Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus. (2000)
Gehlen
kam am 29. Januar 1904 in Leipzig als Sohn des Verlegers Dr. iur. Max Gehlen und
dessen Frau Margarete, geborene Ege, zur Welt. Er wuchs in großbürgerlichen
Verhältnissen heran, denn sein Vater war auch Mitinhaber verschiedener Verlage,
seine Mutter die Tochter eines Reichsgerichtsrats und Mitverfassers des Bürgerlichen
Gesetzbuches (BGB). Die Stabilität des eigenen, kulturprotestantischen Milieus
und der gesellschaftlichen Ordnung des Kaiserreichs überhaupt muß den
Heranwachsenden beeindruckt haben; erst später,wurde ihm deutlich, daß
die »Pochkäfer« (**)
schon ihr Zerstörungswerk verrichtet hatten: »In den Jahren vor dem
ersten Weltkrieg brach in Deutschland der Boden der Tradition in allen Räumen
durch, es begannen vehemente Bewegungen. Von der Härte und Konsequenz, mit
der die Jahrhunderte vorher die Kernenergien des menschlichen Inneren gebunden
hatten, macht man sich erst eine Vorstellung, wenn man erlebt hat, wie sie frei
wurden und nun als geistige Explosionen dahinstoben.« (**).
(Ebd., 2000, S. 9-10). (Ebd., 2000, S. 9-10).Gehlen erhielt
ersten Unterricht durch Privatlehrer und besuchte dann das berühmte Thomas-Gymnasium
in seiner Heimatstadt, das er nach dem Abitur, Ostern 1923, verließ. Er
nahm ein Studium der Fächer Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte
in Leipzig auf, ging für das Wintersemester 1925/26 nach Köln, vor allem
um bei Max Scheler und Nicolai Hartmann zu hören, und kehrte zum Abschluß
seiner Hochschulzeit wieder nach Leipzig zurück. Zuletzt hatte sich Gehlen
auch intensiver mit Physik und Zoologie beschäftigt. Er beendete sein Studium
mit der Promotion zum Dr. phil. am 5. November 1927; das Thema der »Gelegenheitsarbeit«
(**) lautete »Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften
Wissens« (**).
Zweieinhalb Jahre später, am 17. Juli 1930, folgte die Habilitation gleichfalls
für das Fach Philosophie mit einer Untersuchung über »Wirklicher
und unwirklicher Geist« (**).
(Ebd., 2000, S. 10).Betreut wurden Promotion und Habilitation vor
allem durch den in Leipzig lehrenden Biologen und Philosophen Hans Driesch (**).
Lothar Samson hat plausibel gemacht, daß Driesch einen nachhaltigen, allerdings
später schwerer erkennbaren Einfluß auf das Denken Gehlens ausübte.
Nicht nur in dem allgemeinen Sinn, daß durch Driesch lebensphilosophische
Vorstellungen an Gehlen vermittelt wurden, sondern mehr noch im Hinblick auf die
Handlungslehre, die bei Driesch bereits in Teilen vorgebildet war und die für
Gehlen seit dem Erscheinen von Wirklicher und unwirklicher Geist zur eigenen Schlüsselvorstellung
wurde. Wirklicher und unwirklicher Geist war daneben auch eine - wenngleich der
idealistischen Tradition verpflichtete - kritische Auseinandersetzung mit den
Möglichkeiten der Philosophie überhaupt, die immer stärker zum
Gegenstand rein historischer Betrachtung zu werden drohte. (Ebd., 2000,
S. 10-11).Zu den stärksten geistigen Einflüssen auf das
Leben und Denken des jungen Gehlen gehörten schon seit seiner Schulzeit die
Philosophie Schopenhauers und Nietzsches. Dabei ging das Interesse deutlich über
das wissenschaftliche im engeren Sinn hinaus. Das war angesichts der sozialen
Herkunft Gehlens durchaus generationstypisch, und ein ähnliches Urteil wird
man über die Auffassungen fällen können, die sich in einem ersten
veröffentlichten Text erhalten haben, einer 1925 vor dem Literarischen Thomanerbund
gehaltenen »Rede über Hofmannsthal«. Gehlen bezeichnete hier
die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten, der Wirklichkeit zu begegnen,
als die »heroische« - »bereit, das Einzelne zu realisieren,
trotzdem es aussichtslos ist, eben darum, weil die Wlt mit so giftigen Waffen
widersteht« -und die »nihilistische« - »den großen
Verzicht ..., nur geleitet von ...Verzweiflung«. (**).
(Ebd., 2000, S. 11).Schon die Sprache, aber mehr noch die Leitgedanken
selbst, zeigen, daß Gehlen mit seinen Vorstellungen in oden Umkreis der
»Konservativen Revolution« gehörte. Ein paradoxer Begtiff, der
jene geistige und politische Strömung bezeichnet, die seit dem Ausgang des
19. Jahrhunderts in ganz Europa, aber bevorzugt in Deutschland, einen neuen Ansatzpunkt
für den Aufbau von Kultur und Staat zu gewinnen suchte. Sie reagierte auf
das Zerbrechen aller universalen Gewißheiten in ihrer religiösen wie
in ihrer säkularen Gestalt. Die große »Erwartungsenttäuschung«
(**)
trug wesentlich bei zum Entstehen einer sehr vielgestaltigen, aber in dem Punkt
doch einigen Bewegung: daß die Moderne ihrer Illusion über die Machbarkeit
der Dinge und der Menschen beraubt und ihre Energie ins Lebensdienliche umgeleitet
werden müsse. (Ebd., 2000, S. 11).Gehlen hat später
über den revolutionären Konservatismus arnbi. valent geurteilt: Es habe
sich um eine »fast immer literarisch gebliebene Tendenz« gehandelt,
aber auch um geistige Bestände »einer Nation, die noch an sich glaubte«.
Schließlich sei die Konservative Revolution nein Opfer Hitlers geworden,
der sie entweder zerschlug oder in seine Partei eingliederte und sie dann mit
in seinen Untergang nahm«. (**).
(Ebd., 2000, S. 12).Zum inneren Kreis der Konservativen Revolution
gehörte Gehlen nicht. Es ist keine Mitgliedschaft in einer Organisation oder
auch nur in einern Gesprächszirkel bekannt, es gibt keine Veröffentlichungen
in Zeitschriften oder Zeitungen, die dem Umfeld der Bewegung zugerechnet werden
könnten. Der erste demonstrative politische Akt Gehlens fand in einern anderen
politischen Zusammenhang statt, womit auch die biographische Dimension der zuletzt
zitierten Äußerung über das Schicksal der Konservativen Revolution
irn Dritten Reich deutlich wird: Am 1. Mai 1933, zwei Monate nach der Regierungsübernahme
Hitlers, trat Gehlen in die NSDAP ein. Irgendeine bedeutende Funktion in der Politischen
Organisation der Partei hat er nicht bekleidet, er tat das, was viele Deutsche
damals taten, auch viele Gebildete, darunter so bedeutende wie die Philosophen
Martin Heidegger und Alfred Baeumler, der Jurist Carl Schmitt, der Chirurg Ferdinand
Sauerbruch und die Physik-Nobelpreisträger Philipp Lenard und Johannes Stark.
(Ebd., 2000, S. 12).Am 1. August 1933 wurde Gehlen außerdem
Mitglied des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB) und dann des Nationalsozialistischen
Dozentenbundes (NSDoB). Auch das waren keine überraschenden Schritte für
einen jungen Akademiker, der seine Laufbahn unbeschadet der Ereignisse fortsetzen
wollte. Tatsächlich kam Gehlens wissenschaftliche Karriere in den kommenden
Jahren zügig voran: Er erhielt noch im Mai 1933 den Vertretungsauftrag für
eine Philosophie-Professur in Frankfurt a.M., einen weiteren in Kiel im April
1934 lehnte er ab und übernahm stattdessen die Vertretung seines Lehrers
Driesch in Leipzig. Am 1. November wurde Gehlen auf dessen Lehrstuhl als ordentlicher
Professor berufen. (Ebd., 2000, S. 12-13).Die Frage,
wie Gehlen zu den neuen politischen Verhältnissen stand, erhellt aus dem
Inhalt der relativ großen Zahl von Publikationen, die er bis zum Ende der
dreißiger Jahre veröffentlichte. Aufschlußreich ist einerseits
die Fortsetzung jener Analyse, die schon in der Hofmannsthal-Rede (**)
kurz skizziert worden war, dann aber eine gewisse Zuversicht, die negative Tendenz
werde sich unter den gewandelten Umständen korrigieren lassen. Was Gehlen
eigentlich als Ursache der großen Krise betrachtete, geht aus einem Aufsatz
über die Wirkung von Descartes hervor, in dessen Schlußpassus es heißt:
»Die Entwurzelung des Geistes ist eine Loslösung von der geschichtlich
gewordenen, von der unmittelbaren Wirklichkeit, in die wir hineingewoben sind,
und nur große soziologische und geschichtliche Veränderungen erklären
die Auflösung von festgefügten Instinkten und Haltungen, eine schon
triebmäßige Freizügigkeit des Menschen, die vollzogen sein muß,
wenn die Freizügigkeit der Reflexion sich ausbilden soll. Jetzt konnte der
Geist seine weltgeschichtliche Rolle als revolutionäre Macht beginnen, und
in einer Welt von kaum beweisbarer Realität ist es leicht, sich den Ordnungen
der Familie, des Staates und Vaterlandes zu entziehen.« (**).
(Ebd., 2000, S. 13).Es klingt hier zweierlei an, was zu den Grundlagen
von Gehlens Diagnose gehörte: erstens die Behauptung, daß eine völlige
Entbindung der Reflexion fatale Folgen haben müsse, und zweitens, daß
ein solches Übermaß die Institutionen (**)
zerstöre, die der Mensch dringend brauche, weil sonst seine »triebmäßige
Freizügigkeit« hervortrete und ihre zerstörerische Macht entfalte.
Daß Gehlens Bekenntnis zum Nationalsozialismus nicht einfach opportunistisch,
sondern auf die Annahme zurückzuführen war, daß hier eine politische
Kraft entstand, die die »triebmäßige Freizügigkeit«
bändigen würde, zeigte sich auch deutlich in seiner Antrittsvorlesung
von 1934, die ein Jahr später unter dem Titel »Der Staat und die Philosophie«
(**)
veröffentlicht wurde. Da hieß es ausdrücklich, daß die »nationalsozialistische
Bewegung ... diesem Volke neue Antriebe des Lebens und neue Ordnungen seines Daseins«
(**)
gegeben habe, und weiter, daß das der Philosophie als legitimer Ausgangspunkt
ihrer wissenschaftlichen Arbeit dienen müsse. (Ebd., 2000, S.
13-14).In diesen Zusammenhang gehört auch, was Gehlen an anderer
Stelle ausdrücklich festhielt, nämlich, daß die »konkrete
Daseinsordnung» keine religiös fundierte mehr sein müsse. Die
»natürliche« Begründung des Staates sei durchaus geeignet,
die entscheidenden Leistungen, die man von einer politischen Institution erwarten
könne, zu erbringen: es sei »... durch Tatbeweis gesichert, daß
eine immanente Weltanschauung imstande ist, tragende Grundsätze des Handelns
aufzustellen und durchzusetzen ...« (**),
»Weltdeutung« und »Handlungsformierung« (**)
zu gewährleisten. (Ebd., 2000, S. 14).Es wird hier deutlich,
daß Gehlen den Nationalsozialismus auf keinen Fall als bloßen Notbehelf
betrachtete, der eine Ordnungsforderung erfüllen sollte, vielmehr hoffte
er auf eine Kraft, die in der Lage sein würde, jene kollektive Phantasie
zu beflügeln, von der er glaubte, daß sie auch innerhalb der Institutionen
das »Schwungrad der Handlungen« sei, die »ermutigende Kraft,
die den Menschen über das lähmende Bewußtsein seiner Ohnmacht
hinausreißt« (**).
Er war damit einer zeitgenössischen Interpretation des Nationalsozialismus
verbunden, die diesen in die idealistische als eine spezifisch deutsche Geistestradition
einzuordnen suchte. (Ebd., 2000, S. 14).Zahlreiche
Arbeiten Gehlens aus den dreißiger Jahren beschäftigten sich ausdrücklich
mit der idealistischen Philosophie, vor allem mit der politischen Philosophie
Fichtes (**),
in der er die Erkenntnis vorformuliert fand, daß es »Mythen«
sind, von denen sich ein Volk ergreifen lassen muß, zwecks »Erziehung
zur Größe der Zeit« (**).
(Ebd., 2000, S. 14).Gab es keine Möglichkleit
mehr, mit Hilfe der Philosophie die Welt vollständig und systematisch zu
erfassen und metaphysische Bedürfnisse zu befriedigen, so hoffte Gehlen,
daß die Anthropologie einen neuen Weg eröffnete, nämlich »empirische
Philosophie« zu treiben, das heißt, die Philosophie als Wirklichkeitswissenschaft
zu begründen. Daß die so verstandene unbedingt einen praktischen Zug
hat, stellte Gehelen schon in der Einleitung zu Der Mensch klar, wo es
heißt, daß das »von denkenden Menschen empfundene Bedürfnis
nach einer Deutung des eigenen menschlichen Daseins ... kein bloß theoretisches
Bedürfnis« sei: »Je nach den Entscheidungen, die eine solche
Deutung enthält, werden Aufgaben sichtbar oder verdeckt. Ob sich der Mensch
als Sohn Gottes versteht oder als arrivierten Affen, wird einen deutlichen Unterschied
ausmachen; man wird in beiden Fällen auch in sich sehr verschiedene Befehle
hören.« (**).
(Ebd., 2000, S. 26).Entscheidend war, daß Gehlen den Menschen
weder als »Sohn Gottes« noch als »arrivierten Affen« begreifen
wollte. (Ebd., 2000, S. 26).Der Mensch
ist als Natur-Mensch undenkbar, und gegen jeden rousseauistischen Optimismus beharrte
Gehlen darauf, daß der Mensch immer einer entgifteten, gefahrlos gemachten
Umgebung bedürfe. In der Phase seiner Entstehung muß er immer Ausnahmebedingungen
- in einem Paradies, einem »Mutterschoß der Natur« (**)
- die Möglichkeit gehabt haben, ausgenommen vom Kampf ums Dasein in seiner
relativen Schutzlosigkeit zu überdauern, bis er die technischen Möglichkeiten
besaß, sich unter gefahrvolleren Umständen zu behaupten; das ernstgemeinte
»Zurück zur Natur« könnte nur in einer Katastrophe
enden, es ist ein Leben für den Menschen allein in der »zweiten Natur«
(**),
der Kultursphäre, denkbar. (Ebd., 2000, S. 30-31).Was
befähigt den Menschen, sich eine Kultur zu machen? Für Gehlen wurzelt
die Kulturfähigkeit des Menschen - darin ganz ähnlich den angelsächsischen
» Pragmatisten » wie John Dewey oder George Herbert Mead, aber vor
allem zurückgreifend auf seinen akademischen Lehrer Driesch - in seinem »Handlungsvermögen«.
Die Unspezialisiertheit und die Instinktreduktion führen bei ihm dazu, daß
zwischen Reiz und darauf folgendem Verhalten eine Verzögerung eintritt, das,
was Gehlen den »Hiatus« (**)
nennt: Dieser »Bruch« macht es möglich, den Antrieben zu widerstehen,
sie zu unterdrücken, sie aufzuschieben oder sie umzulenken; in jedem Fall
ist der Hiatus Voraussetzung für die »Handlung«, denn er gibt
die Möglichkeit, zu erwägen, zu entscheiden und dann eben zu handeln.
(Ebd., 2000, S. 31).Gehlen versagte sich ausdrücklich jede
Spekulation über Intelligenzunterschiede zwischen Mensch und Tier und bestimmte
die »Handlung« undifferenziert als Kompetenz, planmäßig
zu agieren. Das Tier kann in diesem präzisen Sinn nicht »handeln«,
auch wenn sein Tun vorausschauend scheint, etwa die Anlage von Vorratslagern durch
die Eichhörnchen. Untersuchungen dieses Verhaltens besagen, daß eine
Eichhörnchenpopulation im Umfeld von Bäumen immer Lager in einer hohen
Dichte anlegt. Wenig spricht dafür, daß die Tiere ihre eigenen wiederfinden,
sie graben vielmehr in der kalten Jahreszeit aufs Geratewohl und werden mit einiger
Sicherheit fündig. Durch diesen Hinweis ist nicht bestritren, daß etwa
Schimpansen in der Lage sind, Handlungen in einem beschränkten Rahmen vorzunehmen,
zum Beispiel das Öffnen bestimmter Nüsse mit primitiven Werkzeugen wie
Steinen zu bewerkstelligen. Selbst die Weitergabe solcher Verfahren ist beobachtet
worden, aber nie gelang es anderen Primaten das zu gewährleisten, was immer
das Ziel menschlicher Handlungen ist: die »Dauer« (**).
(Ebd., 2000, S. 31-32).In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung,
daß schon seit dem Auftreten des Homo erectus, vor etwa einer Million
Jahren, die Veränderung der biologischen Ausstattung des Menschen immer weiter
zurücktrat, während die BedeutUng der kulturellen Evolution wuchs. Deren
Grundlage bildet die Handlungsfähigkeit. Während das spezialisierte
Tier nur ein Segment der Welt wahrnimmt, das es betrifft und auf das es instinktsicher
reagiert, muß der unspezialisierte Mensch die ganze Welt »objektiv«
auffassen und dann »handeln«. Die Befähigung dazu ist nicht gegeben,
sondern erworben, aber unsere biologische Ausstattung ermöglicht uns zum
einen eine außerordentliche Anzahl denkbarer Handlungsweisen und ermöglicht
das Lernen dessen, was brauchbar und was unbrauchbar ist. Handlung in einem allereinfachsten
Sinn ist vor allem ein Tun, das mit einer sinnlich wahrnehmbaren Rückmeldung
verbunden ist. Die Handlungen lassen sich nach Meinung von Gehlen am besten als
eine Art Kreislauf vorstellen, ein Konzept, dessen Nähe zu zeitgleich entstandenen
kybernetischen Modellen er nicht ohne Stolz vermerkte. In einem komplizierten
Zusammenspiel von Körperbewegung, Blick- und Tastwahrnehmung beginnen wir
bereits in der Kindheit ein Repertoire von Handlungen zu entwickeln, um schließlich
so weit zu kommen, »daß wir uns in einer optisch völlig übersehenen
Welt befinden, deren Einzelheiten uns zwar durch Gestaltumrisse, Farbwerte, Größendifferenzen,
Abschattungen, Verkürzungen usw. nur angedeutet (symbolisch gegeben) sind,
jedoch so, daß uns die Umgangs- und Gebrauchswerte rein optisch mitgegeben
werden, also die Trockenheit, Materialstruktur« Schwere, Entfernung, ja
die Handlichkeit der Dinge. Jedes Ding ist uns dabei aus eigenem früheren
Umgang vertraut und potentiell verfügbar, aber es ist zugleich im Bereich
eines Fernesinns distanziert und nur angeleutet, oberflächlich wahrgenommen
(nie in seiner vollen mögli:hen Ausgiebigkeit) und trotzdem diese Andeutungen
hochsymboisch verdichtet sind [können sie] ...die möglichen Gebrauchswerte
mitumfassen« (**).
(Ebd., 2000, S. 32-33).Die menschliche Art der Welterfahrung und
des Weltumgangs zu erlernen, ist ein langwieriger Prozeß, und er wird vom
einzelnen wie von der Spezies nur bewältigt, um eine »Entlastung«
(**)
von der »Reizüberflutung« zu erreichen, die die Weltoffenheit
und die undifferenzierte Aufnahme aller Sinneseinflüsse mit sich bringen.
»Entlastung« ist für das Gemeinte kein ganz glücklicher
Begriff, denn das Wort verleiht dem Menschen einen chimärischen Charakter:
Ist er doch von Natur aus unspezialisiert und weltoffen, so kann eine »Belastung«
ja nicht darin bestehen, daß ihm die Spezialisierung und die Umweltbindung
des Tieres fehlen, das er niemals gewesen ist. (Ebd., 2000, S. 33).Gehlen
meint, daß es für den Menschen unumgänglich bleibt, sich von der
Welt zu distanzieren, um das Bedrängende ihrer Einwirkung zu mindern. Die
Entlastung wirkt sich als »Entfremdung« aus und dient vor allem als
eine Art Scheide, um wichtige von unwichtigen Informationen zu trennen, Gegenstände
als solche auszumachen und Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Je differenzierter
die Entlastung im Laufe der KulturentWicklung wird, desto seltener geht sie auf
eine unmittelbare »Handlung« zurück. Unser Verhalten wird »immer
potentieller, ein bloßes ,Können', das Wahrgenommene zunehmend bloße
Andeutung von möglicher Entwickelbarkeit, auf die wir uns meist gar nicht
mehr einlassen« (**).
(Ebd., 2000, S. 33).Was Gehlen hier gemeint hat, kann jeder mit
seiner Alltagserfahrung abgleichen. Wenn man an einem kleinen Kindbeobachtet,
daß es noch alle Gegenstände seiner Welt -im Doppelsinn des Wortes
-«begreifen« muß und damit handelnd lernt, so genügt uns
für gewöhnlich zur Vergewisserung ihrer Existenz und ihrer (potentiellen)
Brauchbarkeit ein einziger Blick. (Ebd., 2000, S. 33).Auf
diesem Hintergrund wird dann auch die entlastende Funktion der Sprache verständlich.
Anders als die Kommunikation von Tieren besteht die Sprache des Menschen aus beliebig
kombinierbaren Lauten, die mit beliebigen Inhalten verbunden werden können.
Sprachen sind nicht nur in ihrem Vokabular und in ihrer Struktur unendlich vielfältig,
sie dienen auch nicht allein der Weitergabe von Imperativen oder dem sozialen
Kontakt, sondern außerdem der Verständigung über Sinnvolles oder
Sinnloses. Die Sprache ist ein wesentliches Instrument des Menschen, um die »Wirkungsmacht«
der Welt zu »bannen« (**),
sie ermöglicht wie nichts anderes Distanz von allen unmittelbaren Eindrücken,
sie schafft eine ganze »Zwischenwelt« (**)
von Zeichen, die den Menschen von der Welt distanziert. Sie ermöglicht überhaupt
erst ein theoretisches Verhalten, das das, was zur Hand ist, als Material für
das, was künftig sein wird, betrachten kann. Sie eröffnet dem Menschen
eine fast beliebige Verschiebung von Dingen in Zeit und Raum, sie ließ den
Aborigine in einem geeigneten Ast das künftige Wurfholz sehen und Kolumbus
die Fahrt nach Westindien imaginieren und gibt dem Regisseur die Möglichkeit
im Film Bilder von Dingen zu zeigen, die niemals waren und niemals sein können,
die aber als Kombination von Symbolen eine andere, nur sprachlich begreifbare
phantastische Realität eröffnen. (Ebd., 2000, S. 34).In
einer gewissen Anspannung zu der Annahme, daß die Überraschungslosigkeit
der kristalliiserten Gesellschaft zu ihrer Stabilität beitrage
, stand
von Anfang an die Befürchtung Gehlens, daß das, was er die »Entlastung
vom Negativen« nannte
, in der entwickelten Zivilisation zu einem
»Luxurieren« des Trieblebens führen könne, zu einem Zustand
der Dekadenz also, immer vorausgesetzt, daß Dekadenz sowieso der wahrscheinlichste
Weg der historischen Entwicklung war: »wieder ein Schritt vorwärts
auf dem Wege der Enthemmung einer fürchterlichen Natürlichkeit«
(**). Gehlen glaubte, daß der Prophet
dieser »fürchterlichen Natürlichkeit« Rousseau gewesen sei,
und ohne einen »Gegen-Rousseau«, der an Stelle der seichten Lehre
des »Zurück-zur-Natur« eine »Philosophie des Pessimismus
und des Lebensernstes« (**)
setze, sah er schwerwiegende negative Auswirkungen auf die bestehenden Verhältnisse
ab. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man behauptet, daß Gehlen sich selbst
gern als diesen »Gegen-Rousseau« gesehen hätte, aber im Vergleich
zu jenem fehlte ihm doch die Breitenwirkung, ein Mangel an Popularität, der
angesichts der gebotenen Lehre nicht verwundern kann. Es war dieser Sachverhalt
besonders deutlich an dem letzten Buch Gehlens zu bemerken, das noch am ehesten
als Aufruf zu einer Gegenbewegung geeignet gewesen wäre und das 1969 unter
dem Titel Moral und Hypermoral (**)
erschien. Moral und Hypermoral zeigte ein glänzendes polemisches Talent,
aber es war mehr als eine Kampfschrift, Gehlen betrachtete es in mancher Hinsicht
als dritten Teil von Der Mensch (**|**).
Der Band trug den Untertitel Eine pluralistische Ethik, und es ging dem
Verfasser um den Nachweis, »... daß es mehrere voneinander funktionell
wie genetisch unabhängige und letzte sozialregulative Instanzen im Menschen
gibt. Eine Ethik aus einem Guß ist immer eine kulturelle Stilisierung
des Denkens, Fühlens und Verhaltens gewesen,
eine überspannte
Metapher der Wirklichkeit« (**).
(Ebd., 2000, S. 79-80).Gehlen hat sich für seine
Forderung nach einer »pluralistischen Ethik« auf das Vorbild aller
differenzierten Gesellschaften berufen, die immer verschiedene Tugenden für
verschiedene Lebensbereiche kannten, etwa die Weisheit für den Lehrstand,
die Tapferkeit für den Wehrstand, den Fleiß für den Nährstand.
Gehlen seinerseits identifizierte vier Quellen der Moral: das Prinzip des do
ut des - »gib, dann wird dir gegeben«, das im ökonomischen
und juristischen Bereich eine gewisse Geltung bis in die Gegenwart beansprucht,
die biologische Ethik, etwa die selbstverständliche Zuwendung zu allem, was
durch das Kindchen-Schema ausgezeichnet ist, dann die Familienmoral und schließlich
die Ethik der Institutionen, vor allem des Staates. Unter aktuellen Gesichtspunkten
ging es Gehlen aber vor allem um das Widerspiel zweier Moralen: der Familienmoral
und der politischen Moral. Gehlen erkannte der Ethik der intimen Kleingruppe durchaus
ihr Recht zu, den Grundsätzen der Liebe und gegenseitigen Achtung, der Ehrlichkeit
und der Fürsorge, aber er bestritt ganz entschieden das moralische Recht,
diese Prinzipien auf die Welt im großen zu überragen. Dort, wo Staaten
sich gegenübertreten und Parteien ihre Interessen durchzusetzen suchen, sei
es unsittlich, nach dem Gebot der Nächstenliebe oder auch nur der Goldenen
Regel zu handeln. (Ebd., 2000, S. 80-81).Gehlen wandte erheblichen
Scharfsinn auf, um den ganzen Unsinn des »Humanitarismus« nachzuweisen,
jener Utopie, die sich seit dem Anfang der 1960er Jahre nicht nur in der Bundesrepublik
Deutschland, sondern in der ganzen westlichen Welt ausgebreitet hatte und jede
auf Erhaltung der staatlichen Ordnung, ja der Institutionen überhaupt, gerichtete
Bemühung unterlief. (**).
Individualismus und Universalismus wurden in einen direkten Zusammenhang gebracht,
die »überdehnte Hausmoral« (**)
zum Maßstab jeder Handlung und eben auch der staatlichen gemacht. Demgegenüber
hielt Gehlen fest: »Man muß Macht haben, um überhaupt handeln
zu können, zumal in der moralischen Sphäre. Man hat gewaltig zu sein,
um Gutes zu tun, und stark, um Schutz zu bieten. Das Gute zu suchen und dabei
die Macht zu verwerfen kommt auf die seichte und eigensinnige Vorstellung heraus,
daß das Leben keine Bedingungen haben sollte.« (**).
Vieles erinnert hier an ältere und klassisch-moderne Staatsanschauungen,
angefangen mit der Unterscheidung von civitas dei und civitas terrena
bei Augustinus über Martin Luthers Lehre von den beiden Reichen bis hin zu
Max Webers Differenzierung von »Gesinnungsethik« und »Verantworrungsethik«.
Aber Gehlens Lage war mit derjenigen dieser Autoren kaum vergleichbar. Jeder Staat
der Vergangenheit hat sofort oder doch in absehbarer Frist einen hohen Preis gezahlt,
wenn er die Gefahr der Selbstzerstörung durch Aufgabe des politischen Ethos
verkannte. Im 20. Jahrhundert schien es so, als ob zumindest die europäische
und die nordamerikanische Menschheit in einem Ausnahmezustand lebten, in dem so
etwas wie der »Ernstfall« nicht mehr vorkam. In einer Welt, in der
Krieg und Knappheit unwahrscheinlich wurden, waren »quiritische Tugenden«
- um einen Begriff Sorels zu gebrauchen - kaum noch plausibel zu machen. Daß
die »Treuepflicht zu außerrationalen Werten« (**)
vollständig zu verschwinden schien, erfüllte Gehlen mit Verzweiflung.
Das erklärt wohl auch, warum er zwei bis dahin strikt verteidigte Positionen
aufgab oder doch an entscheidender Stelle korrigierte: die Annahme, daß
es im Grunde keine »Natur« des Menschen gebe und die Aversion gegen
die Kulturkritik der deutschen Tradition, vor allem soweit sie durch Nietzsche
und Spengler verkörpert war. Im Hinblick auf den ersten Punkt ist aufschlußreich,
daß Gehlen jetzt bestimmte Vorstellungen von Instinktgebundenheit
Territorialität, Aggression, Sexualität - und gleichzeitig die damit
verbundene Degenerationsbereitschaft - das, was Konrad Lorenz die »Verhausschweinung«
des Menschen nannte als Interpretament für die von ihm konstatierten
Verfallsmomente akzeptierte. Was den zweiten Zusammenhang angeht, so muß
man feststellen, daß Gehlen nicht nur die »große Parallele«
zwischen dem Untergang Roms und der eigenen Gegenwart beschwor, sich scharf gegen
die Aufklärung wandte (»Die Aufklärung ist, kurz gesagt, die Emanzipation
des Geistes von den Institutionen.« [**]),
sondern auch Nietzsches Kritik des »Ressentiments« aufnahm und als
Argumentationshilfe verwandte. (Ebd., 2000, S. 81-82).
Die Ethik des Aufbegehrens. Friedrich Nietzsche, der Erste Weltkrieg
und die Konservative Revolution (in: Junge
Freiheit; 25.08.2000)
Wenn Armin Mohler in seiner grundlegenden
Arbeit zum Thema behauptet, daß es sich bei der »Konservativen Revolution«
um eine »von Nietzsche ausgelöste Bewegung« gehandelt habe, dann
hat diese These eo ipso Gewicht. Sie ist allerdings nicht unwidersprochen
geblieben. Am heftigsten bestreitet Stefan Breuer die überragende Bedeutung
Nietzsches für die KR und weist auf zwei entscheidende Sachverhalte hin,
die seine Position stützen: erstens die Ablehnung, die der für Nietzsche
so entscheidende Gedanke der »ewigen Wiederkehr« nicht nur bei den
christlichen (etwa Edgar J. Jung), sondern auch bei anderen Autoren der KR (etwa
Arthur Moeller van den Bruck) erfuhr, zum zweiten die Tatsache, daß einige
Leitfiguren des revolutionären Konservatismus gar kein durch Nietzsche vermitteltes
Bildungserlebnis hatten (etwa Wilhelm Stapel oder Carl Schmitt). Wenn Breuer allerdings
in seinen neuen Arbeiten so weit geht, Nietzsche selbst einer »neoaristokratischen«
Fraktion der wilhelminischen Rechten zuzuschlagen, dann findet eine Verzeichnung
statt, der gegenüber die Schwächen von Mohlers These gering wiegen.Nietzsche
hielt Distanz zu allen politischen Gruppierungen des Kaiserreichs. Das wird auch
deutlich an seinem Verhältnis zur ältesten Fraktion der KR, den Völkischen.
Nicht nur, daß Nietzsche deren positivistisches Verständnis von »Rasse«
immer ablehnte, auch umgekehrt fand man keinen Geschmack an einem »Übermenschen«,
der gelegentlich als Kreuzung aus jüdischem Bankier und preußischem
Generalstabsoffizier vorgestellt wurde. Ende März 1887 schrieb Nietzsche
an Theodor Fritsch, den Herausgber der antisemitischen Deutsch-sozialen Blätter,
und verbat sich die weitere Zusendung von desen Zeitschrift mit den Worten: »dieses
abscheuliche Mitredenwollen naiver Dilettanten über den Werth von Menschen
und Rassen, diese Unterwerfung unter Autoritäten, welche von
jedem besonneren Geiste mit kalter Verachtung abgelehnt werden
, diese beständigen
absurden Fälschungen und Zurechtmachungen der vagen Begriffe »germanisch«,
»semitisch«, »arisch«, »christlich«, »deutsch«
das alles könnte mich auf die Dauer ernsthaft erzürnen«.Man
darf bei den Völkischen schließlich die Vorbehalte nicht unterschätzen,
die aus der liberalen Herkunft dieses Lagers resultierten. Der »Immoralismus«
Nietzsches irritierte nicht nur Christen, sondern auch jene, die sich in einer
Nietzsche ganz suspekten Weise der Bestände sicher waren. So entwarf Houston
Stewart Chamberlain eine »deutsche Weltanschauung« unter Rekurs auf
die liberalen Erzväter Wilhelm von Humboldt, Dahlmann und Treitschke, ohne
den Namen Nietzsches auch nur zu nennen. Wo er auf das Thema stieß, das
ihn am ehesten zu Nietzsche hätte führen können Dekadenz
und Regeneration , lag für ihn wie für andere Völkische der
Bezug auf Paul de Lagarde und Richard Wagner immer näher. Mohlers Behauptung,
daß Nietzsche die »Schicksalsgestalt« der KR, mehr noch jener
historischen Wende gewesen sei, mit der die »Nach-Neuzeit« begann,
gewinnt ihre Plausibilität vor allem durch die Tatsache, daß die Mehrzahl
der von ihm selbst als »herausragend« klassifizierten Autoren der
KR stark durch das Denken Nietzsches geprägt wurde: Max Weber, Ludwig Klages,
Leopold Ziegler, Oswald Spengler, Thomas Mann, Hans Blüher, Ernst und Friedrich
Georg Jünger. Sie alle waren Nietzscheaner, allerdings auf sehr unterschiedliche
Weisen. Die Generationenzugehörigkeit spielte dabei eine entscheidende Rolle.Thomas
Mann stellte schon vor dem Ersten Weltkrieg fest: »Unser Nietzsche ist der
Nietzsche militans. Der Nietzsche triumphans gehört den 15 Jahre nach uns
geborenen. Wir haben von ihm die psychologische Reizbarkeit, den lyrischen Kritizismus,
das Erlebnis Wagners, das Erlebnis des Christentums, das Erlebnis der Modernität
Erlebnisse, von denen wir uns niemals vollkommen trennen werden, so wenig
wie er sich selbst je vollkommen davon getrennt hat. Dazu sind sie zu teuer, zu
tief, zu fruchtbar. Aber die Zwanzigjährigen haben das von ihm, was übrig
bleiben wird, sein Zukünftiges, seine gereinigte Nachwirkung. Für sie
ist er ein Prophet, den man nicht sehr genau kennt, den man kaum gelesen zu haben
braucht und dessen gereinigte Resultate man doch instinktsicher in sich hat.«Wenn
der »Nietzsche militans« für die denkbar schärfste Kritik
an der Philisterhaftigkeit der Verhältnisse stand, für eine rigorose
Demontage der geltenden Normen und einen hochfahrenden Individualismus, dann kann
man noch in Manns »Betrachtungen eines Unpolitischen« die Wirkung
dieses Einflusses spüren. Allerdings hat sich Mann in diesem ganz unter dem
Eindruck des Weltkriegs stehenden Buch schon stärker dem Nietzsche zugewandt,
der noch in seiner Wendung gegen das Deutsche »deutscher« als jeder
andere gewesen sein sollte. Der Versuch, die Überwindung des Nihilismus im
Denken Nietzsches zur Geltung zu bringen und mit der Hoffnung auf Erneuerung der
Nation ein wieder »von Mythen umstellter Horizont« zu
verknüpfen, wirkte bei Mann aber nur gebrochen. Da waren sich, wie er selbst
festgestellt hatte, die Jungen sicherer. Jene, deren Programm der »Lebensreform«
die »Bejahung der Erde, die Bejahung des Leibes, den antichristlichen und
antispirituellen Begriff der Vornehmheit, der Gesundheit und Heiterkeit, Schönheit«
in sich schloß.Jugendbewegungen ließen sich inspirierenEs
waren seit der Jahrhundertwende vor allem Gruppen der Jugendbewegung, die sich
von den Vorstellungen Nietzsches inspirieren ließen, ohne daß man
davon ausgehen darf, daß hier der Philosoph gelesen, geschweige denn ganz
verstanden, wurde. Die Parolen, die man aus seinem Werk ableitete, eigneten sich
aber vorzüglich, das Selbstbewußtsein der Heranwachsenden zu stärken,
ihr Gehalt entsprach der Feindseligkeit gegen den Positivismus, die den Zeitgeist
bestimmte, und ging mit der Neuromantik eine wenngleich spannungsvolle Verbindung
ein. Wenn man das »Erlebnis« ganz in den Vordergrund stellte und der
Reflexion mißtraute, dann war das oft Anwendung Nietzsches ohne Kenntnis
Nietzsches.Allerdings kam auch die Feier des Lebens nicht ohne literarischen
Niederschlag aus. Repräsentativ dafür waren die Veröffentlichungen
des in der Jugend- und Lebensreformbewegung einflußreichen Diederichs-Verlags.
Eugen Diederichs, der sehr bedauerte, nicht die Schriften Nietzsches selbst verlegen
zu dürfen, gab seinem Haus ein Programm, das dem nietzscheanischen Geist
auch die Sehnsucht nach dem Süden und die ästhetische Orientierung an
der Renaissance verdankte. Diederichs sammelte während der Vorkriegszeit
junge Leute in einem »Sera-Kreis«. Zu ihnen gehörte auch Hans
Freyer, der 1913 in einem kleinen Privatdruck für die Gemeinschaft seine
Militärdienstzeit bedachte. Da heißt es eingangs: »Nietzsches
Worte von Krieg und Kriegsvolk vermögen wir nur im übertragenen Sinne
zu verstehen. Zum Kriegsvolk im wörtlichen Sinne fühlen wir uns nicht
gehörig.« Freyer schildert dann die Stupidität der Ausbildung
und des Drills ebenso wie den ungeheuren Abstand zwischen den heroischen Idealen,
die Nietzsche beschworen hatte, und dem Kasernenleben. Aber der kurze Text endet
mit einem bemerkenswerten Ausblick: »Ich setze den Fall, es kommt ein Krieg.
.... Das Land gibt sich binnen drei Tagen eine prinzipiell andre Struktur. Es
faßt sich in einer Weise zusammen, die ich nolens volens als metaphysisches
Ereignis empfinden würde. Man male sich nun in aller Redlichkeit und mit
möglichst viel Phantasie die Gefühle derjenigen aus, die nicht mitziehen.
Ob es ihnen nicht zumute ist wie einem, der die Genossen auf der Wiese um das
schönste Mädchen tanzen sieht und nicht mittanzen kann.«Der
Krieg als großes, die verlorene Einheit wieder stiftendes Ereignis und der
Krieg als Fest das waren nietzscheanische Ideen. Sie haben in den Köpfen
und Herzen vieler, die sich im August 1914 freiwillig meldeten, neben und manchmal
vor der Idee, das Vaterland verteidigen zu müssen, eine Rolle gespielt. Die
Vorstellung, daß der Krieg eine »Erfahrung« ermögliche,
daß er im Zeitalter der Feminisierung die Männlichkeit rehabilitiere,
gab es auch außerhalb Deutschlands, aber wahrscheinlich nirgends gewann
sie eine solche Intensität. Die »Ideen von 1914« lassen
sich natürlich nicht insgesamt auf Nietzsche zurückführen, aber
Elemente seines Denkens gehörten mit zu einem Sonderbewußtsein, das
die deutsche intellektuelle Elite während des Krieges sehr stark bestimmte.
Im Rückblick schrieb der evangelische Theologe Paul Schütz: »Wir
hatten Nietzsche oder auch Faust im Tornister und die Edda und der Meister Eckardt
waren für uns vom Geheimnis zu entdeckender Wahrheit umwitterte Namen.«Man
hat die Behauptung, daß die deutschen Freiwilligen mit Goethes »Faust«
und Nietzsches »Zarathustra« und eben nicht mit Bibel und Gesangbuch
in den Krieg zogen, immer wieder in Frage gestellt, aber es bleibt ein schwer
bestreitbarer Unterschied zwischen der deutschen »Kriegsideologie«
und jenen auf ewigen Frieden und Menschheitserlösung ausgehenden, eigentlich
chiliastischen Vorstellungen, die auf seiten der Entente in den Vordergrund gestellt
wurden. Noch die Niederlage trug dazu bei, den Selbstwert des Agonalen zu betonen.Die
Realität des Krieges nahm viel von der Überspanntheit mancher Vorstellungen
weg, bestätigte dafür aber die Diagnose Nietzsches vom kommenden Zusammenbruch
der bürgerlichen Welt und der Umwertung aller Werte. Für jene, die wie
Ernst Jünger ausgezogen waren in einer dionysischen, »einer trunkenen
Stimmung aus Blut und Rosen«, hatte sich der Charakter des Krieges in den
Schützengräben und Materialschlachten völlig gewandelt, aber er
war nicht sinnlos geworden, sondern eine »Schule der Gefahr«. Für
die, die deren Prüfung bestanden hatten, wurde der Nihilismus eine unbestreitbare
Tatsache, der sie so sicher waren wie dem Wahrheitsgehalt von Nietzsches Prognose,
daß »ein paar kriegerische Jahrhunderte« bevorstünden und
nun der »Kampf um die Erd-Herrschaft« entbrenne.Dem »Zwang
zur großen Politik« stellenMan muß die Radikalität
der Nationalrevolutionäre in den zwanziger und dreißiger Jahren auch
unter diesem Gesichtspunkt betrachten. Natürlich war Jüngers »preußischer
Anarchist« gedacht als Zarathustra im Waffenrock und die »organische
Konstruktion« ein Versuch, die Umwertung aller Werte zu vollenden, aber
im Kern ging es darum, sich dem von Nietzsche für das 20. Jahrhundert behaupteten
»Zwang zur großen Politik« zu stellen. Das ist bei Ernst Jünger
ebenso deutlich wie bei seinem Bruder Friedrich Georg und fand seinen Niederschlag
noch häufiger auf niedrigerem Niveau, etwa in der Geschichtstheologie Friedrich
Hielschers, die man überhaupt nur als Exegese Nietzsches angemessen versteht.Allerdings
war es nicht die oft sehr exzentrische Nietzsche-Rezeption der Nationalisten,
die in der Nachkriegszeit den größten Einfluß ausübte. Den
wird man eher den Arbeiten Oswald Spenglers und den Veröffentlichungen aus
dem Umkreis des Dichters Stefan George zubilligen müssen. Spengler hat den
»Untergang des Abendlandes« in einer Weise interpretiert, für
die Nietzsches Denken, wie er selbst sagte, »schlechthin entscheidend«
war. Das betraf nicht nur die Vorstellung von der Dekadenz Europas, sondern auch
den Gedanken, daß die Kultur überhaupt der entscheidende Träger
des historischen Prozesses sei und der Verlust der »Einheit des Stils«
deren Ende vorbereite. Selbst in der Idee vom zyklischen Ablauf der kulturellen
Entwicklung kann man den Einfluß der Lehre Nietzsches ausmachen.Sahen
deshalb die einen in Spengler die »Vollendung« (Alfred Baeumler) Nietzsches,
so gab es andere, gerade unter den treuesten Adepten Nietzsches, die meinten,
der »Fatalismus« des »Unglücksboten« (Ernst Horneffer)
habe nichts zu tun mit der zuletzt doch erwartungsvollen Haltung des Philosophen,
der glaubte, daß sich in ihm ein neues Zeitalter ankündige. Von diesen
Kritikern wurde übersehen, daß Spenglers stärkste Wirkung kaum
aus seiner Geschichtsphilosophie herrührte, mehr aus seiner Forderung nach
einem handlungsbereiten »Trotzdem«, das entscheidendes dem nietzscheanischen
amor fati verdankte. Es war vor allem dieser alle Strömungen der Konservativen
Revolution maßgeblich bestimmende »heroische Realismus«, der
regelmäßig zu Nietzsche zurückführte, weil er eine Ethik
des Aufbegehrens gegen ein Schicksal enthielt, das den Niedergang Deutschlands
oder gar Europas insgesamt verhängt zu haben schien.Die Vorstellung,
daß gegen das Fatum eine Regeneration möglich sei, spielte eine entscheidende
Rolle im George-Kreis. Der Dichter selbst hatte immer wieder auf Nietzsche Bezug
genommen und das 1918 erschienene Buch Ernst Bertrams »Nietzsche - Versuch
einer Mythologie« gutgeheißen, als Versuch, Nietzsche in die Reihe
jener großen Männer zu stellen, deren Vorbild der Nation wieder einen
Retter schenken werde. Allerdings ließen weder George noch seine Anhänger
einen Zweifel an den Rangverhältnissen: »Erst George ist, was zu sein
Nietzsche krampfhaft begehrt«, heißt es bei Ernst Gundolf.Die
besondere Art der Nietzsche-Rezeption im George-Kreis, die sich noch in der Stilisierung
Friedrichs II. durch Ernst Kantorowicz als »Caesar Messiaskaiser Antichrist«
feststellen läßt, stand im Zusammenhang damit, daß Georges »Staat«
in erster Linie ein ästhetisches Projekt war, wobei die Grenze von Politik
und weltanschaulichem Denken im Sinne der KR deutlich überschritten wurde.Nietzsches
Einfluß auf den revolutionären Konservatismus ist überhaupt nicht
zu trennen von seinem Einfluß auf alle Gebiete der Kultur, der seit der
Jahrhundertwende spürbar wurde, und nicht zu trennen von seinem Einfluß
auf andere Ideologien, vom Anarchismus, Feminismus, Sozialismus und Zionismus
bis hin zu Faschismus und Nationalsozialismus. Während sich Hitler und seine
Gefolgschaft gelegentlich und plakativ des Denkers bedienten, aber nie das Unbehagen
loswerden konnten, das schon die völkischen Vorläufer verspürt
hatten, blieb der Einfluß Nietzsches auf die Konservative Revolution stärker,
gerade weil sie in sich disparater und geistiger war, jedenfalls ungeeignet zur
Organisationsbildung im großen Maßstab.Nietzsches Position
behielt etwas UnabgeschlossenesEiner ihrer Repräsentanten, Hans-Joachim
Schoeps, Deutscher und Jude, Bündischer und JungKonservativer, nach 1933
Führer des »Vortrupp - Gefolgschaft deutscher Juden«, schrieb
1934 über die Bedeutung dessen, was er unter »Nietzsches Appell«
verstand: »Dem Nichts standzuhalten und damit heroisch zu leben, ist die
verwegenste Existenz, die heute möglich ist. Vielleicht ist sie die zutiefst
und eigentlich deutsche Existenz, die auf alle Sicherheit, auf alles Ruhen in
der Lebensmitte, auf alle Schönheit und Erfüllung der Gestalt Verzicht
leistet, aus dem tiefen Wissen heraus, daß der Mensch ungesichert ist, die
Welt eine Wunde trägt, Erfüllung hinieden ein Grenzfall bleibt, und
der Mensch nirgendwo echter ist, als wo er sich entschließt, zu seiner Gebrochenheit
und zur Wunde der Welt zu stehen und dennoch um der Wahrheit willen
ja zu sagen.«Nietzsche ist kein Block, man
kann ihn kaum im Ganzen annehmen oder ablehnen. Er hat Musik, bildende Kunst und
Literatur inspiriert, seine Auswirkungen auf Philosophie und Theologie sind bis
heute feststellbar. Weniger eindeutig ist sein Einfluß auf die Politik.
Die jungen Kommunisten Giorgio Colli und Mazzino Montinari bewog die Nietzsche-Lektüre
zum Weg in die Resistenza, aber das waren Ausnahmen. Um eine Formel Ernst Noltes
zu gebrauchen: Nietzsche gehört mit der Mehrzahl seiner Gedanken auf die
Seite der »ewigen Rechten«. Seine Position behielt dabei immer etwas
Unabgeschlossenes, so wie auch die Konservative Revolution etwas Unabgeschlossenes
war, dessen Umrisse sich immerhin mit einigen Sätzen aus der »Fröhlichen
Wissenschaft« zeichnen lassen: »Wir konservieren nichts,
wir wollen auch in keine Vergangenheit zurück, wir sind durchaus nicht liberal,
wir arbeiten nicht für den Fortschritt, wir brauchen unser Ohr
nicht erst gegen die Zukunfts-Sirenen des Marktes zu verstopfen
. Wir sind
keine Humanitarier; wir würden uns nie zu erlauben wagen, von unserer Liebe
zur Menschheit zu reden dazu ist unsereins nicht Schauspieler genug.
(Zitat-Ende).
Nation? (2001)
Es ist mit diesen Hinweisen zur
Wortgeschichte wenig darüber gesagt, ob die Nation nicht schon früher
von der Sache her bestand, obwohl der Begriff ungebräuchlich war. Die radikalste
Bejahung dieser Position findet man bei den Ethologen. .... Robert Ardrey behauptete,
daß man grundsätzlich jede Sozialform als »Nation« bezeichnen
könne, die sich durch engen Zusammenschluß nach innen und extravertierte
Aggression auszeichne. Die Probe auf die Existenz sei die Verteidigung des in
Anspruch genommenen Territoriums gegen beliebige Angreifer. »Territorialität«,
so Ardrey, gehöre wie die Gruppenbildung zu den anthropologischen Gegebenheiten
und sei durch keine kulturelle Entwicklung zu überformen. Die hier aufgestellte
These von der »biologischen Nation«, deren Ursprungsform sich heute
noch bei anderen Primaten beobachten lassen soll, wird von anderen Forschern,
etwa Irenäus Eibl-Eibesfeldt, durchaus geteilt und unter Hinweis auf bestimmte
Konstanten des menschlichen Verhaltens - Brutpflegetrieb, Stärke der Binnenmoral,
Schwäche der »Fernstenliebe« - weiter untermauert. Der Vorzug
dieser Konzeption liegt offen zu Tage. Ihre Anhänger verweisen darauf, daß
es eine Reihe elementarer Verhaltensweisen gebe, die unter allen kulturellen und
historischen Umständen immer wieder auftreten und ohne Zweifel dazu beigetragen
haben, Nationen zu begründen. (Ebd., 2001, S. 25-26).Wenn
man den Begriff der »Nation« so weit faßt, wie das von Ardrey
vorgeschlagen wird, verliert er außerdem jede historische Zuordnung, er
bezeichnet einfach jede beliebige Form menschlicher (tendenziell: tierischer)
Gemeinschaft, die sich deutlicher von anderen absetzt und bestimmte Machtmittel
in die Hand bekommt, um diese Existenzweise auf Dauer zu verwirklichen. Selbstverständlich
kannte auch schon die Antike von den Griechen als ethnos, von den Römern
als genus, seltener als natio, bezeichnete Gruppen, die eine politische
Einheit bildeten, ein gemeinsames Territorium bewohnten, gewisse deutlich erkennbare
Kollektiveigenschaften besaßen und ihre Selbständigkeit notfalls mit
Gewalt verteidigten. Aber die Allgemeinheit, in der eine ältere Redeweise
von der Nation auch die Griechen, Römer, Germanen oder Inka als »Nationen«
bezeichnete, provozierte im Gegenzug die These, daß »Nationen«
eigentlich ganz neuartige Gebilde seien, die bestenfalls seit der französischen
Revolution Bestand haben. (Ebd., 2001, S. 27-28).Auch
diese Auffassung hat ihre Tradition. So schrieb der Historiker Eduard Meyer (**)
ausgerechnet in der Hochphase nationaler Erregung und Begeisterung, während
des Ersten Weltkriegs: die Nationen seien »... ein letztes, äußerst
kompliziertes Produkt eines langen historischen Prozesses .... Vor einem Jahrhundert
hat von den gegenwärtigen Nationen Europas noch keine einzige existiert;
sie alle sind durch Zusammenfassung sehr verschiedenartiger Elemente geschaffen
und hätten bei anderem Verlauf der Geschichte auch ganz anders gestaltet
sein können.« (Eduard Meyer, Weltgeschichte und Weltkrieg, 1916,
S. 7 [**]).
Neuerdings ist es in Radikalisierung dieser Ansicht Mode geworden, Nationen als
Niederschlag von Kommunikationsformen oder einfach als »Erfindungen«
zu betrachten, deren Durchsetzungschance auf eine bestimmte geschichtliche Konstellation
in der Entwicklung Europas zurückzuführen sein soll. (Ebd., 2001,
S. 28-29).Ein großer Teil von Napoleons politischem Erfolg
geht darauf zurück, daß er diese neue Form des französischen Nationalismus
benutzte und daß es ihm gelang, einen gewissen Ausgleich zwischen dem jakobinischen
- er hatte zu den Parteigängern Robespieres gehört - und dem traditionellen
Frankreich herzustellen. Der Kompromiß kam sinnfällig im Konkordat
mit dem Heiligen Stuhl und der Teilnahme des Papstes an seiner (Selbst-)Krönung
zum Ausdruck. Dabei kann gar kein Zweifel bestehen, daß Napoleon die Religion
lediglich für ein wirkungsvolles Mittel sozialer Kontrolle hielt und keinesfalls
daran dachte, die geistliche Überlieferung Frankreichs wiederzubeleben. Er
hatte zu dogmatischen Fragen ein ähnlich instrumentelles, um nicht zu sagen:
zynisches, Verhältnis wie zur Nation selbst. Aber er betrachtete beide als
nützlich, mehr noch: als notwendig, um Menschen über ihre Grenzen hinauszutreiben.
Der neue Cäsar hielt sich wie Robespiere für die Verkörperung der
volonté générale (nach: J. J.
Rousseau), aber er wußte auch um die Lebenskraft des traditionellen
Frankreich, das ihm das »Kanonenfutter« für seine hochfliegenden
Pläne lieferte. Die Existenz der Individuen zählte für ihn nicht,
sie schuldeten ihr Leben ganz dem Vaterland. - Der Ruhm Napoleons auch nach Niederlage,
Verbannung und Tod speiste sich aus der Tatsache, daß er die französische
grandeur zu einer nie gekannten Höhe geführt hatte. In seinem
Imperialismus mischten sich untrennbar das Sendungsbewußtsein der Revolution
... und neue Herrschaftsansprüche, die er vor allem aus dem römischen
Modell ableitete. (Ebd., 2001, S. 64-65).Schließlich
bliebe zu ergänzen: »Eine Nation ist, was eine Nation sein will und
diesen Willen dauernd aufrechterhalten kann«. Wenn der Wille erlischt, dann
wird die Nation als historische Größe verschwinden. Ob der Wille durch
Wahlen als Votum der zahlenmäßigen Mehrheit zum Ausdruck gebracht wird
oder als Wille einer Elite besteht - Oswald Spengler meinte zu recht: »Jede
Nation wird vor der Geschichte durch eine Minderheit repräsentiert«
(**)
-, ist dabei ohne Belang, es kommt in erster Linie auf die Intensität des
Willens an. (Ebd., 2001, S. 196).Es gibt heute zahllose Möglichkeiten,
das Abnehmen dieses nationalen »Willens« zu beobachten. Einige davon
sind besonderer deutscher Natur. .... Aber eine Tendenz zu »nationalflüchtigem«
Verhalten ist in allen modernen Nationen zu beobachten. .... Das Aufweichen des
Nationalen ist eine allgemeine Erscheinung vor allem im Westen (=
Abendland; HB) und hängt mit der dramatischen Veränderung
der lebensweltlichen Bedingungen zusammen, unter denen der Mensch gegenwärtig
existiert. Unser Leben ist schneller und anonymer, eindrucksvoller und bedeutungsloser,
komplizierter und barbarischer, als es in der Vergangenheit jemals sein konnte,
in ihm sind Gefühle schwerer zu verankern, denn der moderne Mensch neigt
einerseits zu abgebrühter Sicht der Dinge, andererseits zu ebenso sentimentalen
wie folgenlosen Aufwallungen. Das Nationale gibt es zwar als Hintergrundwahrnehmung,
aber es tritt selten oder nur mehr als Atavismus ins Bewußtsein. Daß
es seine Funktion als Fokus von Loyalitäten verloren hat, kann man nicht
nur an der Kommerzialisierung und Internationalisierung des Sports erkennen, sondern
auch an dem Verschwinden der früher selbstverständlichen Bereitschaft
zur Landesverteidigung in allen oder doch den meisten westlichen Staaten.
(Ebd., 2001, S. 196-197).Der
Soziologe Ferdinand Tönnies hat die hier geschilderten Tatbestände auf
eine zwangsläufige »Kulturentwicklung« zurückgeführt,
in der ein »Zeitalter der Gemeinschaft« durch ein »Zeitalter
der Gesellschaft« abgelöst worden sei: »Dieses ist durch den
sozialen Willen als Eintracht, Sitte, Religion bezeichnet, jenes durch den sozialen
Willen als Konvention, Politik, öffentliche Meinung.« (**).
Die Nation paßt allerdings weder in die eine noch in die andere dieser Kategorien
ganz hinein. Sie ist keine »Gemeinschaft«, die eine selbstverständliche
Übereinstimmung in Tradition, Glaube, Kleidung und Kost voraussetzt, noch
ist sie mit der »Gesellschaft« identifizierbar, zu der sich Einzelne
zufällig oder aufgrund vernünftiger Erwägungen zusammenfinden.
Die Nation ist eine Größe zwischen »Gemeinschaft« und »Gesellschaft«,
ein »Bund«, der durch Bundes-Schluß begründet wurde.
(Ebd., 2001, S. 197).Wenn
die Nation in erster Linie als Bund zu verstehen ist und der Bund auf Gefühlen
beruht, dann wird erkennbar, daß das Schwinden der Gefühle eine eminente
Bedrohung für die Fortexistenz der Nation bedeutet. In allen entwickelten
Industrieländern kann man beobachten, daß sie dazu tendieren, ausschließlich
»Gesellschaften« zu sein und dabei ... Gemeinschaften ... zerstören
.... Der Vorgang ... hat mit dem oben skizzierten sozialen Wandel zu tun, der
seit mehr als zweihundert Jahren (das heißt: seit
Ende des 18. Jahrhunderts; HB) die Einzelnen emanzipiert, sie von
wichtigen älteren Bindungen trennt und mit der Rationalisierung der Existenzweise
und der Entwurzelung zusammenwirkt. (Ebd.,
2001, S. 199).Dabei scheint vorausgesetzt, daß Europa in
der Zukunft ein imperiales Gebilde werden sollte, das in seinen Grenzen eine bunte
Völkerschar beherbergt, während die Nationalstaaten als potentielle
Feinde des überlegen planenden Zentrums betrachtet werden müssen. Bestimmte
Tendenzen der EU-Bürokratie,
immer mehr staatliche Kompetenzen an sich zu ziehen, weisen ganz in diese Richtung
.... (Ebd., 2001, S.
203).Der europäische Staat ist für seine Befürworter
nicht mehr in erster Linie aus genuin politischen oder moralischen Gründen
wünschenswert, er liegt in der Logik der historischen Entwicklung.
(Ebd., 2001, S. 204).MacIntyre (vgl. a.a.O.)
glaubt, daß diese Entwicklung zwangsläufig mit einem Desaster enden
muß, weil wesentliche Bedingungen der conditio humana übersehen
werden. Zu ihnen gehört das Verlangen nach Identität. Identität
kann sich aber nur ausbilden, wenn das Bedürfnis nach Eindeutigkeit als legitim
betrachtet wird. Die Nation hat diesem Bedürfnis in hohem Maße Rechnung
getragen. Nationen beruhen immer auf eine Menge undiskutierter, weil durch die
Geschichte selbstverständlich gemachter, Vorstellungen und Verhaltensweisen.
Sie setzen die Anerkennung des »Imperativs der Homogenität« voraus.
Gemeint ist damit keine Homogenität in einem rassischen, nicht einmal in
einem »völkischen«, aber eine in einem kulturellen Sinn, der
über die Beherrschung der Sprache deutlich hinausgeht. Wenn dieses Moment
der größeren Nähe beseitigt wird, entsteht nicht alternativ eine
Menge von Individuen, die sich vernünftig verträgt und Entscheidungen
nach dem Mehrheitsprinzip fällt, dann tritt an die Stelle des demos,
des politischen Volkes, der ochlos, der »Haufen«, in dem jeder
... weiß, was für ihn »an cash, an Gebrauchswerten, aus
dem politischen Prozeß herausspringt« (**).
Politische Ordnungen bedürfen aber zu ihrer Existenz eines Überschusses
an integrativer Kraft, sie allein von ihrem Zweck her zu bestimmen, heißt
ihren Lebensnerv treffen: Dem Bürger muß die Legitimität des Staates
auch glaubwürdig erscheinen, und der Anknüpfungspunkt für diesen
Glauben ist bis dahin die Nation. Sie stiftet den politischen Identitätsbezug
des Einzelnen. (Ebd., 2001, S. 207-208).Die Nation vermag
das, weil sie ... eben keine »Abstraktion« ist, sondern etwas Konkretes,
das, was mit »unpersönlichen Stolz« (**)
erfüllt. .... Die Frage, ob die enge Verbindung von Macht und Nationalstaat
in Zukunft fortbestehen wird, ist schwer zu beantworten. Aber die Aufgabe, die
Einheit zu bilden, die die politische Identiät stiftet, bleibt davon unberührt.
(Ebd., 2001, S. 208).Der große Historiker Leopold von Ranke
hat das Entscheidende so formuliert: »Nicht dort ist unser Vaterland, wo
es uns endlich einmal wohlergeht. Unser Vaterland ist vielmehr mit uns, in uns.
Deutschland lebt in uns; wir stellen es dar, mögen wir wollen oder nicht,
in jedem Lande, dahin wir uns verfügen, unter jeder Zone. Wir beruhen darauf
von Anfang an und können uns nicht emanzipieren. Dieses geheime Etwas, das
den Geringsten erfüllt wie den Vornehmsten - diese geistige Luft, die wir
aus- und einatmen -, geht aller Verfassung vorher, belebt und erfüllt alle
Formen.« (**).
(Ebd., 2001, S. 208-209).
Die ignorierte Wahrheit. Kassandrarufe wollte niemand hören.
Der Fall Hepp (in: Junge
Freiheit; 14.04.2006)
Deutschland ist allzeit das beste Land
und Nation gewesen, es wird ihm aber gehen wie Troja, daß man wird sagen:
Es ist aus!« Der Satz stammt von Martin Luther und ließe sich
ohne Schwierigkeit in eine lange Reihe von Untergangsprognosen stellen. Wen das
beruhigt, der sei darauf hingewiesen, daß die Regelmäßigkeit
solcher Vorhersagen nicht unbedingt gegen ihre Richtigkeit spricht. Kassandra
wollte niemand hören, nicht einmal die Erfahrung mit griechischen Geschenken
ließ die Trojaner mißtrauisch werden, weil sie sich in ihrer Bequemlichkeit
und Friedenssehnsucht gestört fühlten. Das nahm dem Kassandraruf in
der gegebenen Lage nichts von seiner Richtigkeit und hatte nur eins zur Folge:
eben daß es mit Troja aus war.Im Hinblick auf die demographische
Entwicklung könnte man eine ganze Reihe von Mahnern nennen, die das Schicksal
der Kassandra erlitten haben. Angefangen bei Richard Korherr, der schon in der
Zwischenkriegszeit seine Stimme erhoben hat, über Ilse Schwidetzky, die nach
1945 auf die anthropologische Realität des »Völkertodes«
verwies, bis hin zu denjenigen, die in den letzten Jahren der alten Bundesrepublik
versuchten, die immer bedrohlicher werdende Entwicklung zu korrigieren. Was die
Lage der letzteren gegenüber den ersteren außerordentlich erschwerte,
war die Unsachlichkeit der Debatte. Die relative Nüchternheit, mit der bis
in die siebziger Jahren die »Gastarbeiterfrage« und die Folgen des
»Pillenknicks« diskutiert werden konnten, war einer Atmosphäre
gewichen, in der die Linke ihre Hegemonie dahingehend nutzte, daß sich jede
realistische Einschätzung von Geburtenschwund einerseits, den zunehmenden
Problemen mit Arbeitsmigranten, Wirtschaftsflüchtlingen und Asylbegehrenden
andererseits sofort unter Generalverdacht gestellt sah.Daß der
linke Alarmismus nur dazu diente, eigenen Einfluß zu sichern und in Gestalt
einer zukünftigen Klientel aus Neubürgern zu erweitern, hat man besonders
deutlich daran erkennen können, daß auch die auf hohem Niveau vorgetragenen
Einwände gegen den »Multikulturalismus« kein Gehör fanden,
sondern mit allen Mitteln der Diffamierung bekämpft wurden. Wer wie Manfred
Ritter (»Sturm auf Europa«, 1990) oder Jan Werner (»Die Invasion
der Armen«, 1992) offen gegen die Landnahme argumentierte, sah sich beruflicher
Disziplinierung oder dauerhafter Zurücksetzung unterworfen.Ähnliches
widerfuhr auch dem Soziologen Robert Hepp, der allerdings im Unterschied zu Ritter
und Werner eine sehr viel umfassendere Vorstellung von den Ausmaßen des
demographischen Problems besaß. Hepp hatte schon seit den siebziger Jahren
vor den Folgen des Bevölkerungsrückgangs gewarnt und ihn mit den Entwicklungstendenzen
der Wohlfahrts- und Konsumgesellschaft in Beziehung gesetzt. Seine Argumentation
zielte nicht auf kurzfristige Abhilfe, sondern auf eine prinzipielle Korrektur.Damit
stand Hepp weitgehend allein. Als Konservativer Intellektueller der mittleren
Generation konnte er in seiner Altersgruppe keine Verbündeten finden. Wer
aus dieser Kohorte die akademische Laufbahn eingeschlagen hatte und nicht dem
linken Mainstream oder den Parteibuchbürgerlichen zuzurechnen war, der bemühte
sich um Unauffälligkeit, und genau das lehnte Hepp ab.Wahrscheinlich
war das eine Temperamentsfrage, denn seit seinen Anfängen in der »Katholischen«
bzw. »Konservativen Front« der sechziger Jahre, einer Art Gegen-APO,
neigte er dazu, jenes Maß an Provokationsspielraum für die Rechte in
Anspruch zu nehmen, das die Linke selbstverständlich verlangte. Die Folge
waren Vorstöße, denen es an der sonst im konservativen Milieu üblichen
Betulichkeit mangelte. Und das erklärt auch den besonderen Tonfall seines
1988 erschienenen Buches »Die Endlösung der Deutschen Frage«.Anders
als viele Bevölkerungswissenschaftler trieb Hepp ausdrücklich »politische
Demographie«, die nicht nur Statistisches sammelte, verglich und distanziert
auswertete, sondern aus dem Datenmaterial eine unmißverständliche Folgerung
zog: Bevölkerungsschwund ist ein Ausdruck kollektiver Todessehnsucht, und
wer dem als Politiker nicht entgegentritt, verrät seine Pflicht gegenüber
dem Volk, dem er zu dienen hat. Einwanderung, so Hepp, könne durchaus ein
Gewinn sein, aber nur, wenn die Einwanderer tatsächlich die autochthone Kultur
bereicherten oder an eine dauerhafte Unterschichtung der Heimischen gedacht sei.
Daß Hepp es wagte, solche Gedanken zu äußern - und unter Hinweis
auf die bêtes noires der Soziologenzunft zu begründen -, hat sofort
die Zensur auf den Plan gerufen.Die trat vor allem in Gestalt der meinungsführenden
Presse auf, erreichte aber auch die Universitätsleitung Osnabrück und
Hepps Disziplinarvorgesetzte. Das kampagnenartige Kesseltreiben genügte,
um ihn künftig von jeder Breitenwirkung abzuschneiden. Das ist um so bitterer,
als Hepp seine Gegner intellektuell um Haupteslängen überragte, aber
es ist auch symptomatisch insofern, als gerade seine Prognosefähigkeit ihn
so unbeliebt machte.Mittlerweile pfeifen die Spatzen vieles von den Dächern,
was Hepp schon in den achtziger Jahren sagte, aber manche Wahrheit findet nach
wie vor kein Gehör. Die erste dieser Wahrheiten ist die von der fatalen Wirkung
des hierzulande gepflegten Liberalismus, der mit seiner Verachtung des Volkes
und seinem Minderheitenfetischismus die staatlichen Grundlagen zerstört:
»Spätestens in der Konkordanzdemokratie oder Militärdiktatur
der Zukunft werden die Deutschen erfahren, daß die Liberalen sie um ihre
Demokratie gebracht haben«; die zweite Wahrheit ist die vom nur bedingten
Lebenswert der Völker: »Es gibt auch bei Völkern ein Stadium der
Hinfälligkeit, wo man sich sagen muß, sie sollten lieber raschen
Tod erwerben, als, so verschmachtend, lebenslang zu sterben«.Das
war selbst für Hepp ein besonders bitteres Wort, nicht unähnlich demjenigen
Luthers, das eingangs zitiert wurde. Aber solche Bitterkeit speist sich zuletzt
immer aus dem Wunsch, daß der Beschimpfte sich ermannen möge und angesichts
des Abgrunds seine Kraft wiederfinde, um ein großes Leben zu führen.
Was Hepp vor fast zwanzig Jahren schrieb, gilt nach wie vor: »Wenn ich um
mich blicke, sehe ich ein recht morbides Völkchen mit einer ziemlich befremdenden
Kultur. Da gibt es nicht viel, was ich partout bewahrt und gegen eine
Überfremdung verteidigt wissen möchte. Nicht ob die Bundesrepublikaner
sich über Wasser halten können, ist deshalb für mich
die Frage, sondern ob sie noch den Willen und den Elan haben, wieder etwas aus
sich zu machen. (Zitat-Ende).
Unsere Zeit kommt. Götz Kubitschek im Gespräch mit Karlheinz
Weißmann. (2006)
Es ist in den vergangenen Jahrzehnten
sehr schwierig gewesen, in Deutschland für eine nüchterne Betrachtung
außenpolitischer Sachverhalte zu plädieren. Genau das ist aber das
Erbe Bismarcks. Der gilt ja allen Konservativen oder weiter gefaßt: allen
Rechten hierzulande, als Heros. Aber was hat er getan? Er hat den nationalen
Maximalismus aufgegeben und keine Vereinigung aller Deutschen in einem Reich angestrebt,
er hat auf Distanz zu Großbritannien gehalten, dem Wunschpartner der Nationalbewegung,
und hat dafür die Nähe Rußlands, des Wunschfeindes, gesucht. Die
Reichsgründung erfolgte nicht in einer Art Wiederholung der Befreiungskriege,
sondern durch drei Kabinettskriege, bei denen Bismarck sorgsam darauf achtete,
daß die nationalen Leidenschaften nicht überkochten. Er war ein kühler
Mann, der seine Verbündeten nach Maßgabe der eigenen Interessenlage
bestimmte und nicht danach, ob sie aus historischen und kulturellen Gründen
unsympathisch waren, sich bedenklicher Mittel bedienten oder als Handelskonkurrenz
in Frage kamen. Ich habe diesen Stil immer geschätzt, allerdings begreifen
müssen, wie selten Männer in der Politik sind, die soviel Distanz zu
den großen Emotionen aufbringen können. (Ebd., 2006, S. 91-92).
Vielleicht wird man in nicht so ferner Zukunft zu dem Urteil kommen, daß
die letzte Chance, Europa wirklich zu einen und zu einem Faktor der Weltpolitik
zu machen, im Sommer 1914 verspielt wurde, als Großbritannien sich ohne
Not zum Kriegseintritt gegen das Reich entschloß. Die deutsche Niederlage
von 1918 war eben nicht nur ein nationales, sondern auch ein europäisches
Desaster. Aus Gründen der welthistorischen Gerechtigkeit hätten wir
siegen müssen. Eine solche Möglichkeit ist nie wiedergekehrt oder nur
.... zwischen dem Juni 1940 und dem Juni 1941. (Ebd., 2006, S. 98).Was
sich in den letzten Monaten in Spanien, England und Frankreich abgespielt hat,
wird wahrscheinlich zu einem Alltagsphänomen werden. (Ebd., 2006, S.
109).Ethnisch-kulturell »gekippte« Stadtteile überläßt
man sich selbst, die Ordnungskräfte verzichten auf Kontrolle und beschränken
sich auf die Separation. Diejenigen, die es sich leisten können oder zu den
Bürgern ohne »Migrationshintergund« gehören, ziehen in andere
Quartiere um. Mittelfristig könnten diese Viertel auch nach nord- oder südamerikanischem
Muster befestigt werden. Wenn sich die Staatshaushalte nicht sanieren lassen,
wovon ich ausgehe, wird die Sorge für die Sicherheit immer stärker privatisiert,
was dazu beitragen dürfte, daß die Ober-, aber auch die Mittelschicht
kleinere Staaten im Staat organisiert. In den USA gibt es seit den 1970er Jahren
eine Debatte über diesen als »Brasilianisierung«
(**)bezeichneten
Vorgang. Erledigt sind die Erwartungen, daß durch Panmixie - also die Verbindung
aller ethnischen Gruppen mit allen anderen qua Heirat - eine neue Homogenität
entstehen könne. Auch das geordnete Nebeneinander ist als Illusion entlarvt.
Und so zerfällt die Gesellschaft in Gruppen nach Primärmerkmalen, also
den »rassischen«, insbesondere der Hautfarbe. Wer über die entsprechenden
Mittel verfügt, setzt sich in komfortable, wiederum homogene Ghettos ab.
(Ebd., 2006, S. 109-110).Es spricht vieles dafür, daß der
Normalfall ein auf lange Dauer gestellter Zerfallsprozeß ist. Vielleicht
hat er auch seine pittoreske Seiten. Die Vorstellung von einem »neuen Mittelalter«
hat immer wieder die verschiedensten Köpfe angeregt .... Und ein solches
Mittelalter würde der Tendenz zur Anarchisierung und zur Entstehung konkurrierender
Gewaltinhaber entsprechen. Es gibt dann eben nicht mehr den Staat als Garanten
des Friedens innerhalb bestimmter Grenzen, sondern einen modernen Feudal- und
Brotherrn, der Schutz gegen Treue zusichert. Dafür kommen große Konzerne
ebenso in Frage wie örtliche Würdenträger, Sektenführer, Warlords
oder Mafiabosse. (Ebd., 2006, S. 110).
Angst vor dem Volk. Krise der Demokratie: Die Herrschenden mißtrauen
den Beherrschten (in: Junge
Freiheit; 01.12.2006)
Es gibt zwei grundsätzliche Probleme
politischer Ordnung: die Neigung der Herrschenden, ihre Position um jeden Preis
zu behaupten, und die Neigung der Beherrschten, sich nicht beherrschen zu lassen.Was
den ersten Punkt betrifft, so handelt es sich um eine Selbstverständlichkeit,
die keiner Erläuterung bedarf. Es liegt in der Natur des Machtbesitzes, mit
einer Prämie verbunden zu sein, die kaum jemand freiwillig aufgibt. Was die
zweite Schwierigkeit angeht, so ist zwar bekannt, daß man auf Bajonetten
schlecht sitzt, heikler bleibt die Beantwortung der Frage, wie man die Beherrschten
zur Hinnahme oder - besser noch - Bejahung des Beherrschtwerdens veranlassen kann.Der
Aufstieg der modernen Demokratie erklärt sich aus der Verheißung, daß
sie beide Probleme weitgehend oder vollständig beheben könne: Herrschaft
auf Zeit durch gewählte Repräsentanten, institutionelle Kontrolle und
Prinzip der Rechtsgleichheit, Abstimmungsverfahren und Mehrheitsentscheidung sollten
Machtmißbrauch ausschließen; in einer Demokratie würde die Staatsordnung
von allen bereitwillig getragen, da sie die Staatsordnung aller wäre. Daß
die hochgespannte Erwartung nicht ohne weiteres in Erfüllung gehen würde,
zeichnete sich schon nach den ersten Erfolgen der demokratischen Bewegung im 19.
Jahrhundert ab. Der Liberale John Stuart Mill, der eben noch als »Demokrat«
gegolten hatte, gab offen zu, daß man nur aus polemischen Gründen mit
dem »Volk« argumentiert habe, seine tatsächliche Beteiligung
an der Macht erscheine kaum sinnvoll; der mündige Bürger, die Voraussetzung
der Demokratie, stehe nicht in unbegrenzter Zahl zur Verfügung.Versuche,
die Demokratisierung aufzuhalten, abzubrechen oder umzubiegen, scheiterten indes
an der Wucht, mit der sich dieser Prozeß in Europa, den beiden Amerikas
und den weißen Siedlungskolonien in Übersee vollzog. Schon am Ende
des Ersten Weltkriegs war er weitgehend erfolgreich. Aber nach Etablierung des
demokratischen Prinzips kehrte überraschenderweise das Problem zurück,
wie man die Zustimmung der Vielen zur bestehenden Ordnung sichern sollte. Die
Loyalität der Massen war auch dann ungewiß, wenn die Identität
von Herrschern und Beherrschten behauptet wurde.Noch am besten haben
jene Staaten die Schwierigkeiten bewältigt, die über eine lange gewachsene
Demokratietradition verfügten - vor allem Großbritannien und die skandinavischen
Länder - und in denen bestimmte, nichtdemokratische, Bestände geschützt
waren, die die Stabilität des Verfassungsganzen förderten. Wo es keine
so günstigen Bedingungen gab, drohte sich regelmäßig die radikale
Alternative dieser »organischen Demokratie« durchzusetzen: die »totalitäre
Demokratie«. Der von Jakob Talmon geprägte Begriff bezeichnet Systeme,
die ihre Legitimität zwar aus der Zustimmung des Volkes ableiten, aber den
Souverän einer permanenten Mobilisierung und einer Erziehung mit allen Mittel
des positiven (Propaganda) und negativen Zwangs (Terror) unterwerfen. In der totalitären
Demokratie, dem Sowjetsystem ebenso wie dem Nationalsozialismus, ist auch die
Wiederkehr des ersten Problems aller politischen Ordnung offenkundig: Diese Staatsformen
werden regelmäßig von einer Nomenklatura beherrscht, die keine Machtkonkurrenz
duldet und Regeln aufstellt, die von ihr selbst nicht eingehalten werden müssen.Man
hat es als besonderen Vorzug des dritten Typus der Demokratie angesehen, daß
er diese Dysfunktion vermied. Gemeint ist die alimentierende Demokratie, also
eine Demokratie, die ihre Bürger durch Versorgung bindet. Versorgt wird man
entweder mit ökonomischen Vorteilen - so im Fall des Wohlfahrtsstaates -
oder ökonomischen Chancen wie im Fall des amerikanischen Systems. Die alimentierende
Demokratie war im 20. Jahrhundert oft gefährdet, aber nach dem Kollaps der
Sowjetunion rückte ihr Endsieg in greifbare Nähe. Nur hielt auch dieser
Triumph nicht, was er versprach. In den alimentierenden Demokratien waren längst
politische Klassen entstanden, die sich abschotteten und über Möglichkeiten
verfügten, um Mitbewerber von der Einflußnahme fernzuhalten. Die in
ihren Verfassungen festgelegten Grundrechte und das Mehrheitsprinzip wurden regelmäßig
in Frage gestellt, wenn das der Machterhaltung diente; im Namen aller möglichen
demokratiefremden Prinzipien hat man Sondergesetze und Privilegien für korporativ
erfaßte Bevölkerungsteile geschaffen und eine Gesellschaftspädagogik
entwickelt, die zwar sanfter ist als die totalitäre, aber doch darauf ausgeht,
den Souverän nach einem Bild zu formen, das nicht seinem Wesen entspricht.Die
Effizienz dieser Herrschaftspraxis ist unbestreitbar, und doch wächst das
Unbehagen. Das hat nur am Rande mit dem Verbleib der »unterentwickelten«
Regionen zu tun, wichtiger ist das Mißtrauen der Herrschenden gegenüber
den Beherrschten. Die hat man gezielt in eine unorganische Größe überführt,
die alte Gleichung demos=ethnos aufgehoben und eine Menge von Einzelnen
geschaffen, die wenig mehr verbindet als das Interesse daran, daß die Versorgung
aufrechterhalten wird. Je heterogener aber die Bevölkerungen, desto stärker
die Gefahr, daß sich Teile verselbständigen und den Loyalitätsglauben
ganz verlieren. Da dem immer weniger durch Alimentierung begegnet werden kann,
greift man auf klassische Polizeimaßnahmen und neuartige, umfassende Kontrollen
zurück.Klügere Beobachter haben indes bemerkt, daß zum
Gelingen der Integration des Einzelnen in das größere Ganze Bestände
gehören, wie sie nur in der organischen Demokratie vorhanden waren. Vom Fußballpatriotismus
über die »Aktion Gemeinsinn« bis zum Appell der Kirchen an die
»Tugenden«, von der kommunitaristischen Theorie bis zur Debatte über
»Ligaturen«, die dem Individuum mehr gesellschaftlichen Halt geben
sollen, reicht mittlerweile die lange Kette hilfloser Versuche, etwas wiederzugewinnen,
was längst verloren ist und jedenfalls nicht nach Wunsch »konstruiert«
werden kann.Was die Stärke der organischen Demokratie ausgemacht
hat, wurde zerstört, um die Durchgriffschancen zu erhöhen. Jetzt sind
die Ressourcen aufgebraucht, und die Mächtigen haben Angst vor dem »großen
Lümmel« wie die Mächtigen in vordemokratischen Zeiten. Die Sorgen
schwinden nicht einmal bei besseren Wirtschaftsdaten. Anfang des Monats ergab
eine Umfrage in Deutschland zum ersten Mal, daß über die Hälfte
der Beteiligten kein Zutrauen mehr in die Demokratie hat. (Zitat-Ende).
Mehr Nation wagen! Bedeutungsverlust: Der deutschen Sozialdemokratie
fehlt eine weltanschauliche Leitidee (in: Junge
Freiheit; 26.10.2007)
Ralf Dahrendorf hat das 20. das »sozialdemokratische
Jahrhundert« genannt und mit dessen Ende auch das Ende sozialdemokratischer
Politik prophezeit. Die Ursachen sah er im Verschwinden der Arbeiterschaft als
Trägergruppe, in der Erfüllung wichtiger politischer Forderungen der
Sozialdemokratie mittels staatlicher Fürsorge und in der Übernahme sozialdemokratischer
Positionen durch alle einflußreichen Parteien. Dieser Anschauung ist ein
gewisses Recht nicht zu bestreiten, wohl aber dem Optimismus, der dem Gedanken
dialektischer Aufhebung zugrunde liegt.Tatsächlich geht der Bedeutungsverlust
der SPD viel stärker darauf zurück, daß ihr schon lange die Leitidee
abhanden gekommen ist. Die Sozialdemokratie bildet zwar einen wichtigen Teil des
politischen Systems und besitzt Macht und Einfluß, aber sie gleicht der
Union spiegelbildlich in bezug auf rapiden Mitgliederverlust und Wählerschwund,
das Fehlen von Führungsreserven und Weltanschauungsschwäche. Um ihre
Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, hatte sie Ende der fünfziger
Jahre vielem - dem Marxismus, der Planwirtschaft, der »Ohne mich«-Haltung
- abgeschworen, aber der Plan, sich als moderne linke Volkspartei neu zu erfinden,
war nur zu verwirklichen, indem man auf Deutlichkeit verzichtete. Das fiel zuerst
nicht schwer. Da durfte man auf den technokratischen und dann auf den linken Zeitgeist
vertrauen, übernahm ein bißchen Planungseuphorie hier und einiges aus
dem Reservoir der APO dort, hielt den alten Machtfaktor Gewerkschaften, baute
einen weiteren in der Administration auf und betrieb sonst die systematische Einflußnahme
auf Meinungsbildung und Sinnvermittlung.Bei den Debatten um »Neue
Ostpolitik« oder Sozialisierung, »Chancengleichheit« oder »Berufsverbote«,
um Atomenergie oder Nachrüstung wurden zwar Bruchlinien in der Partei erkennbar,
aber die legendäre Troika - Willy Brandt, Herbert Wehner, Helmut Schmidt
- hielt sie zusammen. Die oft verlangte und immer wieder diskutierte programmatische
»Erneuerung« der Sozialdemokratie brachte sie aber nicht zustande,
und die blieb auch aus nach dem Wechsel in die Opposition. Die Leerstelle
wäre vielleicht unbemerkt geblieben, wenn nicht der Zusammenbruch der Sowjetunion
und dann der Prozeß der Wiedervereinigung zu Stellungnahmen gezwungen hätten.
Für einen Moment schien da die Möglichkeit einer nationalen Linken auf.
Intellektuelle aus dem Nachrang der SPD (Brigitte Seebacher-Brandt, Tilman Fichter)
fürchteten jedenfalls, man könne sich der antipatriotischen Linie und
des Liebäugelns mit den kommunistischen Staatsparteien deutlicher erinnern
und die Methoden der Vergangenheitsbewältigung nun auf die Linke übertragen.
Vor allem aber wirkte der Zusammenhang zwischen Nation und Demokratie unbestreitbar.Das
Zeitfenster, in dem eine so gewendete Sozialdemokratie denkbar war, schloß
sich aber rasch, und alsbald fiel man in schlechte alte Gewohnheiten zurück.
So blieb als ideologischer Zusammenhalt nur ein Wiederaufguß: Egalitarismus,
»Westernisierung«, Multikulturalismus, Antifaschismus. Zweifelsohne
läßt sich damit ein bestimmtes politisches Marktsegment bedienen, aber
nur solange niemand ein attraktiveres, weil weitergehendes Angebot macht.Der
Aufstieg der SED-PDS-Linken ist wesentlich darauf zurückzuführen, daß
sie die Angebotslücke erkannt hat und zu nutzen entschlossen ist. Daher das
krampfhafte Bemühen der SPD, von dieser nicht überboten zu werden, und
das rein Taktische der Abgrenzung, daher das ziellose Agieren in der Großen
Koalition, der Verschleiß an Parteivorsitzenden, die jüngste Kontroverse
zwischen Kurt Beck und Franz Müntefering, das Zähneknirschen bei der
Befürwortung von Globalisierung und bewaffnet-humanitären Maßnahmen,
die halb widerwillige, halb sehnsüchtige Erinnerung an Gerhard Schröders
»Basta!«, die Skepsis gegenüber »weichen« Themen,
die Irritation über das Lumpenproletariat neuen Typs und die zweifelhafte
Loyalität der Eingebürgerten.Die SPD wird erkennbar von ihrem
linken Gegner getrieben, und ihr antifaschistischer Furor speist sich aus dem
Willen, zumindest auf dem Feld der Symbolpolitik keine Überbietung zuzulassen.
In der Perspektive der Sozialdemokratie ist die NPD zudem ein Problem der Bürgerlichen
und hat mit ihr selbst nichts zu tun. Dabei wäre zu fragen, ob nicht ein
Teil der Wählerschaft, der auf das Spiel der NPD mit den Begriffen »Nation«
und »Sozialismus« anspricht, zur natürlichen Klientel der SPD
gerechnet werden könnte, wenn diese nicht so entschlossen vaterlandslos wäre.Hier
ist die gesamtstaatliche Verantwortung der Partei berührt. Ihr erster Vorsitzender
in der Nachkriegszeit, Kurt Schumacher, hatte zu den »Jungen« der
Weimarer Jahre gehört und die Mitschuld der Sozialdemokraten am Untergang
der Republik niemals vergessen. Die war nicht einfach durch eine Verschwörung
von Hitler und Großkapital zerstört worden, sondern auch durch das
Versagen der eigenen Partei, die es versäumt hatte, den Kampf gegen Versailles
mit jener Energie zu führen, die das Volk erwarten durfte, wenn der neue
Staat als legitime nationale Ordnung erscheinen sollte. Zu den Fatalitäten
der Parteigeschichte gehörte, daß Schumacher mit solcher Einschätzung
schon alleine stand, denn die besten seiner Generation, Männer wie Julius
Leber oder Carlo Mierendorff, hatten die NS-Zeit nicht überlebt, und die
Vehemenz, mit der er die Kommunisten als »rotlackierte Nazis« angriff
und für die Wiedervereinigung eintrat, schmeckte den vielen in seiner Partei
nicht, die nach Möglichkeiten des Arrangements mit den neuen Verhältnissen
suchten. Sie verkannten indes, daß Schumachers Auffassung vom notwendigen
Ausgleich zwischen Nation und sozialer Gerechtigkeit mehr war als ein von den
Umständen der Zwischenkriegsjahre diktiertes Konzept.Dahrendorfs
eingangs erwähntes Diktum ist mit der Vorstellung verknüpft, daß
auf das »sozialdemokratische« 20. Jahrhundert ein »(neo)liberales«
21. folgt - nichts unwahrscheinlicher als das. Die Massengesellschaften werden
zukünftig wieder vor im weitesten Sinne »sozialen« Herausforderungen
stehen, bei deren Beantwortung es immer nur um das »Wie« gehen kann,
nicht um das »Ob«. Der Bezug auf die Nation ist dabei so naheliegend,
daß ihn irgendwann jemand aufgreifen muß. Mit der SPD ist für
den Fall wohl nicht zu rechnen. (Zitat-Ende).
Ernst Jünger. (Editorial in: Sezession;
Februar 2008)
Die Debatte über Jugendkriminalität, die
in Wirklichkeit eine Debatte über die Kriminalität ausländischer
Jugendlicher ist, berührt einen heiklen Punkt. Das hat Roland Koch offenbar
nicht hinreichend bedacht, sondern geglaubt, er könne den Coup mit der Unterschriftenkampagne
gegen die doppelte Staatsbürgerschaft wiederholen. Da hatte er wie das Vorbild
Kohl in Wahlkampfzeiten den dezenten Schritt nach rechts probiert, nur um nach
errungenem Sieg prompt in die Mitte zurückzukehren. Die Lage ist aber so
deutlich gewandelt, daß die Hoffnung, man werde das Problem zunehmender
Bedrohung der Autochthonen durch die Eingewanderten einfach wieder ad acta
legen können, kaum in Erfüllung gehen dürfte. Vielmehr ist damit
zu rechnen, daß das Thema ein Dauerthema wird und dabei nicht mehr die Suche
nach Lösungen hier und jetzt oder das optimistische »Weiter so«
oder das Bedürfnis nach nützlichen Illusionen im Vordergrund steht,
sondern die Frage nach den Ursachen und das heißt die Frage nach den Verursachern.
Die wird bisher so angestrengt vermieden, weil die Politische Klasse insgesamt
Verursacher ist und eben keine Seite glaubwürdig mit dem Finger auf die andere
weisen kann, sondern eine größtmögliche Koalition über Jahrzehnte
hinweg die Einwanderung forciert oder hingenommen hat, blind für die langfristigen
Folgen, aber bereit, jeden mundtot zu machen, der diese etwa erwähnen wollte.
Nun zeigt der Multikulturalismus - die »erzwungene Vision« (Konrad
Adam) einer dekadenten, alternden Gesellschaft - sein häßliches Gesicht.
Also bleibt als letzter Ausweg die Betonung des Zwangsläufigen und die dreiste
Behauptung, niemand habe ahnen können, worauf das alles hinauslaufe. Man
kennt diese Taktik noch aus den Debatten nach dem Zusammenbruch der DDR, als zwar
nicht leicht glaubhaft zu machen war, daß jeder vor 1989 für die Wiedervereinigung
eintrat oder den Kommunismus als inhumane Ideologie begriffen hatte, aber doch
immer wiederholt wurde, daß niemand habe ahnen können, wie es in der
»Zone« tatsächlich aussah und daß die Teilung ja auch ihr
Gutes hatte, jedenfalls friedenssichernd und zähmend wirkte und gewisse »Errungensshaften«
besaß, die man bewahren müsse. Die neue Absetzbewegung folgt einem
ähnlichen Muster. Frank Schirrmacher hat schon das Signal gegeben. In seinem
großen Artikel für die Frankfurter Allgemeine (Ausgabe vom 15. Januar
2007) gibt er sich zum einen naiv - man habe schließlich nicht wissen können,
daß auch die Fremden einen, eben antideutschen, Rassismus entwickelten -
und weiter entschlossen, das Problem anzupacken, indem er die Linie Kochs unterstützt.
Was das so unerfreulich macht, ist die erwähnte Neigung, der Fehlentwicklung
keinesfalls auf den Grund zu gehen. Mit dem Unterton des Erstaunten stellt Schirrmacher
fest, daß die westdeutsche Zivilgesellschaft, die sich so viel darauf zugute
hielt, die »Vergangenheit bewältigt« zu haben und ohne Feindbestimmung
auszukommen, plötzlich einem veritablen Feind gegenüberstehe, der solche
Vorbehalte gar nicht begreift, jedenfalls nicht bereit ist, sein Handeln daran
auszurichten. Wer so spricht und ernstgenommen werden will, darf seinen analytischen
Fähigkeiten kaum etwas zutrauen. Was sich wenigstens die nicht nachsagen
lassen müssen, die außerhalb des Konsensus standen. Vor mehr als vierzig
Jahren, zu einem Zeitpunkt, als man noch eher glauben durfte, die richtigen Lektionen
gezogen zu haben und mit der Bundesrepublik über ein Staatswesen zu verfügen,
das die Herausforderungen der Zukunft bestehen könnte, notierte Ernst Jünger
den Satz: »Wo der Liberalismus seine äußersten Grenzen erreicht,
schließt er den Mördern die Tür auf. Das ist Gesetz!«
(Zitat-Ende).
Freie Heroengemeinschaft. (in: Sezession;
Februar 2008)
Selbst einem oberflächlichen Leser Martin Heideggers
und der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger fallen gravierende Veränderungen
in deren Textaussagen zwischen der ersten und der zweiten Nachkriegszeit auf.
Sie sind nicht mit »Reifung«, dem Übergang von einem Früh-
zu einem Spätwerk oder individuellen Einsichten ausreichend zu erklären,
in ihnen spiegelte sich vielmehr die Massivität bestimmter historischer und
individueller Erfahrungen, die zur Korrektur früherer Urteile zwang.In
der zweiten Hälfte der vierziger Jahre intensivierten sich die Beziehungen
der »freien Heroengemeinschaft« (Ernst Jünger), und in diese
letzte Blütezeit des deutschen Zeitschriftenwesens fallen sogar Pläne
zur Gründung einer gemeinsamen Publikation, die von Ernst Klett verlegerisch
gestützt werden sollte. Zuletzt war man aber zu einzelgängerisch, auch
zu empfindlich in bestimmten Punkten und leicht verstimmt über das vermeintliche
oder tatsächliche Mißverstehen hier und dort.Reine
Noblesse steckt hinter der Haltung der Brüder Jünger, die weder
die Besatzungsmächte noch die »45er« als berufene Instanzen betrachteten,
vor denen man sich zu rechtfertigen hatte; ein halbes Jahr nach dem Ende des Zweiten
Weltkrieges schrieb Friedrich Georg Jünger in einem Brief ahnungsvoll: »Ich
weiß recht gut, was gewesen ist, und ich ahne auch, was heraufkommt.«
(Zitat-Ende).
Neues von Carl Schmitt. (in: Sezession;
August 2008)
Die Ausgabe 4/2008 von Literaturen, dem »Journal
für Bücher und Themen« (eine Art deutscher Abklatsch des legendären
französischen Magazine littéraire), erschien mit seinem Kopfbild
auf dem Umschlag, dazu die Titelzeile »Nazi-Jurist und Terror-Denker: Carl
Schmitt. Eine deutsche Karriere«. Die »deutsche Karriere« soll
natürlich an Hitler gemahnen, der Rest der Ausrichtung des lesenden Publikums
dienen, das man vorbereitet wissen möchte auf den »Geist« respektive
»Ungeist« des »katholischen Nihilisten« und »Rechtsdenker
des Führerstaats«, dessen Grundauffassungen »Politische Theologie«
und ein »starres Freund-Feind-Schema« bestimmt haben sollen.Man
kann der redaktionellen Einleitung entnehmen, daß die Verantwortlichen von
Literaturen keine Ahnung haben, jedenfalls keine Ahnung von Carl Schmitt. Der
Eindruck verbessert sich nur unwesentlich, wenn man die Beiträge zum Thema
genauer durchmustert, etwa die Rezension Friedrich Balkes über den Briefwechsel
zwischen Schmitt und Ernst Forsthoff, die dessen Kern systematisch verfehlt, oder
die Auslassungen Micha Brumliks, der, erfreut über den gelungenen Nachweis
von »Rassismus«, seine Unkenntnis in der Sache kaum als gravierend
empfindet (nicht Schmitt hat den Reichsparteitag von 1935 als »Reichsparteitag
der Freiheit« »gefeiert«, es handelte sich um die offizielle
Bezeichnung; selbstverständlich wird die »Neue Rechte« nicht
bestreiten, daß Schmitt auch die Vernichtung des »gerechten Feindes«
für legitim gehalten hat).Da den Anlaß für Brumliks Ausführungen
eine wohlwollende Besprechung von Christian Lindners Der Bahnhof von Finnentrop
(Eine Reise ins Carl-Schmitt-Land, 2008) bot, neigt man zu Mißtrauen
gegenüber der Leseempfehlung, wird allerdings angenehm überrascht, wenn
man diese »Großreportage« zur Hand nimmt. Es handelt sich nicht
um eine Biographie, eher um eine Verknüpfung von Lebenslauf und geistiger
Entwicklung Schmitts mit Reflexionen, Impressionen und Assoziationen des Autors.
Das bietet zwar im Hinblick auf die Kenntnis Schmitts und die Deutung seines Werkes
nicht viel Neues, ist aber manchmal überraschend und immer kurzweilig zu
lesen und wirkt erhellend vor allem im Hinblick auf zwei Punkte: die Verankerung
Schmitts im Sauerland der Bahnhof von Finnentrop lag an der Rhein-Ruhr-Strecke
und mußte angefahren werden, wenn man Plettenberg per Zug ansteuerte
und die Funktion der Judenfeindschaft im Denken Schmitts. Daß der eine über
die Kollaboration mit dem NS-Regime hinausreichende Bedeutung zukam, ist nicht
zu bestreiten. Allerdings macht Lindner auch deutlich, wie wenig man es mit dem
landläufigen oder dem hochideologischen Antisemitismus zu tun hat, und wie
sehr mit Schmitts ganz persönlicher Politischer Theologie, die ihre widerwärtigen
Züge hatte, aber doch nicht reduziert werden kann auf das Weltbild eines
»Täters«, nicht einmal eines »Schreibtischtäters«.Lindners
Bereitschaft zur Differenzierung unterscheidet sein Buch deutlich von demjenigen
Jan Werner Müllers Ein gefährlicher Geist (2007), dessen Autor
sich nichts weniger als »Carl Schmitts Wirkung in Europa« vorgenommen
hat, aber an diesem großen übergroßen Thema scheitert
und lediglich einen, fallweise nicht nur lückenhaften, sondern auch irreführenden,
Abriß bietet. Es handelt sich erkennbar um jene Art von Konjunkturliteratur,
die dem neuen Interesse an Schmitt dadurch begegnen will, daß sie in ermüdender
Weise auf dessen politisches Belastetsein verweist und wie ein Mantra »gefährlich«
»gefährlich« »gefährlich« wiederholt.
Im Vorwort zu Müllers Buch weist Michael Stolleis denn auch darauf hin, daß
man es nicht nur mit dem Schmittismus von Linken und Rechten am Rande der Szenerie
zu tun habe, sondern neuerdings mit den »Vordenkern des übergesetzlichen
Notstands in den Szenarien des Terrorismus«, die offen oder verdeckt auf
Schmitt rekurrierten und so die »Prinzipien der pluralistischen Demokratie«
und den »Universalismus der Menschenrechte« in Frage stellten.»Pluralismus«
ist ein Stichwort, das im Zusammenhang mit dem Denken Schmitts unbedingt erwähnt
werden muß, und es verwundert, daß sich bisher niemand gründlich
mit der Bedeutung dieses Begriffs im Werk Schmitts auseinandergesetzt hat. Das
hat es allerdings erleichtert, die bereits 1989 vorgelegte Dissertation Thor von
Waldsteins Der Beutewert des Staates (Carl Schmitt und der Pluralismus,
2008) jetzt endlich in einer Buchausgabe vorzulegen. Man wird nicht zuviel sagen,
wenn man es zu den bedeutendsten Arbeiten über Schmitt der letzten Jahre
rechnet. Dabei hat sich Waldstein nicht damit begnügt, die Auseinandersetzung
Schmitts mit der Theorie des Pluralismus beziehungsweise dessen Protagonisten
Harold J. Laski nachzuzeichnen, sondern auch erklärt, warum Schmitt dieses
Thema in den zwanziger Jahren mehrfach aufgriff, ohne daß dazu ein akuter
Anlaß bestand. Schmitt witterte hinter der Propaganda für den Pluralismus
den Versuch, die Reste von Staatlichkeit im Namen von Selbstbestimmung und Freiheit
zu zerstören. Damit würden die »indirekten Gewalten« endgültig
die Macht übernehmen und den »Leviathan« zerlegen, was nicht
nur aus prinzipiellen Gründen zu verwerfen sei, sondern vor allem angesichts
der konkreten Lage des besiegten Deutschlands verhindert werden mußte.Gerade
weil Waldstein die Überlegungen Schmitts an die politische Situation bindet,
in der sie entstanden, gewinnt er einen souveränen Standpunkt im Hinblick
auf die Frage nach Schmitts politischer Brauchbarkeit heute. Bemerkenswert ist
dabei die Nüchternheit des Urteils, das von prinzipieller Verdammung und
Häme genauso weit entfernt ist wie von Apologie und kritikloser Bewunderung.
In seinem Schlußwort weist Waldstein auf das wirklich Bleibende an Schmitt
hin, wenn er schreibt: »Als Vademecum zur Entwicklung bündiger Politikkonzepte
taugen Schmitts Schriften ohnehin kaum. Wer politische Programme schreiben will,
braucht Carl Schmitt nicht. Vielleicht sind es aber gerade seine Fragen und nicht
seine Antworten, die den eigentlichen Wert seiner Bücher und Aufsätze
ausmachen.« (Zitat-Ende).
Postdemokratie. (in: Sezession;
August 2008)
»Postdemokratie« ist mittlerweile als Begriff
so geläufig, daß ein entsprechender Artikel in Wikipedia existiert.
Es häufen sich die Analysen, die vom Beginn eines neuen »post-«,
also »nachdemokratischen« Zeitalters ausgehen. Sollten sie zutreffen,
dann wird die Vorstellung von der segensreichen Herrschaft des Volkes nach zwei
Jahrhunderten abgelöst, und es tritt eine andere Art von Legitimitätsglauben
an deren Stelle.Selbstverständlich hat es immer Einwände gegen
die Demokratie gegeben, solche, die seit der Antike, und solche, die seit der
französischen Revolution vorgetragen wurden »Barbarei
der Zahl« (Goncourt), »zusammengezählte Nullen« (Nietzsche),
die Stimme des Bürgers als »Kartoffel in einem Kartoffelsack«
(Marx) , und dann solche, die man erst angesichts der Entstehung von Massenstaaten
äußerte. Aber noch die großen totalitären Bewegungen sahen
sich gezwungen, nach außen »demokratisch« aufzutreten, und dasselbe
gilt für die Fundamentalismen und für die Mehrzahl der Diktaturen Asiens,
Afrikas und Lateinamerikas. Keine Berufung auf Tradition oder Religion konnte
im 20. Jahrhundert leisten, was die Berufung auf den demos, das Volk, zu
leisten vermochte, und nach dem Kollaps des sowjetischen Systems schien es tatsächlich
so, als gebe es gar keinen Einwand mehr gegen die universale Geltung des demokratischen
Prinzips.Dabei wurde übersehen, daß dessen Anziehungskraft
ganz wesentlich mit dem wirtschaftlichen Erfolg des Westens und den inakzeptablen
Verhältnissen im Ostblock zusammenhing. Die »feindlose Demokratie«
(Ulrich Beck), die nach dem Ende des Kalten Krieges entstand, mußte
ihre Legitimität aus eigener Kraft beweisen, und das fiel ihr schwer. Pascal
Bruckner schrieb schon 1990: »Wir sind
in eine Epoche der demokratischen
Melancholie eingetreten, denn in unser Gefühl des Triumphes mischt sich der
Verdacht, etwas verloren zu haben: den Antrieb, uns und anderen die Demokratie
zu wünschen, denn künftig wird sie nur von wenigen angefochten. Mit
anderen Worten, da niemand dagegen ist, fehlt uns fast gänzlich die Kraft,
dafür zu sein. Zwar haben wir das unbestimmte Gefühl, die ganze Arbeit
liege noch vor uns, doch sind wir willenlos, da uns kein Gegner motiviert. Die
großen Schlachten sind geschlagen, doch ist unsere Vollkommenheit dem Tode
nahe.«Bruckner gehörte zu jener Linken, die sehr früh
und sehr klar gesehen hat, daß nach dem Ende der Blockkonfrontation Globalisierung
und Neoliberalismus Rahmenbedingungen schufen, die mit den üblichen Methoden
politischer Kontrolle nicht zu bändigen waren, daß der Bedeutungsverlust
der Nationalstaaten und der Bedeutungszuwachs internationaler Konzerne zur Entstehung
von Machtballungen neuer Qualität führte, die jenseits des bekannten
Rahmens lagen. Wenn man es bei Bruckner zum Teil mit dem sattsam bekannten antikapitalistischen
Affekt zu tun hat, so wird man dieser Kritik doch ein gewisses Maß an Hellsichtigkeit
nicht abstreiten können. Das ist in bezug auf die vorgeschlagenen Alternativen
aber nicht zu behaupten. Denn der Gedanke, dem Problem sei durch eine weitergehende
Demokratisierung zu begegnen, verkennt die prinzipiellen Schwierigkeiten, und
die seit den sechziger und siebziger Jahren gemachten Erfahrungen sprechen dafür,
daß »mehr Demokratie wagen« vor allem die Zermürbung der
Mitbestimmungsbereitschaft und das Übergreifen von Inkompetenz im Namen der
»Betroffenen« zur Folge hat.Daß die alten Rezepte nicht
helfen, hat sich auch sonst herumgesprochen. Das ist etwa dem gerade erschienenen
Buch des us-amerikanischen Politikwissenschaftlers Colin Crouch über Postdemokratie
zu entnehmen, das im Grunde nur das Dilemma beschreibt und die Beschreibung mit
einem Plädoyer für mehr Bürgernähe verknüpft, aber keine
utopischen Entwürfe einer basisdemokratischen Weltrepublik enthält.
Crouchs Position nähert sich der linken Mitte an, wo der Ton sowieso weniger
alarmierend ist, eher nüchtern angesichts der Sachzwänge oder erfreut
wegen der komfortablen Stellung, in der man die Transformation beobachtet. Zu
den Vordenkern dieser Richtung gehört der Franzose Jean-Marie Guéhenno,
der Anfang der 1990er Jahre zuerst die Auffassung vertrat, daß
nicht das »Ende der Geschichte« (**)
und die finale Durchsetzung von Freiheit und Kapitalismus bevorstünden, sondern
das »Ende der Demokratie«. Wir befänden uns so Guéhenno
in einer Phase des Übergangs, weg von der Epoche der Nationalstaaten,
hin zu neuen imperialen Bildungen. Das Zukunftsszenario blieb in vielem diffus,
auf Andeutungen beschränkt, zeichnete sich aber doch durch die Vorstellung
aus, daß für die Bewältigung der Krise kein Rückgriff auf
die Vergangenheit möglich sei. Weder lasse sich der alte Glauben restaurieren,
noch die alte Politik. Die Geschichte biete keine Modelle, nur noch schwache Analogien.
Guéhenno meinte jedenfalls, daß die Alternative zur Demokratie nicht
zwangsläufig Diktatur und Terror bedeute, sondern im besten Fall eine Reichsbildung
wie in der Zeit des humanitären Kaisertums: »Das neue imperiale Zeitalter
sollte am ehesten dem Römischen Reich Hadrians und Mark Aurels gleichen:
Es dürfte keinen Anspruch auf überirdische Größe erheben
und sich auch nicht göttliche Befugnis zur Erfüllung irdischer Bedürfnisse
aneignen wollen. Es müßte sich damit begnügen, lediglich eine
Funktionsweise zu sein, und diese Erkenntnis akzeptieren.«Reduziert
man das Gesagte auf seinen Kern, also die Legitimation der nachdemokratischen
Ordnung durch Funktionstüchtigkeit, trifft man auf einen Vorstellungszusammenhang,
der heute vielen akzeptabel erscheint. So schrieb Josef Joffe, Mitherausgeber
der Zeit, in bezug auf die Europäische Union: »Die EU ist ein
freiheitliches, freundliches und fürsorgliches Gebilde, aber eine Demokratie
im klassischen Sinne? Nennen wir es eine Geschäftsführer-
oder Ostdemokratie, in der der Bürger das Herrschen den Räten
und Kommissionen überläßt. Und zwar freiwillig.« Das ist
mit Wohlwollen gemeint, ein Plädoyer für eine sanfte Erziehungsdiktatur
und jedenfalls verknüpft mit dem Drohbild des Volkes als »großem
Lümmel«, der schon der Einführung des Euro seine Zustimmung verweigert
hätte und insofern disqualifiziert ist, weil er dem »Fortschritt«
im Wege steht.Auch wenn das nicht ganz offen gesagt wird, legt man hier
ein neues Kriterium für die Beurteilung politischer Ordnungen fest, das sich
nicht mehr an irgendwelchen wolkigen »Werten« ausrichtet, sondern
an härteren, wirklichkeits- und das heißt heute wirtschaftsnäheren
Maßstäben. »Sind Demokratien ineffizient?« Unter
dieser Überschrift brachte die Neue Zürcher Zeitung unlängst
einen Leitartikel aus der Feder Reinhard Meyers. Meyer weist in seinem Text darauf
hin, daß die Demokratien des Westens mit den »Halbdemokratien«
(Rußland, Indien) oder den offen autoritären Systemen (China) kaum
noch Schritt zu halten vermögen. Deren Wirtschaftswachstum sei ungleich stärker,
deren Möglichkeit, rasch auf neue Entwicklungen zu reagieren, besser entwickelt,
jedenfalls nicht behindert durch langwierige Abstimmungsvorgänge oder die
Suche nach Kompromissen. Der eigentliche Ausgangspunkt von Meyers Überlegungen
war allerdings das Ergebnis des irischen Referendums über den Vertrag von
Lissabon, das heißt der konkrete Fall eines Volkes, das über eine Schicksalsfrage
demokratisch abstimmte, und das in einem Sinn, der seiner Obrigkeit mißfiel
und einen Prozeß blockierte, der nicht nur von dieser, sondern vom europäischen
Establishment insgesamt befürwortet wurde. Meyer hielt sich bei der Beurteilung
zurück, wies aber darauf hin, daß es eine Debatte über die Zukunft
des demokratischen Prinzips gebe, die sich aus solchen unliebsamen Erfahrungen
nähre. Leider nennt Meyer keine Namen der Debattenteilnehmer, aber vielleicht
hat er an das Buch von Fareed Zakaria, des Chefredakteurs von Newsweek International,
gedacht, das mit dem deutschen Titel Das Ende der Freiheit? Wieviel Demokratie
verträgt die Welt? erschien und zu den einflußreichsten politischen
Essays der letzten Jahre gehört, in siebzehn Sprachen übersetzt wurde
und eine Art Generallinie für die Argumentation gegen die Demokratie enthält:
Die, so Zakaria, ist zu träge, schwächt die Institutionen, verabsolutiert
das Mehrheitsprinzip und droht qualifizierte Minderheiten zu unterdrücken.
Historisch gesehen, habe sich die ältere Demokratie nur in Kleinstaaten bewährt
und sei nach kurzem in Chaos oder Diktatur umgeschlagen; auch nach ihrem ersten
Siegeszug im Gefolge des Triumphs der Entente von 1918 erwies sie sich
als instabil, in Zukunft könnten ähnliche Belastungsproben bevorstehen,
und es scheine fraglich, ob sie die Prüfung nun besser bestehe, und schließlich:
»Beim gegenwärtigen Trend steuert die Demokratie geradewegs auf eine
Legitimitätskrise zu, die ihr womöglich den Boden entzieht.«Die
Argumentation Zakarias ist nicht neu, aber längere Zeit zurückgetreten.
Er will keine Anknüpfung an die klassische Demokratiekritik, eher greift
er auf Vorstellungen zurück, wie sie in der Nachkriegszeit Liberale genauso
wie Technokraten und einige »Neokonservative« vorgetragen hatten,
die alle an der Fähigkeit der Demokratie zweifelten, einen modernen Industriestaat
zu steuern oder im Ernstfall zu bestehen. Wenn solche Thesen jetzt wieder ins
Feld geführt werden, ist das kein Zufall und keine Nostalgie. Zakaria hat
seine Thesen zuerst 1997 in einem Artikel für Foreign Affairs entwickelt,
jener Zeitschrift, von der alle großen Weltanschauungsdebatten der letzten
beiden Jahrzehnte um das »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama
[**])
wie den »Kampf der Kulturen« (Samuel Huntington [**])
angestoßen wurden, und auch die Veröffentlichung seines neuesten
Buches The Post-American World hat er mit dem Abdruck einer Art Zusammenfassung
in Foreign Affairs vorbereitet. Er stärkt darin die Position jener
»Zentristen«, die weder der Linie der Bush-Regierung folgen, noch
einen linken oder rechten Isolationismus vertreten. Obwohl ein relativer Machtverlust
der USA unausweichlich sei und der Aufstieg von Konkurrenten wie China, Indien,
Rußland, Brasilien bevorstehe, glaubt Zakaria, daß die Vereinigten
Staaten auch im 21. Jahrhundert die Weltpolitik beherrschen. Um diese Aufgabe
bewältigen zu können, sei es aber entscheidend, die Illusionen einer
bewaffneten Ausbreitung des demokratischen Systems aufzugeben. Dabei stehen ihm
nicht nur die militärischen Fehlschläge Washingtons vor Augen, sondern
auch die unkalkulierbaren Konsequenzen bei erfolgter Demokratisierung, die etwa
in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und allgemein in islamischen Ländern
zur Stärkung us-amerikakritischer oder us-amerikafeindlicher Kräfte
geführt hätten. In diesen Fällen sieht Zakaria die Demokratie als
»delegitimiert« an, weil sie als »illiberale Demokratie«
den prowestlichen Tendenzen entgegenstehe. Damit wird das Problem der Legitimität
verschoben. Demokratie im Sinne von Zakaria ist nur die gezähmte oder »liberale
Demokratie«, in der die Folgen einer Wahl möglichst minimiert werden
und ein durchdachtes System den Bürgerwillen so kanalisiert, daß er
sich nicht schädlich auswirken kann, sondern der Bestätigung der Politischen
Klasse, ihres Führungsanspruchs, ihrer wirtschaftlichen und sozialen
Macht, dient. Das ist nicht zynisch gemeint, denn die Elite nutzt ihre Macht,
wenn nicht direkt, dann doch indirekt, zugunsten des Gemeinwesens. Was wiederum
erklärt, warum Zakaria ein Bündnis zwischen liberaler Demokratie und
jenem »neuen Nationalismus« für denkbar hält, den er als
die bestimmende Kraft im System globaler Konkurrenz betrachtet. Dieser Nationalismus
ist weniger ausgearbeitete Ideologie als Konsequenz einer Lage, in der es um das
Formieren politischer, militärischer, diplomatischer und ökonomischer
Kräfte geht.Zakaria urteilt dabei ganz nüchtern, daß
es verschiedene Möglichkeiten gibt, um deren Effizienz zu steigern: Man kann
sich autoritärer, illiberaler, aber auch liberaler Verfassungen bedienen.
Im us-amerikanischen Fall sei die Verknüpfung mit der liberalen Demokratie
empfehlenswert, weil das die Integration jener Einwanderer ermögliche, die
der größten Volkswirtschaft der Welt ihren Vorsprung erhalten, indem
die USA die besten Köpfe aus allen Regionen anziehen und zügig us-amerikanisieren.
Damit lasse sich eine Synergie bewirken, für die es kein Vorbild gebe. Die
Vereinigten Staaten könnten den Fehler älterer Imperien vermeiden, die
aus der Trennung von Reichsvolk und Unterworfenen entstanden. Das mache sie fähig,
den globalen Wettbewerb zu gewinnen: US-Amerika habe die wirtschaftliche Globalisierung
erfunden, indem es nach zwei Weltkriegen und dem Zusammenbruch der Sowjetunion
die Öffnung aller Märkte erzwang, und nun schließt es diesen Prozeß
ab durch eine »innere Globalisierung«. An der Konzeption Zakarias
besticht vor allem die Unvoreingenommenheit. Er ist kein Anhänger der manifest
destiny und kein naiver Befürworter eines Multikulturalismus. Wenn er
an einer Stelle seines Textes auf Singapur als Musterbeispiel einer »meritokratischen«
also einer auf Verdienst beruhenden Ordnung zu sprechen kommt, enthüllt
er wohl den Kern seiner Anschauung: die Vorstellung, daß das kommende Zeitalter
»sozialdarwinistisch gestimmt« (Rudolf Augstein) sein werde und bei
verschärfter Konkurrenz nur diejenigen bestehen, die alle Kräfte nutzen,
die ihnen zur Verfügung stehen. Sein Abschied von der Demokratie als Idee
der Volksherrschaft ist ohne Ressentiment und frei von der Vorstellung, eine perfekte
Alternative zu haben; es geht ihm aber auch nicht um die defensiven Argumente
einer Politischen Klasse, die sich Konkurrenz vom Hals halten will, sondern
um ein Modell, das dynamischer ist als das bisherige. Natürlich kann man
nicht davon absehen, daß Zakaria selbst zu jenen gehört, die er als
wesentlichen Teil der kommenden Elite betrachtet: Er ist einer jener hochbegabten
Einwanderer, beziehungsweise US-Amerikaner der ersten Generation, die, vornehmlich
aus Asien stammend, schon jetzt einen Teil der tonangebenden Schicht stellen,
und das Unbehagen, das die schwindende weiße Mehrheit empfindet, ist ihm
fremd. Sollte die Entwicklung tatsächlich in die von ihm erwartete Richtung
gehen, bleiben drei denkbare Reaktionen: a) Nachahmung, eingedenk der Tatsache,
daß seit dem Ende des 19. Jahrhunderts noch jede Tendenz der us-amerikanischen
»Kultur« Modellcharakter angenommen hat; b) Ablehnung im Namen von
Basisdemokratie und Antikapitalismus; c) Modifikation.Die zweite Alternative
ist die populärste und gleichzeitig die aussichtsloseste. Ganz gleich, ob
man sie internationalistisch oder nationalistisch aufmacht, es bleibt im Kern
dabei, daß der Versuch, auf Graswurzelmitbestimmung oder eine Variante des
Sozialismus zu setzen, an den Machtverhältnissen scheitern wird. Aussichtsreicher
ist die erste. In Europa haben wir es längst mit Kopierversuchen zu tun.
Die kurzlebige »Green Card« war nur der sichtbare Teil des Bemühens,
hier zu wiederholen, was in den USA dauernd geschieht, wenn aus rein wirtschaftlichen
Erwägungen hochqualifizierte Einwanderer angeworben werden. Daß das
Projekt gescheitert ist, hat nicht nur mit der Unentschlossenheit der Verantwortlichen
zu tun, sondern auch mit der europäischen Neigung, Politik und Sentimentalität
zu verwechseln. Bestenfalls fürchtete man die negativen Begleiterscheinungen
des us-amerikanischen Konzepts, das heißt die wachsende ethnische, religiöse
und kulturelle Fraktionierung der Bevölkerung, die Notwendigkeit, immer größeren
Aufwand zu treiben, um das management of diversity zu gewährleisten,
sei es durch positive Diskriminierung der Anderen, negative der Eigenen, finanzielle
Ruhigstellung, Indoktrination und Gesinnungskontrolle. Denn Zakarias Absage an
die Demokratie hat ihre Berechtigung vor allem darin, daß Volksherrschaft
ohne Volk nicht möglich ist, wenn man darunter eine hinreichend klar erkennbare
politische Gemeinschaft versteht, die nicht nur infolge subjektiver
Willensentscheidung zusammentritt, sondern auch durch objektive
Merkmale verbunden wird. Solche Erkennbarkeit setzt immer, ausgesprochen oder
unausgesprochen, die Einheitlichkeit des demos voraus. In Athen wurden
bei der letzten Ausdehnung des Wahlrechts die Bürgerlisten geschlossen und
den Fremden dauerhaft die politische Beteiligung verweigert. In der Neuzeit hingen
der Aufstieg des Nationalstaatsgedankens und der des demokratischen Gedankens
unmittelbar zusammen. Seither war es für jeden Staat von entscheidender Bedeutung,
»wieviel als gemeinsamer organischer Willensgehalt in jedem
Augenblick wirklich vorgegeben ist, und wieviel rational vereinheitlicht, herrschaftlich
organisiert werden kann und muß« (Hermann Heller). Für
unseren Fall bedeutet das, daß je weiter der »organische Willensgehalt«
zurückgeht, in Folge wachsender ethnischer, sprachlicher, religiöser
Heterogenität, desto nachhaltiger muß »organisiert« werden,
da immer weniger Volk angenommen werden kann, das sich als »Willenseinheit«
betätigt. Interessanterweise hat Crouch in seinem erwähnten Essay über
die Postdemokratie dieses Problem so charakterisiert, daß der demos
die Fähigkeit verliere, ein »Bild« von sich zu entwerfen, das
ihm erlaube, politisches Selbstverständnis und politische Zielsetzung zu
entwerfen. Man könnte auch von einem Verfall der Repräsentanz sprechen,
einem Virulentwerden jenes Schlüsselproblems aller staatlichen Ordnung, die
klären muß, warum die vielen meinen sollen, daß sie eins sind.
Zakaria hält das bestenfalls für eine Frage der Propaganda, tatsächlich
geht es aber um den Kern der Sache, wenigstens für die Europäer, die
ihr Selbstverständnis niemals nur auf den Besitz von Macht und die Anziehungskraft
eines bestimmten way of life gegründet haben. Sie müßten
sich aufgefordert sehen, eine Alternative im Sinn der Modifikation zu entwickeln:
eine politische Verfassung, die nicht nur die Selbstbehauptung erlaubt, sondern
auch die Integration des »organischen Willensgehaltes«. Das wird um
so schwerer, als man weder guten Gewissens »Demokratisierung« fordern
kann, noch den Apologeten des neuen aufgeklärten Absolutismus folgen darf.
(Zitat-Ende).
Die Ökonomie und das Außerökonomische. (in: Sezession;
Dezember 2008)
Von einer Bremer Veranstaltung ist mir ein kurzes
Gespräch mit einem Unternehmer in Erinnerung geblieben, der einen traditionsreichen
Familienbetrieb leitete. Er erzählte von seinem Urgroßvater, der nach
der Reichsgründung von 1871 einen Auftrag der öffentlichen Hand für
Straßenbauarbeiten erhielt und dem ein leitender Mitarbeiter vorschlug,
fiktive Posten in Rechnung zu stellen; das habe der Vorfahr mit der Entlassung
des Mannes und den Worten quittiert: »Das Reich betrügt man nicht.«
(Ebd., Dezember 2008, S. 11).Abgesehen vom Kern wirtschaftlicher
Vernunft hängt alles ab von der Erziehung der Verantwortlichen und dem zivilisatorischen
Rahmen, in dem sie sich bewegen, es hat zu tun mit historischer Lage und den daraus
resultierenden Handlungsmöglichkeiten, und selbstverständlich wirken
sich auch Oberflächenphänomene aus, wie Moden oder Zeitgeistströmungen.
Man verkennt das leicht, weil die Wirtschaft nicht nur »unser Schicksal«
sein will - eine schon Walther Rathenau zugeschriebene Äußerung -,
sondern außerdem darauf beharrt, Eigengesetzlichkeiten zu folgen, die sich
weder ethischen noch kulturellen noch politischen Vorgaben fügen. Der Zusammenbruch
der kommunistischen Zwangswirtschaft in der Sowjetunion und die ebenso rasche
wie effektvolle Bekehrung der chinesischen Führung zum Markt, die Aufgabe
der »dritten Wege« in den Entwicklungsländern und die Unterwerfung
prominenter Achtundsechziger unter das liberale Credo erschienen zuletzt als Beweise
für die Richtigkeit dieser Annahme. Die Deregulierungsmaßnahmen, die
große Privatisierungswelle in den westlichen Ländern, die Beschneidung
der sozialen Leistungen, die Diskreditierung des staatlichen Eingriffs und aller
Planung nach politischen Vorgaben überhaupt, waren die Konsequenz. Daran
hat der Kollaps des »Neuen Marktes« wenig geändert, erst die
gegenwärtige Krise läßt die Frage aufkommen, ob die Wirtschaft
so funktionstüchtig ist und so selbständig über ihre Bedingungen
verfügt, wie von ihren Mächtigen behauptet. (Ebd., Dezember 2008,
S. 11).Solche Zweifel treten periodisch auf. Schon als die alteuropäische
Ökonomie durch die »Nationalökonomie« abgelöst wurde,
hatte es Proteste gegen die neue Unübersichtlichkeit gegeben, gegen die Verlagerung
und Anonymisierung der Abläufe. Dem konnten die Befürworter der Moderne
entgegenhalten, daß der Markt von selbst zu einer Klärung aller Schieflagen
und Engpässe, des Lohn- wie des Preisgefälles führen werde, wenn
man nur seine Autonomie respektiere. Adam Smith sprach von der »unsichtbaren
Hand«, die letztlich dafür sorge, daß das Streben der Individuen
nach Gewinnmaximierung in einem harmonischen Ganzen ausgeglichen werde und zur
Förderung des »Wohlstands der Nationen« beitrage. Das war ein
Konzept, das man nicht von seinen Voraussetzungen in schottischer Aufklärung
und deistischer Theologie des 18. Jahrhunderts ablösen kann, das diese Voraussetzungen
aber erfolgreich vergessen machte und in Großbritannien zu bemerkenswerten
Erfolgen führte. Allerdings haben sich die liberalen Anhänger von Smith
niemals vollständig durchgesetzt, und der Aufstieg des Landes wie auch die
Bewahrung seines inneren Friedens war eher dem Sieg über Napoleon, dem Niedergang
des französischen Erbfeindes, dem technischen Vorsprung und einem erfolgreichen
Imperialismus zu verdanken als der konsequenten Anwendung von Marktgesetzen. Ähnliches
gilt für die USA, auch wenn man hier in einem jungen Land nicht nur ungehemmter
auf Kapitalismus ohne Schranken setzte, sondern außerdem die Möglichkeiten
erkannte, die in der Erschließung und Ausbeutung immer neuer Gebiete - zuerst
auf dem eigenen Kontinent, dann im globalen Maßstab - lagen. (Ebd.,
Dezember 2008, S. 11-12).Die beiden Varianten des angelsächsischen
Modells haben in Europa und dem Rest der Welt zwar immer Bewunderer, aber kaum
je bedingungslose Nachahmung gefunden. Das hing nicht nur mit Entwicklungsunterschieden
zusammen, sondern auch mit grundsätzlichen Vorbehalten. Schon Friedrich List
wies darauf hin, daß das englische Beispiel keine allgemeine Geltung beanspruchen
könne; die Insellage habe ihm früh das »Privilegium der Freiheit
und des Asyls« verschafft und dadurch nicht nur seinen wirtschaftlichen
Aufstieg befördert, sondern auch den Eindruck erweckt, als gehe es um eine
Art von Idealkonzeption. In Wirklichkeit hätten aber Geopolitik und Geschichte
erst jene Stellung geschaffen, in der sich Großbritannien befinde. Von solchen
Voraussetzungen könne man nicht absehen und müsse prinzipiell zwischen
»kosmopolitischer« und »politischer Ökonomie« unterscheiden,
wobei die erste eine reine Ökonomie zu vertreten behaupte und anbiete, mittels
allgemeinem, freiem Warenaustausch dem Zustand des Weltfriedens oder sogar der
Weltrepublik näher zu kommen, während die andere jede Ökonomie
an außerökonomische Machtverhältnisse gebunden sehe und annehme,
daß die dauernde wirtschaftliche Konkurrenz Teil anderer - vor allem nationaler
und imperialer - Konkurrenzen sei. (Ebd., Dezember 2008, S. 12).Bekanntermaßen
hat sich List mit seinen Vorstellungen nicht durchsetzen können, aber seine
Ideen blieben in Deutschland einflußreich, von Bismarcks Schutzzöllen
bis zu den Lehren des »Kathedersozialismus«, von der Förderung
bestimmter Monopolbildungen bis zum Ausbau des »Öffentlichen Dienstes«,
vom »kommunalen Sozialismus« bis zu dem der »Sozialen Marktwirtschaft«.
Dabei spielte neben Gerechtigkeitserwägungen und Vorstellungen von nationaler
Solidarität immer auch die Sorge mit, daß jede Entlassung der Ökonomie
aus politischer Bändigung Folgen heraufbeschwöre, die sich gar nicht
mehr kontrollieren lassen würden. Erst dem Neoliberalismus gelang es am Ende
des 20. Jahrhunderts, diese Art von Wachsamkeit einzuschläfern und die Vorstellung
zu wecken, daß es nicht nur darum gehe, in der Wirtschaft wirtschaftlich
zu agieren, sondern überhaupt alle Lebensbereiche von hier aus zu kolonisieren
und ökonomischen Vorstellungen zu unterwerfen. (Ebd., Dezember 2008,
S. 12).Das Vertrauen in diesen Plan war ähnlich unbegründet
wie das in die überlegene Einsicht der Finanzgewaltigen. Deren Selbstbewußtsein
speiste sich offenbar weniger aus Kenntnis und Verständnis der Regeln des
globalen Kapitalismus als aus einem falschen Selbstbild und einer Fehlwahrnehmung
des größeren Zusammenhangs, der eben nicht nur von ökonomischen
Faktoren bestimmt wird, sondern auch anderen »Göttern« (Werner
Sombart) dient und dienen muß. Simon Cundey, Geschäftsführer des
ältesten Herrenausstatters in der Londoner Savile Row, antwortete auf die
Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Versagen der Verantwortlichen und
ihrem nachlässigen Kleidungsstil gebe: »Ich würde nicht sagen,
daß die Kleidung die Krise ausgelöst hat. Aber ich denke schon, daß
die Verbreitung des relaxten Stils eine Rolle gespielt hat. In vielen Büros
stehen heute Billardtische und riesige Fernsehgeräte herum. Da wundert man
sich, welche Arbeitsmoral dort herrschen soll.« (Zitat-Ende).
Nationalismus. (in: Sezession;
März 2009)
Während die Freunde der postnationalen
Demokratie (Karl Dietrich Bracher) gerade noch behaupteten, daß im
neuen Zeitalter die kulturelle Homogenität wie von selbst gewahrt bleibe
und sich die Teilnehmer am herrschaftsfreien Diskurs ohne sprachliche Probleme
würden verständigen können, sieht man jetzt immer deutlicher, wie
unwahrscheinlich diese Hoffnungen sind. Das gilt selbst dann, wenn ein Nationalstaat
nur in seine historisch gewachsenen Bestandteile zerfällt. Es zeigt sich
also einmal mehr, daß die Nation besteht, sofern sie etwas repräsentiert,
das hinreichend klar erkennbar und großartig genug ist, um Loyalitätsgefühle
bis zur Opferbereitschaft zu wecken. Sie existiert fort, weil ihre Existenz solche
Empfindungen zu nähren weiß, sie verfällt, wenn die Erkennbarkeit
undeutlich und die Emotionen schwach werden. Die Nation ist nicht natürlich
wie Familie oder Sippe, sie gehört zur Natur des Menschen nur insofern, als
sie zu jenen identitätstiftenden politischen Verbänden zählt, ohne
die wir als soziale Wesen nicht leben können. Es hat in der Geschichte Verbände
gegeben, die kleiner (Bünde, Stämme) oder größer (Imperien)
waren und ähnliches leisteten, auch zahlreiche Fälle, in denen alles
da war, um sich als Nation selbständig zu behaupten, die politischen Kräfteverhältnisse
das aber nicht oder nur phasenweise erlaubten. (Zitat-Ende).
Der konservative Katechismus. (in: Sezession;
April 2009)
Vorbemerkung: Der große us-amerikanische Konservative
Russell Kirk hat einmal geäußert, daß Konservative kein Regelwerk
brauchten es genügten die Zehn Gebote. Das war vor beinahe sechzig
Jahren, und Kirk hat seine eigene Maßgabe wohlweislich nicht befolgt, weil
er wußte, daß sich das Konservative in der Gegenwart nicht mehr so
von selbst verstehen kann wie in der Vergangenheit, nicht einmal für die
Konservativen selbst. Zeit also für einen konservativen Katechismus in zwölf
Sätzen.1.Erschrick nicht, wenn Du feststellst, daß
Du konservativ bist. Es besteht kein Grund zur Sorge. Manche waren es vor Dir
und manche werden es nach Dir sein, große Männer und große Frauen
gehörten dem konservativen Lager an: von Cato dem Älteren bis Bismarck,
von Thukydides bis Leopold von Ranke, von Antigone bis Margaret Thatcher, von
Platon bis Arnold Gehlen, vom Heiligen Benedikt bis Konrad Lorenz, vom Verfasser
des Buches Prediger bis Goethe, von Leonidas bis Stauffenberg.Was heißt
das? Es wird oft vergessen, daß die konservative eine große Tradition
ist und die Konservativen nicht die »Partei der Dummheit« (John Stuart
Mill) bilden, sondern ihre geistige Tradition in vieler Hinsicht identisch ist
mit der geistigen Tradition Europas. Es mangelt ihnen nicht an Intelligenz, eher
wird man von einem Begabungsüberschuß sprechen müssen, weniger
in den systematischen Fächern, eher in den literarischen, überall da,
wo es um die Phänomene selbst geht, nicht um deren Abstraktion. Deutlicher
tritt das konservative Genie nur in der Praxis hervor, in Staatsführung,
Militär und Verwaltung. Faßt man die Konservativen so als Partei des
Geistes und als Partei der Ordnung auf, kommt noch ein drittes hinzu. Die Konservativen
sind die Partei des Widerstandes: deshalb Cato, Thukydides, Antigone, Leonidas
und Stauffenberg.2.Prüfe kritisch, ob es sich nicht nur
um typbedingtes Phlegma oder altersbedingte Resignation handelt. Es gibt auch
eine verbreitete Neigung, Faulheit und Konservatismus zu verwechseln, oder fehlende
Anstrengungsbereitschaft weltanschaulich aufzuhübschen.Was heißt
das? Jede Annahme, daß es einen bestimmten anthropologischen Typus des Konservativen
gibt, entweder (als Ausnahme) unter Jung-Verspießerten oder (als Regel)
unter gereiften Persönlichkeiten, geht an der Sache vorbei. Auch der oft
zitierte Satz »Wer mit zwanzig kein Sozialist ist, hat kein Herz, wer es
mit dreißig noch ist, hat keinen Verstand«, führt in die Irre.
Es ist zwar richtig, daß das Ruhebedürfnis mit dem Alter zunimmt, auch
der Realitätssinn, aber Garantien gibt es dafür nicht. Die Achtundsechziger
sind heute zwar betagt, aber nicht weise, und Konservatismus ist selbstverständlich
etwas anderes als Routine oder der Verfall von Lebenskraft. Insofern es dem Konservativen
darum geht, etwas Lebendiges seine Kultur, seine Nation, seine Religion,
seine Familie zu erhalten, kann er sich das Nachlassen nicht erlauben.3.Glaube
nicht, daß man Konservative am äußeren Habitus erkennt. Anzug
und Kostüm, das Abonnement der FAZ und der Festspielbesuch in Bayreuth sprechen
dafür, daß man es mit Konservativen zu tun hat. Aber die schicke Linke
weiß sich auch zu tragen, und der bürgerliche Opportunismus kennt jedes
Dekor.Was heißt das? Konservative Camouflage ist kein ganz neues
Phänomen; Nietzsche meinte schon, es gebe einen Konservatismus, den kennzeichne,
daß immer etwas »dazugelogen« werde. Das gilt auch für
die Gegenwart mit der Inflation von Benimm- und Tanzkursen für junge Leute,
deren Karrierefixierung und Leistungswille vom Kindergarten an trainiert wird,
mit der allfälligen Konformität, dem »Elite«-Geschwätz
und der ganzen »neuen Bürgerlichkeit«. Deren Ideologen, von Wolfram
Weimer bis Paul Nolte, lassen sich fallweise »konservativ« nennen.
Aber das ist doch nur Tarnung der Arrivierten, derer, die intelligent genug sind,
um zu wissen, wie weit der Substanzverlust geht, und die in der sicheren Annahme
handeln, daß man sowieso nichts mehr machen kann und deshalb ein gediegenes
Dasein für sich und die Ihren gerettet sehen möchten. Die authentisch
Konservativen sind dagegen ein buntes Völkchen: katholische Integristen und
Junghegelianer, Dandys und Neo-Folk-Jünger, Computerfachleute in Jeans und
eine Müslifraktion, Eurasier und Atlantiker und Nationale.4.Kultiviere
Deine Leidenschaft für die Vielfalt! Vielfalt ist das Gegenteil von Einfalt.
Schütze das Konkrete, das immer ein Besonderes ist, gegen Simplifizierung
und Gleichmacherei, die Unfähigkeit, im Mannigfaltigen das Schöne zu
erkennen. Vive la différence!Was heißt das? Konrad
Lorenz hat einmal gesagt, daß heute dem Gleichheitswahn entgegenzutreten
so gefährlich sei, wie im Mittelalter zu bestreiten, daß die Erde fest
stehe und sich im Mittelpunkt des Universums befinde. Der Egalitarismus ist der
zäheste Teil unter den konventionellen Lügen, die alle wiederholen und
die niemand glaubt. Deshalb muß der Konservative die elementaren wie die
kulturellen Unterschiede verteidigen: zwischen Mann und Frau, zwischen Deutschen
und Franzosen, zwischen Christen und Juden, zwischen Gott und Mensch, zwischen
Kolbe und Hrdlicka, schön und häßlich, gut und böse, dumm
und klug, rechts und links. Das Konkrete ist das Wirkliche.5.Bleibe
skeptisch gegenüber »Pendelgesetzen«! Es schlägt nicht einfach
eine Phase der Geschichte in eine andere um, auf die Dominanz der Linken folgt
nicht zwangsläufig die der Rechten, auf Chaos nicht Ordnung.Was
heißt das? Es mag sein, daß der Mensch Abwechslung braucht und in
der Geschichte manches von einem Extrem ins andere überging, aber eine Regelmäßigkeit
ist das nicht. Es gibt jedenfalls keinen Anlaß, sich zurückzulehnen
und auf den Lauf der Dinge zu setzen. Wille und Entschlossenheit vermögen
nicht alles, aber sie vermögen viel, und ohne sie gibt es jedenfalls keinen
grundsätzlichen Wandel der Misere. Das ist nicht als Plädoyer für
Voluntarismus mißzuverstehen oder dafür, sich besinnungslos an jeder
Wand den Kopf blutig zu stoßen. Dem Einsatz geht immer der entscheidende
analytische Schritt voraus: »Erstes Gebot: erkenne die Lage!«
(Carl Schmitt).6.Zeige Mut zur Reaktion! Beharre auf dem, was
die anderen längst »überwunden« haben, verteidige Grundsätze
von gestern auch gegen den mehrheitlich akzeptierten Unsinn von heute.Die
Stärke des Konservativen ist sein Realitätssinn, die Ablehnung von ideologischen
Wunschbildern und Träumereien, für den Konservativen ist die Wirklichkeit
der Maßstab, und wenn sich die Gegenwart so weit von der Wirklichkeit entfernt
hat, muß man darauf reagieren. Also wende man sich dem »Essentialismus«
zu, der nicht nur Konstruktion und Erfindung sieht, sondern die Substanz der Dinge;
vollziehe den Schluß vom Sein auf das Sollen, weil das Natürliche und
die Normalität tatsächlich Hinweise für das Richtige geben und
plädiere für den gesunden Menschenverstand, der nicht nur die eigene
Erfahrung auf seiner Seite hat, sondern auch die Tradition. Konservativ ist seit
der Aufklärung die Gegen-Aufklärung, die den Menschen eben nicht als
autonomes Subjekt versteht, das mit Hilfe der Vernunft die Welt versteht, in der
Analyse zerlegt und neu zusammensetzt, das heißt »konstruiert«.7.Halt
Dich nicht damit auf, alles Alte zu bewahren! Der Konservative ist kein Trödler
und kein Nostalgiker. Er will keine Konserven, in denen nur noch ein Schein des
Lebens vorgewiesen werden kann.Was heißt das? Selbstverständlich
gibt es die Liebe zu den alten Dingen, zu Ruinen und Antiquitäten und unter
Konservativen eine besondere Fähigkeit zur Wahrnehmung des Zaubers, der den
Relikten anhaftet. Das ist aber nicht die Sache selbst. Man muß auch Schnitte
machen, sich von Überkommenem trennen, und soll nicht glauben, daß
in jeder alten Hülle noch der alte Geist steckt. Es geht auch nicht um das
Alte, sondern um das Erbe, nicht ums Archivieren, sondern ums Tradieren. Es geht
um den lebendigen Zusammenhang. Wenn der zerstört ist, bleibt Pietät
vielleicht oder Trauer, aber nicht das, was die Anstrengungsbereitschaft des Konservativen
wert ist.8.Erwäge gründlich, wofür Du
Dich einsetzen willst! Mißtraue den attraktiven Angeboten, die man Dir mit
scheinheiliger Miene macht, nimm zur Kenntnis, daß die Institutionen, für
die wir immer eingetreten sind Staat, Nation, Kirche schwere Beschädigungen
erlitten haben.Was heißt das? Der Konservative muß heute
seine Kräfte schonen, weil er sich auf den wirklichen Fall, den Ernstfall,
vorbereitet. Deshalb seine désinvolture, sein Mißtrauen gegenüber
der Stabilität der Verhältnisse, seine Skepsis angesichts von öffentlichen
Einrichtungen, die neuerdings mit der Notwendigkeit des Dienstes, der Einsatzbereitschaft
und des Gemeinsinns werben, denen aber Entscheidendes abhanden gekommen ist: die
Fähigkeit, jene »Treuepflicht zu außerrationalen Werten«
(Arnold Gehlen) zu stiften, die überhaupt erst den Bestand einer Institution
verbürgt. Hier zeigt sich die tiefe Wirkung der Dekadenz, der Beschwichtigung,
des Geredes, der Weichheit.9.Lies!Was heißt das?
Es genügt schon lange nicht mehr, sich auf das Erbe der Väter zu berufen
und die Lektüre auf die Klassiker zu beschränken. Um ein Wort Joseph
de Maistres abzuwandeln: Gestern war Konservativ-Sein eine Haltung, heute ist
es eine Lehre. Der Konservative bedarf der Argumente und er findet sie oft an
unerwarteter Stelle. Sicher haben uns Peter Sloterdijk, Hans Peter Duerr und Wolfgang
Sofsky mehr zu bieten als Hans-Joachim von Merkatz, William S. Schlamm oder das
Spruchgut eines Franz Josef Strauß. Der Konservative muß Informationsvorsprung
gewinnen.10.Mach Dich unbeliebt! Verblüffe Deine Feinde,
verstöre die Spießer!Was heißt das? Der Konservative
hat sehr viel über für gute Kinderstube und gute Manieren, aber das
darf ihn doch nicht an der notwendigen Grobheit hindern; nur sei die Grobheit
kalkuliert, ein Mittel, keine Leidenschaft, die Dich beherrscht. Also fall Deinem
Gegner ins Wort, wenn Du Dich sonst nicht bemerkbar machen kannst, störe
die Selbstgefälligen mit Zwischenrufen und besorg Dir im Zweifel die Utensilien
für ein Protestplakat. Wir leben in lauten Zeiten, wer nur leise ist, verzichtet
von vornherein auf Einflußnahme. Es besteht kein Bedarf an mehr Behäbigkeit.
Was wir brauchen, sind rechte Spontis und eine konservative Spaßguerilla,
also: Die Phantasie an die Macht!11.Sei politisch in unpolitischer
Zeit!Was heißt das? Hüte Dich vor jeder Ablenkung ins »Liberalkonservative«,
»Freiheitlich-Konservative«, »Kulturkonservative«, »Wertkonservative«.
Das sind Fallen, mit denen man Dich von der eigentlichen Auseinandersetzung fernhält,
denn die ist politischer Natur und fordert klare Entscheidungen. Wenn Du glaubst,
daß das hilft, schieb Deine Position eher vor, als daß Du sie zurücknimmst,
sei klug, aber hüte Dich vor Leisetreterei: Was spricht eigentlich dagegen,
sich »rechts« zu nennen, da wo das Rechte, das Richtige gedacht, gewollt,
getan wird? Die Linke genießt gegenüber der Rechten keinen moralischen
Vorzug, die Mitte kommt gar nicht in Betracht, das juste milieu ist immer
unselbständig, zu feige, eine Richtung einzuschlagen, es folgt dem, was links
oder rechts vorgegeben wird.12.Zieh Konsequenzen!Was
heißt das? Bring Deine Weltanschauung mit Deinem Lebensstil in Übereinstimmung,
soweit das in des Menschen Macht liegt. Das ist kein Aufruf, antiquarische Neigungen
zu pflegen oder sich ein Reservat zu suchen. Aber: Keine Zugeständnisse an
den Entwurf »rechts denken, links leben«. Die Konservativen sind eine
Minderheit, deshalb wird ihre Anziehungskraft ganz wesentlich davon abhängen,
ob man ihnen abnimmt, was sie reden. Übrigens: Geschichte wird immer von
entschlossenen Minderheiten gemacht! (Zitat-Ende).
Wie wichtig ist ein Begriff? Gespräch mit Dieter
Stein und Karlheinz Weißmann (in: Sezession;
März 2009)
Die jäh in Internet-Foren aufgeworfene Frage
nach Sinn oder Unsinn des politischen Begriffs »Neue Rechte« war Auslöser
eines Gesprächs mit Dieter Stein (Junge
Freiheit) und Karlheinz Weißmann (Sezession)
über diese politische Bezeichnung.SEZESSION: Dieter, du lehnst den
Begriff »Neue Rechte« für die Positionsbestimmung der Jungen
Freiheit ab und hast im Kulturaufmacher deiner Zeitung, Ausgabe 3/2009, den Herausgebern
unserer Zeitschrift vorgeworfen, wir spielten mit unserer beharrlichen Verwendung
des Wortes ein gefährliches Spiel. Was ist gefährlich am Begriff »Neue
Rechte«?STEIN: Nicht gefährlich unbrauchbar ist dieser
Begriff. Man muß wissen, wann man sich für welche politischen Begriffe
zur Selbstverortung entscheidet. Ich habe schon vor zwanzig Jahren den immer wieder
aufkommenden Begriff einer »Neuen Rechten« als problematisch verworfen
und bleibe dabei. Sicher muß man wohl damit leben, daß man durch den
politischen Gegner ein Etikett verpaßt bekommt. Wer dieses für charmanter
hält als den Begriff einer »Alten Rechten«, der irrt: Der Begriff
der »Neuen Rechten« ist ein Kampfbegriff, der der Denunziation dient.
Er wurde letztlich von Verfassungsschutzbehörden und linken Politikwissenschaftlern
durchgesetzt, um ein politisches Milieu zu markieren, das als extremistisches
»Brückenspektrum« denunziert werden soll. Diese Begriffsdefinition
hat sich faktisch durchgesetzt, und es ist eine Illusion zu meinen, daß
man diesen Gehalt aus einer Außenseiterposition heraus positiv umdeuten
könnte. Die Denunziation mittels des verführerischen Begriffes »Neue
Rechte« ist Teil der Strategie, einen legitimen konservativen, demokratisch-rechten
Faktor aus dem öffentlichen Diskurs und der Demokratie auszuschließen.SEZESSION:
Karlheinz, du könntest direkt darauf antworten.WEISSMANN: Vielleicht
sollte ich auch eine kleine biographische Vorbemerkung machen: Als ich mich in
den siebziger Jahren zu politisieren begann, war »Neue Rechte« kein
geläufiger Begriff. Mit der Nouvelle Droite in Frankreich hatte ich ideologisch
nichts am Hut, Gruppen wie die »Aktion Neue Rechte« kannte ich nicht.
Allerdings merkte ich auch rasch, daß ich nicht »konservativ«
in dem Sinne war, in dem das damals noch relativ viele waren. Mir ging es nicht
primär um die Grenzen von 1937, die Wiederherstellung der Verhältnisse
von Vor-Achtundsechzig, ich war kein Kind von Heimatvertriebenen, Adeligen, gehobenen
Bürgern, frommen Protestanten oder katholischen Kirchgängern. Außerdem
habe ich früh gemerkt, daß dieses Konservativ-Sein oft etwas Vordergründiges
hatte, nicht ganz ernst gemeint, sondern abhängig von den Milieus war, in
denen man aufgewachsen ist. Dagegen hatte ich eine bewußte politische Entscheidung
gesetzt, und mein Mißtrauen gegenüber den »Konservativen«
wuchs in dem Maße, in dem ich beobachtete, wie sie sich mit den Verhältnissen
abfanden. »Konservatismus« ist nicht erst seit gestern eine Abfindungsformel,
und deshalb war mir Armin Mohlers Frechheit sympathisch, der sich als »rechts«
bezeichnete. In seinem Umfeld haben sich alle als Teil einer »neuen Rechten«
empfunden, und auch sein Antipode Gerd-Klaus Kaltenbrunner hat eine »neue
Rechte« für notwendig gehalten. Jedenfalls erschien uns »Neue
Rechte« als Hilfsbezeichnung nützlich, um unser Meinungslager zu benennen,
das wurde uns nicht von außen aufgezwungen. Wir wollten im übrigen
keine Mehrheiten gewinnen, sondern unsere intellektuelle Selbständigkeit
erhalten und eine Grenzlinie zu den Opportunisten und den Gegnern ziehen. Unter
dem Aspekt der »Anschlußfähigkeit« war das natürlich
unklug, aber wann wäre eine prinzipielle Alternative je zustande gekommen
durch Klugheitserwägungen? Damit zu einem letzten Aspekt: Wenn nun schon
Konsens ist, daß mit Carl Schmitt politische Begriffe polemische Begriffe
sind, dann hat das Polemische primär nichts mit Denunziation zu tun, sondern
mit dem agonalen Charakter des Politischen. Wenn im politischen Kampf »rechts«
negativ konnotiert ist, dann weil die Linke die kulturelle und politische Macht
besitzt. Wenn ich diesen Machtbesitz in Frage stellen will vorausgesetzt
ich will das , muß ich eine hinreichend klare Alternative bezeichnen.
Diese wird von den Machthabern bekämpft werden, das ist politische Normalität
und vergleichbare Situationen hat es immer wieder gegeben. Ob und unter welchen
Bedingungen eine Veränderung der Machtverhältnisse möglich ist,
kann man nicht aus Faustregeln ableiten: »Geuse«, also Bettler, war
ein Schimpf, mit dem die Spanier die holländischen Freiheitskämpfer
bezeichneten, und die haben einen Ehrennamen daraus gemacht. »Socialdemokrat«
war im Zweiten Reich ein Begriff, viel schlimmer als »Rechter« heutzutage,
aber Werner Sombart schrieb, daß in seiner Studentenzeit plötzlich
alle »Socialisten« sein wollten. Ein »Linker« zu sein,
war in der frühen Bundesrepublik ganz und gar kein Spaß, aber als ich
jung war, gab es unter den Jungen praktisch nur noch Linke. Wenn ich also die
Möglichkeit eines Umschlags nicht für denkbar hielte, würde ich
Dieter zustimmen; da ich aber an dieser Möglichkeit festhalte, bin ich fürs
Standhalten, und wenn es keine andere Fahne gibt, dann eben die, auf der »Neue
Rechte« steht. Nur nebenbei: auch der Begriff »rechts«
ohne Adjektiv oder »demokratisch-rechts« ist keine Alternative,
der erste löst eh die übliche Assoziationskette »rechts
rechtsradikal Nazi Auschwitz« aus, der zweite ist ungefüg
und jedenfalls als Parole ungeeignet.STEIN: Als ich 1982 bei der »Jungen
Union« Mitglied werden wollte, fragte mich der Kreisvorsitzende als erstes
in einem Gespräch, wo ich denn politisch stünde. In aller Naivität
antwortete ich: »Rechts«. Irritiert hakte er noch einmal nach: »Weißt
du, wir hatten in der letzten Zeit manchmal Probleme mit Jungs, die sich als rechts
bezeichneten.« Unbeleckt von irgendwelchen Kenntnissen einer »rechten
Szene« hatte ich im demokratischen Links-Rechts-Spektrum die SPD links und
die CDU selbstverständlich »rechts« eingeordnet. Für mich
war Franz Josef Strauß damals ein »Rechter«. Das »Konservative«
war mir sehr wohl sympathisch, ich verband damit die Werte, die ich im Elternhaus
kennengelernt hatte. Nationalbewußtsein, Dienst am Vaterland mein
Vater war Berufssoldat , christliches Bekenntnis, Familienbewußtsein.
Nach der »Wende« zu Kanzler Kohl 1982 dann das böse Erwachen:
Die CDU bezog gar keine konservativen Positionen. Einen »Rollback«
unter dem Stichwort einer »Geistig-moralischen Wende« gab es nicht.
Ein Freund und Klassenkamerad war ein Heidegger-Enkel, mit dem ich viel politisierte.
Bei Hausbesuchen lernte ich durch den Vater, Hermann Heidegger, von ihm bezogene
konservative Zeitschriften wie »Mut«, »Criticón«
oder »Deutschland-Magazin« kennen. Ich war elektrisiert, daß
es eine teils parteiunabhängige, mehr oder weniger kritische Publizistik
von »rechts« gab und so tastete ich mich voran. Nach meinem
Übertritt von der JU zu den aus Protest gegen einen von Franz Josef Strauß
eingefädelten DDR-Milliardenkredit von CSU-Abtrünnigen gegründeten
Republikanern, wo ich 1984/'85 Mitglied war, erlebte ich dort einen ersten Richtungsstreit,
der unter dem Etikett »Neue Rechte« lief. Franz Schönhuber, zunächst
nur stellvertretender Bundesvorsitzender, hatte Mitte der achtziger Jahre in der
Zeitschrift Criticón einen Text publiziert, in dem er an den von Armin
Mohler forcierten Begriff »Neue Rechte« andockte. Er hatte die Absicht,
aus der durch den niederbayerischen Lokalmatador Franz Handlos initiierten Formation
eine Partei zu machen, die nicht lediglich eine »bessere CSU« sein
sollte. Entscheidend war, daß er die Partei für Funktionäre der
NPD öffnete weshalb es dann schon 1985 zu einer Spaltung kam. Damit
verband ich den Begriff einer »Neuen Rechten« schon damals mit einer
Öffnung zur NPD, in deren Umfeld ja bekanntlich die »Aktion Neue Rechte«
1972 als NPD-Abspaltung entstanden war. Eine erfolglose Unternehmung übrigens.
Das zu einer biographischen Konstante: Mir ist immer ein rechtsradikales Milieu
fremd gewesen, das sich aus Traditionsbezügen zum Nationalsozialismus nicht
lösen konnte. Die NPD ist selbstverständlich bis heute Kristallisationspunkt
dieses Milieus geblieben. Wobei ich viele kennenlernte und auch Freunde gewann,
die einmal in der NPD gewesen waren, aber sich aus diesem Grund von diesem Verein
verabschiedet hatten. Ich erinnere mich gut, wie wir im Kreis derer, die 1989-1993
in Freiburg die JF als Studenten gemacht haben, über die Links-Rechts-Frage
und den Begriff der »Neuen Rechten« diskutiert haben. Er war schon
damals als Sammelbegriff für nationalrevolutionäre Splittergruppen und
völkische Zirkel teils schon das, was in meinen Augen eigentlich die »Alte
Rechte« war, etwa Grabert-Verlag oder Nation Europa. Auf der anderen Seite
problematisierten wir intensiv in Gesprächen selbst den Begriff »Rechts«,
weil für uns das Leitmotiv eigentlich die Nation war. Warum sollte das Nationale
eigentlich »rechts« sein? Was war mit der Option einer nationalen
Linken, für die Wolfgang Venohr, Peter Brandt und Herbert Ammon standen?
Sollten wir uns nicht für eine Überwindung des simplen Rechts-Links-Schemas
einsetzen, das wir von der französischen Revolution geerbt haben? Allein
letzteres ein Argument, den Begriffen distanziert gegenüberzustehen. Wer
die JF aufmerksam liest, dem wird auffallen, daß sie den Begriff »rechts«
weitgehend meidet und eher hilfsweise verwendet. Ich habe jedenfalls mit »Konservativen«
typischerweise nie Menschen verbunden, die sich mit den Verhältnissen abfinden.
Wie lange hält die »Frechheit« vor, wenn man sich »rechts«
oder gar »neu-rechts« nennt? Ich kann mir noch eine Menge Begriffe
vorstellen, deren Verwendung eine Frechheit ist und bei denen man in der Lage
ist, sich in einer Parallelwelt abzukapseln. Was ist eigentlich gewonnen durch
diese eigenartige Selbstbezeichnung?
SEZESSION: Mit »eigenartiger
Selbstbezeichnung« meinst du jetzt also nicht nur »Neue Rechte«,
sondern »rechts« insgesamt, und du trittst in deinem jüngsten
Artikel für eine »Dekonstruktion« der Begriffe links und rechts
überhaupt ein. Karlheinz: Was könnte gewonnen sein, wenn wir dennoch
an solch eigenartigen Selbstbezeichnungen festhalten?WEISSMANN: Es gibt
in Frankreich die Redewendung: »Wenn jemand behauptet, daß die Unterscheidung
links-rechts keine Bedeutung mehr hat, ist er sicher kein Linker«, und das
stimmt. Nur die Nicht-Linke redet seit über hundert Jahren von der Überwindung
des Gegensatzes, gelungen ist sie nicht. Er stellt sich auf immer neue Weise immer
wieder her, weshalb es auch dauernd »neue Linke« (die nie ganz neu
sind) und »neue Rechte« gibt. Das ist unabänderlich, solange
es das Politische gibt; die von Dieter so geschätzte Frau Noelle hat übrigens
sehr schön empirisch nachgewiesen, daß die Masse der Bürger ganz
genau weiß, ob sie eher »rechts« oder »links« ist.
Das »Nationale« ist selbstverständlich gar keine Ersatzgröße:
zum ersten, weil auf die Idee natürlich schon andere gekommen sind
wenn ich mich richtig erinnere, wirbt die NPD regelmäßig mit dem Slogan
»Die Nationalen«, »Die nationale Alternative« o.ä.
, zum zweiten, weil die Nation, solange sie als integrative Größe
anerkannt wird, auf eine Ebene oberhalb des politischen Kampfes gehört, also
insofern politisch »neutralisiert« ist (schon wieder Schmitt). Hat
sie die Anerkennung verloren, so wie jetzt, gehört sie wie jeder Ordnungsbegriff
automatisch nach »rechts«, deshalb der traditionelle »Antipatriotismus«
der Linken und der vergangenheitsbewältigungsgetönte der Achtundsechziger.
Die »Antideutschen« machen bloß Ernst mit dem, was auf der Hauptspur
der linken Argumentationsstrecke sowieso bestimmend ist. Die Linksnationalen kommen
nur als Geisterfahrer auf dieser Hauptspur vor, sind isoliert (Ammon), nicht sehr
überzeugungsfest (Brandt) oder als Linke gar nicht mehr identifizierbar (Venohr).
Was nun die Abkapselung angeht, so habe ich sicher von uns beiden die größere
Erfahrung mit großen Foren, wo man auch eine Art Zugang zur Allgemeinheit
hat. Ich habe vor dem Politischen Club der Evangelischen Akademie in Tutzing gesprochen
und bei der Adenauer-Stiftung, im Club zu Bremen und bei den Beiräten von
Banken und Versicherungen. Die Resonanz war eigentlich immer sehr positiv
übrigens auch in Tutzing. Das lag ohne Zweifel an den Inhalten, die ich da
vertrat und die sich nicht von denen unterscheiden, die ich heute vertrete. Daß
ich dort nicht mehr sprechen kann, liegt kaum an der Qualität dessen, was
ich denke und sage. Es liegt ganz einfach an den Machtverhältnissen in diesem
Land. Wer glaubt, daß er die durch die Anpassung an Sprachregelungen verändern
kann, versuche sein Glück. Meine Prognose lautet, daß ihn die Machtverhältnisse
verändern werden. Eine prinzipielle Gegenposition also eine, die Prinzipien
vertritt muß als solche kenntlich und unter den gegebenen Umständen
die Position einer Minderheit sein. Gehlen hat einmal davon gesprochen, daß
in aussichtslos erscheinender Lage nichts so überzeugend wirkt wie das überzeugende
Beispiel, Integrität eben. Man mag trotzdem mit Erfolglosigkeit bezahlen,
aber da gilt dann das Herrenwort: »Was nutzt es dem Menschen, wenn er die
ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?«SEZESSION:
Es sind unter anderem wir Herausgeber der Sezession, denen du, Dieter, mangelnde
Distanz zum Begriff der »Neuen Rechten« vorwirfst. Ich verstehe nun
nicht, warum du dich aus Angst vor einer Instrumentalisierung durch die Begriffe
»Neue Rechte« und »rechts« indirekt doch sehr instrumentalisieren
läßt: Du verwirfst mögliche Selbstverortungen ohne Not und läßt
dich zu Einengungen des Meinbaren hinreißen.STEIN: Da haben wir
uns mißverstanden. Ich habe nicht behauptet, daß es mutig ist, den
Begriff einer »Neuen Rechten« für sich besetzen zu wollen. Ich
meine vielmehr, daß es sinnlos und verfehlt ist. Es sei denn, man identifiziert
sich mit politischen Positionen, die nach dominierendem Verständnis zu einer
»Neuen Rechten« passen. Da habt ihr automatisch Klärungsbedarf.
Ich sage, daß der Begriff unbrauchbar ist, und der Versuch, ihn im wohlverstandenen
Sinne besetzen zu wollen, in eine Sackgasse führt. Man kann das ja machen,
wenn man sich unbedingt verrennen will. Der von mir ebenfalls sehr geschätzte
Staatsrechtler Helmut Quaritsch stellte in seinem Buch »Positionen und Begriffe
Carl Schmitts« fest: »Im Kampf der Geister ist die Besetzung eines
Begriffs so wichtig wie im Kriege die Eroberung einer Festung.« Der Begriff
der »Neuen Rechten« ist eine solche Festung. Ihn »positiv«
besetzen zu wollen, gleicht der Schlacht um Verdun. Anders ausgedrückt: Ich
bin evangelischer Christ. Falls man 25 Jahre lang über mich behaupten sollte,
ich sei katholischer Sedisvakantist, werde ich mich auch dann nicht selbst so
bezeichnen. Auch nicht als katholisch. Apropos vakant: Für mich wird der
politisch-publizistische Standort »konservativ« in Deutschland durch
keine etablierte Partei oder ein Medium vertreten. Weder FAZ, Springer-Presse,
Rheinischer Merkur noch CDU oder CSU besetzen diesen Begriff offensiv oder wollen
ihn prägen. Wenn ihr es nicht sein wollt, gibt es keine konservative Theoriezeitschrift
oder ein wissenschaftliches Institut, das sich diesem Begriff verschreibt. Der
Begriff des Konservativen entfaltet einen prächtigen weltanschaulichen Kosmos,
der nicht für Homogenität, sondern Differenz steht. Der Begriff der
»Neuen Rechten« steht für eine geistige Engführung. Wer
zwingt euch eigentlich, eine solche kategorisch-ideologische Selbsteinordnung
vorzunehmen? Was ist damit gewonnen? Und: Weshalb habt ihr euch für den Begriff
entschieden, obwohl Alain de Benoist schon vor Jahren für seine Gruppe in
Frankreich die Einschätzung getroffen hat, daß es ein Fehler war, den
Begriff der »Nouvelle Droite« als Selbstbeschreibung angenommen zu
haben?WEISSMANN: Fangen wir von hinten an: Ich schätze de Benoist
als unabhängigen Kopf, aber seine Weltanschauung teile ich nicht: nicht seine
Aversion gegen das Christentum, nicht seinen Nominalismus, nicht seine Sympathie
für die Kulturkritik der Frankfurter Schule, um es kurz zu machen. Also sehe
ich auch keine Veranlassung, ihm in diesem Punkt zu folgen. Etwas verblüffend
finde ich natürlich, daß du, Dieter, die Positionen de Benoists als
derart maßgeblich betrachtest, aber nun ja. Dann noch einmal zum
Konservativen. Es ist eben nicht so, daß es keine Bemühungen gibt,
den Begriff zu besetzen. Von Wolfram Weimer bis zu Paul Nolte und Andreas Molau
finden sich entsprechende Versuche, nicht zu vergessen der Vorstoß der Unionsnachwuchselite
um Philipp Mißfelder. Die Attraktivität erklärt sich aus zwei
Motiven: erstens der Unverbindlichkeit dieser Art Konservatismus, dem ganzen Gerede
über »Werte«, das noch nie zu irgend etwas geführt hat,
und dann aus der Möglichkeit für diese »neuen Bürgerlichen«,
sich ganz konservativ auf Besitzstandswahrung zu konzentrieren. Da erkläre
ich allerdings entschieden meinen Dissens und möchte nicht verwechselt werden,
was auch immer freudig akzeptiert wird, wenn ich erkläre, daß ich nicht
nur konservativ bin, sondern rechts. Womit nun gar nicht bestritten sei, daß
ich mich unter den Denkfamilien der Neuen Rechten eben weder den Nationalisten
noch den Traditionalisten noch der Nouvelle Droite zurechne, sondern jener Überlieferung,
die von den »Neukonservativen« der Kaiserzeit über die Konservativ-Revolutionären
der Zwischenkriegsjahre bis zu den konservativen Einzelgängern der Nachkriegszeit
reicht, etwa Arnold Gehlen, Konrad Lorenz, Herbert Gruhl, Robert Spaemann, Gerd-Klaus
Kaltenbrunner und Armin Mohler, womit dann auch eine Abgrenzung vollzogen wäre
zu den »Gelegenheits-Konservativen«, nehmen wir als Beispiele Alexander
Gauland, Wolf Jobst Siedler, Jörg Schönbohm. Wir stehen also vor dem
Problem, daß es entweder gar keine Möglichkeit der Selbstbezeichnung
gibt, eine unscharfe konservativ oder eine trennscharfe rechts.
Und wenn wir schon martialisch werden: es geht um die Alternativen Kapitulation,
Kollaboration oder Guerilla. Da bin ich dann zugegebenermaßen für Guerilla
also den kleinen Krieg; dazu gehört Beweglichkeit, Deckung nutzen,
Angriffslust und selbstverständlich Provokation des Gegners. (Zitat-Ende).
Post-Demokratie. (2009)
Einleitung
Hans
Herbert von Arnim trifft die Feststellung: »In Wahrheit fehlt dem Grundgesetz
selbst die erforderliche demokratische Legitimation. Die sogenannte bundesdeutsche
Volkssouveränität ist ein ideologisch verbrämtes Traumgebilde.«
Arnim weist auf die systematische Fernhaltung des Souveräns der Demokratie
- des demos - von der Macht hin. Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit
kämen in dem Punkt zusammen, daß das Volk möglichst wenig Einfluß
haben sollte. Stattdessen übten die »Kartellparteien« als Quasi
Institutionen die Kontrolle über das Parlament, aber in den Spitzen über
alle Gewalten aus. Die öffentliche Meinung werde systematisch manipuliert,
die Presse korrumpiert. Es gebe weder die Möglichkeit, wichtige Ämter
durch Direktwahl zu besetzen, noch die Chance, Schicksalsfragen - wie etwa die
Ratifizierung der EU-Verfassung - durch eine Volksabstimmung zu klären.
(Ebd., 2009, S. 8-9).
Dafür
Schon seit dem Ende
des 18. Jahrhunderts verbreitete sich die Vorstellung, daß Demokratie so
etwas wie der notwendige Abschluß der Menschheitsentwicklung sei.
(Ebd., 2009, S. 12).Demokratie ... ist ... eine konkrete Ordnung,
die das Zusammenleben der vielen in einer politischen Einheit am besten verwirklicht,
weil jeder Einzelne als gleiches und freies Mitglied des Verbandes mit seinen
eigenen auch die Rechte der anderen schützt. Varianten solcher Demokratie
waren nicht nur in der Antike, sondern auch während des ganzen Mittelalters
und in der frühen Neuzeit Europas verbreitet. (Ebd., 2009, S. 12).Auf
den Punkt brachte Max Weber die Zielsetzung, wenn er 1917 schrieb, »daß
es eine politische Unmöglichkeit ist, die heimkehrenden Krieger im Wahlrecht
zurückzusetzen gegenüber denjenigen Schichten, welche inzwischen daheim
ihre soziale Stellung, ihren Besitz und ihre Kundschaft behaupten oder gar vermehren
konnten, während jene draußen für deren Erhaltung sich verbluteten.«
Selbstverständlich könne die herrschende Schicht die Durchsetzung des
allgemeinen Wahlrechts gewaltsam verhindern, aber das werde sich für den
Fall des Gelingens »furchtbar rächen. Nie wieder würde die Nation
so wie im August 1914 gegen irgendeine Bedrohung von außen zusammenstehen.«
(Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, 1917,
in: Politische Schriften, S. 224). (Ebd., 2009, S. 22).Weber
hat an der Vorstellung von der Demokratie als Mittel nationaler Integration ...
festgehalten und in einige seiner Empfehlungen für die Gestaltung der Reichsverfassung
von 1919 einfließen lassen. Vollständig befriedigend war das aber nicht,
zumal sich kaum bestreiten ließ, daß die Weimarer Demokratie durch
den Versailler Vertrag (das Diktat! HB) im Lichte
eines fremden Oktroi erschien. Den Vorstellungen vieler Sozialdemokraten (Paul
Lensch, Ernst Niekisch, August Winnig), Liberaler (Walther Rathenau, Ernst Troeltsch)
und Konservativer (Arthur Moeller van den Bruck, Max Hildebert Boehm) von einer
spezifisch »deutschen«, »nationalen« oder eben »organischen
Demokratie« entsprach die neue Ordnung jedenfalls nicht, und ihr Zusammenbruch
hatte auch damit zu tun, daß diese Demokratie von vielen Deutschen nicht
als ihre eigene betrachtet wurde. (Ebd., 2009, S. 22).Die
Ablehnung erklärt sich jedenfalls nicht aus einer Sehnsucht nach dem alten
Obrigkeitsstaat sondern aus einer Parole, die der Programmatik der »organischen
Demokratie« zu entsprechen schien. Hitler selbst hat in Mein Kampf ursprünglich
einer »germanischen Demokratie« das Wort geredet (**),
den Begriff allerdings nie klarer inhaltlich bestimmt. Immerhin pflegte er eine
deutliche Aversion gegenüber der Bezeichnung »Diktator« und meinte
gelegentlich, daß er ein besserer Demokrat sei als jene Politiker in den
Entente-Staaten, die nur von einer Minderheit ihres Volkes unterstützt wurden.
(Ebd., 2009, S. 22-23).
Ursprünglich
hieß es: »Die Bewegung vertritt im kleinsten wie im größten
den Grundsatz einer germanischen Demokratie: Wahl des Führers aber unbedingte
Autoritaät desselbe.« Ab 1930: »Die Bewegung vertritt im kleinsten
wie im größten den Grundsatz der unbeingten Führerautorität,
gepaart mit höchster Verantwortung.« Vgl. Hermann Hammer, Die deutschen
Ausgaben von Hitlers »Mein Kampf«, in: Vierteljahreshefte für
Zeitgeschichte, 4, 1956, S. 161-178, hier: S. 171. (Ebd.). |
Das
NS-Regime hat sich nie »demokratisch« genannt, aber sein demokratischer
Zug stand vielen Beobachtern klar vor Augen. 1938 notierte der britische Schriftsteller
Robert Byron nach dem Besuch des Nürnberger Reichsparteitages: »Gewiß
denkt man sich, das ist zweifellos Demokratie. Aber es ist eine Form der Demokratie,
die nicht den Menschen als vernunftbegabtes Wesen postuliert, der sich selbständig
sein Urteil bildet, sondern die emotionale Kreatur, die ihr Urteil dem Masseninstinkt
unterwirft ..., die Zeremonie ist bemerkenswert. Ihre Abläufe entspringen
einer demokratischen Ordnung, nicht einer tyrannischen - keine Kniefälle
und Verbeugungen, die Umgebung des Führers war durch allgemeine Zwanglosigkeit
gekennzeichnet. Auch sind die zeremoniellen Abläufe insofern völlig
neu, als sie die neusten technischen Errungenschaften unseres Zeitalters nutzen,
ja geradezu auf ihnen aufbauen - Scheinwerfer, LautsprecherÜbertragungen,
motorisierte Fahrzeuge. Und da diese Mittel ihre Funktion erfüllen, wirkt
nichts unecht. Ich habe nicht ein einziges Pferd gesehen. Liegt das daran, daß
der Führer nicht reitet?« (Zitiert nach: John Lukacs, Churchill
und Hitler, 1995, S. 85f.). (Ebd., 2009, S. 23-24).Was
Byron hervorhob - Modernität und Egalität - korrespondierte der Integration
der Massen durch charismatische Herrschaft, die Hitler in einzigartiger Weise
auszuüben verstand. Es gelang ihm, den »Volksgenossen« immer
wieder erfolgreich zu suggerieren, daß ihre Identität sich in ihm abbilde,
daß im Willen des »Führers« der Wille der »Geführten«
seinen adäquaten Ausdruck finde. Eine Vorstellung, die nicht zufällig
an Rousseaus Postulat der volonté generale - des »Gemeinwillens«
erinnert, der zu unterscheiden bleibt von der volonté de tous -
dem »Willen aller«, die, in sich zerspalten, zu keiner klaren Bestimmung
dessen kommen können, was der demos eigentlich wollen muß. Zwar
stellte sich Rousseau eine Verwirklichung seines demokratischen Ideals nur in
Kleinstaaten nach dem Muster der antiken Poleis oder der schweizerischen Kantone
vor, aber seine erfolgreichen Schüler hielten nichts von solchen Einschränkungen.
Die Jakobiner waren die ersten, die versuchten, im Zuge der französischen
Revolution eine Ordnung durchsetzten, die als demokratisch aufgefaßt
wurde, insofern sie egalitär war und grundsätzlich auf dem Mehrheitsprinzip
aufbaute und gleichzeitig jede Opposition für illegitim erklärte, weil
sie dem Gemeinwillen entgegenstand. (Ebd., 2009, S. 24-25).Der
innere Zusammenhang solcher Demokratie mit dem Terror hat auf die politische Linke
ausgesprochen begeisternd gewirkt und in erfolgreichen Revoiutionen (Rußland
1917) ebenso wie in fehlgeschlagenen (die Commune von 1870/71, die Herrschaft
der Anarchisten, Radikalsozialisten und Kommunisten in Spanien 1936-1939, die
Epuration von 1944/45, die Studentenrevolte von 1968) regelmäßig
»Wohlfahrtsausschüsse« hervorgebracht, die vorübergehend
tatsächlich das Volk oder doch die Volksmeinung hinter sich wußten.
(Ebd., 2009, S. 25).Von geordneten Abstimmungen, öffentlicher
Diskussion und regelmäßigem Machtwechsel war dabei selbstverständlich
keine Rede, trotzdem fällt es schwer, in den Systemen, die aus den Umwälzungen
hervorgingen, klassische Formen der Tyrannis, Militärdespotien oder gar Rückfälle
in den Absolutismus zu erkennen. Der Historiker Jakob Talmon hat deshalb vorgeschlagen,
von einer »totalitären Demokratie« zu sprechen. Ein Terminus,
der dem nicht einleuchten wird, der glaubt, daß Totalitarismus und Demokratie
natürliche Gegensätze seien. Talmon weist aber darauf hin, daß
nicht Totalitarismus und Demokratie, sondern Totalitarismus und Freiheit prinzipiell
unvereinbar sind: »Die moderne totalitäre Demokratie«, so seine
Argumentation, »ist eine Diktatur, die sich auf die Begeisterung der Volksmassen
stützt und somit völlig verschieden ist von der absoluten Gewalt, die
von einem König von Gottes Gnaden ausgeübt wird, oder von einem Tyrannen,
der die Macht an sich gerissen hat. Insoweit sie Diktatur ist, die auf Ideologie
und Massenbegeisterung basiert, ist sie ... das Ergebnis einer Synthese der Idee
des achtzehnten Jahrhunderts von der Natürlichen Ordnung und der rousseauschen
Idee von der Selbstentfaltung und Selbstbestimmung des Volkes.« (Jakob Leib
Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, 1961, S. 6)
(Ebd., 2009, S. 25-26).Als Totalitäre Demokratien kann
man vor allem das sowjetische und das nationalsozialistische System beschreiben,
aber auch viele Entwicklungsdiktaturen in den Staaten Lateinamerikas, Asiens und
Afrikas trugen oder tragen entsprechende Züge. Der Grund für die Attraktivität
des Konzepts liegt nicht nur in der ideologischen Verführbarkeit, sondern
auch in einem Problem, das mit dem Beginn des Massenzeitalters zunehmend stärker
wurde: Tatsächlich ist in einem Staat mit einer nach Millionen zählenden
Bevölkerung immer weniger erkennbar, wer eigentlich das Volk - der demos
- ist und wie dessen Herrschaft - die kratie - aussehen sollte. Die Liberale
Demokratie neigt dazu, das Problem durch Oligarchisierung auf der einen, Entpolitisierung
auf der anderen Seite zu lösen, die Organische Demokratie sieht sich
hilflos mit dem Schwund ihrer Voraussetzungen konfrontiert, während die Totalitäre
Demokratie über erhebliche Möglichkeiten verfügt, den Massen
durch Indoktrination ein Gefühl von Zusammengehörigkeit zu vermitteln.
Die Formen, in denen sich das russische Regime einer »geführten Demokratie«
seit den Zeiten Putins entwickelt, ist eine Art moderater Variante dieses Konzepts,
was man auch als Indiz für dessen Zukunftsfähigkeit betrachten kann.
(Ebd., 2009, S. 26-27).
Dagegen
Noch bevor die Ereignisse
(der französischen Revolution; HB)
eintraten, hatte Edmund Burke die französische Nation gemahnt, daß
die »vollkommene Demokratie« - »das schamloseste aller politischen
Ungeheuer« (Edmund Burke, Betrachtungen über die französische
Revolution, 1790, S. 189f.) - zwangsläufig dazu führen werde, die
bestehenden Freiheiten zu vernichten, den König zu töten, das Land zuerst
der Anarchie, dann dem Terror und schließlich der Diktatur eines Militärs
preiszugeben. (Ebd., 2009, S. 36).Eine prinzipielle Kritik
der Demokratie, verbunden mit Überlegungen, wie sie zu bändigen oder
rückgängig zu machen sei, fand angesichts dessen erst am Ende des 19.
Jahrhunderts wieder Gehör. Die Ursache lag in einer »Erwartungsenttäuschung«
(Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 1986, S. 19), die
nicht nur die Demokratie, sondern allgemeiner die Verheißungen der Aufklärung
betraf. Es zeigte sich, daß der »Fortschritt« nicht die vollständige
Humanisierung des Menschen brachte. Mehr noch, viele pessimistische Erwartungen
im Hinblick auf das Individuum wie das Kollektiv wurden durch den Gang der Dinge
bestätigt. (Ebd., 2009, S. 39).Das war in letzter Konsequenz
darauf zurückzuführen, daß sich die Behauptungen der Aufklärung
über die Natur und die Natur des Menschen als grundsätzlich falsch erwiesen
hatten. Das idyllische Bild jedenfalls, das Rousseau von den Menschen ausmalte,
die im Ursprung frei, gleich, gut, gesund und glücklich waren, entsprach
ganz offensichtlich nicht den Tatsachen. Dabei mußte man für die Einrede
gar nicht auf die biblische Lehre von der Sündhaftigkeit verweisen oder den
wölfischen Allgemeincharakter des Homo sapiens behaupten, sondern
konnte der Aufklärung und ihrer Bezugnahme auf die Wissenschaft des 18. Jahrhunderts
mit einer Gegen-Aufklärung und Bezugnahme auf die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts
antworten. (Ebd., 2009, S. 39-40).Dafür war vor
allem die Übertragung der Erkenntnisse Darwins von entscheidender Bedeutung.
Der »Sozialdarwinismus« behauptete jedenfalls mit großem Effekt,
daß die Prinzipien der »natürlichen Zuchtwahl« und der
biologischen »Höherentwicklung« auch geeignet seien, die Menschheitsgeschichte
und die Politik zu interpretieren. Nur vorübergehend ließ das die politische
Linke frohlocken, die glaubte, hier einen weiteren Beweis für den notwendigen
gesellschaftlichen Fortschritt und den Aufstieg der Arbeiterklasse gefunden zu
haben. Sehr schnell wurde nämlich klar, daß die Übertragung darwinistischer
Prinzipien in erster Linie die Position derjenigen stärkte, die von einer
prinzipiellen Verschiedenartigkeit der Menschen beziehungsweise Menschengruppen
ausgingen. (Ebd., 2009, S. 40).Otto Ammon, einer der einflußreichsten
Befürworter der »Social-Anthropologie« in Deutschland, erklärte
denn auch, daß das demokratische Prinzip absurd sei: das »Wesen der
Gesellschaftsordnung« bestehe eben darin, »daß die Massen der
mittelmäßig und schwach Begabten durch die hervorragenderen Köpfe
geleitet werden. So war es, so ist es und so wird es bleiben, so lange es eine
Gesellschaft giebt. .... Auf der Ungleichheit beruht die Gesellschaftsordnung,
und die Ungleichheit ist nicht etwas, das abgeschafft werden könnte, sondern
sie ist vom Menschengeschlecht unzertrennlich wie Geburt und Tod. Sie ist unabänderlich
wie die mathematischen Wahrheiten, und ewig wie die Gesetze, die den Gang unseres
Planetensystems regeln.« (Otto Ammon, Die Gesellschaftsordnung und ihre
natürlichen Grundlagen, 1884, S. 255f.). (Ebd., 2009, S. 40-41).Der
Darwinismus war an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sicher das einflußreichste
wissenschaftliche Paradigma, mit Ausstrahlung auf alle möglichen Bereiche
des gesellschaftlichen Lebens, bis hin zu Religion, Literatur und Bildender Kunst.
Eine gewisse darwinistische Gestimmtheit beeinflußte Nietzsches Ekel an
der Demokratie ebenso wie die Schriften seiner zahlreichen Adepten, die Vorschläge
der Massenpsychologie zur Bändigung der Gesellschaft genauso wie die Ideen
der bekennenden Militaristen, sie wirkte aber auch da noch nach, wo man eine naive
Übernahme des Darwinismus in die Gesellschaftswissenschaften ablehnte, jedoch
zu einem rücksichtslosen Realismus bei der Betrachtung der sozialen Wirklichkeit
neigte. (Ebd., 2009, S. 41).Ein typisches Beispiel für
diese Haltung war Robert Michels, der ausgerechnet bei einer Untersuchung der
SPD - der demokratischen Organisation des Kaiserreichs - zu der Erkenntnis kam,
daß die Masse als solche durch »inhärente Ohnmacht« (Robert
Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, 1911,
S. 52) und die direkte Demokratie durch »Impotenz« (ebd., S. 29) gekennzeichnet
sei; die vielen bedürften in jedem Fall der Führung durch eine Elite,
und alle Beschwörungen des Gleichheitsprinzips könnten nicht darüber
hinwegtäuschen, daß eine linke Partei wie jede Form menschlicher Vergemeinschaftung
dem »ehernen Gesetz der Oligarchie« (ebd., S. 342) unterliege, das
heißt notwendig zur Ausbildung einer Hierarchie tendiere und demokratisch
jedenfalls nicht im Wortsinn sein könne. (Ebd., 2009, S. 41-42).Michels
gab seine eigenen sozialistischen Vorstellungen erst mit Verzögerung auf,
wandte sich aber später dem Faschismus zu und folgte damit einem ähnlichen
Weg wie der Sozialist Benito Mussolini. Für Hitler wird man nicht dasselbe
sagen können, aber auch in seinem Fall ist unübersehbar, daß Enttäuschung
eine Rolle spielte und die liberal-deutschnationalen Vorstellungen seines Elternhauses
spätestens an Überzeugungskraft verloren, als er in Wien die Funktionsuntüchtigkeit
des österreichischen Reichsrats mit eigenen Augen sah. (Ebd., 2009,
S. 42).War der Seitenwechsel von links nach rechts für den,
der vom Demokraten zum Antidemokraten wurde, naheliegend, so bleibt doch darauf
hinzuweisen, daß es auch einen Teil der Linken gab, der den Glauben an die
Demokratie aufgab, ohne deshalb politisch zu konvertieren. Angelegt war diese
Möglichkeit schon in dem argumentativen Taschenspielertrick, den Marx und
Engels anwandten, um die Diktatur des Proletariats als »Demokratie«
erscheinen zu lassen, einen Führungsanspruch gegenüber der Gesamtlinken
zu erheben, die sich im 19. Jahrhundert als unbedingt »demokratisch«
betrachtete, und intern über das »ganze demokratische hiesige Geschmeiß«,
»demokratische Gesindel« und »demokratische Lumpenpack«
herzuziehen, das in seiner »demokratischen Pißjauche« liege,
ohne einen Funken politischer Einsicht. (Ebd., 2009, S. 42-43).Zu
nennen sind in diesem Zusammenhang aber vor allem die russischen Schüler
von Marx. Unter dem Einfluß Lenins trennten sich die radikalen Bolschewiki
von den gemäßigten Sozialdemokraten des Zarenreiches und erklärten,
daß - entgegen der Lehre von Marx - das Proletariat als solches unfähig
sei, eine Revolution herbeizuführen. Die Erfahrungen in den entwickelten
Industrieländern hatten gezeigt, daß es der Masse der Arbeiter im wesentlichen
um konkrete Verbesserungen ihrer Lebensverhältnisse und parlamentarische
Mitsprache ging, aber nicht um eine vollständige Umwälzung der bestehenden
Verhältnisse. Das brachte Lenin zu der Ansicht, daß es einer »Kaderpartei«
von Berufsrevolutionären bedürfe, die das Proletariat führen und
dann in dessen Namen eine »Diktatur« errichten sollten. In der leninistischen
Doktrin war diese Diktatur aber nichts anderes als vollendete Demokratie, da die
Partei per se das Gesetz der Geschichte beziehungsweise den Gemeinwillen
der Arbeiterklasse vollstreckt. (Ebd., 2009, S. 43-44).Diese
Behauptung hat auf Außenstehende so wenig überzeugend gewirkt wie die,
daß es sich bei den Unterdrückungsmaßnahmen des kommunistischen
Systems um eine geschichtliche Übergangsphase handele, an deren Ende nicht
nur das Paradies auf Erden, sondern auch die Abschaffung des Staates und damit
die vollendete Demokratie stehen würden. Solche und ähnliche Ideen einer
»Erziehungsdiktatur« haben samt Verschiebung der »wahren«
Demokratie auf ein Zukunftsreich aber erheblichen Einfluß auf die Linke
behalten. Eine konsequente antidemokratische Haltung war dagegen nur schwer begründbar;
dem standen die egalitären Grundannahmen der eigenen Ideologie im Wege. Eine
Ausnahme bildete nur der deutsche Philosoph Leonard Nelson, der einen ethischen,
an Kant orientierten Sozialismus vertrat und die Demokratie für grundsätzlich
ungeeignet hielt, um eine gerechte Gesellschaft aufzubauen und die notwendige
Elitenauswahl zu bewerkstelligen. (Ebd., 2009, S. 44-45).1920
veröffentlichte er die später in mehreren Auflagen erschienene Schrift
Demokratie und Führerschaft, in der es unter anderem hieß: »...
wir müssen uns fragen, ob der Führer, der in der Demokratie die Masse
lenkt, der berufene Führer ist, oder ob wenigstens eine Wahrscheinlichkeit
besteht dafür, daß der berufene Führer in der Demokratie wirklich
zur Führung gelangen wird. In der Tat haben wir nicht nur keinen Grund, sein
Emporkommen für wahrscheinlich zu halten, sondern wir haben allen Grund,
das Gegenteil für wahrscheinlich zu halten.« (Leonard Nelson, Demokratie
und Führerschaft, 1920, S. 16). Gerade die moderne Gesellschaft erleichtere
den Aufstieg von Demagogen mit Hilfe von Presse und Propaganda, und ihre Demokratie
unterscheide sich sogar negativ von der Autokratie, da sie die Macht der wahrhaft
Mächtigen verschleiere, so »daß die Unterdrücker nicht die
verantwortung vor der Masse übernehmen und daher auch nicht die Folgen zu
tragen haben«. (Ebd., S. 160). (Ebd., 2009, S.45).Nelson
starb zwar schon 1927, aber Mitglieder des von ihm gegründeten »Internationalen
Sozialistischen Kampfbundes« (ISK) - der strikt von oben nach unten organisiert
war - konnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erheblichen Einfluß auf
die SPD und deren Programmatik gewinnen. Dabei trat die Demokratiekritik Nelsons
zwar ganz in den Hintergrund, aber die Vorstellung von der notwendigen Überwindung
des Marxismus spielte für die Formulierung des »Godesberger Programms«
eine wichtige Rolle. (Ebd., 2009, S. 45-46).Der Hinweis auf
Nelson muß genügen, um die landläufige Vorstellung zu widerlegen,
daß man antidemokratische Anschauungen grundsätzlich der politischen
Rechten zuzuweisen habe. Es ist aber auch sonst breit belegbar, daß die
Linke der Zwischenkriegszeit - und keineswegs nur die kommunistische - zumindest
den bürgerlichen Republiken mit ihren liberal-demokratischen Verfassungen
ein erhebliches Maß an Feindseligkeit entgegenbrachte. Davon ist nach 1945
mehr geblieben als auf der Gegenseite, was sich auch aus der Diskreditierung der
Rechten und dem Sieg einer »antifaschistischen« Koalition erklärt,
die den Begriff »Demokratie« über lange Zeit polemisch verwendete,
zur Kennzeichnung der eigenen Seite und zur Abgrenzung gegenüber dem Feind.
(Ebd., 2009, S. 46).Und als im Gefolge von '68 die Demokratieverachtung
wieder sacht in Mode kam, sich neokommunistische Gruppen aller möglichen
Observanzen bildeten und die Forderung nach »Demokratisierung« nichts
anderes war, als der Versuch, wohlorganisierten Minderheiten unverhältnismäßigen
Einfluß zu verschaffen, da notierte Max Horkheimer, einst Schulhaupt der
»Neuen Linken«, wie schon die Philosophen der Antike: »Je demokratischer
eine Demokratie, desto gewisser negiert sie sich selbst, ... Demokratie heißt
die Staatsform nach dem Willen des Volkes, jedoch, soweit es so etwas gibt, hat
er mit Vernunft wenig zu tun, er neigt weit mehr zur Gefolgschaft als zur Autonomie,
von den politischen Mechanismen, Wahltaktik und Manipulation ganz abgesehen. Wer
immer die Demokratie bejaht, mißtraue ihr. Wie die Freiheit der Menschen,
zu der sie gehört, war sie seit je ihr eigener Feind.« (Max Horkheimer,
Notizen 1950 bis 1969, a.a.O., S. 211). (Ebd., 2009, S. 47).
Danach
Die Behauptung Tocquevilles,
daß seit dem 19. Jahrhundert die Demokratie nicht mehr nur eine denkbare
Alternative unter den verschiedenen Verfassungsformen sei, sondern ein demokratisches
Zeitalter begonnen habe, konnte von den Anhängern der Demokratie als Bestätigung
ihrer eigenen Annahmen gewertet werden, aber sie konnte auch den Skeptikern oder
Gegnern in die Hände spielen, wenn die behaupteten, daß diese Epoche
wie jede frühere ein Ende haben und durch eine andere, eben die nachdemokratische,
abgelöst werde. (Ebd., 2009, S. 48).Michels hatte schon
1911 in seiner Soziologie des Parteiwesens festgestellt, »... daß
die Demokratie als Bewegung wie als Gedankenwelt heute im Zeichen einer Krisis
steht, aus der sie nicht heil hervorgehen kann. Sie ist auf Hemmungen, auf Barrieren,
nicht vor sich, sondern in sich gestoßen, die zu überwinden ihr nur
bis zu einem gewissen Grad möglich sein dürfte.« (Robert Michels,
Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, 1911, S. XX).
Und zwei Jahre später kam Gustave Le Bon - wenn auch aus anderen Gründen
- zu einem ähnlichen Schluß. In seinem Buch La revolution française
et la psychologie des revolutions stellte er fest, daß sich im Mutterland
der Revolution die ursprüngliche Kraft der »demokratischen Glaubensformen«
erschöpft habe. Unter Demokratie verstehe die Politische Klasse ein
System, das ihr nütze und wie jedes andere auf Absprachen, Seilschaften und
Bürokratie beruhe, die Intelligenz hänge theoretisch längst widerlegten
Vorstellungen über die natürliche Güte des Menschen an, während
sie sich in der Praxis eine Vormundschaft über die unaufgeklärte Menge
anmaße, und diese selbst - der demos - habe tatsächlich eine
demokratische »Mentalität« entwickelt, insofern, als sie keine
Ungleichheit mehr dulde, aber die genüge natürlich nicht, um eine Demokratie
im Wortsinn zu begründen. Nach allen Erfahrung der Geschichte stehe der Umschlag
in die Despotie unmittelbar bevor. (Ebd., 2009, S. 48-49).Der
Faschismus hat sich in mancher Hinsicht als Erfüllung solcher und ähnlicher
Prophetien der Post-Demokratie betrachtet. Allerdings war sein theoretisches Interesse
nicht besonders ausgeprägt. Deshalb trat der geschichtsphilosophische Anspruch
auf das Erbe der Demokratie deutlicher hervor im Rahmen jener Bewegungen, die
sich in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts bildeten,
und die den Umbau der Industriegesellschaften Europas und Nordamerikas im Sinne
einer »Synarchie«, eines »Planismus«, einer »Technokratie«
oder eines »Regimes der Manager« forderten. (Ebd., 2009, S.
49-50).In den USA, wo die Technokratie zeitweise zu einer Massenbewegung
wurde, war der Anstoß von den Fehlleistungen der Kriegswirtschaft ausgegangen,
und durch die Entwicklung der Fließbandarbeit oder die Konzernbildung erhielt
sie ebenso Auftrieb wie durch die Folgen der großen Depression. Die Technokraten
forderten die Bildung eines nationalen Lenkungsstabes für die Wirtschaft,
um sie privatkapitalistischen Interessen zu entziehen, das Preissystem zu kontrollieren,
die Produktion effektiver zu gestalten und ganz in den Dienst der Bevölkerung
zu stellen. Sie waren fest davon überzeugt, mit einer solchen Reorganisation
den wirtschaftlichen und sozialen Erfordernissen des 20. Jahrhunderts zu entsprechen,
da die Entwicklung der Technik die Menge des durch die Politik Entscheidbaren
bis auf einen Rest reduziert habe. Die Lehren vom freien Markt und der rücksichtslosen
Entfaltung des Individuums seien illusionär und schädlich. Längst
würden die Menschen durch den Zwang, die industrielle Produktion aufrechtzuerhalten,
einer objektiven Ordnung eingefügt, in der nicht Weltanschauungen und Parteimeinungen
den Ausschlag geben könnten, sondern nur die sachlich fundierten Urteile
der Experten. (Ebd., 2009, S. 50-51).Es gab Sympathisanten
solcher Ideen sowohl auf der Linken wie auf der Rechten, aber nur in den USA entstand
ein ideologisch geschlossenes Konzept von Technocracy, was schließlich
sogar zur Gründung einer »Technokratischen Partei« führte.
Damit war allerdings der Abstieg ins Sektiererische programmiert, was einen Grund
auch darin hatte, daß das Verhältnis der Technokratie zur Politik im
allgemeinen und zur Demokratie im besonderen ein Nicht-Verhältnis war: Ihre
Protagonisten erwarteten im Grunde, daß man ihnen die Macht aus Einsicht
in das Unvermeidliche freiwillig übergeben werde. (Ebd., 2009, S. 51).Die
Technokratie bekämpfte die Demokratie deshalb nicht offen, sondern hielt
sie mit ihren Debatten, Richtungsstreitigkeiten, der Wahlpropaganda und den Ritualen
des Parlamentarismus für ein Relikt des bürgerlichen Zeitalters. Mochten
sich die Politiker der Täuschung hingeben, die Schalthebel der Macht zu bedienen,
tatsächlich lag die eigentliche Gewalt längst nicht mehr in ihren Händen.
Kennzeichnend war deshalb der gegen die Bewegung erhobene Vorwurf, sie strebe
eine »Diktatur der Techniker« an, und der Vorschlag des Soziologen
Thorstein Veblen, einen »Sowjet der Ingenieure« zu schaffen, nährte
entsprechende Befürchtungen, während der Verweis, es gehe einzig um
»eine wissenschaftliche Methode zur Schaffung eines Mechanismus größter
kontinentaler Ordnung« zum Zweck der Verteidigung ungeeignet, da nichtssagend
war. (Ebd., 2009, S. 51-52).Die Technokratische Bewegung
scheiterte, aber ihre Ideen blieben auch nach dem Zweiten Weltkrieg Diskussionsthema.
Bis in die 1960er Jahre hinein gab es einflußreiche Autoren, die sich offen
für eine technokratische Ordnung aussprachen oder deren Aufkommen doch als
unvermeidlich betrachteten. Für die erste Gruppe kann man James Burnham als
repräsentativ ansehen, der schon 1941 sein Buch The Managerial Revolution
herausbrachte und darin eine universale Tendenz zum technischen Staat behauptete,
die alle ideologischen Differenzen überwinden werde; für die zweite
Tendenz mag die Schrift des Juristen Ernst Forsthoff Der Staat in der Industriegesellschaft
stehen. Forsthoff war wie sein Lehrer Carl Schmitt der Meinung, daß die
Epoche der Staatlichkeit beendet sei, was aber nicht zu Anarchie und Chaos führen
müsse. Die technische Entwicklung erzwinge die Disziplinierung der Massen
und leiste kompensatorisch, was die politische Ordnung nicht mehr zu leisten vermöge:
»Der harte Kern des heutigen sozialen Ganzen ist nicht mehr der Staat, sondern
die Industriegesellschaft, und dieser harte Kern ist durch die Stichworte Vollbeschäftigung
und Steigerung des Sozialprodukts bezeichnet. Vor diesen Stichworten werden Klassengegensätze
und das ganze aus der sozialen Realisation entnommene Vokabular gegenstandslos.«
(Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 164).
(Ebd., 2009, S. 52-53).Forsthoff entsprach wie andere, ihm nahestehende
Autoren (Arnold Gehlen, Helmut Schelsky, Karl Steinbuch) ganz dem Feindbild des
»technokratischen Konservativen«, das die Neue Linke entwarf
und mit dem Vorwurf verknüpfte, hier würde im Namen »instrumenteller
Vernunft« jede inhaltliche - soziale oder ethische - Bindung des Staates
aufgehoben zu Gunsten eines reinen Funktionierens, das nur im Interesse der Machthaber
liegen könne oder sogar einem neuen »Faschismus« vorarbeite.
(Ebd., 2009, S. 53).Es hatte diese Kritik trotz ihrer Durchschlagskraft
immer einen anachronistischen Zug, denn die großen Projekte zur Reorganisation
der Wirtschaft oder zur Schaffung supranationaler Ordnungen (vor allem die Europäische
Gemeinschaft für Kohle und Stahl samt ihren Nachfolgern) beruhten auf
technokratischen Konzepten, deren Erfolge schwer bestreitbar waren. Allerdings
rief die behauptete Zwangsläufigkeit des Prozesses verbreitet Unbehagen hervor,
und das, obwohl die Diagnosen und Entwürfe der Technokraten deutlich abgeschwächt
schienen im Vergleich zu dem, was in der ersten Phase der Technokratischen
Bewegung gedacht und geplant worden war. (Ebd., 2009, S. 53-54).Das
kann so allgemein formuliert werden, wenn man eine Ausnahme nennt: das Konzept
Alexandre Kojèves. Dieser Philosoph, der seinen Lebensunterhalt als hoher
Verwaltungsbeamter verdiente, trat zwar mit seinen Vorstellungen nicht offen hervor.
hat durch seine Ideen aber eine erhebliche. subkutane Wirkung ausgeübt. In
der Nachfolge Hegels glaubte Kojève an ein »Ende der Geschichte«
(**|**)
das heißt das Überraschungslos-Werden der Zukunft. die keine großen
Aktionen wie militärische Eroberungen und Revolutionen mehr kennen werde.
In einer Denkschrift, die er unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
erstellte, legte Kojève dar, daß man die historische Bedeutung der
Niederlage Hitlers darin zu erkennen habe, daß das Zeitalter der Nationalismen
vorbei sei. Die Zukunft gehöre den Imperien, das heißt wirtschaftlich
autarken, durch die Mittel der ökonomischen Planung und Preiskontrolle im
Inneren pazifizierten Reichen. Demokratie war dabei nur ein formales Prinzip,
das kaum besondere Beachtung verdiente. Aufschlußreich ist jedenfalls das
Wohlwollen Kojèves gegenüber der Sowjetunion, die am stärksten
seinem Entwurf eines Imperiums entsprach; für ihn war Stalin das, was für
Hegel Napoleon war, und seine Selbstbezeichnung als »einziger echter Stalinist«
ist erhellend genug; der Annahme, daß er außerdem als KGB-Agent arbeitete,
bedarf es kaum. (Ebd., 2009, S. 54-55).Jacob Taubes
hat darauf hingewiesen, daß Kojève mit seiner Vorstellung vom Ende
der Geschichte, dem Beginn einer »Post-Geschichte« in einer »Post-Moderne«,
zuletzt »tiefer in die Speichen der Gegenwart« faßte, »als
man auf den ersten Blick begreift«. Tatsächlich hat sich seine untergründige
Wirkung weit über seinen Tod im Jahr 1968 fortgesetzt und nicht nur Rancieres
Begriffsbildung »Post-Demokratie« inspiriert, sondern auch die These
Francis Fukuyamas vom »Ende der Geschichte« hervorgebracht (**).
Fukuyamas Entwurf bezog seine Plausibilität aber vor allem aus der Situation
nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems und der Erwartung, es werde
eine Welt entstehen, in der es zu Demokratie und Marktwrtschaft keine glaubwürdige
Alternative mehr gebe. (Ebd., 2009, S. 55-56).Diese Erwartung
hat indes sehr rasch Widerspruch herausgefordert und die Frage provoziert, ob
sich die »feindlose Demokratie« aus eigener Kraft - ohne stabilisierte
Identität durch die Gegnerschaft eines antidemokratischen Systems - behaupten
könne. Pascal Bruckner sprach schon 1990 von »demokratischen Melancholie«:
»Wir sind
in eine Epoche der demokratischen Melancholie eingetreten,
denn in unser Gefühl des Triumphes mischt sich der Verdacht, etwas verloren
zu haben: den Antrieb, uns und anderen die Demokratie zu wünschen, denn künftig
wird sie nur von wenigen angefochten. Mit anderen Worten, da niemand dagegen ist,
fehlt uns fast gänzlich die Kraft, dafür zu sein. Zwar haben wir das
unbestimmte Gefühl, die ganze Arbeit liege noch vor uns, doch sind wir willenlos,
da uns kein Gegner motiviert. Die großen Schlachten sind geschlagen, doch
ist unsere Vollkommenheit dem Tode nahe.« (Pascal Bruckner, Die demokratische
Melancholie, 1990, S. 177). (Ebd., 2009, S. 56).Bruckner
gehörte zu jenem Teil der Linken, der früh erkannte, daß nach
dem Ende der Blockkonfrontation Globalisierung und Neoliberalismus Rahmenbedingungen
schufen, die mit den üblichen Methoden politischer Kontrolle nicht zu bändigen
waren, daß der Bedeutungsverlust der Nationalstaaten und der Bedeutungszuwachs
internationaler Konzerne zur Entstehung von Machtballungen neuer Qualität
führte, die jenseits des bekannten Rahmens lagen. Wenn man es bei Bruckner
zum Teil mit dem sattsam bekannten antikapitalistischen Affekt zu tun hat, so
wird man dieser Kritik doch ein gewisses Maß an Hellsichtigkeit nicht abstreiten
können. Das ist in bezug auf die vorgeschlagenen Alternativen aber nicht
zu behaupten. Denn der Gedanke, dem Problem sei durch eine weitergehende Demokratisierung
zu begegnen, verkannte die prinzipiellen Schwierigkeiten. (Ebd., 2009, S.
56-57).Deutlich nüchterner fiel die Analyse von Jean Marie
Guéhenno aus, der ... Anfang der 1990er Jahre die Auffassung vertrat, daß
nicht das »Ende der Geschichte« und die finale Durchsetzung von Freiheit
und Kapitalismus bevorstünden, sondern das »Ende der Demokratie«.
Wir befänden uns so Guéhenno in einer Phase des Übergangs,
weg von der Epoche der Nationalstaaten, hin zu neuen imperialen Bildungen, weg
von der europäischen Tradition, hin zu »asiatischen« Verhältnissen.
Das Zukunftsszenario blieb in vielem diffus, auf Andeutungen beschränkt,
zeichnete sich aber doch durch die Vorstellung aus, daß für die Bewältigung
der Krise kein Rückgriff auf die Vergangenheit möglich sei. Weder lasse
sich der alte Glaube restaurieren, noch die alte Politik. Die Geschichte biete
keine Modelle, nur noch schwache Analogien. Guéhenno meinte jedenfalls,
daß die Alternative zur Demokratie nicht zwangsläufig Diktatur und
Terror bedeute, sondern im besten Fall eine Reichsbildung wie in der Zeit des
humanitären Kaisertums: »Das neue imperiale Zeitalter sollte am ehesten
dem Römischen Reich Hadrians und Mark Aurels gleichen: Es dürfte keinen
Anspruch auf überirdische Größe erheben und sich auch nicht göttliche
Befugnis zur Erfüllung irdischer Bedürfnisse aneignen wollen. Es müßte
sich damit begnügen, lediglich eine Funktionsweise zu sein, und diese Erkenntnis
akzeptieren.« (Jean Marie Guéhenno, Das Ende der Demokratie,
1993, S. 177). (Ebd., 2009, S. 57-58).Reduziert man das
Gesagte auf seinen Kern, also die Legitimation der nachdemokratischen Ordnung
durch Funktionstüchtigkeit, trifft man auf einen Vorstellungszusammenhang,
der heute vielen akzeptabel erscheint. So schrieb Josef Joffe, Mitherausgeber
der Zeit, in bezug auf die Europäische Union: »Die EU ist ein
freiheitliches, freundliches und fürsorgliches Gebilde, aber eine Demokratie
im klassischen Sinne? Nennen wir es eine Geschäftsführer-,
oder Ostdemokratie, in der der Bürger das Herrschen den Räten
und Kommissionen überläßt. Und zwar freiwillig.« (Josef
Joffe, Von wegen Alte Welt!, in: Die Zeit, 22.03.2007). Das ist mit
Wohlwollen gemeint, ein Plädoyer für eine sanfte Erziehungsdiktatur
und jedenfalls verknüpft mit dem Drohbild des Volkes als »großem
Lümmel«, der schon der Einführung des Euro seine Zustimmung verweigert
hätte und insofern disqualifiziert ist, weil er dem »Fortschritt«
im Wege steht. (Ebd., 2009, S. 58-59).Faktisch wird hier
ein neues Kriterium für die Beurteilung politischer Ordnungen festgelegt,
das sich nicht mehr an irgendwelchen wolkigen »Werten« ausrichtet,
sondern an härteren, wirklichkeits- und das heißt heute wirtschaftsnäheren
Maßstäben. Es geht um Output-Orientierung oder um Klärung der
Frage »Sind Demokratien ineffizient?« (Reinhard Meyer, Sind
Demokratien ineffizient?, in: Neu Zürcher Zeitung, 21.06.2008 ).
Die scheint manchem deshalb drängend, weil »Halbdemokratien«
(Rußland, Indien) oder offen autoritäre Systeme (China) gegenüber
den Demokratien des Westens deutlich aufholen. Deren Wirtschaftswachstum ist ungleich
stärker, deren Möglichkeit, rasch auf neue Entwicklungen zu reagieren,
besser entwickelt, jedenfalls nicht behindert durch langwierige Abstimmungsvorgänge
oder die Suche nach Kompromissen. (Ebd., 2009, S. 59-60).Besonders
nachdrücklich wird eine solche Position durch Fareed Zakaria vertreten, den
Chefredakteur von Newsweek International, und einen der einflußreichsten
politischen Journalisten der USA. Zakaria hat ein Buch veröffentlicht, das
mit dem deutschen Titel Das Ende der Freiheit? Wieviel Demokratie verträgt
die Welt? erschien und zu den einflußreichsten politischen Essays der
letzten Jahre gehörte, in siebzehn Sprachen übersetzt wurde und eine
Art Generallinie für die Argumentation gegen die Demokratie enthält:
die, so Zakaria, ist zu träge, schwächt die Institutionen, verabsolutiert
das Mehrheitsprinzip und droht qualifizierte Minderheiten zu unterdrücken.
Historisch gesehen, habe sich die ältere Demokratie nur in Kleinstaaten bewährt
und sei nach kurzem in Chaos oder Diktatur umgeschlagen; auch nach ihrem ersten
Siegeszug im Gefolge des Triumphs der Entente von 1918 erwies sie sich
als instabil, in Zukunft könnten ähnliche Belastungsproben bevorstehen,
und es scheine fraglich, ob sie die Prüfung nun besser bestehe, und schließlich:
»Beim gegenwärtigen Trend steuert die Demokratie geradewegs auf eine
Legitimitätskrise zu, die ihr womöglich den Boden entzieht.« (Fareed
Zakaria, Das Ende der Freiheit?, 2005, S. 246). (Ebd., 2009,
S.60-61).Die Argumentation Zakarias ist nicht neu, aber längere
Zeit zurückgetreten. Er will keine Anknüpfung an die klassische Demokratiekritik,
eher greift er auf Vorstellungen zurück, wie sie in der Nachkriegszeit Liberale
genauso wie Technokraten und einige »Neokonservative« vorgetragen
hatten, die alle an der Fähigkeit der Demokratie zweifelten, einen modernen
Industriestaat zu steuern oder im Ernstfall zu bestehen. Wenn solche Thesen jetzt
wieder ins Feld geführt werden, ist das kein Zufall und keine Nostalgie.
Zakaria hat seine Thesen zuerst 1997 in einem Artikel für Foreign Affairs
entwickelt, jener Zeitschrift, von der alle großen Weltanschauungsdebatten
der letzten beiden Jahrzehnte um das »Ende der Geschichte«
(Francis Fukuyama) wie den »Kampf der Kulturen« (Samuel Huntington)
angestoßen wurden, und auch die Veröffentlichung seines neuesten
Buches The Post-American World hat er mit dem Abdruck einer Art Zusammenfassung
in Foreign Affairs vorbereitet. Er stärkt darin die Position jener
»Zentristen«, die weder der Linie der Bush-Regierung folgen, noch
einen linken oder rechten Isolationismus vertreten. Obwohl ein relativer Machtverlust
der USA unausweichlich sei und der Aufstieg von Konkurrenten wie China, Indien,
Rußland, Brasilien bevorstehe, glaubt Zakaria, daß die Vereinigten
Staaten auch im 21. Jahrhundert die Weltpolitik beherrschen. Um diese Aufgabe
bewältigen zu können, sei es aber entscheidend, die Illusionen einer
bewaffneten Ausbreitung des demokratischen Systems aufzugeben. Dabei stehen ihm
nicht nur die militärischen Fehlschläge Washingtons vor Augen, sondern
auch die unkalkulierbaren Konsequenzen bei erfolgter Demokratisierung, die etwa
in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und allgemein in islamischen Ländern
zur Stärkung us-amerikakritischer oder us-amerikafeindlicher Kräfte
geführt hätten. In diesen Fällen sieht Zakaria die Demokratie als
»delegitimiert« an, weil sie als »unfreie Demokratie«
(ebd., S. 85) den prowestlichen Tendenzen entgegenstehe. Damit wird das Problem
der Legitimität verschoben. Demokratie im Sinne von Zakaria ist nur die gezähmte
oder »liberale Demokratie«, in der die Folgen einer Wahl möglichst
minimiert werden und ein durchdachtes System den Bürgerwillen so kanalisiert,
daß er sich nicht schädlich auswirken kann, sondern der Bestätigung
der Politischen Klasse, ihres Führungsanspruchs, ihrer wirtschaftlichen
und sozialen Macht, dient. Das ist nicht zynisch gemeint, denn die Elite nutzt
ihre Macht, wenn nicht direkt, dann doch indirekt, zugunsten des Gemeinwesens.
Was wiederum erklärt, warum Zakaria ein Bündnis zwischen liberaler Demokratie
und jenem »neuen Nationalismus« für denkbar hält, den er
als die bestimmende Kraft im System globaler Konkurrenz betrachtet. Dieser Nationalismus
ist weniger ausgearbeitete Ideologie als Konsequenz einer Lage, in der es um das
Formieren politischer, militärischer, diplomatischer und ökonomischer
Kräfte geht. (Ebd., 2009, S. 61-63).Zakaria urteilt
dabei ganz nüchtern, daß es verschiedene Möglichkeiten gibt, um
deren Effizienz zu steigern: Man kann sich autoritärer, illiberaler, aber
auch liberaler Verfassungen bedienen. Im us-amerikanischen Fall sei die Verknüpfung
mit der liberalen Demokratie empfehlenswert, weil das die Integration jener Einwanderer
ermögliche, die der größten Volkswirtschaft der Welt ihren Vorsprung
erhalten, indem die USA die besten Köpfe aus allen Regionen anziehen und
zügig us-amerikanisieren. Damit lasse sich eine Synergie bewirken, für
die es kein Vorbild gebe. Die Vereinigten Staaten könnten den Fehler älterer
Imperien vermeiden, die aus der Trennung von Reichsvolk und Unterworfenen entstanden.
Das mache sie fähig, den globalen Wettbewerb zu gewinnen: US-Amerika habe
die wirtschaftliche Globalisierung erfunden, indem es nach zwei Weltkriegen und
dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Öffnung aller Märkte erzwang,
und nun schließt es diesen Prozeß ab durch eine Art innerer Globalisierung.
(Ebd., 2009, S. 63-64).An der Konzeption Zakarias besticht vor
allem die Unvoreingenommenheit. Er ist kein Anhänger der manifset destiny
und kein naiver Befürworter eines Multikulturalismus. Wenn er an einer Stelle
seines Textes auf Singapur als Musterbeispiel einer »meritokratischen«
- also einer auf Verdienst beruhenden - Ordnung zu sprechen kommt, enthüllt
er wohl den Kern seiner Anschauung: die Vorstellung, daß im kommenden Zeitalter
bei verschärfter Konkurrenz nur diejenigen bestehen, die alle Kräfte
nutzen, die ihnen zur Verfügung stehen. Sein Abschied von der Demokratie
als Idee der Volksherrschaft ist ohne Ressentiment und frei von der Vorstellung,
eine perfekte Alternative zu haben, es geht ihm aber auch nicht um die defensiven
Argumente einer Politischen Klasse, die sich Konkurrenz vom Hals halten
will, sondern um ein Modell, das dynamischer ist als das bisherige. (Ebd.,
2009, S. 64).Das Schattenlos-Positive der Interpretation Zakarias
wird vor allem in Frage gestellt durch jenen Teil der Linken, der erkannt hat,
daß die Komplexität moderner Gesellschaften weder eine Rückkehr
zu rousseauistischen Verhältnissen noch eine Verteidigung des Parlamentarismus
im Stil des 19. Jahrhunderts erlaubt. Der italienische Rechtsphilosoph Danilo
Zolo sprach schon vor Jahren ganz offen davon, daß die »Systeme, die
wir demokratisch nennen, ... im eigentlichen Sinn differenzierte und begrenzte
Autokratiesysteme« sind, das heißt »liberale Oligarchien«,
deren monokratische Tendenz durch die grundsätzliche Anerkennung der Autonomie
bestimmter gesellschaftlicher Bereiche (Wirtschaft, Wissenschaft, Religion) korrigiert
wird und die wegen ihres Erfolgs in bezug auf die staatliche »Kernfunktion
der »Angstminderung« auf eine breite Akzeptanz trifft. (Ebd.,
2009, S. 65).Allerdings verkennt Zolo den Verfall der »Kernfunktion«,
die die westlichen Staaten immer weniger sicherzustellen vermögen. Und es
kommt ein zweites hinzu, das bei Zolo überhaupt keine Rolle spielt: der Abbau
des Gemeinschaftsbewußtseins, das in der Demokratie zu den entscheidenden
Voraussetzungen für die Gesamtordnung gelten muß. Dieses entscheidende
Problem kommt erst allmählich in den Blick. Unlängst hat es der us-amerikanische
Politikwissenschaftler Colin Crouch hervorgehoben. In seinem Buch Post-Demokratie
sieht er die Demokratie zwar aus ganz ähnlichen Gründen am Ende wie
Bruckner, Guéhenno oder Zolo, meint aber, daß das zentrale Problem
darin bestehe, daß die Globalisierung einerseits und der Neoliberalismus
andererseits zu einem Nebeneinander von vordemokratischen (unkontrollierter Macht
von Privatunternehmen, Korruption), demokratischen (Fortbestand von Parteien,
Wahlen, Parlamenten) und postdemokratischen Elementen (Demoskopie, spin doctors,
Einflußnahme über neue Medien) im eigentlichen Sinn geführt hätten.
Diesen Zustand zu korrigieren sei deshalb so schwierig, weil es unter den Bedingungen
der Moderne gar keine »stabilen kollektiven Identitäten« (Colin
Crouch, Post-Demokratie, 2008, S. 40) mehr gebe, die es dem demos
erlaubten, ein politisches Selbstverständnis zu entwickeln und politische
Zielsetzungen zu bestimmen. Man könnte auch von einem Verfall der Repräsentanz
sprechen, ein Virulent-Werden jenes Schlüsselproblems aller staatlichen Ordnung,
die klären muß, warum die vielen meinen sollen, daß sie eins
sind. (Ebd., 2009, S. 65-66).
Schluß
Die Schwäche aller
Rede von der Post-Demokratie liegt in der Scheu vor Konsequenzen. Es geht nicht
darum, daß Sachverhalte falsch beschrieben würden und Analysen im Einzelfall
unzutreffend wären, es geht eher um die Unfähigkeit, die heutige Entwicklung
in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. (Ebd., 2009, S. 67).Schon
die Behauptung eines »wahrhaft demokratischen Interregnum« (Colin
Crouch, Post-Demokratie, 2008, S. 156), das wohl zwischen 1945 und 1989
bestanden haben soll und dessen Verfaßtheit als normativ betrachtet wird,
ist unglaubwürdig, bestenfalls naiv. Denn in dieser Phase wurden die tonangebenden
Vertreter der Intelligenz niemals müde, die Defizite auf dem Sektor der Demokratie
zu beklagen .... (Ebd., 2009, S. 67).Was aber schwerer wiegt,
ist das Fehlen aller Bezugnahme darauf, daß sich an den grundsätzlichen
Problemen seit langem kaum etwas geändert hat. Schon Max Weber mußte
darauf hinweisen, daß das »eherne Gehäuse« (Max Weber,
Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, 1917, a.a.O., S. 285) der modernen
Zivilisation keinen Platz mehr für politische Romantik läßt, wozu
er auch die Ideen des Naturrechts oder der Volksherrschaft zählte. Seine
Interpretation der Demokratie war funktional, womit die letzte Verteidigungslinie
bezeichnet ist, die die Klügeren zu halten suchten: von Joseph Schumpeter,
der die Demokratie nur mehr als »freie Konkurrenz um freie Stimmen«
(Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1942,
S. 430) betrachtete, bis zu Niklas Luhmann, für den Demokratie lediglich
die »Spaltung« (Niklas Luhmann, Die Zukunft der Demokratie,
1986, a.a.O., S. 209) in der Spitze des Staates zwischen Regierung und Opposition
bedeutete, die einem hochdifferenzierten gesellschaftlichen System affin sei,
mehr aber auch nicht, und diese »passende strukturelle Erfindung hat aus
historisch-zufälligen Gründen den Namen Demokratie bekommen« (ebd.,
S. 211). (Ebd., 2009, S. 67-68).Das war bewußt überzogen
formuliert, denn der Begriff Demokratie entstand nicht einfach »historisch-zufällig«,
sondern war das Ergebnis eines langfristigen Prozesses und wichtiger Entscheidungen,
die in der europäischen Neuzeit gefällt wurden. Die so geschaffenen
Bedingungen für die Durchsetzung der Demokratie sind allerdings im radikalen
Abbau begriffen. In Erweiterung des Böckenförde-Theorems - »Der
freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst
nicht garantieren kann« (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat,
Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 60) - könnte man sagen, daß die
Demokratie von vorpolitischen Bedingungen lebt, die sie nicht garantieren kann
und durch die Anwendung ihrer Prinzipien verschleißt. Zu diesen Bedingungen
gehört vor allem der Bestand des demos selbst, versteht man darunter
eine hinreichend klar erkennbare, also homogene soziale Einheit, für gewöhnlich
die Nation im modernen Sinn. (Ebd., 2009, S. 68-69).Die Bedeutung
der Homogenität für den demos wurde in der jüngeren Vergangenheit
regelmäßig bestritten, mehr noch, man hat die Forderung nach Homogenität
als antidemokratisch bezeichnet. Dabei wurde übersehen. daß die Demokratie
wie jede andere Herrschaftsform auf »Willensvereinheitlichung« (Hermann
Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, 1928, a.a.O.,
S. 10) ausgeht, weshalb im vorpolitischen - ethnischen, religiösen, zivilen
- Bereich ein erhebliches Maß an Einheitlichkeit bestehen sollte, um diesen
Prozeß zu erleichtern. Die Homogenität kann den faktischen Antagonismus
etwa konfessioneller oder wirtschaftlicher Art nicht vollständig aufheben,
aber wenn sie hinreichend »sozialpsychisch« (ebd., S. 14) begründet
ist, verbürgt sie Stabilität. (Ebd., 2009, S. 69).Steht
die Demokratie heute grundsätzlich in Frage, so deshalb, weil die »Willensvereinheitlichung«
immer weniger möglich ist. Faktisch wurden die europäischen Nationen
durch Zuwanderung, einen Umschichtungsprozeß, der vor allem die staatstragende
Mittelklasse schwächte, und eine Kulturrevolution in Konglomerate verwandelt,
die zwar pro forma demokratisch sind, aber faktisch von liberalen Oligarchien
beherrscht werden. Deren Regime muß sich je länger je mehr von einem
Aufbegehren des demos gegen die Transformation bedroht fühlen, stärker
als von einer weitergehenden Fragmentierung, die man mit Sozialtechnologie oder
Gewalt unter Kontrolle halten könnte. (Ebd., 2009, S. 69-70).Die
Gefaßtheit jedenfalls, mit der die Politische Klasse die Nachricht
vom Ende der Demokratie hört, spricht dafür, daß sie sich schon
vorbereitet, und so wie mit wiedergewonnener Unschuld über Imperien oder
die Reproduktion von Eliten nachgedacht wird, wendet man sich auch den Perspektiven
eines neuen aufgeklärten Absolutismus zu. Offen angesprochen wird das von
den Praktikern nicht, aber unter den Theoretikern gibt es einige, die keinen Hehl
aus ihrer Verachtung für die Demokratie machen und über Alternativen
nachdenken. (Ebd., 2009, S. 70).Zu ihnen ist Ian Angell zu
rechnen, Professor für Informationssysteme, Berater zahlreicher UN- und EU-Einrichtungen.
Schon in einem 2000 erschienenen Buch hat er Überlebensstrategien für
das Informationszeitalter entwickelt, die nichts mit den üblichen Empfehlungen
zu tun haben. Der Grund dafür ist, daß Angell das demokratische System
für unbrauchbar hält: die »große politische Frage der kommenden
Jahrzehnte ist« seiner Meinung nach, »wie man sozial verträgliche
Mittel zur Demontage der Demokratie« finden könne (vgl. Ian Angell,
a.a.O., S. 157). Der Erfolg der Demokratie in den vergangenen Jahrhunderten habe
nicht auf der Überzeugungskraft der Demokratie oder ihrer Funktionstüchtigkeit
beruht, sondern darauf, daß ihre Durchsetzung mit der Durchsetzung des Kapitalismus
»synchronisiert« war (vgl. ebd., S. 123). Der ideologische Überbau,
das seien Sentimentalitäten, die nur in Geltung standen, weil sie der Beruhigung
der Masse dienten, nützliche Illusionen. Die Masse war notwendig im Industriezeitalter,
sie ist es nicht mehr im Informationszeitalter, ihr Versuch, Einfluß zu
nehmen, wirkt sich deshalb nur schädlich aus, faktisch handelt es sich um
eine »Verschwörung des Mobs gegen die Schöpfer des Wohlstands«
( ebd., S. 231), also die produktiven Eliten. (Ebd., 2009, S. 70-71).Man
könnte dem nur begegnen durch Aufhebung des Egalitarismus, etwa die steuerliche
Entlastung der Reichen oder die Einführung eines Zensuswahlrechts, aber Angell
glaubt nicht, daß solche Schritte unternommen werden. Es müßten
erst nach und nach alle Bedingungen der Massengesellschaft in Frage gestellt sein
- Nation, Gemeinwohl, kollektive Werte und Demokratie -, bevor eine prinzipielle
Änderung stattfinden könne. Die werde zu einer ungeheuren Fragmentierung
der politischen Landschaft führen, möglicherweise zur Entstehung von
kleinen Einheiten, die miteinander um die Informationseliten konkurrierten und
ihre Ordnung auf alle möglichen Prinzipien gründeten, aber ganz sicher
nicht auf one man - one vote. (Ebd., 2009, S. 71-72).Das
Buch von Angell trägt den Titel The New Barbarian Manifesto - »Das
neue barbarische Manifest«, eine Anspielung auf das Kommunistische Manifest
einerseits, auf Nietzsches Rede von den kommenden »Barbaren« andererseits.
Angell glaubt, daß ihnen die Zukunft gehört, jenen hochqualifizierten
Männern und Frauen, die an jedem Platz des Erdballs arbeiten können,
gesuchte Spezialisten, die man mit dem Angebot eines höheren Einkommens stets
zum Ortswechsel zu bringen vermag. Barbaren sind sie deshalb, weil sie keine »Kultur«
im alten Sinn haben - keine Bindung an Staat, Überlieferung, Religion -,
sie sind Wurzellose, die sich in immer neuen Konstellationen bewegen, bereit,
ihre Fähigkeiten dem zur Verfügung zu stellen, der sie bezahlt. Sie
sind auch die einzigen, die frei sind, für den Rest bleibt eine mehr oder
weniger harte Sklaverei. (Ebd., 2009, S. 72-73).Die gegenwärtige
Wirtschaftskrise betrachtet Angell als Bestätigung seiner Thesen, als Anfang
jenes Umwälzungsprozesses, der das nachdemokratische Zeitalter einleiten
wird. Die Demokratie, so Angell unlängst in einem Interview, ist endgültig
erledigt. Sie habe in der Vergangenheit überhaupt nur insoweit bestehen können,
als man ihre Prinzipien ignorierte. Die Situation sei aber heute eine andere,
weil die modernen Technologien kaum noch die Bewahrung von Herrschaftswissen erlaubten.
Jetzt könne die Masse der user tatsächlich direkten Einfluß
nehmen, und damit sei enthüllt, worum es sich bei der Demokratie eigentlich
handele: das Ordnungsmodell einer »Verlierergesellschaft«. (Vgl. Ian
Angell im Interview: »Eine demokratische Gesellschaft ist eine Verlierergesellschaft.«)
Denn sie baue auf dem Mehrheitsprinzip auf, und die Mehrheit bestehe nun einmal
aus Verlierern, das heißt Menschen, die sich unter den Bedingungen freier
Konkurrenz niemals behaupten könnten. Nur in einer Übergangsphase der
Geschichte habe man glauben können, daß sogenannte Nationen unter Berufung
auf sogenannte Freiheit und sogenannte Gleichheit sogenannte Demokratien entwickelten.
(Ebd., 2009, S. 73-74).Was wir nun erlebten, sei das Ende der Täuschungen,
eine große Transformation, in der Produktionssysteme zum Kern neuer politischer
Einheiten würden, die sich weder um Herkunft noch um Kultur scherten, sondern
für Schutz unerbittlich Loyalität forderten, weit entfernt von allen
»zivilgesellschaftlichen« Vorstellungen. Diese Einheiten würden
um die knapper werdenden Ressourcen erbitterte Auseinandersetzungen führen,
bei denen man sich so etwas wie Demokratie schlicht nicht leisten könne.
Im Kampf ist Demokratie ein Handikap. (Ebd., 2009, S. 74).Angell
gehört zu den Libertären und viel an seiner Argumentation - auch der
sozialdarwinistische Grundzug - erklärt sich aus einem Modell, das als »Anarchokapitalismus«
bezeichnet werden kann. Der Begriff ist aber auch ein Verweis auf die Schwäche
dieser Denkweise. Wenn, wie Angell meint, nur ökonomische Vorgänge von
Belang sind, die Welt materialistisch zu erklären ist, solange man die Phantome
der Marxisten meidet, dann wird jede Bezugnahme auf Wertentscheidungen unnachvollziehbar.
Wahrscheinlich würde Angell einen solchen Einwand mit Hinweisen auf Nützlichkeit
und Lust als Zielgrößen begegnen, aber die Geschichte lehrt, daß
weder Nützlichkeit noch Lust ausreichen, um die Handlungsweisen von Menschen
zu bestimmen, vor allem dann, wenn es um das Politische geht. (Ebd., 2009,
S. 74-75).Diese Blindheit gegenüber der Eigengesetzlichkeit
des Politischen ist das eigentliche Defizit in der Argumentation Angells. Deshalb
ist er anderen Propheten des Epochenwechsels unterlegen. Man könnte etwa
den us-amerikanischen Publizisten Robert Kaplan nennen, der schon 1997 einen aufsehenerregenden
Essay unter dem Titel Was Democracy just a Moment? veröffentlichte.
Kaplan vertrat darin die Auffassung, daß die westlichen Demokratien einem
Verfallsprozeß ähnlich dem der antiken unterlägen: von der Monarchie
über die Demokratie zur Oligarchie, zur Zwangsherrschaft des Militärs,
die gerade in Konsequenz der Erfolge von Marktwirtschaft und Mitbestimmung nötig
werden könnte, denn deren »produktive Anarchie« verkenne die
Notwendigkeit von Autorität und kollektiver Identität. (Ebd.,
2009, S. 75).An anderer Stelle hat Kaplan
darauf hingewiesen, daß die Zerstörung der Demokratie mitbedingt sei
durch die Schwäche der Staatlichkeit außerhalb des europäisch-nordamerikanischen
Wohlstandsgürtels, unter Einschluß von Japan und einigen asiatischen
Staaten. Eine Einschätzung, die durch die zahllosen Programme zum nation
building nicht widerlegt, sondern bestätigt wird, und die failed states
- die gescheiterten Staaten, also jene ehemaligen Kolonien, denen es in den
vergangenen Jahrzehnten nie gelungen ist, eine brauchbare Ordnung aufzubauen -
sind mittlerweile zum Gegenstand intensiver, wenngleich vergeblicher Bemühungen
der internationalen Gemeinschaft geworden. Das alles spricht dafür, daß
uns nicht nur ein nachdemokratisches Zeitalter, sondern auch ein nachstaatliches
Zeitalter bevorstehen könnte. (Ebd., 2009, S. 75-76).Wer
da nicht den Optimismus Angells teilt, daß in dem Chaos auch eine zweite
Renaissance mit Stadtrepubliken nach dem Muster von Florenz und Venedig möglich
wäre, und wer nicht von einem vollständigen Zerfall ausgeht, der müßte
sich auf das gefaßt machen, was Kaplan oder der israelische Militärtheoretiker
Martin van Creveld für die wahrscheinlichste Perspektive der zukünftigen
Entwicklung halten. Nach Meinung van Crevelds hat sich das europäische Konzept
von Staatlichkeit seit dem 17. Jahrhundert allmählich durchgesetzt und seit
der französischen Revolution den Charakter eines politischen »ldeals«
angenommen: eine dauerhafte Ordnung auf begrenztem Territorium, wehrhaft nach
außen, im Inneren den Frieden garantierend. Allerdings gelang es dem »Westen«
nie, dieses »Ideal« weltweit durchzusetzen, sowieso nicht in Afrika,
kaum in Lateinamerika, in Asien bloß in Verbindung mit vorhandenen Strukturen,
schon in Osteuropa sind Zweifel angebracht. Der Niedergang des Staates war - wie
so oft im Fall erfolgreicher Konzepte - ein Preis des Erfolges. Das Ende der großen
Kriege und die Internationalisierung von Wirtschaft und Technologie und die Überforderung
seiner inneren Kohärenz haben den Staat nach 1945 immer weiter geschwächt.
(Ebd., 2009, S. 76-77).Was van Creveld für das Danach prognostiziert,
ist ein Nebeneinander von Staaten oder staatsähnlichen Größen,
die in abgestuftem Maß Souveränität besitzen, Gebiete, die wechselnden
war lords unterworfen sind und aterritorialen Machtgebilden, die sich um
große Konzerne ebenso wie um religiöse Sondergruppen oder mafiose Organisationen
bilden können. Nur ausnahmsweise werde es einer zentralen Autorität
möglich sein, das Gewaltmonopol zu verteidigen, und in manchen Regionen der
Welt werde das Chaos herrschen, ohne Aussicht auf Abhilfe. Was man heute in Europa
und Nordamerika als üblichen Standard bürgerlicher Existenz betrachte,
dürfte keine Bedeutung mehr haben. Angesichts einer dramatisch gewachsenen
Unterschicht und dauernder Bedrohung müßten sich die meisten an den
Verlust persönlicher Freiheit gewöhnen und daran, daß sie und
ihre Kinder nur als »Vasallen der starken und reichen Gesellschaftsmitglieder«
überleben könnten. (Ebd., 2009, S. 77-78).Es ist
in der Bundesrepublik üblich, Analysen wie sie von Angell, Kaplan oder van
Creveld geliefert werden, zu verschweigen oder sie als Panikmache beiseitezuschieben.
lm schlimmsten Fall spricht man von self-fulfilling prophecy in dem Sinn,
daß der Bote verantwortlich ist für das von ihm angekündigte Geschehen.
Das ist fatal. Mißtrauen sollte man vielmehr denen entgegenbringen, die
behaupten, daß es so weitergehen kann wie bisher. Die Frage, in welcher
politischen Ordnung wir morgen leben werden, ist längst keine akademische,
sondern eine von existentieller Bedeutung. Das macht ihre Beantwortung so dringlich.
(Ebd., 2009, S. 78).Mustert man die diskutierten Alternativen durch,
ergeben sich im wesentlichen drei Möglichkeiten:1. | Die
utopische, die im Grunde mit der alten, aus der Aufklärung abgeleiteten Geschichtsphilosophie
begründet wird, daß die Demokratie den einzig denkbaren Abschluß
der Menschheitsgeschichte bildet und die Post-Demokratie keine oder jedenfalls
eine kalkulierbare Gefahr darstellt; oder wie es der Verfassungsrichter Udo di
Fabio ausdrückt: »Letztlich werden wir zu einer Welt kommen, in der
gut regierte Staaten und Staatenverbindungen, die in ihren Grundlagen freiheitlich
und demokratisch verfaßt sind, ihre Infrastruktur der Wirtschafts- und Gewerbeförderung,
ihr Rohstoff- und Energiemanagement, die Ordnung der Finanzmärkte, die Bedingungen
für Bildung und soziale Sicherung so pflegen, daß die Chancen für
alle steigen.« Worauf eine derart optimistische Einschätzung beruht,
ist kaum zu erklären (doch, nämlich mit US-Hörigkeit;
HB), immerhin wird sie von allen geteilt, die an die Eigengesetzlichkeit
der globalen Demokratisierung glauben, was auf einen erheblichen Teil der Bürgerlichen
und der Linken zutrifft. | 2. | Die
nostalgische, verfochten von denen, für die Demokratie und Nationalstaat
direkt zusammengehören und die mit der Souveränität des Nationalstaats
auch die Demokratie gerettet sehen. Ihre Erwartungen sind nicht so groß
wie die der Utopisten, wobei ihr Begriff von »Nation« im allgemeinen
ebenso unreflektiert ist wie ihr Begriff von »Volk«, das heißt:
Auch wenn man die EU oder andere supranationale Gebilde als undemokratisch ablehnt
und die Gesetzgebungsgewalt bei den Nationalparlamenten belassen sehen will, bleibt
der Tatbestand der Oligarchisierung des Systems und ebenso die beschriebene Zersetzung
der Bedingungen für einen demokratischen Legitimitätsglauben. Zudem
wird man sich fragen müssen, ob Nationalstaaten stark genug sind, um die
kommenden militärischen und ökonomischen Auseinandersetzungen zu überstehen. | 3. | Die
unverantwortliche, wie sie Angell, aber auch andere Libertäre, etwa Hans
Hermann Hoppe, vertreten, die im Grunde eine zynische Sieger-Ideologie entwerfen.
Hier könnte Post-Demokratie tatsächlich zur Chiffre für ein »neo-autoritäres
Ideologem« (Karsten Fischer, 2006, a.a.O., S. 47) werden, aber damit hat
es sich auch. Die Unverantwortlichen betrachten die Frage nach dem Gemeinwohl
als erledigt und die europäische Überlieferung nur als Vehikel, um eine
Welt vorzubereiten, in der ebenso intelligente wie skrupellose Individuen ihren
Vorteil auf möglichst effektive Weise durchsetzen und die Gesellschaft tatsächlich
auf »Verträgen« beruht, die man nach Gutdünken schließt
oder aufhebt. | Was
von den Vertretern dieser Ansätze in jedem Fall übersehen wird, ist
die Notwendigkeit, das Politische für die Zukunft neu zu gestalten. Die einen
glauben an dessen fortschreitende Zivilisierung, die zweiten an Kontrolle mit
den altbekannten Mitteln, die dritten an die Überwindung in einem Zeitalter,
das dann nicht nur postdemokratisch, sondern auch postpolitisch sein müßte.
(Ebd., 2009, S. 78-81).Nichts spricht dafür, daß es
dazu kommt. Das Politische mag von der Bindung an den Staat abgelöst sein,
aber es wird sich nicht auflösen. Das sollte jede verantwortliche Haltung
in ihre Überlegungen einbeziehen und sich wieder um die Klärung der
Bedingungen mühen, die eine »gute Ordnung« ausmachen. Die ist
nicht als Restauration des klassischen Staates denkbar, aber sie wird mit seiner
Gestalt doch viel mehr Ähnlichkeit haben müssen als mit Stammesgesellschaften
oder Stadtrepubliken. (Ebd., 2009, S. 81).Damit zu einem
letzten Punkt: Der Begriff Post-Demokratie ist inhaltlich unbestimmt. Wer das
Wort nicht nur als Schreckvokabel benutzt, erwartet irgendein Danach, das sich
von der Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit - negativ - unterscheidet.
Ohne Zweifel besteht Grund zur Sorge. Aber das Kernproblem ist nicht das Verschwinden
der Demokratie, sondern das Verschwinden des Staates, der auch die Voraussetzung
der Demokratie bildet. Der Staat erodiert an der Basis durch die Auflösung
der tragenden Institutionen und verliert sich nach oben durch die Einfügung
in immer andere, immer neue, unkontrollierbare Strukturen, die theoretisch oder
praktisch seine Souveränität aufzuheben suchen. Verglichen mit diesem
Problem (**) ist die
Frage nach der Zukunft der Demokratie sekundär. (Ebd., 2009, S. 81-82).
Der Wind dreht sich. Intellektueller Zeitgeist: Die Realitäten
erzwingen eine Korrektur der linken Deutungshoheit (in: Junge
Freiheit; 30. Oktober 2009)
Götz Kubitschek hat im Blick
auf den »Fall Sarrazin« das Gedankenexperiment vorgeschlagen, zehn
Jahre in die Zukunft zu blicken und sich zu fragen, wie die Äußerungen
des Sozialdemokraten und Bundesbankvorstands erscheinen werden, wenn in der Zwischenzeit
eine starke rechte Partei ins Parlament einziehen und maßgeblich über
Einwanderung, Integration und Rücksiedlung mitbestimmen könnte. Sicher
würde Thilo Sarrazin als Wegbereiter betrachtet: einer der wenigen, die gerade
noch rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannten und den Mut aufbrachten, das Richtige
zu sagen, als die ganz große Mehrheit der Verantwortlichen das nicht tat
und sich gegen besseres Wissen an das Falsche hielt.Soweit die Utopie.
Aber wie jede Utopie gewinnt auch diese Plausibilität daraus, daß man
fortspinnt, was sich in der Gegenwart schon andeutet. Und es gibt tatsächlich
Indizien dafür, daß wenn nicht die Äußerungen Sarrazins,
so doch die Reaktionen darauf Anzeichen für eine gesellschaftliche Klimaänderung
sind.Symptomatisch war schon der Strategiewechsel der Bild-Zeitung. Nachdem
die Redaktion anfangs auf Skandalisierung setzte, in der Meinung, der Leser werde
willig wie immer den politisch korrekten Vorgaben folgen, hat sie nach kurzem
Zögern irritiert durch die massenhafte Zustimmung für Sarrazin
beschlossen, den Kurs zu ändern. Da man im Umfeld Kai Diekmanns sehr
genau weiß, daß die Manipulation des »kleinen Mannes«
Grenzen hat und sich keine Blattlinie gegen kompakte Mehrheiten durchsetzen läßt,
ging man zur Anpassung über. Sarrazin erscheint in Bild zwar nicht gerade
als der Volksheld, den viele Bürger und Leserbriefschreiber oder Netzkommentatoren
in ihm sehen, aber doch als Einzelgänger mit kantigem Profil und ehrlichen
Absichten.Dem Mentalitätswandel an der Basis korrespondiert im Überbau
eine Kräfteverschiebung in der Feuilletondebatte. Begonnen hatte alles im
Juni mit Peter Sloterdijks Vorstoß in der FAZ gegen die Ausbeutung der produktiven
Schichten durch den Steuerstaat und der Forderung, den Zusammenhang von Betreuung
und Unfreiheit namhaft zu machen. Etwas verklausuliert ging es sogar um die Legitimität
des Widerstands gegen die Expropriation des Mittelstands zugunsten eines
nicht zuletzt durch Migration dauernd wachsenden Lumpenproletariats.Die
Reaktion kam verzögert, lustlos, aber siegesgewiß aus dem Rest der
Frankfurter Schule. Axel Honneth, geschäftsführender Direktor des von
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in den 1950er Jahren neubegründeten
Instituts für Sozialforschung, wollte in der Zeit Sloterdijk in gewohnter
Manier erledigen (Kollege Christoph Menke assistierte nur) und warf ihm mangelnde
soziale Verantwortung und Versagen angesichts von universalen Werten und Aufklärung
vor (JF 41/2009). Nach
dem Muster westdeutscher Debatten hätte die Auseinandersetzung damit ein
Ende gehabt und Sloterdijk als erledigt gegolten.Aber davon ist keine
Rede. Nicht nur, daß Sloterdijk selbst sich mit Bravour zur Wehr setzte,
vergangene Woche nun ergriff Karl Heinz Bohrer ebenfalls in der FAZ die Gelegenheit,
ihn zu unterstützen, auch um mit Auffassungen abzurechnen, die Urteilsvermögen
und Kenntnis für verzichtbar halten und meinen, daß sie durch politischen
Kitsch und »plebsfreundliche Entrüstung« bei »schierer
Verblendung« ersetzt werden könnten.Diese Abläufe sind
deshalb so bemerkenswert, weil sich an ihnen zweierlei ablesen läßt:
der Zerfall des maßgeblichen, seit den siebziger Jahren etablierten Konsenses
in der Klasse der Sinnvermittler und eine Erwartungsenttäuschung, die weltanschauliche
Konsequenzen nach sich ziehen muß.Denn Sloterdijk und Bohrer galten
einmal als Leitfiguren der intellektuellen Linken. Wie ihre Kontrahenten haben
sie ihre akademische und öffentliche Karriere im Gefolge von 68 begonnen
und sich den Zeitgeist zunutze gemacht. Es gab zwar früh dissidente Neigungen,
aber an der prinzipiellen Zurechnung änderte das nichts. Was letztlich den
Bruch bewirkte, ist schwer zu sagen, für unseren Zusammenhang aber auch ohne
Belang. Wichtig erscheint nur, daß die Abwendung zu tun hat mit der Frustration
über den geringen Wirklichkeitsbezug der vorherrschenden Ideologeme.Bei
Sloterdijk wie bei Bohrer ist seit längerem erkennbar, daß sich ihre
Interessen und Interpretationen immer weiter von dem entfernen, was im weitesten
Sinn noch als links faßbar ist, weil sie den Eindruck haben, daß die
Realitäten selbst eine solche Korrektur erzwingen (frappierend die Bezugnahme
Bohrers auf Arnold Gehlen, der »ohne Anleihen an theoretische Nomenklaturen
Wirklichkeit in Worte zu fassen imstande« war).Sollte es tatsächlich
zum offenen Bruch kommen, wäre das ein Grund für vorsichtigen Optimismus.
Denn anders als die schon seit längerem beobachtbare Drift der Mitte ins
Neubürgerlich-Pseudokonservative könnte sich hier ein echter Konflikt
abzeichnen, das heißt es ginge nicht mehr ums Dekor und vorschnelle Versöhnung
mit dem arrivierten Gegner, sondern um dessen Bekämpfung.Sloterdijk
hat die »neue Antithese« umrissen in einem »Manifest«,
das die Zeitschrift Cicero in ihrer jüngsten Ausgabe veröffentlichte.
Es geht ihm dabei zuerst um die Begründung der These, daß die politische
und soziale Gesamtentwicklung neben der »kommentierenden Klasse« auch
die etablierten Parteien zu einer Umorientierung zwingen werde, die die lange
Herrschaft des linken Konformismus beenden müsse.Sollte diese Erwartung
zutreffen und es nicht bei der von Sloterdijk erhofften Revolte der Leistungsträger
bleiben, muß die intellektuelle Rechte die strategischen Möglichkeiten
dieses Vorgangs richtig einschätzen und das heißt auch, sich
damit abfinden, daß nun von anderen mit größerer Aussicht auf
Resonanz viele Analysen und Warnungen vorgetragen werden, die man selbst in der
Vergangenheit immer wiederholt hat, ohne auf Gehör zu stoßen.Man
darf das als bitter empfinden, sollte aber getröstet sein durch die Regelmäßigkeit,
mit der sich dieser Vorgang wiederholt. Der Anfang dieses Jahres verstorbene Caspar
von Schrenck-Notzing hat einmal geäußert, daß es ein Mißverständnis
sei, in den Konservativen jene zu sehen, die immer nur auf schon eingetretene
Ereignisse reagierten. Tatsächlich lasse sich die konservative Haltung besser
daraus erklären, daß der Konservative die Dinge in statu nascendi beobachte,
daß er vor den anderen absehe, was eintreten werde. Das erkläre die
Anziehungskraft, die die konservative Position auf verantwortungsbewußte
Menschen ausübe, aber auch die mangelnde Wirksamkeit. Propheten können
eben keine Partei bilden. (Zitat-Ende).
Gibt es Juden? (in: Sezession;
August 2010)
Seit Sonnabend brachten es die Nachrichtenagenturen:
Sarrazin behaupte, daß es ein »jüdisches Gen« gebe. Zeitgleich
setzte der Entrüstungssturm ein. Selbst die, die wie Roland Koch Sarrazin
bisher verteidigt hätten (wann eigentlich?), gingen auf Distanz. Die Wortkombination
»Jude« und »Gene« funktionierte mit der Sicherheit des
Pawlowschen Reflexes.Auch in diesem Blog (**)
wurde gemutmaßt, da habe Sarrazin der Teufel geritten und seine Neigung
zu Selbstdarstellung und Provokation um jeden Preis verführt. Dagegen muß
auf den Kontext hingewiesen werden, in dem die Äußerung fiel, das heißt
die Entwicklung des Gesprächsgangs, der Sarrazin vor die Wahl stellte, entweder
den üblichen Kulturalismus zu akzeptieren, oder in der Konsequenz seines
Ansatzes die Alternative hinreichend deutlich hervorzuheben. »Schon der
Begriff `Volk´ ist heute vielen peinlich«, sagte Sarrazin, »und
daß über dem Eingang zum Reichstag `Dem Deutschen Volke´ steht,
empfinden manche als ärgerlich. Ich empfinde solch eine Einschätzung
als unhistorisch und teile sie nicht.«Wenn »Völker«
keine Konstruktionen oder Erfindungen sind, sondern objektivierbare Größen,
dann ist wichtig, ob es so etwas wie eine ethnische Identität gibt. Daß
diese Frage in den letzten drei Jahrzehnten konsequent tabuiert wurde (ein Erfolg
dieser Strategie war die Änderung unseres »völkischen« Staatsbürgerrechts,
das den Vätern des Grundgesetzes noch gut vereinbar schien mit der Verfassung),
ist unbestreitbar, aber auch, daß es an diesem Punkt um etwas Entscheidendes
geht, nicht um eine Nebensache. Denn warum soll nur legitim sein, die genetischen
Eigenarten von »Indigenen« zu schützen (wie es die UNO verlangt)?
Warum sollen moderne Nationen kein Recht haben, über ihr kollektives So-Sein
zu entscheiden?Wenn Sarrazin in dem Zusammenhang auf das Judentum abhebt,
so hat das in der Sache gute Gründe, weil es sich tatsächlich um ein
relativ leicht abgrenzbares Volk handelt, dessen genetische Besonderheiten
sogar die taz mutmaßte schon ein jüdisches »Intelligenz-Gen«
gut untersucht sind, dessen Ethnogenese kaum zufällig als Modell für
das nation building in Mitteleuropa diente und das sich bis heute beharrlich weigert,
seine Besonderheit aufzugeben. Die israelische Diskussion zu dieser genetisch
untermauerten Identität ist jedenfalls lebhaft.Das gilt nicht nur
für den Staat Israel, dem es nicht genügt »demokratisch«
zu sein, sondern der sich explizit als »jüdisch« bezeichnet und
das über die Abstammung definiert, sondern auch für die außerhalb
Israels lebenden Juden. Bezeichnenderweise nahm Michael Wolffsohn bei der vorletzten
Sarrazin-Debatte gegen die Polemik Stephan Kramers Stellung, unter Bezugnahme
darauf, daß er selbst »Alt-Jude«, der Sprecher des Zentralrats
der Juden aber bloß »Konvertit« sei. (Zitat-Ende).
Packen wir es an! (in: Junge
Freiheit; 4. September 2010)
Es muß kein Kind sein, das
ruft: »Der Kaiser ist nackt!« Manchmal ist es ein Vorstandsmitglied
der Bundesbank. Thilo Sarrazin hat es getan, mit seinem Buch »Deutschland
schafft sich ab«. Der Vorabdruck in Spiegel und Bild fand außerordentlich
starke und sehr positive Resonanz, schon vor Erscheinen stand der Band auf Platz
eins der Verkaufsliste von Amazon, und das, obwohl Sarrazin nach Herzenslust politische
Tabus bricht. Der Volkstod ist für ihn genauso ein Thema wie die
Verblödung durch Einwanderung, die natürliche Ungleichheit der Menschen,
das Bereicherungsgeschwätz, die kulturelle Fremdheit des Islam, das Sexualverhalten
der Unterschicht, der nationale Selbsthaß der Deutschen oder der fatale
Einfluß der Achtundsechziger. Was da geschieht, ist nicht nur ein
Medienereignis, nicht nur das Bedürfnis, eine satte und stumpfe Öffentlichkeit
irgendwie zu kitzeln, und auch nicht nur das Kalkül des Establishment, das
eine Art Überdruckventil öffnet. Hier wird jener Mentalitätswandel
sichtbar, von dem an dieser Stelle vor einem guten Jahr schon die Rede war: allmählicher
Verschleiß des alten Denkens, Abbau der Selbstverständlichkeiten, wachsende
Scham, noch länger mit dem »intellektuellen Trödel« (Jacques
Le Goff) zu hantieren, der lange, viel zu lange die Debatten bestimmt hat. Indizien
deuten auf Wandel hin Für diese Interpretation sprechen auch andere
Indizien, Basis- genauso wie Überbauphänomene, sogar einzelne Maßnahmen
der praktischen Politik, die man als Indizien dafür deuten kann, daß
ein Wandel in Gang kommt: von der Mehrheit gegen die Primarschule bei der Hamburger
Volksabstimmung bis zur Mehrheit für den Erhalt der Hauptschule in der letzten
demoskopischen Erhebung von Allensbach; von der Forderung nach einer neuen konservativen
Partei durch den Journalisten Michael Klonovsky und den Wissenschaftler Norbert
Bolz bis zur Absicht, den Historikerpreis an den Australier Christopher Clark
zu verleihen, der Preußen und Wilhelm II. verteidigt; von der Weigerung
der Slowakei, sich am »Rettungsschirm« für Griechenland zu beteiligen,
über das Ende der Quarantäne, die die Etablierten in bezug auf den niederländischen
Islamkritiker Geert Wilders verhängt hatten, bis zur Entscheidung der französischen
Regierung, 12000 rumänische Zigeuner des Landes zu verweisen. Die
wichtigste Ursache für diese Veränderung ist der Faktor gesunder Menschenverstand,
die seit 45 oder 68 systematisch verächtlich gemachte Fähigkeit,
Erfahrung und Alltagswissen und Lebensklugheit zum Maßstab zu nehmen. Unbeeindruckt
von Expertenmeinungen und Indoktrination scheint ein erheblicher Teil der Bevölkerung
bei Trost geblieben zu sein. Das allein genügt aber nicht. Die schweigende
Mehrheit mag eine Mehrheit sein, aber sie verharrt bei sich selbst, wenn Führung
und hinreichend klare geistige Konzepte fehlen. Der gesunde Menschenverstand genügt,
um das Bestehende zu verteidigen oder die Nische auszukleiden, in die man sich
zurückzieht, oder für die innere Reserve, aber er setzt keinen grundsätzlichen
Wandel ins Werk.Deshalb kommt dem Auftreten von Ketzern in der »Kaste
der Sinnvermittler« (Helmut Schelsky) so große Bedeutung zu. Deshalb
muß man sorgfältig registrieren, wenn ein politisches Magazin von erheblicher
Reichweite über die Notwendigkeit einer neuen Rechtspartei spekulieren läßt
und ein Intellektueller, der »dazu« gehört, solche Häresie
aufnimmt und die Position noch einmal deutlich verschärft. In einem Gastkommentar
für den Tagesspiegel schrieb Bolz: »Die politische Rechte steht für
Bürgerlichkeit. Wenn es ihr gelingen sollte, sich als Partei zu formieren,
wäre unsere Gesellschaft endlich auch parlamentarisch balanciert.«
**
Es sind aber auch die kleineren Abweichungen von der Hauptlinie zu registrieren,
wie das geschlossene Lob von Feuilleton und Zunft für Clark, der Schlüsselepochen
der deutschen Geschichte einer Umwertung unterzieht. Aus dem angelsächsischen
Bereich kam schon früher Kritik an Sonderwegs- oder Alleinschuldthesen, aber
das wurde bestenfalls als Außenseitermeinung hingenommen. Damit scheint
es vorbei zu sein. Unbekümmert wendet man sich einem wohlwollenderen Bild
der nationalen Vergangenheit zu, ohne die übliche Warnung vor den fatalen
Konsequenzen für die Geschichtspolitik. Daß die Deutschen
zu Geduld im Übermaß neigen, ist eine altbekannte Tatsache. Auch deshalb
sind sie eher bereit, sich umzuorientieren, wenn sie am fremden Modell beobachten
und lernen können. Deshalb erscheinen die Maßnahme Sarkozys gegenüber
den rumänischen Zigeunern und die massive Unterstützung der eigenen
Bevölkerung für diese Maßnahme in einem besonderen Licht. Denn
was bei der Diskussion über eine rigide Abschiebungspolitik der Regierung
Berlusconi in Italien noch selbstverständlich war, die allfälligen Kommentare
und die Nutzung der Faschismuskeule mit sich brachte, das versagt in diesem Zusammenhang.
Politische Veränderungen bereiten sich im kleinen vor Mehr
noch, es wird einfach zur Kenntnis genommen, daß eine europäische Regierung
tatsächlich das Problem ernstnimmt, daß Einwanderung kein Vorgang ist,
bei dem irgendwelche Individuen irgendeinen Flecken Erde besiedeln, auf dem zufällig
andere Individuen leben sondern daß Kollektive kommen beziehungsweise
im Einwanderungsland neu entstehen und diese sich in deutlicher Abgrenzung oder
sogar in betonter Feindseligkeit gegenüber den Autochthonen und der bestehenden
Ordnung konstituieren. Das wiederum zwingt dazu, davon abzugehen, sich mit den
einzelnen zu befassen, und statt dessen die Gruppe in den Blick zu nehmen, die
deren ethnisches Kapital repräsentiert und mehrt. Alexis de Tocqueville
schrieb über die große Revolution, es habe niemals ein »weniger
vorhergesehenes Ereignis« gegeben. Politische Veränderungen, auch solche
von erheblicher Wirkung, bereiten sich im kleinen vor. Selten durch Hinterzimmerverschwörungen
oder die Opferbereitschaft irgendwelcher Auslesegruppen, sondern durch eine veränderte
Wahrnehmung der vielen, dann das Auftreten von Dissidenten in den tonangebenden
Kreisen, die aus verschiedenen Gründen bessere Einsicht kann genauso
eine Rolle spielen wie Opportunismus den geltenden Konsens brechen, schließlich
durch die Erprobung praktischer Maßnahmen, die bis eben noch als undurchführbar
galten. Es beginnt mit dem, was man Mentalitätswandel nennt, mit
der Aufgabe alter Denkgewohnheiten und Selbstverständlichkeiten, der subkutane
Wirkung alternativer Ideen, dem Anheben des Schleiers, der gerade noch über
den Dingen lag. Eine solche Entwicklung, einmal eingeleitet, ist schwer aufzuhalten,
aber zum Ziel kommt sie nur, wenn es Reserveeliten gibt, die sich die neue Sache
zu eigen machen und den nötigen Durchsetzungswillen haben. (Zitat-Ende).
Sarrazin lesen (Mithrsg.: Götz Kubitschek; Oktober 2010)
Dies
war alles nicht neu!- 1960 (Stand: 586 200
Ausländer)
»Die griechische Regierung wird griechische Arbeitnehmer
mit ihren Familien, die aufgrund dieser Vereinbarung in das Gebiet
der Bundesrepublik Deutschland einreisen, jederzeit formlos zurückübernehmen.«
(§18 des deutsch-griechischen Anwerbevertrages vom 30.03.1960;
gleichlautende oder ähnliche Bestimmungen fanden sich auch
in Abkommen mit anderen Ländern, etwa der Türkei).
- 1964 (Stand: 976 000
Ausländer)
»Wenn die Arbeitszeit in der Bundesrepublik
Deutschland pro Woche eine Stunde länger sein würde und dadurch kein
Gastarbeiter in Deutschland wäre, würden sie das begrüßen
oder nicht begrüßen?« (Umfrage des Wickert-Instituts; 70
Prozent der befragten Männer, 64 Prozent der befragten Frauen bejahten den
Vorschlag).
- 1965 (Stand: 1 172 000 Ausländer)
»Die
Heranziehung von noch mehr ausländischen Arbeitskräften stößt
auf Grenzen. Nicht zuletzt führt sie zu weiteren Kostensteigerungen und zusätzlicher
Belastung unserer Zahlungsbilanz.« (Bundeskanzler Ludwig Erhard [CDU] in
seiner Regierungserklärung vom 10. November). - 1973
(Stand: 3 527 000 Ausländer)
»Es ist aber notwendig geworden,
daß wir sehr sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer
Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und Verantwortung Halt
gebieten.« (Bundeskanzler Willy Brandt [SPD], in seiner Regierungserklärung
vom 18. Januar).
- 1975 (Stand: 4 090 000 Ausländer)
»Beim Zuzug von Gastarbeiterangehörigen ist die zulässige Grenze
inzwischen erreicht und in manchen Fällen schon überschritten.«
(Bundeskanzler Helmut Schmidt [SPD], laut Ruhr-Nachrichten vom 13. Februar).
- 1977 (Stand: 3 958 000 Ausländer)
»Schauen Sie sich doch nur die Zahl der ausländischen
Arbeitnehmer an. Wenn wir heute noch fast zwei Millionen Ausländer
beschäftigen, dann kann man sowieso nicht von einer echten
Arbeitslosigkeit sprechen. (Heinz Herbert Karry [FDP], Wirtschaftsminister
des Landes Hessen, laut Spiegel vom 16. Mai).
- 1980
(Stand: 4 453 000 Ausländer)
»Wenn die Zahl der Ausländer,
die als Minderheit in einer Nation leben, eine bestimmte Grenze überschreitet,
gibt es überall in der Welt Strömungen des Fremdheitsgefühls und
der Ablehnung, die sich dann bis zur Feindseligkeit steigern .... Allzuviel Humanität
ermordet die Humanität.« (Der Ausländerbeauftragte Heinz Kühn
[SPD], laut Neue Osnabrücker Zeitung vom 13. September). »Die
Belastungsgrenze für die Aufnahme Von Ausländern in Berlin ist erreicht,
zum Teil sogar überschritten.« (Peter Ulrich [SPD], Finanzsenator von
Berlin, laut Welt vom 28. Januar).
- 1981 (Stand: 4 630 000 Ausländer)
» Unsere Möglichkeiten, Ausländer
aufzunehmen, sind erschöpft. .... Übersteigt der Ausländeranteil
die Zehn-Prozent-Marke, dann wird jedes Volk rebellisch.« (Der Ausländerbeauftragte
Heinz Kühn [SPD], laut QUICK vom 15. Januar).»Nur wenn es
gelingt, wirksame Maßnahmen gegen einen weiteren Ausländerzuzug zu
ergreifen, nur dann werden wir mit denen, die hier verbleiben, zu einer menschenwürdigen
Mitbürgerschaft kommen.« (Richard von Weizsäcker, Regierender
Bürgermeister von Berlin, in seiner Regierungserklärung vom 2 Juli).
- 1982 (Stand: 4 667 000 Ausländer)
»Mir kommt kein Türke mehr über die Grenze.« (Bundeskanzler
Helmut Schmidt [SPD] in Die Zeit vom 5. Februar). »Die Rückkehr
der Ausländer in ihre Heimat darf nicht die Ausnahme, sondern muß die
Regel sein. Es ist nicht unmoralisch zu fordern, daß der uns verbliebene
Rest Deutschlands in erster Linie den Deutschen vorbehalten bleibt.« (Alfred
Dregger [CDU], MdB auf einer »Ausländer-Tagung« der CDU in Bonn
am 21. Oktober). - 1983 (Stand: 4 535 000 Ausländer)
»Bundeskanzler Helmut Kohl hat darauf hingewiesen, daß der Zuzugsstop
für ausländische Arbeitnehmer nicht genüge. Darüber hinaus
muß nach den Worten des Kanzlers ein erheblicher Teil der rund zwei Millionen
in der Bundesrepublik lebenden Türken in ihre Heimat zurückkehren.«
(Agenturmeldung [AP] vom 26. Januar). »Kohl und Strauß waren
sich darin einig, daß der Ausländeranteil in den nächsten zehn
Jahren halbiert werden soll ... und daß es keine Ausländerghettos und
keine Subkultur geben dürfe.« (Die Welt am 17. März
über Helmut Kohl [CDU], Bundeskanzler, und Franz- Josef Strauß [CSU],
Ministerpräsident Bayerns.
- 1984 (Stand: 4 363 000 Ausländer)
»Wir sind kein Einwanderungsland. Wir können es nach unserer Größe
und wir können es wegen unserer dichten Besiedlung nicht sein.
Deshalb geht es darum, ohne Eingriffe in die Rechte des einzelnen
und der Familie, ohne Verletzung der Grundsätze der Toleranz
zu einer Verminderung der Ausländerzahlen zu kommen.«
(Außenminister Hans D. Genscher [FDP], Rede vor dem Bundestag,
zitiert nach Das Parlament vom 27. Oktober).
- 1986 (Stand: 4 512000 Ausländer)
»Ich habe mich entschlossen, heute selbst vor der Bundespressekonferenz
zu sprechen, weil der Zustrom der Wirtschaftsasylanten Ausmaße angenommen
hat, die zu einer ganz erheblichen Belastung für die Bundesrepublik Deutschland
geworden sind und zu einer erheblichen Beunruhigung in der Bevölkerung geführt
haben. Die Zahl der Asylanten steigt von Monat zu Monat. .... Ich bin nicht gewillt,
diese Entwicklung tatenlos hinzunehmen. .... Die Sorgen der Bevölkerung müssen
ernstgenommen werden, denn die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland
und darf es auch nicht werden.« (Kanzler Helmut Kohl am 27. August). - 1987
(Stand: 4 241 000 Ausländer)
»Wir werden langfristig nicht
umhinkönnen, die Schrumpfung der deutschen Bevölkerung zumindest teilweise
durch einen verstärkten Zuzug von Ausländern auszugleichen. Das wird
schon der Arbeitsmarkt erbringen. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wird
wachsen und damit auch die kulturellen und sozialen Probleme.« (Wolfgang
Schäuble [CDU], Kanzleramtsmister, laut Bulletin der Bundesregierung vom
15. Dezember). - 1992 (Stand: 6 495 000 Ausländer)
»Man kann aus Deutschland mit immerhin einer tausendjährigen Geschichte
seit Otto I. (richtig muß es heißen: Deutschland
mit einer zweitausendjährigen Geschichte seit Hermann dem Cherusker [Arminius];
HB) nicht nachträglich einen Schmelztiegel machen. Weder aus
Frankreich, noch aus England, noch aus Deutschland dürfen Sie Einwanderungsländer
machen. Das ertragen diese Gesellschaften nicht.« (Der frühere Bundeskanzler
Helmut Schmidt [SPD] in der Frankfurter Rundschau am 12. September). - 1997
(Stand: 7 365 000 Ausländer)
Wir dürfen nicht mehr so zaghaft sein bei ertappten ausländischen
Straftätern. Wer unser Gastrecht mißbraucht, für
den gibt es nur eins: raus, und zwar schnell!« (Gerhard Schröder
[SPD]am 20. Juli in Bild am Sonntag).
- 1999 (Stand:
7 344 000 Ausländer)
»Die Grenzen der Belastbarkeit durch
Zuwanlerung sind überschritten.« (Otto Schily [SPD], Bundesinnenminister,
nach Süddeutscher Zeitung vom 3. November).
Das neue Bürgerschaftsrecht tritt am 1. Januar 2000 in Kraft, der Aussagewert
der Statistik sinkt. |
- 2000
(Stand: 7 242 000 Ausländer)
»Die nationale Identität
darf nicht zur Disposition stehen. .... Es gibt keine andere vernünftige
Möglichkeit, als die Zuwanderung qualitativ zu begrenzen.« (Jörg
Schönbohm [CDU], Innenminister des Landes Brandenburg, nach Frankfurter Allgemeine
Zeitung vom 7. Juli). - 2004 (Stand: 6 765 000 Ausländer)
»Die multikulturelle Gesellschaft ist gescheitert.«
(Angela Merkel als Spitzenkandidatin der Union in einer Rede vom
20. November).
»Mit
einer demokratischen Gesellschaft ist das Konzept von Multikulti schwer vereinbar
.... Insofern war es ein Fehler, daß wir zu Beginn der 1960er Jahre Gastarbeiter
aus fremden Kulturen ins Land geholt haben.« (Helmut Schmidt, Altbundeskanzler
in einem Interview, Münchner Merkur, 25. November. (Ebd., S. 2010,
48-49).
Zitate:
Hubert Brune, 2009 (zuletzt aktualisiert: 2010).
Anmerkungen:
Arnold
Gehlen, Was ist Glück?, postum, S. 33.
Arnold
Gehlen, Zeit-Bilder, 1960, S. 133.Zitiert
nach : Karl-Siegbert Rehberg, Metaphern des Standhaltens - In memoriam Arnold
Gehlen, in : Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,
28 / 1976, S. 389.Arnold Gehlen, Rede
über Hofmannsthal, 1925, in : Gesamtausgabe, Band 1, postum, S.
3-17, hier : S. 9. Hermann Lübbe, Religion
nach der Aufklärung, 1986, S. 19.Arnold
Gehlen, Rechts zwischen den Kriegen, in : Die Welt, 01.02.1973. Vgl.
Arnold Gehlen, Rede über Hofmannsthal, 1925, in : Gesamtausgabe,
Band 1, postum, S. 3-17. Arnold
Gehlen, Die Bedeutung Descartes' für eine Geschichte des Bewußtseins,
1937, in : Gesamtausgabe, Band 2, postum, S. 363-376, hier : S. 376.
Arnold Gehlen, Der Staat und die
Philosophie, 1935, in : Gesamtausgabe, Band 2, postum, S. 295-310,
hier : S. 309. Arnold Gehlen, Die
Resultate Schopenhauers, 1938, in : Gesamtausgabe, Band 4, postum,
S. 25-49, hier : S. 44. Arnold Gehlen,
Die Resultate Schopenhauers, 1938, in : Gesamtausgabe, Band 4, postum,
S. 25-49, hier : S. 45. Arnold Gehlen,
Die Resultate Schopenhauers, 1938, in : Gesamtausgabe, Band 4, postum,
S. 25-39, hier : S. 46. Aufschlußreich,
daß Gehlen Hegel - trotz seiner »im ganzen unbeschreiblich großartigen
Philosophie« - nicht vorbehaltlos in diese Werschätzung einbezog, weil
diesem vorzuwerfen sei, daß er »die ursprüngliche Wirklichkeit
des völkischen Lebens nur in Ansätzen,a ber nicht im Grundsätzlichen«
begriffen habe, so Arnold Gehlen, Der Irrweg eines großen Denkers - Zum
165. Geburtstag G. W. F. Hegels am 27. August, in: Völkischer Beobachter
vom 27. August 1935. (Ebd., 2000, Anmerkung 19, S. 95).Arnold
Gehlen, Rede über Fichte, 1938, in : Gesamtausgabe, Band 2, postum,
S. 385-395, hier : S. 388. Arnold Gehlen, Der
Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940.Arnold
Gehlen, Der Mensch, 1940, S. 9.Arnold
Gehlen, Der Mensch, 1940, hier in: Gesamtausgabe, 3.1, S. 15.Arnold
Gehlen, Der Mensch, 1940, hier in: Gesamtausgabe, 3.1, S. 37.Arnold
Gehlen, Der Mensch, 1940, hier in: Gesamtausgabe, 3.1, S. 56f..Arnold
Gehlen, Der Mensch, 1940, hier in: Gesamtausgabe, 3.1, S. 57.Arnold
Gehlen, Der Mensch, 1940, hier in: Gesamtausgabe, 3.1, S. 59.Arnold
Gehlen, Der Mensch, 1940, hier in: Gesamtausgabe, 3.1, S. 60.Arnold
Gehlen, Der Mensch, 1940, hier in: Gesamtausgabe, 3.1, S. 145. Die
Formulierung »Mutterschoß der Natur« stammt von dem Anthropolgen
Hermann Klaatsch (**),
der sie 1899 zuerst verwendete. (Ebd., 2000, Anmerkung 19, S. 98).Arnold
Gehlen, Der Mensch, 1940, hier in: Gesamtausgabe, 3.1, S. 393.Arnold
Gehlen, Der Mensch, 1940, hier in: Gesamtausgabe, 3.1, S. 478.Mit
diesen drei Teilen sind übrigens folgende Bücher von Arnold Gehlen gemeint:
Der Mensch. Seine Natur und seine Sellung in der Welt, 1940 (als
1. Teil); Urmensch und Spätkultur, 1956 (als
2. Teil); Moral und Hypermoral, 1969 (als
3. Teil).Arnold Gehlen,
Ein Bild vom Menschen, 1941, in: Gesamtausgabe, postum, Band 4,
S. 132f..Arnold Gehlen, Ein
Bild vom Menschen, 1941, in: Gesamtausgabe, postum, Band 4, S. 138.Arnold
Gehlen, Die gesellschaftliche Situation in unserer Zeit, Vortrag vom 14.
Januar 1961, abgedruckt in: Arnold Gehlen, Anthropologische Forschung (rde
138), 1961.Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral,
1969. **Arnold
Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 10. Die Textstelle ist auch weiter
oben zitiert (**).Arnold
Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, Kapiel 5 (Physiologische Tugenden),
S. 47-77.Arnold Gehlen, Moral
und Hypermoral, 1969, Kapiel 6 (Humanitarismus), S. 79-93.Arnold
Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 92.Arnold
Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 102.Arnold
Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 102. Gehlen zitiert hier Friedrich
Jonas (in: Der Staat, 1965, S. 280), der wiederum Anne-Louise-Germaine
de Staël (1766-1817) zitiert.Arnold
Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 118.Institutionen
bezeichnen gemäß allgemeinem Sprachgebrauch Organisationen, Betriebe
oder Einrichtungen, die nach bestimmten Regeln des Arbeitsablaufes und der Verteilung
von Funktionen auf kooperierende Mitarbeiter (im Rahmen eines größeren
Organisationssystems) eine bestimmte Aufgabe erfüllen. In einem weiteren
Sinne sind Institutionen jegliche Formen stabiler, dauerhafter Muster menschlicher
Beziehungen, die in einer Gesellschaft durch die allseits als legitim geltenden
Ordnungsvorstellungen getragen und gelebt, aber gelegentlich auch
erzwungen werden. Der Begriff Institution bringt insbesondere zum Ausdruck, daß
wiederkehrende Regelmäßigkeiten und abgrenzbare Gleichförmigkeiten
gegenseitigen Sichverhaltens von Menschen, Gruppen, Organisationen nicht nur zufällig
oder biologisch determiniert ablaufen, sondern auch und in erster Linie Produkte
menschlicher Kultur und Sinngebung sind. Mit dem von Herbert Spencer (1820-1903)
ab etwa 1877 entwickelten soziologischen Ansatz, der die Gesellschaft als ein
natürliches kooperatives System (Organismus) betrachtete,
hat dieser Begriff bis heute seine Bedeutung immer dann erwiesen, wenn das Problem
zu klären war, wie eine Gesellschaft durch das Zusammenspiel ihrer Institutionen
als Ganzes und darin die einzelnen Institutionen sich selbst erhalten und - ohne
systemsprengenden Zusammenbruch - verändern und entwickeln können. Eine
soziologisch orientierte Anthropologie, wie v.a. von Arnold Gehlen (1904-1976)
und Helmuth Plessner (1892-1985) entwickelt wurde, verweist im Zusammenhang mit
der Klärung der Beziehungen zwischen Kultur und Gesellschaft auf die Unentbehrlichkeit
der Institutionen für menschliches Leben überhaupt und auf die Bedeutung
der Institutionen als Instrumente der Entlastung der Menschen von Entscheidungsdruck,
während die v.a. an Karl Marx (1818-1883) und Simund Freud (1856-1939) orientierten
Vertreter mehr die Bedeutung der Institutionen als Quelle der Unterdrückung
betonen. In der strukturell-fünktionale Theorie, die v.a. von Talcott Parsons
(1902-1979) und Ralf Dahrendorf (1929-2009) entwickelt und von Niklas Luhmann
(1927-1998) zur Systemtheorie wieterentwickelt wurde, geht es um den Aufweis der
Gesellschaft als Komplex von Normen, Rollen, Status-Beziehungen, der durch allgemeine
Ordnungs- Herrschafts- und Sanktionsmechanismen zusammengehalten wird und für
das Funktionieren und den Zusammenhalt des gesamten Systems von strategisch struktureller
Bedeutung ist. Die allgemeine, d.h. öffentlich anerkannte und garantierte
Institutionalisierung von Ordnung macht hiernach erst eine wechselseitige
Abstimmung des Verhaltens möglich, eröffnet Chancen für Konsenus,
stiftet Leitlinien für Verständigung, Systematisierung und Differenzierung,
so Niklas Luhmann. |