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Peter Sloterdijk
„Aufbruch der Leistungsträger“

- „Von Feigheit paralysiert“ -
- „Deutsches Unverständnis für die thymotischen Affekte“ -
- „Kohls Erbe: Lethargokratie und Frivoliät“ -
- „Die Krise der phänomenalen Sozialdemokratie“ -
- „Der reale Semisozialismus“ -
- „Parlamentarische Demokratie: Eine Machtwechselmaschine“ -
- „Vom aktuellen Zeitgeist: Eine neue Antithese taucht auf“ -
- „Zentrastellung der Leistungsträger“ -
- „Parteienpoker und Schicksalsfragen“ -
- „Signal“ -

Ente will nach oben Von Feigheit paralysiert

„Wir haben uns - unter dem Deckmantel der Redefreiheit und der unbehinderten Meinungsäußerung - in einem System der Unterwürfigkeit, besser gesagt: der der organisierten sprachlichen und gedanklichen Feigheit eingerichtet, das praktisch das ganze soziale Feld von oben bis unten paralysiert.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 95).

„Denken wir an den entlarvenden Vorgang, der sich vor wenigen Wochen anläßlich einiger kantiger Formulierungen des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin entwickelt hat: Weil er so unvorsichtig war, auf die unleugbar vorhandene Integrationsscheu gewisser türkischer und arabischer Milieus in Berlin hinzuweisen, ging die ganze Szene der deutschen Berufsempörer auf die Barrikaden, um ihm zu signalisieren: Solche Deutlichkeiten sind unerwünscht. Man möchte meinen, die deutsche Meinungs-Besitzer-Szene habe sich in einen Käfig voller Feiglinge verwandelt, die gegen jede Abweichung von den Käfigstandards keifen oder hetzen. Sobald einmal ein scharfes Wort aus einem anderen Narrenkäfig laut wird, bricht auf der Stelle eine abgekartete Gruppendynamik los. Dabei geht es zu, als gelte es, einen Wettbewerb in Empörungsdarstellung zu gewinnen: Wer schafft es, seine Konkurrenten an Würdelosigkeit beim Eifern und Geifern zu übertreffen? Eingermaßen fassungslos sieht man mit an, wie dann die Mechanismen der Trivialmoral in endlosen Schleifen abgespult werden - bis hinauf in die Spitzen der »Gesellschaft«. In der Berliner SPD heulen die Wölfe sogar vom Parteiausschluß. .... Höchststrafe ...: Existenzvernichtung. Auch die Leitung der Deutschen Bundesbank erweist sich gegen die Epidemie des Opportunismus als nicht immun. Deren Chef, statt sich gelassen vor seinen Kollegen zu stellen ..., statt ... irgendetwas Souveränes, Aufheiterndes, gut Ventiliertes zu sagen, spricht sogar Axel Weber, ansonsten wohl ein respektabler Mann, die allgemein erwartete Sklavensprache und deutet an, es wäre für das Ansehen seines Hauses besser, der überdeutliche Mitarbeiter zöge berufliche Konsequenzen. .... Das Beispiel zeigt, wie tief uns der Sprachkarren im Dreck steckt - und mit dem Sprachkarren das ganze System der politisch-psychologischen Reflexe.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 96).


Deutsches Unverständnis für die thymotischen Affekte

„Man müßte erzählen, erklären und dokumentieren - das würde Zeit kosten -, wie es kam, daß bei uns, in Europa im allgemeinen und in Deutschland im besonderen, im Laufe des 20. Jahrunderts die Balance zwischen den Primäraffekten der menschlichen Seele, den gierartigen Regungen auf der einen Seite, den stolzartigen Regungen auf der anderen - griechisch gesprochen: das Wechselspiel von Eros und Thymos - so völlig verloren gegangen ist.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 96).

„Bis in die letzten Verästelungen unserer Begriffs- und Erlebnisform ist unser Dasein durch Mangeldefinitionen geprägt. Wie keine Generation zuvor sind wir therapeutisiert, kulpabilisiert, miserbilisiert und auf Defizitgefühle dressiert. In kulturgeschichtlicher Sicht dürften wir die erste Gesellschaft sein, in der man allgemein des Satz unterschreibt, wonach der Mensch das Tier im Minus ist.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 96).

„Für die komplementäre Dimension des Seelenlebens, den Stolz, die Ehre, die Großzügigkeit, das Haben und Schenken, für die ganze Skala der gebenden Tugenden, die zum kompletten thymotischen Leben gehören, haben wir praktisch kein Empfinden mehr, und mit dem fehlenden Empfinden ist auch die dazugehörige Sprache ausgestorben.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 96).

„Vor diesem Hintergrund läßt sich begreiflich machen, warum der westlichen ... Kultur ... auf mittelfristige Sicht nur noch durch eine Art von politisch-psychologischer Reformation zu helfen ist. Könnte es sein, daß wir am Anfang einer solchen stehen?“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 97).


Die Krise der phänomenalen Sozialdemokratie

„Tatsächlich kommt der Absturz der SPD einem Symptom gleich, das über die interne Verfaßtheit der aktuellen Staatlichkeit, des Parteiwesens und des sozialen Bandes in unserem Lande insgesamt Aufschluß gibt. In diesem Zusammenhang muß ein für allemal daran erinnert werden, daß Sozialdemokratie nicht nur der Name einer altehrwürdigen politischen Partei ist, deren Anfänge in die Frühzeit der Arbeiterbewegung zurückreichen - sie war de facto die Mutter aller parlamentarischen Oppositionen und das so unbequeme wie unverwüstliche Vehikel, auf dem die soziale Frage durch das 19. und 20. Jahrhundert reiste. .... Doch ist die Sozialdemokratie zugleich eine Systemformel: Sie beschreibt genau die politisch-ökonomische Ordnung der Dinge, die den modernen Staat als Steuerstaat und Therapiestaat definiert.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 99).

„Man hat es infolgedessen in der systemischen Wirklichkeit der westlichen Nationalstaaten immer mit zwei Sozialdemokratien zu tun, die man sorgfältig auseinanderhalten sollte, wenn man der Verwirrung entgehen will. Wir begegnen überall einer phänomenalen und einer strukturellen, einer manifesten und einer latenten Sozialdemokratie, einer, die als Partei auftritt, und einer, die in die Definitionen, Funktionen und Prozeduren der modernen Staatlichkeit als solcher mehr oder weniger irreversibel eingebaut ist.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 99).

„Nimmt man hiervon Kenntnis, so versteht man auch, warum die Sozialdemokratie als Partei ein tendenziell tragisches Phänomen repräsentiert. .... Folglich sind manifeste Sozialdemokraten Anhänger der einzigen Partei, der es peiodisch gelingt, sich selber überflüssig zu machen. .... Auch der Begriff Opposition hat einen neuen Sinn angenommen: Opposition ist längst nicht mehr das, was die Nichtregierungsparteien treiben. Opposition wird wirksam nur noch durch die aktuelle Regierung ausgeübt, und zwar dadurch, daß sie ihrer möglichen Nachfolgerin die Probleme hinterläßt, an denen sie zuverlässig scheitert. .... Man lernt daraus: Der lethargokratische Politiker wird mittelfristig belohnt, weil er und seine Nachfolger die besten Chancen haben, die nächste Wahl zwar zu verlieren, aber dafür die übernächste zu gewinnen.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 99-100).


Der reale Semisozialismus

„Sicher ist ..., daß es Leute gibt, die vor lauter Parteien den Staat nicht sehen. Solche Leute sehen auch vor lauter Mangelalarm die unglaublichen Reichtümer nicht, die heute wie gestern durch die öffentliche Hand gesammelt und zur Umverteilung gebracht werden. Man redet von »leeren Kassen« und beschreibt damit eine Staatlichkeit, die Jahr für Jahr rund 1000 Milliarden Euro vereinnahmt undund verteilt. Solche Staatsblindheit gilt besonders für die diskutierende Klaase in Deuschland, an ihrer Spitze eine Anzahl von »kritischen« Soziologen, in Frankfur und anderswo, die seit Jahrzehnten die scheinplausible These verbreiten, wir lebten unter der Knute des Neo-Liberalismus und des »ökonomischen Horrors« um an den effektvollen Slogan der matten Kapitalismuskritikerin Viviane Forestier zu erinnern.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 100).

„Kaum jemand hat sich in dieser Zeit die Mühe gemacht, den wirklichen Verhältnissen in öffentlichkeitstauglicher Weise auf den Grund zu gehen. Insbesondere war so gut wie nie von dem eben erwähnten »objektiven« Sozialdemokratismus die Rede. Durch ihn sind die Axiome der Sozialdemokratie von der Ebene de rhetorischen Forderungen in die Strukturen der Staatlichkeit als solcher transponiert worden. Sie bilden eine stabile Hintergrundwirklichkeit, die immer mitläuft, wenn im Vordergrund über labile Projekte, Maßnahmen und Differenzen gestritten wird. Die phänomenale SPD kann sich Machtpausen und Schwächephasen leisten, die von ihr mitgeschaffene Transfermaschine geht unabhängig davon ihren Gang. Allen Klagen über soziale Kälte und schleichenden Sozialabbau zum Trotz arbeitet man auch heute auf den Nachtbaustellen des Sozialstaats fieberhafr weiter an der Ausdehnung der Netze.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 100).

„Die Wesensgleichheit zwischen objektiver Sozialdemokratisierung und starker Steuerstaatlichkeit geht hierzulande bis in die Bismarckzeit zurück, als der Eiserne Kanzler den Forderungen seiner Widersacher im preußischen Parlamemt entgegenkam, um sie politisch zu neutralisieren. Doch hat auch die Wilhelminische Ära das Ihre zur Etablierung des modernen Fiskalsystems beigetragen, als mit den Miquel 'schen Finanzreformen 1891/'93 die progressive Einkommenssteuer in Deutschland heimisch wurde. Seither läßt sich mit gutem Grund die These vertreten, der moderne Steuerstaat sei per se das Vollzugsmedium des objektiven Sozialdemokratismus. Zugespitzt gesagt: Der durch sein Fiskalprivileg ermächtigte Umverteilungssraat aktuellen Typs verkörpert essenziell eine krypto-semi-sozialistische Struktur. Aus Hegel'scher Sicht dürfte man hinzugen, dies könne und dürfe auch gar nicht anders sein, sofern die Staatlichkeit als solche das Organon des Allgemeininteresses verkörpert. Die sichtbare Hand des Allgemeinorgans, verkörpert durch den empirischen Finanzminister, greift den wirtschaftenden Bürgern mit einiger sittlicher Berechtigung regelmäßig in die Tasche, um sie zu einer kräftigen Abgabe ans Ganze zu bewegen. Für einen Philosophen deutsch-idealistischer Provenienz bereitet es nicht die geringste Schwierigkeit, das aktuelle System starker Steuerstaatlichkeit als real existierenden Semisozialismus zu definieren. Um aber den fiskalisch basierten Semisozialismus in seiner Eigenart zu begreifen, muß man zwei Dinge stets in Betracht ziehen: zum einen, daß seine Existenz von allen Akteuren strikt geleugnet wird - von den Linken, weil sie andernfalls erklären müßten, mit welcher Begründung sie chronisch mehr wollen, von den Rechten, weil sie sonst zugeben müßten, daß sie im wesentlichen längst heimliche Linke sind. Zum anderen ist für den realen Semisozialismus bezeichnend, daß er bisher ausschließlich in nationalstaatlichen Formen praktizierbar war. Der Grund hierfür ist leicht zu nennen: Schon das späte 19.Jahrhundert hat die beiden großen Impuls-Ideen der neueren Zeit, den nationalen und den sozialen Imperativ, zu mehr oder weniger effektiven, auch zum Teil fatalen, Synthesen zusammengebaut. Infolgedessen ist der moderne Staat bis heute strukturell nationalsozial(istisch; Anm. HB) oder sozialnational(istisch; Anm. HB) ausgerichtet. Als Nationalstaat formatiert er geknüpft, die Solidargemeinschaft zu einem »Volk« mit gemeinsamen Schicksalen und Symbolen, als Sozialstaat formatiert er das »Volk« zu einer operativen Solidargemeinschaft, und zwar temporal als Zusammenhang der Generationen und funktional als Zusammenhang von »Volk« und Eliten.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 100-101).

„Dieses System stößt seit einer Weile an die Grenzen seier Leistungsfähigkeit. In Zeiten erhöhter Migration, intensiverer Zuwanderung, zunehmender Elitenabwanderung und demographischer Ausdünnung macht der moderne Staat die iritierende Entdeckung, daß es mit der sozialnational(istisch)en oder sozialnational(istisch)en Synhese allein auf Dauer nicht mehr getan ist. Seither lautet die Aufgabe für den Staat, der sich und seine Populationen reprouzieren will: Es gilt, eine Integrationsformel höherer Stufe zu finden, kraft welcher eine zunehmend heterogene Staatsbevölkerung als Leistungsträgergemeinschaft jenseits der divergierenden Herkunftskulturen bestimmt wird. Diese Formel kann nur durch einen neuen »Gesellschaftsvertrag« zustande kommen, der die Leistungsträger aller beteiligten Seiten in die Mitte der sozialen Synthesis rückt. An dieser Problemfront engagieren sich seit einer Weile die weitsichtigeren Teile der Bürgergesellschaft und der Staatlichkeit. Ihnen ist eines völlig klar: Das soziale Band von morgen wird durch die Investitionen und Integrationen geknüpft, die hier und heute geschehen. Wird die vorausschauende Pflege dieses Bandes vernachlässigt, bringt man durch Unterlassungen von heute den Zerfall von morgen auf den Weg.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 101).


Parlamentarische Demokratie: Eine Machtwechselmaschine

„Unter anderen Gesichtspunkten sind die vom 27. September 2009 geschaffenen Verhältnisse mit gemischten Gefühlen zu betrachten, mag es auch für einentschiedenes Urteil noch zu früh sein. In zehn oder zwanzig Jahren wird man erkennen, ob dieser Wahlabend einen schwarzen Tag für die deutsche Demokratie bedeutet hat oder nicht, doch schon jetzt geben die Veränderungen im Parteienspektrum Anlaß zu Sorgen um die Zukunft des politischen Systems. Jedenfalls wird man rückblickend eines Tages konstatieren, daß bei der Septemberwahl 2009 die stärksten Stützpfeiler der politischen Kultur in Deutschland nach 1949 katastrophisch zusammengebrochen sind. Was an diesem Tag von der Bühne verschwand, so die wahrscheinlichste Diagnose, war das bis dahin fraglos dominierende Regime der nationweit sammlungsfähigen Organe politischen Willens, die man von den Tagen der seligen Bonner Republik her die Volksparteien nannte. Solange die beiden großen Lager Union und SPD im Land den Ton angaben, hieß zu den Wahlen gehen tatsächlich wählen - sprich: zwischen erkennbaren Alternativen und kontrastreich voneinander abgesetzten Lagern entscheiden. Nach sieben Jahren Rot-Grün und vier Jahren Schwarz-Rot sind die politischen Primärfarben so sehr vergraut, daß »Wählen« jetzt eine dezisionistische Geste meint: Unschlüssig starrt man auf den Stimmzettel und erhofft eine Eingebung in letzter Minute, die sagt, an welcher Stelle man sein Kreuz anbringt. Ein so zustande gekommenes Signal des Wählerwillens ist möglicherweise ein schwaches Indiz für die Existenz der Willensfreiheit, nach welcher heute die Philosophen fahnden, jedoch ein starker Hinweis auf das Ende der Demokratie, wie wir sie gekannt haben.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 101-102).

„Von dieser Lage, in der die alten Farben und Fahnen wertlos werden, profitieren bis auf weiteres nur die kleinen Parteien. Sie lenken die Reste der alten politischen Libido auf sich, weil sie den Grauzoneneffekt bis auf weiteres meiden können und sich mit einer erkennbaren These auf den Marktplatz stellen. Die kleineren Parteien, die am 27. September 2009 jubelten, sind darum typische Ein-Thema-Plattformen, die ihre politische Sichtbarkeit ihrer Einseitigkeit verdanken. Nun sollte man nicht vergessen, daß Einseitigkeit in politischer Hinsicht die Höchstform von Unverantwortlichkeit darstellt. Die unverantwortlichen Kleinen fahren Gewinne, ein, weil sie und solange sie aus ihrer Regierungsunfähigkeit kein Geheimnis machen - Regieren ist ja genau die komplexe polythematische Arbeit, die bisher nur den Volksparteien gelang und zu der die Monothematiker aus eigener Kraft definitionsgemäß unfähig sind.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 102).

„Die siegreichen Aspektparteien, die jetzt den Bundestag und die Länderparlamente selbstsicherer denn je mitbevölkern, triumphieren insgeheim auch deswegen, weil sie wissen: In Zukunft werden sie Zugang zu allen möglichen Aufgabenfeldern erhalten, von denen sie glücklicherweise bis dato nichts verstehen mußten. Sie werden sich im System einnisten, weil das politische Geschäft nach Lage der Dinge künftig nur noch durch kompliziertere Koalitionen betrieben werden kann, oder, um deutlicher zu reden: durch sorgfältig inszenierte Koalitionserpressungen. Wenn schon die dritte Große Koalition für die deutsche Demokratie verhängnisvoll war, weil sie den Volksparteien das Genick brach, so könnten die vielfältigen Koalitionsfiguren, die sich für die Zukunft abzeichnen erst recht fatale Folgen zeitigen weil sie die Italienisierung der Verhältnisse in unserem Land vorantreiben. Was das im einzelnen bedeutet, davon soll des Sängers Höflichkeit für den Augenblick schweigen.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 102).


Vom aktuellen Zeitgeist: Eine neue Antithese taucht auf

„Wer sich jemals mit der Psychodynamik moderner Populationen beschäftigt hat, wird wissen, daß nichts so schwer zu fassen ist wie eine kollektive Stimmung und sich nichts so sehr der Definition entzieht wie der oft zitierte »Zeitgeist«. Von dem behauptet bekanntlich jeder, er sei persönlich fähig, ihn zu spüren, und doch ist es noch niemandem gelungen, seine Existenz zu beweisen. Dies gilt bereits in den Zeiten, in denen die Dinge ruhig halten, es gilt für aufgeregtere Zustände erst recht. Wer vom »Zeitgeist« redet, ist daher mindestens ebenso ein Erfinder wie ein Beobachter, ebenso ein Phantast wie ein Diagnostiker.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 102).

„An keinem Vorgang war dies in jüngerer Zeit deutlicher zu beobachten als an dem gewaltigen Interpretationsspektakel, mit dem die kommentierende Klasse sich über die Weltfinanzkrise nach dem von den USA-Wirtschaftsstrategen bewußt herbeigeführten Zusammenbruch der Lehman-Bank im Herbst 2008 ausließ (Weltfinanzkrise 2008Weltfinanzkrise 2008Weltfinanzkrise 2008Weltfinanzkrise 2008). Der Tenor der Diagnosen ging mals allgemein dahin, man werde die Welt nach der Überwindung der Krise nicht mehr wiedererkennen - so tief würden sich ihre Auswirkungen in die kollektive Mentalität einprägen und auf dem Umweg über den Mentalitätswandel auch die Sphäre der Prozeduren und Strukturen umformen. Ein Jahr danach ist von den fabelhaften Prophezeihungen außer einem schalen Nachgeschmack nichts mehr übrig. Der »Zeitgeist« , von dem man glauben wollte, er hätte die Richtung zu radikaler Erneuerung eingeschlagen, hat sich für business as usual entschieden und will von großen Konversionen nichts mehr hören.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 102-104).

„Vor diesem Hintergrund werden die deutschen Wahlen vom September 2009 zeitdiagnostisch lesbar. Sie deuten an, was der Zeitgeist heute wirklich im Schilde führt. An erster Stelle lassen sie etwas Erfreuliches erkennen: Die heutigen Deutschen haben eine nahezu unglaubliche Hysterieresistenz entwickelt. Die erlaubt es ihnen, sich auch dann fürs Normale und Plausible zu entscheiden, wenn das politische Feuilleton ihnen schon Ritter, Tod und Teufel an die Wand gemalt hat. Obgleich man es kaum für möglich hält: Die Deutschen sind binnen eines halben Jahrhunderts, das sie in Wohlstand, Frieden und Harmlosigkeit verbrachten, ein Savoir-vivre-Kollektiv geworden, das sich so leicht von niemandem um den Verstand bringen läßt. Das galt schon für den gelassenen Umgang unserer Landsleute mit der Finanzkrisenpublizistik im Herbst 2008, die sie fast ungerührt an sich abtropfen ließen. Das gilt erst recht für ihre letztlich so bodennahen wie vernünftigen Wahlentscheidungen am 27. September 2009.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 104).

„Daß beide Volksparteien große Verlierer sind, wurde vielfach gesagt und wird auch durch Wiederholungen nicht falsch. Was die klaren Gewinner angeht, die Liberalen und die Linke, so bedeuten die Zuwächse, die sie erfahren haben, auf den ersten Blick nichts anderes als praktizierte Normalität. Nichts ist normaler und demokratischer als die Tatsache, daß sich bei Wahlen Interessen in Präferenzen übersetzen. Bemerkenswert ist aber, daß es in Deutschland zur Stunde offenbar nur zwei Gruppierungen gibt, die durch ihre prägnanten Interessen zu klaren Wahlentscheidungen motiviert sind, eben die Wähler der Linken und der FDP, während die übrigen es sich offenbar noch immer leisten können, aus Loyalität und Gewohnheit die Union, die SPD und die Grünen zu wählen, sei es aus Loyalität, aus Gewohnheit oder aufgrund von idealeren Motiven. Auf den zweiten Blick taucht hinter der Plausibilität des deutschen Wählerverhaltens eine stark veränderte Konfliktlandschaft auf. Die Antithese zwischen der Linken und den Liberalen ist überaus bedeutungsvoll, um nicht zu sagen zukunftsentscheidend, weil sich in ihr eine bisher systematisch verschleierte Polarisierung der Gesellschaft in nie zuvor gesehener Klarheit artikuliert. Zum ersten Mal in der Geschichte der neueren deutschen Demokratie treten sich in den Gewinnern des 27. September 2009 zwei Gruppen gegenüber, die man so noch nicht miteinander konfrontiert sah. Man möchte fast an einen »Klassengegensatz« unbekannten Typs glauben, der bisher nicht bis zur offenen Kollision herangereift war. Definiert man jedoch den Begriff der »Klasse«, dem Marx'schen Sprachgebrauch gemäß, durch die Stellung von sozialen Akteuren im Produktionsprozeß, so sind die neuen Kontrahenten keine Klassen. Mit »Produktion« hat ihre Entgegensetzung gerade nichts zu tun. Ihre Rolle im System bestimmt sich viel mehr durch ihre Stellung im fiskalisch-monetären Prozeß und im staatlich gesteuerte Umverteilungsgeschehen. Hier finden wir in dem einen Lager die Steueraktiven, die den Fiskus mit ihren Abgaben bereichern, im anderen, vorsichtig gesprochen, die Steuerneutralen, die überwiegend von Transferleistungen profitieren An der neuen politischen Front stoßen also, um die Sache technischer auszudrücken, zwei finanzpolitische Großgruppen aufeinander: hier die Transfermassengeber, die aufgrund von unumgehbaren Steuerpflichten die Kassen füllen, dort die Transfermassennehmer, die aufgrund von sozialpolitisch festgelegten Rechtsansprüchn die Kassen leeren.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 104).


Zentralstellung der Leistungsträger

„Diese Kollision hat eine pikante Seite, weil sie von der herkömmlichen politischen Semantik nicht erfaßt wird. Auf dem linken Flügel ist man für die neue Frontbildung unsensibel, weil man sich dort immer noch an die abgenutzte, doch nie verabschiedete vulgärmarxistische Vorstellung hält, die »Besserverdienenden« und erst recht die Großverdiener seien in letzter Instanz irgendwie allesamt »Ausbeuter« , denen es nur recht geschieht, wenn man ihnen einen kräftigen Teil ihrer »Diebstähle« am Allgemeinreichtum fiskalisch wieder abnimmt. Wo Eigentum immer schon Diebstahl bedeutet, wie Proudhon um 1840 dozierte, ist Gegendiebstahl das Gebot des Ausgleichs. Dann kann nur das adäquate Ausmaß des Gegendiebstahl strittig sein: sei es, daß man mit Lenin auf einen Schlag das Ganze »zurücknimmt«, sei es, daß man mit dem strukturellen Sozialdemokratismus Jahr für Jahr die Hälfte aller Wertschöpfungen für den Fiskus reklamiert.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 104-106).

„Aber auch auf dem rechten Flügel hat man an der neuen Konfliktlage keine wahre Freude, weil man dort nicht aufgehört hat, davon zu träumen, wieder eine von allen Seiten wählbare Volkspartei zu bilden und keine bloße Leistungsträgerpartei zu sein. Zwar weiß inan dort am besten, daß es fatal wäre, diese essenzielle Gruppe zu verprellen, doch ist den Unionsstrategen ebenso klar: Mit den Stimmen der starken Zahler allein kommt man mehrheitsmathematisch auf keinen grünen Zweig. Im finanztheoretischen Jargon heißen Leistungsträger die 25 Millionen Steueraktiven, die vorläufig noch damit einverstanden sind, in Deutschland zu leben, und aus deren Einkommen sowie aus den davon abzuführenden Abgaben praktisch alles stammt, was die 83-Millionen-Population des Landes am Leben hält. Wer es genauer wissen will, kann offiziellen Tabellen die aktuellen Zahlen entnehmen: Allein das obere Zwanzigstel (= 5%) der Leistungsträger bestreitet gut 40% des Gesamtaufkommens an Einkommenssteuern, das obere Fünftel (= 20%) 70%. (!!!).“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 106).

„Die wirklichen Gewinner der Wahlen vom September 2009 sind aus dieser Perspektive betrachtet die Leistungsträger im eben definierten Sinn, wenn auch Gewinner erst in zaghaften Umrissen. Sie lösen sich jetzt mit einem sachten Ruck aus ihren bisherigen volksparteilichen Verankerungen und finden bei den Liberalen fürs Erste so etwas wie eine Auffangstation oder ein provisorisches Basislager, in dem man über die weitere Route diskutieren kann. Es wäre ein schwerer Fehler zu glauben, der FDP-Apparat könne sich von heute auf morgen seinem enormen Erfolg gewachsen zeigen - nein, die Partei wird eine ganze Weile brauchen, um zu begreifen, wie ihr geschehen ist. Sie hat auch - nach dem Tod Dahrendorfs - keinen theoretischen Kopf mehr, der ihr erklären könnte, welches Mandat ihr durch die neuen Verältnisse zuwächst. Zur Stunde kann sie nicht einmal ihre 93 Sitze im Bundestag mit glaubhaften Kandidaten füllen, weil sie es bundesweit kaum noch auf drei Dutzend vorzeigbarer Leute bringt. Ihre parlamentarische Präsenz wird bis auf weiteres in proportionalem Schausitzen bestehen - was freilich in noch viel höherem Maß für die 76 Abgeordneten der Linken gilt, die bis auf weiteres keine politische Kraft, sondern nur ein logistisches Problem darstellen.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 106).

„In Wahrheit geht es jetzt nicht nur um einen Strukturwandel im Parteiengefüge. Die Septemberwahlen lassen erkennen, daß ein wesentlich tiefer eingreifender Umschwung begonnen hat. Wenn der Zeitgeist für diesmal nicht bloß ein literarisches Phantom, sondern ein effektiver psychopolitischer Vektor ist, so wird er für eine Mobilisierung sorgen, in deren Verlauf sich die Gruppe der steueraktiven Bürger ihrer Bedeutung und Verantwortung für den Gang der Dinge in einem bisher unbekannten Maß bewußt wird. Damit geht ein langes ideologisches Regime zu Ende, das auf einer polemischen Fehldeutung der politisch-ökonomischen Beziehungen zwischen Gebern und Nehmern in der modernen Gesellschaft beruhte - einer Fehldeutung, die in der Regel mit einer groben Fehleinschätzung der nehmende und gebenden Staatstätigkeit Hand in Hand ging. Insbesondere haben Ricardo und Marx die folgenschwerste Verwirrung gestiftet, als sie dozierten, die »Wertschöpfung« gehe letztlich ausschließlich auf den Faktor »Arbeit« zurück (Arbeit). Es gibt vermutlich keine zweiten Fall in der Geschicht der Ideen, in dem ein theoretischer Irrtum so große praktische Folgen nach sich zog. Auf ihm basiert ein bis heute virulentes System der Leistungsträgerverleumdung, das sich über zweihundert Jahre von den Frühsozialisten bis zu den Postkommunisten erstreckt. Der Zeitpunkt scheint gekommen, den Pflock endlich tief genug in den Boden einzuschlagen, damit nie wieder hinter die entscheidende Erkenntnis zurückgegangen wird: daß in der modernen objektiv sozialdemokratisierten Staats- und Gesellschaftswirklichkeit die Leistungsträger im genannten Sinn summa summarum zu einer gebenden Größe geworden sind. Sie können auf der Geberseite mit eindrucksvollen Summen in Erscheinung treten, weil sie und solange sie als Erwirtschafter von Einkommen nicht unbelohnt bleiben. Gewiß, es gab und gibt hierbei Exzesse, die nach Korrektur verlangen, im 21. Jahrhundert nicht anders als im 19. Wer aber reflexhaft »Kapitalismus« ruft, beweist nur, daß er nichts begriffen hat. Wir brauchen statt ökonomischer Halbgedanken ein neues und zu Ende durchdachtes Modell vom Nexus zwischen Eigentum, Zins und Geld. Im Klartext: Es ist Zeit, Gunnar Heinsohn zu lesen (HeinsohnHeinsohnHeinsohnHeinsohn).“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 106-107).


Parteienpoker und Schicksalsfragen

„Aus diesen Überlegungen ergibt sich der Gesichtspunkt, unter dem man die jetzt beginnenden Transaktionen der Bundestagsparteien untereinander und ihre Sondierungsgespräche mit sich selbst evaluieren kann.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 107).

„Die Union wird ab sofort versuchen müssen, alles an althergebrachter Volksparteilichkeit zu retten, was davon heute überhaupt zu retten ist. Das kann sie nur dann, wenn sie, als Agentur Konservativer kleinbürgerlicher Milieus, als Drehscheibe rechtschaffener Kommunalpolitik, als Moderatorin der »Realwirtschaft« im Kleineren, Mittleren und Großen, aber auch als anonyme Geschäftsführerin der objektiven Sozialdemokratie, einen klugen Ausgleich mit der jetzt klar gestärkten liberalen Agentur der Leistungsträger herbeiführt. Indem sie sich als Seniorpartner mit dem vom Erfolg überraschten Junior verbündet, verbessert sie ihre eigenen Überlebens- und Wachstumschancen erheblich: Sie könnte, wenn sie nicht kopflos agiert, die Leistungsträger wieder vermehrt auf ihre Seite ziehen, ohne die prekären Existenzen allzu hart vor den Kopf zu stoßen.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 107).

„Die Liberalen haben zugleich die einfachste und die schwierigste Aufgabe vor sich. Als klare Gewinner der jüngsten Wahlen müssen sie im Umgang mit der Union demonstrieren, daß , sie nicht vor lauter Erfolgsbegeisterung bereit sind, die Gründe ihres Erfolgs zu vergessen. Es ist ihre objektive Aufgabe, dafür zu sorgen, daß der Leistungsträgerkern der deutschen Population sich in Zukunft nicht nur fiskalisch stark mitgenommen fühlt, sondern sich endlich auch politisch, sozial und kulturell gewürdigt weiß. Es geht darum, eine neue Semantik zu schaffen, die den Leistungsträgern als Gebern Genugtuung verschafft. Eine solche Semantik setzt den Bruch mit der Mangelpflege voraus, sie verlangt eine Hinwendung zu einer wiedererwachenden Stolzkultur. Dazu gehört, daß man Freiheitsmotive wieder höher veranschlagt: Es entspräche liberaler Tradition, sich zu weigern, das Interesse an Sicherheit bis zur Erbärmlichkeit voranzutreiben. Zu dieser Entwicklung könnte auch Guido Westerwelle persönlich einiges beitragen, wenn es ihm gelingt, die Image-Passage vom alten Jüngling zum jungen Staatsmann zu bewältigen. Ein Schelm, wer ihm diese Metamorphose schwerer machen will als nötig.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 107).

„Die sozialdemokratische Partei steht vor einer Entscheidung, bei der sie in ihren internen Abgrund schaut. Sie ist als Volkspartei beinahe ins Nichts gestürzt und muß die Wahl treffen, ihren Sturz fortzusetzen oder zu stoppen. Sie setzt ihn fort, wenn sie sich als Arbeitnehmerpartei unmöglich macht - und sie wird sich als solche unmöglich machen, wenn sie in Koalitionen mit der postkommunistischen Linken dieser die Chance gibt, sich auf Kosten der großen alten SPD zu profilieren. Wenn also jemals Linksunion, dann nur unter strikter Dominanz der Sozialdemokraten. Möchte die SPD für den unentbehrlichen Leistungsträgerkern der Gesellschaft wieder attraktiv werden, so kann sie das nur, wenn sie unmißverständlich klarmacht: Sie will an erster Stelle den berechtigten Stolz der Berufstätigen, der Steueraktiven und der sozial Mitfühlenden artikulieren; nur in zweiter Linie darf sie dabei mitwirken, der Wut der Arbeitslosen zu ihrem Recht zu verhelfen und die Entmutigung der Ausgemusterten zu kompensieren. Die Partei steht heute an ihrem Abgrund, weil fast eine Hälfte von ihr zum Selbstmord nach links bereit ist. Diese gefährdete Hälfte sollte dem weisen Klaus von Dohnanyi zuhören, wenn er ihr erklärt, daß die Partei nur wieder auf die Füße kommt, sofern es ihr gelingt, die linke Mitte zurückzugewinnen. An die Mitte kommt nur heran, wer es nicht verlernt, zu den Leistungsträgern zu reden.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 107).

„Die Linke kann das nicht, und sie will es nicht. Weil sie es aus tiefer sitzenden Gründen nicht kann und aus opportunen Gründen nicht will, hat sie es aufgegeben, es zu versuchen. Sie entwickelt keine Sprache, die an die Gesellschaft im Ganzen adressiert ist. Es genügt ihr, zu trommeln und ihre Klientel zu sammeln, die zum größten Teil aus den erfolgloseren Segmenten der Bevölkerung besteht. Weil auch für diese Gruppen Repräsentation und Ausdruck unentbehrlich sind, muß man die Existenz der Linken begrüßen. Sobald diese durch Koalitionen in Regierungen eintritt, wird sie beweisen müssen, ob sie verstanden hat, daß eine Partei von Nehmern mit der Zeit ins komische Fach überwechselt, wenn sie sich weiter als Speerspitze der Ausgebeuteten darstellt.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 107).

„Die Grünen schließlich sind heute die politische Gruppierung, die sich mit der größten Gelassenheit auf den Oppositionsbänken niederlassen darf, weil sie sicher sein kann, der Lauf der Dinge setzt ihre Themen eher früher als später wieder ganz vorne auf die Tagesordnung. In dieser Hinsicht haben sie einiges mit der tragischen Sozialdemokratie gemeinsam, denn der Staat der Zukunft wird nicht nur objektiv sozialdemokratisch, sondern auch objektiv grün sein müssen. Die tiefgrünen Grünen dürfen und sollen in gewisser Weise ihr eigenes Überflüssigwerden wollen, weil ihre Sache zu wichtig ist, um nur im kleinen Rahmen einer Aspektpartei verwaltet zu werden. Die Zeit ist nicht fern, in der jede Regierung so grün sein muß, daß es eine Frage zweiten Ranges sein wird, ob explizite Grüne an ihr beteiligt sein werden oder nicht.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 107).


Signal

„Kurzum, der Geist der Zeit sendet neue Signale. Es wäre fatal, sie nicht empfangen zu wollen. Die festgeschriebenen Identitäten, die Parteiträgheiten, die selbstgefälligen Meinungskonglomerate -sie taugen angesichts neuer Verhältnisse wenig. Wer nur »meint«, lebt in der Vergangenheit. Wer sich nur selbst zitiert, ist überholt. Wir müssen die Fenster öffnen, um Zeitluft und Zukunftsmusik einzulassen. Vor allem müssen wir aktiv die Grenzen öffnen, um denen, die als Zuwanderer bei uns erfolgreich werden wollen, die Chance zu geben, in Kooperation und Wettbewerb mit den heimischen Leistungsträgern den Wohlstand zu erzeugen, der zur Hälfte ihnen selbst und zur Hälfte unserem Gemeinwesen weiterhilft.“ (Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 107).

 

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Anmerkungen:

Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 94-107.

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