Gott: Der Weg zur Erfindung der metaphysischen Rachebank, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 110-169 (2. Kapitel). Sloterdijk

Vgl. Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 170-281 (3. Kapitel). Unterkapitel: Wenn eine Revolution nicht genügt (S. 171-175), Gespenstische Aufheiterungen (S. 175-180), Das Epochenprojekt: Den Thymos der Erniedrigten erregen (S. 180-189), Theorielose Empörung oder: Der Augenblick der Anarchie (S. 189-195), Klassenbewußtsein: Die Thymotisierung des Proletariats (S. 195-208), Zum Auftauchen des nicht-monetären Bankwesens (S. 208-220), Komintern: Die Weltbank des Zorns und die faschistischen Volksbanken (S. 221-249), Zornbeschaffung durch Kriegsanleihen (S. 249-260), Der Maoismus: Zur Psychopolitik des reinen Furors (S. 261-274), Die Botschaft von Monte Christo (S. 274-281). Sloterdijk

„Die Aufhebung des alttestamentlichen fünften Gebots ... - eines der prägenden Merkmale des Linksfaschismus ....“ (Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 313).

„Im ideologischen Wettbewerb mit den gemäßigteren zornbindenden Systemen der Linken schreckte die Komintern vor keiner Zuspitzung zurück: Ihre Agenten fanden es noch in den späten zwanziger Jahren ideologisch korrekt und politisch opportun, die parlamentarischen Sozialisten der westlichen Länder als »Sozialfaschisten« zu denunzieren. Die Fatalität dieser Sprachregelungen ist vielleicht nie hinreichend explizit offengelegt worden. Man hat nach 1945 einiges getan, um vergessen zu machen, daß die für die Neue Linke der zweiten. Hälfte des 20. Jahrhunderts konstitutive antilaschistische Konfession in der ersten Hälfte als Antisozlaldemokratie debütiert hatte. Tatsächlich räumte Moskau dem »Kampf gegen das sozialistische Zentrum« nach 1919 vorrangige Bedeutung ein. Durch diese Direktive wurde die anti-menschewistische Linie wie eine Zwangsneurose des Bolschewismus auch außenpolitisch zur Geltung gebracht.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 237-238).

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