Zwei große Ideen sind es gewesen, die die Aufklärung des
18. Jahrhunderts und ihre fortwährende Kraft bis in unsere Zeit geprägt
haben: die des Fortschritts und die der Vernunft. Wenn die Menschen, so die zündende
Parole, endlich Gebrauch machen von ihrer Vernunft, dann wird der Fortschritt
nicht ausbleiben, ja möglicherweise werden dann in nicht allzu ferner Zukunft
alle Tränen getrocknet werden. Wie diese Vernunft zum Motor des Fortschritts
werden kann, sagt uns kant in dem berühmten Artikel: »Was ist Aufklärung?«,
der 1783 in der »Berlinischen Monatszeitschrift« erschien. Danach
ist sie der Versuch, aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit herauszutreten
und sich seines Vesrtandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. ( ).
(Walter Hoeres, Wohin wollt ihr mit eurem Fortschritt?, in: Cicero,
November 2009, S. 48).
Inzwischen hat man es sich angewöhnt
zu sagen, daß die Idee des Fortschritts, die Hegel, Marx, Auguste Comte,
ja das ganze 19. Jahrhundert so tief geprägt hat, im Grauen der beiden Weltkriege
ihre Überzeugungskraft verloren hat. Das ist wie viele solcher kulturkritischen
Sentenzen richtig, ja banal und doch zugleich falsch! Denn man verläßt
sich nach wie vor ganz im Sinne der Aufklärung auf die eigene emanzipierte
Vernunft, die im Zweifelsfall gegen die gewachsenen Traditionen ausgespielt wird,
ja, »kritisches Bewußtsein« ist zum obersten Bildungsziel geworden.
Man weiß zwar um die Ambivalenz der Wissenschaften, die unser Leben immer
bequemer, sicherer und abwechslungsreicher machen, auf der anderen Seite aber
auch immer neue apokalyptische Bedrohungen erzeugen. Doch man hofft darauf, auch
dieser Bedrohungen, durch den Fortschritt in der Wissenschaften, Herr zu werden.
Im Zeichen dieses fortdauernden Glaubens an die Macht der wissenschaftlichen Vernunft
hat man selbst die klassische Pädagogik in »Erziehungswissenschaft«
verwandelt, um möglichst schon im Kindergarten mit der Erziehung zur Rationalität
zu beginnen. (Walter Hoeres, Wohin wollt ihr mit eurem Fortschritt?,
in: Cicero,
November 2009, S. 48).Darüber hinaus herrscht paradoxerweise
selbst bei den ehemaligen Gralshütern der Tradition, den Kirchen, eine irrationale
Aufgeschlossenheit für das Neue, die Theodor W. Adorno noch kurz vor seinem
Tode zu der Bemerkung mir gegenüber veranlaßte, während »wir«
(gemeint waren offenbar die Linksliberalen) längst die Brüchigkeit des
Fortschrittsglaubens erkannt haben, wird er von den Katholiken jetzt erst entdeckt!
Wie recht er mir dieser Feststellung hatte, zeigt die Pastoralkonstitution »Gaudium
et Spes« des II. Vatikanums über das Verhältnis der Kirche zur
Welt von heute, in der euphorisch von der »weltweiten Geburt eines neuen
Humanismus« die Rede ist. (Walter Hoeres, Wohin wollt ihr mit eurem
Fortschritt?, in: Cicero,
November 2009, S. 48).In dieser Situation ist es von ironischer
Bedeutung, daß ausgerechnet die Begründer der »Frankfurter Schule«
Horkheimer und Adorno, die gemeinhin als Neomarxisten oder doch als radikale Linke
apostrophiert werden, zu den schärfsten Kritikern des ererbten Fortschrittsglaubens
gehören und damit ein erhebliches konservatives Potential aufweisen. Sie
entfalten die »Dialektik des Fortschritts«, der auf der einen Seite
zur immer weiteren Verbesserung unseres Lebens, auf der anderen aber zu immer
weiterem Unheil führt! Diese Dialektik ist ihrerseits in dem widerspruchsvollen
Wesen der »Vernunft« begründet, das die Aufklärung nicht
hinreichend bedachte. »Vernunft«, das ist im weiteren Sinne ganz einfach
geistige Erkenntnis und damit auch immer schon die Fähigkeit zur Kontemplation,
zur Anschauung des Schönen und Staunenswerten in Natur, Kunst und Kultur:
die Fähigkeit, wie sie Karl Jaspers definiert, »geistig ergriffen zu
werden«. »Vernunft« ist aber ebenso auch die Fähigkeit
zu rationalem Denken, ja zum Kalkül und kann in diesem Sinne einfach mit
»Rationalität« gleichgesetzt werden. (Walter Hoeres, Wohin
wollt ihr mit eurem Fortschritt?, in: Cicero,
November 2009, S. 48).Nun besteht der langwierige Prozeß
der Aufklärung darin, daß dich diese Vernunft immer mehr aus ihrem
gewachsenen Bindungen emanzipiert. Aus ihnen herausgerissen, ist sie nicht mehr
eingebettet in das konkrte Leben, die natürlichen Bedürfnisse und die
geschichtliche Tradition. Vielmehr folgt sie jetztz nur noch dem Gesetz ihre eigenen
Ratinalitätt. Sie dient nun nicht mehr dem menschen, dessen Organ sie war,
sondern er dient nun ihr. Dieser Prozeß war notwendig, um den Kampf gegen
die Natur und die Not schließlich zu gewinnen. Aber in ihm sind Heil und
Unheil untrennbar verquickt. Dem Zauberlehrling gleich gibt diese losgelöste
Vernunft keine Ruhe, bis sie alles vollends reglementiert, organisiert und rationalisiert
hat. Am Ende steht die totale Quantifizierung der Welt, die erst die exakte Voraussage
kommender Ereignisse und damit die totale Herrschaft über die Natur ermöglicht.
Ganz ähnlich sieht dies Oswald Spengler ( ),
dessen berühmtes Werk »Der Untergang des Abedlandes«, das sinnigerweise
am Ende des Ersten Weltkrieges erschien, tiefe Parallelen zur Frankurter Schule
aufweist. Auch Spengler kommt zu dem Ergebnis, daß nun »alles Organische
der um sich greifenden Organisation erliegt. Eine künstliche Welt durchsetzt
und vergiftet die natürliche. Die Zivilidation ist selbst eine Maschine geworden,
die alles maschinenmäßig tut oder tun will. Man denkt nur noch in Pferdekräften.
Man erblickt keinen Wasserfall mehr, ohne ihn in Gedanken in elektrische Kraft
umzusetzen. Man sieht kein Land voller weidender Herden, ohne an die Auswertung
ihres Fleischbestandes zu denken ....« (Oswald Spengler, Der Mensch und
die Technik, 1931, S. 78-79 ).
(Walter Hoeres, Wohin wollt ihr mit eurem Fortschritt?, in:
Cicero,
November 2009, S. 48-49).Doch zieht diese frei schwebende Rationalität
nicht nur die Natur, sondern auch das menschliche Leben in ihren Bann. In der
»Kritik der instrumentellen Vernunft« (1967) macht Horkheimer darauf
aufmerksam, daß der moderne Mensch die Dinge nicht mehr einfach akzeptiert,
wie sie in sich selbst sind. Vielmehr wird nun alles sogleich danach befragt,
wozu es gut ist, und nur dann noch akzeptiert, wenn es seinerseits wieder als
Mittel für einen Zweck gilt, an den dann die gleiche Frage nach seiner Nützlichkeit
gerichtet wird. Selbst die freie Zeit wird nun zur »Freizeit« degradiert,
die irgendeinem Zweck dienen muß und sei es auch dem, die Muße durch
jene moderne Formen der Zerstreuung zu vertreiben, die Spnngler als »bewusste
Trottelei« beschreibt. Und so wird nach einer berühmen Formulierung
von Horkheimer das Reich der Mittel immer größer und das der letztendlichen
menschlichen Erfüllungen immer kleiner. In diesen Zusammenhang ist auch die
Penetranz einzuordnen, mit der heute in Volkshochschulen und ganz allgemein ständig
nach dem »Sinn des Daseins« gefragt wird. Vergessen ist die Selbstverständlichkeit,
daß das elebte Leben ganz einfach seinen Sinn in sich selbst hat und eben
deshalb lebenswert ist. (Walter Hoeres, Wohin wollt ihr mit eurem Fortschritt?, in:
Cicero,
November 2009, S. 49).Auch hier trifft sich der konservative Spengler
mit den progressiven »Frankfurtern«, wenn er im »Untergang des
Abendlandes« bemerkt: »Nicht nur weil Kinder unmöglich geworden
sind, sondern vor allem weil die bis zum äußersten gesteigerte Intelligenz
keine Gründe für ihr Vorhandensein mehr findet, bleiben sie aus.«
(Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlanbes, 1918-1922, S. 679 ).
»Nicht nur weil Kinder unmöglich geworden sind, sondern vor allem weil
die bis zum äußersten gesteigerte Intelligenz keine Gründe für
ihr Vorhandensein mehr findet, bleiben sie aus.«
Die Natur kennt keine Gründe. .... Wo Gründe für Lebensfragen überhaupt
ins Bewußtsein treten, da ist das Leben schon fragwürdig geworden.«
(Ebd., S. 680 ).
(Walter Hoeres, Wohin wollt ihr mit eurem Fortschritt?, in:
Cicero,
November 2009, S. 49).
Die Zweideutigkeit des Fortschritts spiegelt sich auch in der so oft und
gerade von den 68ern mißverstandenen Ambivalenz der Wirtschafts- und Gesellschaftskritik
der »Frankfurter Schule«. Natürlich kommen Horkheimer und Adorno
ursprünglich vom Marxismus her, dessen Siegeszuversicht sie allerdings völlig
entzaubern. Im Grunde ist ihre Wirtschafts- und Gesellschaftskritik wenig originell.
Doch gerade deshalb war sie so erfolgreich. Denn sie spiegelt das Unbehagen vieler
Intellektueller an der »affluent society« die ihren Wohlstand nicht
zuletzt der Weckung immer neuer Bedürfnise verdankt. Schon der Nationalökonom
Lujo Brentano (1844-1931 )
hat die These von von Karl Marx, nach der die wachende Mechanisierun zu immer
größerer Arbeitslosigkeit und Vereelendung der Massen führen würde,
mit dem Hinweis au grenzenloseE rweiterungsfähigkeit unserer Bedürfnisse
zurückgewiesen. Lange vor Horkheimer und Adorno haben etwa Vance Packard
und John K. Galbraith das Unbehagen an der Überflussgesellschaft artikuliert,
deren Dilaktik nan auf die zugespitzte Formel bringen konnte, daß wir unsere
lebensnotwendigen Bedürfnisse durch die Weckung immer neuer befriedigen.
(Walter Hoeres, Wohin wollt ihr mit eurem Fortschritt?, in:
Cicero,
November 2009, S. 49-50).
Doch im Gegensatz zu den »Linken«
verzichten Horkheimer und Adorno auf jede sozialistische Patentlösung, die
die verschwiegene Herrschaft der rational kalkulierenden Vernunft durch die offene
und brutale der Staatskontrolle ersetzen und damit den Rationalismus der Aufklärung
auf die Spitze treiben würde. Und Adorno schreibt den revoltierenden Studenten
ins Stammbuch, daß der Aufruhr gegen unsere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung
die Übel, die er beseitigen wolle, nur noch verschlimmern werde. (Walter
Hoeres, Wohin wollt ihr mit eurem Fortschritt?, in: Cicero,
November 2009, S. 50).Gerade diese Aussichtslosigkeit des Schicksals
ist es freilich, die die Studenten auf die Barrikaden getrieben hat. Andererseits
verbindet dieser Gedanke die Frankfurter mit einem so gegensätzlichen Denker
wie Martin Heidegger ( ),
den Adorno immer wieder als verkappten Faschisten angegriffen hat. Nach Heidegger
leben wir schon lange in einer Epoche der Seinsvergessenheit, in der sich und
das »Sein«, die Fülle und der Urgrund der Wirklichkeit, immer
mehr verbirgt. Diesem Schicksal können wir in gar keiner Weise entrinnen,
weil wir nichts anderes als die »Lichtung des Seins« und damit der
Ort sind, wo sich die Wirklichkeit je und je anders offenbart - oder eben verbirgt.
(Walter Hoeres, Wohin wollt ihr mit eurem Fortschritt?, in:
Cicero,
November 2009, S. 50).Auf dem Scheitelpunkt dieser Geschichte,
dieses Seins- und Denkgeschicks, den wir heute erreicht haben, zeigt sich die
Wirklichkeit nur noch als nackte, graue Rationalität, als Industrielandschaft
und Technologie. Doch weil es sich um eine unabwendbare Entwicklung handelt, hilft
es nicht, grollend abseitszustehen und sich in fruchtloser Kulturkritik zu verzehren.
Vielmehr müssen wir in der tätigen Haltung des »dennoch!«
alles tun, um diesen »Fortschritt« zu befördern, ohne seine Richtung
ändern zu können. (Walter Hoeres, Wohin wollt ihr mit eurem
Fortschritt?, in: Cicero,
November 2009, S. 50).Wer weiß, wie Adorno in seinen Schriften
über Heidegger hergezogen ist, wird immer wieder mit Vergnügen auf die
glänzend geschriebene Monographie des Frankfurter Gymnasiallehrers Hermann
Mörchen zurückgreifen (Adorno und Heidegger, 1981 ),
die die tiefe Gemeinsamkeit beider Denker aufzeigt. Und es erübrigt sich,
nach allem, auch auf die Verwandtschaft dieses Schicksalsglaubens mit dem von
Spengler hinzuweisen. Er geht so weit, die Intellektuellen rational technischen
Zeitalter aufzufordern, Ingenieure und Techniker statt Dichter und Philosophen
zu werden. Denn nur so könnten sie der Unaufhaltsamkeit des Fortschritts
entsprechen. Daß diese auch für ihn unerfreulich ist, daran besteht
ktein Zweifel. »Der vom Lande seelisch gestaltete Kulturmensch«, schreibt
Spengler im »Untergang«, »wird von seiner eigenen Schöpfung,
der Stadt, in Besitz genommen ..., zu ihrem Geschöpf, zu ihrem ausführenden
Organ, endlich zu ihrem Opfer gemacht. .... Der durchseelte Stein gotischer Bauten
ist im Verlauf einer tausendjährigen Stilgeschichte endlich zum entseelten
Material dieser dämonischen Steinwüste geworden.« (Oswald Spengler,
Der Untergang des Abendlanbes, 1918-1922, S. 673 ).
(Walter Hoeres, Wohin wollt ihr mit eurem Fortschritt?, in:
Cicero,
November 2009, S. 50).Man mag zu diser Kulturkritik stehen, wie
man will. Doch auf jeden Fall ist siestringenter als jene moralisierend salomonischen
Urteile unserer Beschwichtigungshofräte, die Technik sei weder gut noch schlecht,
es komme nur darauf an, welchen Gebrauch wir von ihr machen. (Walter Hoeres,
Wohin wollt ihr mit eurem Fortschritt?, in: Cicero,
November 2009, S. 50). |