Gewissen ist (a) die Fähigkeit des menschlichen
Geistes, die Sitten, Werte, Normen in ihrer Realität und mit den von ihnen
erhobenen Ansprüchen zu erkennen, (b) die Gesamtheit
der durch die Sozialisation (vgl. Prozesse der Internalisierung) zum Bestandteil
der Persönlichkeit gewordenen Sitten, Werte, Normen, die vom Einzelnen als
für seine Orientierung und sein Handeln verbindlich angesehen werden (vgl.
Über-Ich, Super-Ego, übergeordnete Kontrollinstanz).
So ist z.B. erkennbar (a), daß und wie das
Wertgefühl im Menschen sich Geltung verschafft, denn das Gewissen ist ja
auch, d.h. im engeren Sinne, das sittliche, wertende, normale Bewußtsein.
Es weiß also früher oder später, was z.B. das Gute und das Böse,
das Wertvolle und das Unwertvolle, das Normale und das Unnormale, das Recht und
das Unrecht u.s.w. ist; es weiß früher oder später genau zu unterscheiden,
weiß also auch früher oder später, was das Richtige und das Falsche
im Verhalten, im Handeln, im Sprechen, im Denken, im Lernen u.s.w. ist. Das Gewissen
als ein solches ursprüngliches Bewußtsein ist zwar angeboren,
doch es kann durch Einwirkungen der Umwelt entwickelt oder abgewickelt, d.h. gefördert
oder unterdrückt werden. Die christliche Ethik betrachtet das Gewissen als
das Einfallstor des göttlichen Willens (Georg Wünsch).
Für den reifen Kulturmenschen gibt es nicht nur ein sittliches, sondern
auch ein logisches und ein ästhetisches Gewissen, er kennt, wie für
sein Wollen und Handeln, so auch für sein Denken und Fühlen eine Pflicht,
und er weiß, er empfindet mit Schmerz und Beschämung, wie oft der naturnotwendige
Lauf seines Lebens diese Pflichten verletzt. (Wilhelm Windelband).
Laut Immanuel Kant ()
ist der autorisierte Gewissensrichter eine idealistische Person, welche
die Vernunft sich selbst schafft. Friedrich Nietzsche ()
schrieb 1874 (in: Schopenhauer als Erzieher): Der Mensch, welcher
nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem
zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: »sei du selbst! Das
bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst«. Jetzt bist du
nur ein »öffentlich meinender Scheinmensch«. ().
Dieser öffentlich meinende Scheinmensch, den Nietzsches Sei-du-selbst
()
überwinden sollte, läßt sich als eine Vorwegnahme des Man
()
bei Martin Heidegger ()
deuten. Laut Sigmund Freud ()
datiert das Gewissen seit dem Auftreten des Über-Ich. In der
von Heidegger begründeten Fundamentalontologie ()
ist Gewissen der Ruf der Sorge (),
also Ruf des Daseins, denn laut Heidegger ist Dasein Sorge ().
Das Gewissen ruft den Menschen an und zurück aus der Verlorenheit an das
Man in die Freiheit auf dem Grunde des Nichts. Dieser Ruf ist es,
der die Bewegung des eigentlichen Selbstwerdens ermöglicht. Das Gewissenhabenwollen
konstituiert das eigentliche Seinkönnen des Daseins.
Sitte ist die geschichtlich entstandene, z.B. im Positiven Recht enthaltene Ordnung
des Lebens in der Gemeinschaft, der allgemein gewordene Stil des Handelns und
des Verhaltens (das Schickliche), der in einer Familie, einer Sippe, einem Stamm,
einem Stand, einer Klasse, einem Volk (z.B. einer Nation oder einer Kultur), z.T.
sogar in der größten, aber noch nicht richtig verwirklichten Gemeinschaft
namens Menschheit herrscht und dessen Einhaltung von jedem Einzelnen wie von jeder
Gemeinschaft mehr oder weniger streng gefordert und beobachtet wird. Sitten erreichen
wie viele andere Verhaltensformen und Vereinbarungen Gewohnheitscharakter. Sie
sind aber mehr als das. Man spricht nur von guten Sitten, weil damit ein Sollen,
eine moralische Forderung verknüpft wird.
Sittengesetz bezeichnet die Vorschrift, die das Gute zu tun und das Böse
zu unterlassen gebietet. Es ist laut Immanuel Kant ()
ein Gesetz der Kausalität durch Freiheit und gebietet unbedingt kategorisch,
ohne Rücksicht auf empirische Zwecke. In der christlich-katholischen Moraltheologie
bezeichnet das Sittengesetz die natürliche, verstehbare und absolut verpflichtende,
vorpositive Ordnung als Sollensanspruch an den vernunftbegabten Menschen; als
philosophischer Terminus ist aber zumeist das von Kant als kategorischer Imperativ
bezeichnete Sittengesetz gemeint. Und im Beschluss der Kritik der
praktischen Vernunft (1788) schrieb Kant: Zwei Dinge erfüllen mein
Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter
und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel
über mir und das moralische Gesetz in mir. - So ist das Sittengesetz
oberste Norm zur Begründung und Beurteilung menschlichen Handelns. Die freie
Entfaltung der Persönlichkeit z.B. wird laut Art.
2 Abs. 1 GG durch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung
und das Sittengesetz beschränkt. Das Sittengesetz umfaßt im verfassungsrechtlichem
Verständnis alle sittlichen Normen, die Allgemeingut aller Kulturvölker
sind.
Sittlichkeit ist der Inbegriff des Sittlichen, dessen, was für gut
gehalten wird. Das sittliche Gefühl ist laut Immanuel Kant ()
die empfundene Abhängigkeit des Privatwillens vom allgemeinen Willen.
Die Ethik hat das Wesen der Sittlichkeit zum Gegenstand. Sittlichkeit im Sinne
von Moralität hat nach Kant eine Handlung nur dann, wenn sie nicht bloß
dem Sittengesetz entspricht, sondern v.a. auch aus der Idee der Pflicht selbst
entspringt. Dieser Imperativ
der Sittlichkeit oder kategorischer Imperativ wurde sogar weltweit bekannt. Trotzdem
wurde er natürlich auch kritisiert, z.B. besonders von Friedrich Nietzsche
(),
dessen Imperativ lautet: Du solltest Herr über dich werden, Herr auch
über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen
nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über
dein Für und Wider bekommen und es verstehen lernen, sie aus- und wieder
einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. Du solltest das Perspektivische
in jeder Wertschätzung begreifen lernen. ().
Nietzsche, der eigentlich das Du sollst von sich werfen wollte, lehrte
also doch noch ein neues Du sollst: Du sollst den Augenblick so leben,
daß er dir ohne Grauen wiederkehren kann. Man soll jeden Augenblick so leben,
daß man zu ihm rufen kann: Da capo! - Im Gegensatz zur Moralität, dem
Verhalten nach dem inneren Gesetz, ist die Legalität, das Verhalten nach
dem aüßeren Gesetz, dem Gesetz entsprechend, eine legale Gesetzlichkeit.
Legalität ist das wirkliche Gesetz, während echte moralische Verantwortung
nur selten praktiziert wird.Das von Hegel ()
entwickelte System der Sittlichkeit (1802-1803)
- sozusagen: die erste Vorform seiner Philosophie des Geistes ()
- beinhaltet v.a. seinen Versuch einer philosophischen Rekonstruktion der Sittlichkeit
und die Frage, wie sich das moderne Subjekt in die verschiedenen Sphären
des gesellschaftlichen und politischen Lebens integriert. Hegel suchte diejenigen
Bindungskräfte, die den in seiner Persönlichkeit dem Anspruch nach unverletztliche
Einzelnen vor Isolierung und Entfremdung bewahren und ein erfülltes Zusammenleben
sowie die Verwirklichung von Freiheit sichern sollen. Hegels Einteilung der Sittlichkeit:
Gemäß der allgemeinen Methode zeigt sich die Sittlichkeit in drei unterschiedenen
Formen: (1.) als unmittelbare, einfache Einheit in
der Familie. Diese sittliche Gemeinschaft ist durch Liebe, Fürsorge und Vertrauen
getragen; die Einheit ist für alle Mitglieder höher als ihre Eigenständigkeit
(die Familie ist wie eine Person); unmittelbar bzw. durch die Geburt sind die
Kinder der Gemeinschaft beigetreten. Diese Keimzelle menschlicher Sozialität
bildet das Fundament des Staates. (2.) Als bürgerliche
Gesellschaft werden die Familien nicht mehr in ihrem Innenverhältnis (Beziehung
auf sich), sondern in dem Verhältnis zu den anderen Personen betrachtet (Differenzverhältnis).
Jeder denkt hier zunächst nur an sich selbst; die Sittlichkeit scheint so
verloren zu sein, ist aber indirekt durch die Notwendigkeit, um eigene Bedürfnisse
befriedigen zu können, andere befriedigen zu müssen, erhalten und durch
Rechtswesen und Polizei in geregelten Bahnen gehalten. (3.)
Die höhere Einheit hat die Gesellschaft als Staat. Als die bewußte
Gemeinschaft der allgemeinen Interessen und Zwecke, die wieder ein Binnenverhältnis
gegen andere Staaten ausmacht. Das Recht des Staates ist ... höher
als andere Stufen: es ist die Freiheit in ihrer konkretesten Gestaltung, welche
nur noch unter die höchste absolute Wahrheit des Weltgeistes fällt.
(Ebd., § 33). Die
Sittlichkeit ist ein formales Prinzip, kein materiales Prinzip. Es ist nur ein
anderes Wort eben für das Richtige auf der Grundlage der Wahrheit, das praktisch
Vernünftige. Was das ist, ist je nach Lage was anderes. (Karl Albrecht
Schachtschneider, Vortrag in Mainz, 2010 ).
Moral bezeichnet denjenigen Ausschnitt aus dem Reich der ethischen Werte, dessen
Anerkennung und Verwirklichung bei jedem erwachsenen Menschen zunächst angenommen
wird. Umfang und Inhalt dieses Ausschnittes ändern sich im Laufe der Zeit
und sind bei den Kulturen, Völkern, Bevölkerungsschichten, Stämmen,
Sippen, Familien verschieden (Prinzip der Vielheit der Moral und der Einheit der
Ethik). Stets und überall geht es bei der Moral um das, was gute Sitte
ist, was sich gehört, was sich schickt, was das Zusammenleben
der Menschen dadurch ermöglicht, daß ein jeder Mensch die vollständige
Verwirklichung der Vitalwerte gewissermaßen einschränkt zugunsten der
Verwirklichung der Sozialwerte. Zur geltenden Moral gehören bei allen Völkern
und zu allen Zeiten außer den Sozialwerten auch die von der Religion als
wertvoll bezeichneten Verhaltensweisen. Die Moral ist ein Bestandteil des persönlichen
Mikrokosmos und mitbestimmend für das persönliche Weltbild. Die Auffassung
von der Begründung der sittlichen Werte lediglich in den Tatsachen der Natur
und Kultur der Völker heißt Moralpositivismus, die von den fehlenden
festen Grundlagen einer allgemein gültigen Moral, also von der geschichtlichen
Wandelbarkeit der sittlichen Normen Moralrelativismus.Gibt
es Moral?Mein Hauptsatz: es gibt keine
moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Interpretation dieser
Phänomene. Diese Interpretation selbst ist außermoralischen Ursprungs. (Friedrich
Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 185-186).
Wo
es Moral gibt (),
gibt es auch Unmoral bzw. Amoral. Aber gibt es überhaupt einen Unterschied
zwischen Unmoral und Amoral, und wenn ja: welchen? Den Unterschied zwischen
Unmoral und Amoral sollte man näher erklären, meinte Peter Sloterdijk
im Zusammenhang mit der globalen Finanzkrise 2008 ().
Alle hochkulturelle Moral hängt letztlich an der Tiefe der Verinnerlichung
des Tötungsverbots. Es muß mit allen Mitteln einverleibt werden - christlich
gesprochen mit Furcht und Zittern, polynesisch gesprochen durch das Tabu. Wer
sich über dieses Verbot hinwegsetzt, behält ein Unrechtsbewußtsein
- und wo dieses fehlt, ist die Kultur zerfallen. Man darf aber nicht übersehen,
daß es neben dem Tötungsverbot überall auch ein zweites Urverbot
gibt, nämlich das Verbot der aktiven und der passiven Eifersucht: Du sollst
weder begehren, was andere Menschen haben, noch andere Menschen eifersüchtig
machen auf das, was du hast und was dich auszeichnet. Dieses Gebot stellt die
wichtigste psychosoziale Hygieneregel in allen Kulturen dar, es wurde in einer
jahrtausendelangen moralischen Evolution erarbeitet, es ist die Regel, durch die
das Aufflammen der Gewalt verhindert wird. René Girard hat diese Zusammenhänge
in seinen Studien über den Zweikampf und die mimetische Rivalität in
den Weltkulturen durchleuchtet. Wenn man hingegen, wie wir es tun, die Eifersuchtskonflikte
systematisch aufheizt, um das Betriebsklima einer »Konsumgesellschaft«
herzustellen, sind früher oder später moralische Desorientierung und
psychische Inflation die Folge. Folglich müssen wir versuchen, entweder den
Reichtum zu teilen, oder, wenn er schon ungleich verteilt sein soll, ihn diskret
zu machen und wenn möglich durch Mehrleistung zu rechtfertigen. Heute hingegen
hat sich ein Fortuna-Kult durchgesetzt, mit dem die Göttin des Zufalls gefeiert
wird. Was aber ist ungerechter als der Zufall? Im Grunde genommen leben wir seit
dem 19. Jahrhundert in einer neofatalistischen Religion, in der man eine launenhafte
Göttin, die Freundin der Sieger, anbetet. Sie ist die Göttin der Stadien,
die Göttin der Börsen und die Göttin der erotischen Duelle, sie
ist immer zur Stelle, wo es Sieger und Verlierer gibt. Ihre auffälligste
Eigenschaft ist, daß sie nie sagt, warum sie den einen bevorzugt und den
anderen ignoriert. Begründungen sind nicht ihre Stärke. (Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero, Januar 2009, S. 118).Der
Unterschied betrifft also laut Sloterdijk nur die (Nicht-)Erkennbarkeit
bzw. die (Nicht-)Tarnung: die Unmoral ist relativ leicht erkennbar (kaum getarnt),
die Amoral ist relativ schwer getarnt (kaum erkennbar).Alle Moralphilosophie
ist darum oberflächlich, die nicht in einer Unterscheidung der Gewohnheiten
gründet. Auch eine Kritik der praktischen Vernunft lebt von ungarantierten
Voraussetzungen, solange nicht die wichtigste anthropologische Prämisse geklärt
ist: ob menschliche Wesen überhaupt aus festen schlechten Gewohnheiten herausgelöst
werden können und unter welchen Bedingungen es ihnen gelingt, sich in guten
Gewohnheiten neu zu verankern. Kants bekanntes Argument aus der Friedensschrift,
selbst »ein von Teufeln«, wenn es nur Verstand habe, müsse sich,
um einen passablen modus vivendi zu finden, eine Rechtsordnung geben, die
einer bürgerlichen Verfassung zum Verwechseln ähnlich sähe, leidet
an der Verkennung der antimoralischen Gravitation: »Teufel sein« -
ob arm oder böse, sei dahingestellt - ist ja nur eine Metapher für die
Fixierung eines Akteurs in einem unverständigen Habitus, und ebendessen Aufhebung
macht sich Kant in seinem Plädoyer zu leicht (zumindest an der genannten
Stelle).
Die Kantischen Teufel sind Kaufleute, die wissen, bis wohin sie zu weit gehen
dürfen, brave Egoisten, die ihr Rational-choice-Seminar besucht haben. Ein
wirkliches Volk von Teufeln verkörpert ein Kollektiv aus Fatalisten, bei
denen die Entdisziplinierung das fundamentalistische Niveau erreicht. Sie hausen
nicht bloß in den Kellerlöchern von St. Petersburg, sie sind in jeder
aussichtslosen Banlieue, jeder chronischen Kampfzone beheimatet. In solchen Lagen
ist der Einzelne überzeugt, nichts sei normaler als die Hölle, die man
sich gegenseitigbereitet, seit man denken kann. Kein Teufe lohne seinen Kreis,
keine Hölle ohne den Kreis aus Kreisen. Wer sich an die Hölle gewöhnt
hat, ist gegen die Aufforderung immun, sein Leben zu ändern, und wäre
es im eigenen Interesse. Was eigenes Interesse heißt, ist bereits vom Laufen
im schlimmen Kreis eingefangen. Unter solchen Bedingungen ist fast gleichgültig,
welche Vorgaben man wählt, um die Insassen je eigener circuli vitiosi
zur Vernunft zu bringen, der Mißerfolg ist so oder so gewiß: Weder
darf man sich von der inneren »moralischen Besserung der Menschen«
etwas erhoffen, die auch Kant lebensklug zurückstellt, noch vom äußerlichen
»Mechanismen der Natur durch selbstsüchtige Neigungen«, von deren
gegenseitiger Neutralisierung der Philosoph sich zumindest den erzwungenen Frieden
verspricht. Erfahrung zeigt, Frieden zwischen Bewohnern von Höllenkreisen
resultiert nicht aus der gegenseitigen Temperierung der »selbstsüchtigen
Neigungen«, sondern aus handfesten Asymmetrien. Die können aus einseitiger
Erschöpfung folgen oder aus dem durchschlagenden Sieg einer Pratei. Systemiker
sagen darum, zum Zubehör des Bösen gehört die Unfähigkeit
zu siegen. (Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern,
2009, S. 649-651).
Ethos (von griechisch: éthos = Gewohnheit, Sitte,
Brauch, Charakter, Sinnesart) bezeichnet die
dem Einzelnen vorgängige und ihn mitprägende Lebensgewohnheit. Der Begriff
der Ethik ist hieraus abgeleitet. Ethos bedeutet Gewohnheit, Sitte, Brauch, sittlicher
Charakter, moralische Gesinnung, die in einem Einzelnen oder in einer Gruppe sittliche
bzw. moralische Grundhaltung. Es ist in der modernen Ethik näher bestimmt
durch das Vorherrschen eines sittlichen Bewußtseins.
Ethik ist als Sittenlehre laut Aristoteles ()
die praktische Philosophie, denn sie sucht nach einer Antwort auf
die Frage: Was sollen wir tun? Für die von Kant ()
begründete Ethik ist die Antwort auf diese Frage durch den kategorischen
Imperativ gegeben.
Die Ethik lehrt, die jeweilige Situation zu beurteilen, um das ethisch (sittlich)
richtige Handeln zu ermöglichen. Sie erzieht den Menschen zu seinem Beruf,
die Welt dadurch zu vollenden, daß er das Reich der Seienden mit dem Reich
des Seinsollenden überbaut. Die Ethik untersucht, was im Leben und in der
Welt wertvoll ist, denn das ethische Verhalten besteht in der Verwirklichung ethischer
Werte. Also dient die Ethik der Erweckung des Wertbewußtseins. Wenn es wirklich
so ist, daß die moderne Ethik einen Menschen mehr nach seiner Gesinnung
als nach dem äußeren Erfolg seiner Taten - es sei denn: nach seinen
sittlichen Taten, die über die bloße Legalität hinaus auf Moralität
ausgerichtet sind - beurteilt, dann ist sie zuerst eine Gesinnungsethik. Der Begründer
einer Gesinnungsethik (im Gegensatz zu einer Erfolgsethik) ist wiederum Kant.
Und laut Goethe ()
werden die Menschen durch Gesinnungsethik vereinigt und durch Meinungen getrennt.
Nietzsche (),
der fast alles und also auch sogar Kants kategorischen Imperativ ablehnte, entwickelte
seinen eigenen Imperativ: Du solltest Herr über dich werden, Herr auch
über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen
nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über
dein Für und Wider bekommen und es verstehen lernen, sie aus- und wieder
einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. Du solltest das Perspektivische
in jeder Wertschätzung begreifen lernen. ().
Obwohl er eigentlich das Du sollst von sich werfen wollte, lehrte
Nietzsche also doch ein neues Du sollst: Du sollst den Augenblick
so leben, daß er dir ohne Grauen wiederkehren kann. Man soll jeden Augenblick
so leben, daß man ihm zurufen kann: Da capo! Max Weber ()
stellte die Idealtypen des gesinnungsethischen und des verantwortungsethischen
Handelns gegenüber, um die menschlichen Entscheidungsprobleme zu entfalten,
die dadurch auftreten, daß bei der Realisierung von Zielentscheidungen durch
Anwendung der vom Entscheidenden beherrschten Mittel unter gewissen Umständen
Nebenwirkungen auftreten, die seinen ursprünglichen Handlungsabsichten widersprechen.
Der gesinnungsethisch Handelnde setzt die Inhalte seiner ursprünglichen Grundentscheidungen
kompromißlos in die Tat um, ohne auf die Nebenfolgen und nicht vorausbedachten
Wirkungen aus den eingesetzten Mitteln zu achten. Der verantwortungsethisch Handelnde
beobachtet und berücksichtigt im Prozeß der Zielerreichung die auftretenden
Nebenfolgen seines Handelns und versucht, durch ständiges Wählen des
geringeren Übels seine ursprünglichen Ziele unter Beachtung auch der
entsprechenden moralischen Qualität und praktischen Auswirkungen seiner Mittel
und Wege kompromißhaft zu realisieren. Für den Gesinnungsethiker besteht
die Gefahr, daß sich die unbeachteten (Neben-)Folgen seines Mitteleinsatzes
gegen die Realisierung seiner klar und beständig festgehaltenen Grundsätze
durchsetzen bzw. daß diese Grundsätze dadurch korrumpiert werden. Der
Verantwortungsethiker handelt unter dem ständigen Risiko, daß das fortwährende
Abwägen und Berücksichtigen der Neben- und Zwischenergebnisse seines
Handelns seine ursprünglichen Grundsatz- bzw. Hauptzielentscheidung verdunkeln.Die
durch Erziehung, d.h. Prägung und also auch ethische Besinnung erschlossenen
ethischen Werte ordnen sich von selbst in eine Rangordnung, eine Wertpyramide,
deren Basis von den unbewußt verwirklichten Vitalwerten (Wille zum Leben,
Nahrungstrieb, Geschlechtstrieb u.s.w.) gebildet wird, an deren Spitze der höchste
denkbare Wert steht. Ethische Werte sind Werte der Gesinnung und des Verhaltens.
Jeder Mensch hat die ihm eigentümliche Wertpyramide; und die Wertpyramiden
der Angehörigen von Paar, Familie, Sippe, Stamm, Volk (z.B. Nation oder Kultur,
z.T. auch sogar Menschheit) haben einen gemeinsamen Kern, der die Werte enthält,
deren Verwirklichung von jeder Person und bei jeder Person vorausgesetzt wird.
Die Gruppe der in diesem Kern vereinigten Werte macht die gute Sitte aus, die
geltende Moral. Verwirklichung der Werte bedeutet, daß der von einem Wert
ausgehenden Forderung nachgegeben und daß das alltägliche Leben dieser
Forderung angepaßt wird, daß z.B. die Ehrlichkeit als Tugend nicht
nur anerkannt, sondern konsequent geübt wird. In den Situationen des alltäglichen
Lebens hat der Mensch in der Regel die Wahl zwischen mehreren Werten. Die Ethik
setzt voraus, daß der Mensch die Möglichkeit des Wählens, daß
er F r e i h e i t hat. Die Verwirklichung
des jeweils sehr hoch oder gar höchsten erkennbaren Wertes ist das Gute,
die Verwirklichung des jeweils sehr tief oder gar tiefsten erkennbaren (häufig
nur: tiefer stehenden) Wertes ist das Böse. Werte lassen sich unterscheiden:
(1.) die dem Menschen anhaftenden Grundwerte, die
in alle anderen ethischen Werte mehr oder weniger weit übergreifen: (2.)
die Tugenden; (3.) die Spezialwerte, d.h. die spezielleren
ethischen Werte.Je nach ihrer Begründung ist die Ethik: (aa)
heteronom (fremdgesetzlich: Gott gibt das Sittengesetz) oder (ab)
autonom (eigengesetzlich: der Mensch gibt sich das Sittengesetz), (ba)
formal (ein allgemeines Prinzip für das sittliche Handeln aufstellend)
oder (bb) materiell (sittliche Werte feststellend),
(ca) absolut (wenn sie die Geltung der ethischen
Werte als unabhängig von ihrem Erkanntwerden betrachtet) oder (cb)
relativ (wenn sie die Werte als Funktion der jeweiligen Zielsetzung des
Menschen betrachtet).Im Sinne der Ethik ist z.B. das Man
()
bei Martin Heidegger ()
der Gegenpol zur Persönlichkeit; auf das Man paßt das unreflektierte
Wissen um den kategorischen Imperativ,
während die Persönlichkeit durch das Gleichheitsethos der Gerechtigkeit
(die nur der Person Rechtsschutz gewährt) ebenso rechtlos wird, wie sie es
dem Man gegenüber ist.Ethologie ist Sittenlehre,
die heute fast nur noch als Verhaltensforschung betrieben wird; sie ist und war
ursprünglich die Bezeichnung für die Wissenschaft von der Entwicklung
der Wertsysteme der Sitte (Ethos, Moral u.s.w.), also Sittenlehre (Ethik), und
für die Lehre vom Zusammenhang zwischen Lebensbalauf (Lebenphasen u.s.w.),
Chararktereigenheiteen und Eingliederung in die Strukturen menschlichen Zusammenlebens
Im modernen Sinne ist sie die Bezeichnung für die von Konrad Lorenz ()
begründete Vergleichende Verhaltensforschung, der es auch um Erkenntnisse
zu den Grundantriebskräften des tierischen und also auch menschlichen Soziallebens
geht. Von Gegnern einer solchen Ethologie wird befürchtet, daß dieser
die Probleme menschlicher Gemeinschaften verbiologisiert werden könnten;
in Wirklichkeit aber, jedenfalls hat die Geschichte das ja gezeigt, sind versoziologisierte,
besonders versozialisierte Probleme menschlicher Gemeinschaften viel
menschenfeindlicher, inhumaner.Unter Verhalten
versteht man die Reaktion eines Lebewesens gegenüber seiner Umwelt, alle
beobachbaren Bewegungsbläufe, Körperstellungen und Lautäußerungen
von Tieren und Menschen. Nach Form und Ablauf lassen sich bestimmte Abschnitte
aus dem Gesamtverhalten abgrenzen, die man als Verhaltensweisen bezeichnet. Die
Ethologie als Vergleichende Verhaltensforschung versucht, die Handlungsweisen
der Tiere zu analysieren und ohne vermenschlichende Betrachtung zu deuten sowie
die Handlungsweisen der Menschen zu anlysieren und ohne vertierlichende Betrachtung
zu deuten. Grundlage jeder Verhaltensforschung sind sogenannte Verhaltenskataloge.
d.h. Ethogramme. Sie registrieren die Reaktionen der Tiere und Menschen in ihrer
Gesamtheit und führen sie auf innere und äußere Ursachen zurück.
Verhaltensweisen gliedern sich in verschieden Stufen.(A)
Reflexe spielen bei Tieren und Menschen eine sehr große Rolle; man unterscheidet
unbedingte und bedingte (konditionierte) Reflexe. Beide laufen ohne Zutun des
Willens ab.Menschliche Säuglinge können durch Kopfbewegungen
die Brust der Mutter suchen, sie können z.B. saugen, trinken, weinen und
schreien. Anfangs greifen sie fest um jeden Gegenstand, der ihre Handflächen
berührt - ein Greifreflex. Das sofortige Beherrschen so komplizierter Vorgänge
spricht dafür, daß sie angeboren sind. Taubblind geborene Kinder können
kaum durch Nachahmung lernen. Trotzdem lachen, weinen und zürnen sie, ihr
Gesichtsaudruck ist dabei wie der gesunder Kinder. Auch dies spricht für
angeborenes Verhalten.Kindchenschema: Säuglinge und Kleinkinder
lösen durch ihr Aussehen bei den Mitmenschen (Mittieren) Zuwendung und Zärtlichkeit
aus. Experimente mit Nachbildungen, sogenannte Attrappenversuche, zeigen, daß
verschiedene Merkmale das Zuwendungsverhalten auslösen: volle Wangen, große
Augen, großer Kopf im Verhältnis zum sonstigen Körper, tollpatschige
Bewegungen. Für Säuglinge ist die enge Mutter-Kind-Beziehung oder die
enge Beziehung zu einer anderen festen Bezugsperson überlebensnotwendig.
Aus dieser emotionalen Beziehung entwickelt sich später ein Vertrauen zur
Umwelt, das sogenannte Urvertrauen. Es ist Voraussetzung für eine gesunde
Persönlichkeitsentwicklung. Die Merkmale (Reize) des Kindchenschemas bewirken
bei Menschen aller Kulturkreise Zuwendungsverhalten. Dies spricht dafür,
daß es sich hier um eine angeborene Reaktion handelt.(B)
Instinkte sind angeborene Verhaltensweisen. Typische Schlüsselreize wirken
auf nervöse Zentren. Man spricht von angeborenen Auslösemechanismus.
Instinkthandlungen werden durch spezifische Schlüsselreize über einen
angeborenen Auslösemechanismus ausgelöst. Instinkte reifen
erst in einem bestimmten Lebensalter, z.B. der Fortpflanzungsinstinkt. Die Rivalenkämpfe
während der Brunftzeit sind hier zu nennen. Bei Tiergemeinschaften muß
sich jedes Einzeltier seine soziale Stellung erkämpfen. So findet man z.B.
bei Hühnern eine genaue Rangordnung, die durch Kämpfe festgelegt wird.
Die meisten Wirbeltiere (Vertebraten, Vertebrata)
verteidigen ihr Revier gegen Feinde und Rivalen. Das Territorium kann durch Gerüche
markiert, durch Gesang oder durch Drohgebärden (Imponiergehabe) verteidigt
werden. Tödliche Kämpfe werden dabei in der Regel vermieden. Ein unterlegener
Gegner löst durch eine Demutsstellung beim Sieger einen Hemmungsinstinkt
aus. Das soziale Gefüge der Insektenstaaten beruht auf angeborenen Instinkten.
Bei den Wirbeltieren liegen die nervösen Zentren der Instinkthandlungen im
Stammhirn.Instinktverhalten kann, besonders bei höheren Tieren und
Menschen, durch Erfahrung modifiziert werden. Das Instinktverhalten ist hierarchisch
organisiert; durch Stimulation übergeordneter Zentren können untergeordnete
erregt oder gehemmt werden, wobei die jeweils auslösende Reizsituation die
entscheidende Rolle spielt. Bei gleichberechtigten Verhaltensweisen hemmt oft
die Ausführung der einen die übrigen. Oft ist eine gewisse Stimmung
(Bereitschaft, Trieb) Voraussetzung für den Ablauf des Instinktverhaltens
(z.B. Hunger, Brunst u.ä.), die ein Appetenzverhalten ()
zur Folge hat, in dessen Verlauf es zur triebbefriediegenden Endhandlung (z.B.
Schlagen einer Beute) kommen kann.(C)
Handeln, also einsichtiges Handeln ist ist eine der höheren Stufen des Verhaltens.
Im Gegensatz zu Reflex und Instinkt richtet es sich nach den im Augenblick herrschenden
Gegebenheiten. In seinen Anfängen zeigt es sich auch schon bei Tieren. Im
Vergleich zu den Tieren ist es beim Menschen am höchsten entwickelt. Voraussetzung
für bewußtes vom Willen gesteuertes Verhalten ist die Fähigkeit
zu lernen.Man unterscheidet verschiedene Formen des Lernens (sie können
auch miteinander gekoppelt sein): Gewöhnung, Neugier, Spiel, Nachahmung,
Konditionierung, Lernen durch Versuch und Irrtum, Selbstkontrolle.Der
Mensch kann sein Verhalten überdenken und selbst bestimmen. Er kann und muß
sich seine Handlungen bewußt machen, auch kritisch bzw. skeptisch bewußt
machen. Menschliches Zusammenleben ist durch Normen, Wertvorstellungen, Sitte
geregelt. Bei der Vermittlung solcher kommt der Erziehung eine wichtige Aufgabe
zu. Ein Problem beim friedlichen Zusammenleben der Völker ergibt sich dadurch,
daß die ethischen Grundsätze verschiedener Kulturen ()
nicht völlig miteinander übereinstimmen.Daß die Biologie
den Menschen zum Spielball angeborener Verhaltensprogramme erkläre - dieses
Vorurteil ist schier unausrottbar. ().
Tatsächlich dagegen betont die Verhaltensforschung, daß die Fähigkeit
zur freien Willensentscheidung ()
keineswegs von stammesgeschichtlich ererbten Instinkten ausgeschlossen wird. Im
Gegenteil: er wird durch sie überhaupt erst frei. Jeder kennt die anschaulichen
Beispiele der Verhaltensforschung, zum Beispiel weibliche Formen als »Auslösereiz«
für männliches Sexualverhalten, das berühmte »Kindchenschema«
- also große Augen, Stubsnase und hohe Stirn - als Auslöser für
Brutpflegeverhalten, auf den wir bei Kätzchen so sicher ansprechen wie bei
Kindern, und viele andere. Niemand aber muß auf den »Auslöser«
hin das angeborene Verhaltensprogramm ablaufen lassen. Es bildet nur die jederzeit
durch den Willen korrigierbare Basis unseres Verhaltens. Wir müssen uns nicht
ständig bewußte Gedanken über alles und jedes machen, weil ein
Teil unseres täglichen Verhaltensrepertoires instinktiv abrollt. Niemand
muß erst nachdenken, ob er einen Bekannten auf der Straße beim Grüßen
anlächelt. Das besorgt ein angeborenes Verhaltensprogramm für ihn, wenn
- ja wenn - er das Lächeln nicht willentlich unterdrückt, was er jederzeit
kann. Gerade diese Verhaltensprogramme entlasten uns. Sie halten uns durch ihre
Funktionen den Kopf frei für die Gedankengänge und Entscheidungen, die
wir bewußt treffen wollen. Die moderne Naturwissenschaft hat auch die intuitive
Vermutung bestätigt, daß grundlegende Moralvorstellungen, die sich
bezeichnenderweise in allen menschlichen Kulturen finden, auf der Arterhaltung
dienenden Verhaltensprogrammen beruhen. Daß ich ein hilflos am Straßenrand
liegendes Kleinkind aufnehme und beschütze, ist nicht erst Gebot der Moral:
Ich könnte den zwingenden Drang dazu kaum unterdrücken. Dieser Drang
ist genetisch in mir fixiert. »Aus evolutionstheoretischer Sicht ... hat
sich alles, was wir heute als moralisch oder unmoralisch ansehen, allmählich
entwickelt und dient in erster Linie dem Überleben. So wie die Verhaltensforschung
einen entscheidenden Beitrag zu einer Neutralisierung des (menschlichen) Denkens
und Erkennens leistet, so leistet sie analog dazu also auch einen wichtigen Beitrag
zu einer Neutralisierung der Moral.« ().
Doch wenn auch »unser gesamtes moralisches wie auch kognitives Verhalten
evolutiv durch Mutation und Selektion entstanden ist und somit in unseren Genen
verankert ist«, gehört zu unserem Verhaltensrepertoire auch
die freie Entscheidung gegen die angestammte Moral. Es sind nämlich durchaus
»beide Fähigkeiten, also sowohl das Aufstellen eines hohen ethischen
Gebots wie auch das situationsbedingte Durchbrechen eben desselben, in verschiedensten
Varianten in unseren Genen angelegt.« ().
Wir können darum den Forschungsergebnissen der Genetik, der Soziobiologie
und der Hirnforschung zwar glauben, welche Gehirnregionen bei welchen Gefühlen
aktiv sind, welche zwischenmenschlichen Situationen sie auslösen und warum
ein genetischer Code für moralanaloge Handlungen der Arterhaltung dient.
Daß aus diesem empirischen Sein ein normatives Sollen folge, sagt uns die
Biologie aber ausdrücklich nicht. Es bleibt eine »irrige Vorstellung,
... man könnte irgend etwas normativ Verbindliches aus der Biologie ableiten.«
().
Sie erklärt uns nicht zu genetisch determinierten Sklaven unserer Triebe,
und nimmt uns weder die Last der freien Entscheidung ab noch die Lust auf diese
Freiheit. (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995,
S. 32-33).
Tugend ist die ständige Gerichtetheit des Willens auf das Sittlich-Gute;
sie ist selbst sittlich gut und ein sittlicher Wert. Laut Platon ()
ist die Tugend die Tauglichkeit der Seele zu dem ihr gemäßen Werk,
gibt es 4 Kardinaltugenden - Weisheit, Tapferkeit (Willensenergie), Besonnenheit
(Maßhalten, Selbstbeherrschung), Gerechtigkeit -, aus denen alle anderen
Tugenden folgen. Das Christentum ergänzte die 4 um 3 weitere Kardinaltugenden:
Glaube Liebe, Hoffnung. Laut Aritoteles ()
ist Gott als der unbewegte Beweger zugleich die Angel (cardo) des Weltalls. Die
vier Angeln, die die beiden Türen eines Kirchenportals tragen, sind früher
häufig durch die Symbolik der Kardinaltugenden dargestellt worden. Jede Tugend
ist, jedenfalls im Sinne von Aristoteles, ein Mittleres zwischen zwei (verwerflichen)
Extremen: die Weisheit zwischen Prahlerei und Dummheit, die Tapferkeit zwischen
Tollkühnheit und Feigheit, die Besonnenheit zwischen Zügellosigkeit
und Gefühlsstumpfheit, die Gerechtigkeit zwischen Unrechttun und Unrechtleiden
(diese für die vier Kardinalugenden), die Freigebigkeit zwischen Kleinlichkeit
und Vergeudung, die Sanftmut zwischen Jähzorn und Unfähigkeit zum (gerechten)
Zorn. Es gab aber auch in der Antike noch verschiedene andere Richtschnuren; so
ist die Tugend z.B. laut Kyreanäiker ()
der Hedonismus (sinnliche Lust, Vergnügen, Genuß als Motiv), laut Stoiker
()
das vernunft- und naturgemäße Leben, laut Epikuräer ()
die richtige Einsicht in die Bedingungen der wahren Lust. Die Definition von Kant
():
Tugend ist die moralische Stärke in Befolgung seiner Pflicht, die niemals
zur Gewohnheit werden, sondern immer ganz neu und ursprünglich aus der Denkungsart
hervorgehen soll. Laut Goethe ()
ist die Tugend das wahrhaft Passende in jedem Zustande. Goethes Vorstellung
von Sittlichkeit war gesellschaftlich gedacht und ein bestimmendes Element in
seinem Schaffen. Jeden dualistischen Rigorismus vermeidend weist Goethes Ethik
stets ins Praktische. Dabei hat sie sich zwischen Tätigkeit
und Entsagung in Person und Gesellschaft zu bewähren.
Durch diese Polarität ist Goethes Ethik über die Glückseligkeitstheorien
des Rationalismus hinausgehoben.
Wert als ein übergeordnet Anerkanntes ist keine Eigenschaft irgendwelcher
Dinglichkeit, sondern eine durch die Fähigkeit des Wertens erkennbare
Wesenheit, zugleich die Bedingung für das Wertvollsein der Objekte.
Er ist das, was z.B. anschauens-, anerkennens-, erstrebenswert
ist. Die Vielheit der menschlichen Bedürfnisse und Gefühlsweisen
erklärt neben den biologischen, soziologischen (inklusive politischen)
und pädagogischen Bedingungen die Verschiedenartigkeit der Wertung.
Werte sind allgemeine und grundlegende Orientierungsmaßstäbe
bei Handlungsalternativen und geben den Menschen Verhaltenssicherheit;
aus ihnen leiten sich Normen und Rollen ab (und auch umgekehrt: Werte
leiten sich aus Normen und Rollen ab), die das Alltagshandeln bestimmen.
Die Gesamtheit der gesellschaftlichen Werte bildet das für die Integration
und die Stabilität einer Gesellschaft bedeutende Wertesystem. An
der Spitze der gesellschaftlichen Wertehierarchie stehen die Grundwerte.
Die Möglichkeit, Werte nach Intensität und Art voneinander zu
unterscheiden, führt zu deren messenden Erfassung. Die
Wertarten werden formal unterschieden als positiver oder negatver Wert
(Unwert, Mißwert), als relativer und absoluter Wert oder als subjektiver
und objektiver Wert. Inhaltliche Unterscheidungen sind Güterwerte
(das Angenehme, Nützliche, Brauchbare u.s.w.), logische, ethische
und ästhetische Werte: das Wahre, das Gute, das Schöne. Als
Inbegriff für die Entwertung aller Werte gilt der Nihilismus, da
er verneint.
Aus jedem
Wertgeschätzten folgen die Bildung eines Wertes und eines entsprechenden
Unwertes. »Jeder Wert ist die Schätzung einer Sache im Vergleich mit
einer anderen, also ein Vergleichungsbegriff, mithin relativ, und diese Relativität
macht eben das Wesen des Begriffs Wert aus.« ().
Sie mögen »noch so hoch und heilig gelten, als Werte gelten sie immer
nur für etwas oder für jemanden. .... Wer ihre Geltung behauptet, muß
sie geltend machen. Wer sagt, daß sie gelten, ohne daß ein Mensch
sie geltend macht, will betrügen.« ().
Ist das Wertgeschätzte ein überindividuelles Verhalten, folgen aus ihm
notwendig ein Gebot und ein Verbot: Aus dem Wert folgt die Norm. In jeder Norm
steckt der Anspruch, im praktischen Anwendungsfall solle ein angenommener Wert
respektiert werden. Jede Norm verkörpert auch ein ethisches Prinzip, das
sich als Tugendgebot formulieren läßt. Metaphysisch überhöht
wird der Anspruch des Individuums zur Moralforderung. Befiehlt der Staat, wird
die Norm zum Gesetz. ().
- Die werthaltige Moral bezieht sich auf den sie empfindenden Menschen selbst
zurück. Wendet sie sich nach außen, mutiert sie zur Norm. Moralische
Werte sind demzufolge nicht außerhalb, sondern in uns. Und soweit sie transzendent
sind, sind sie nicht als »Wesenheiten« real. Weil es Transzendentes
nur in unserer Vorstellung gibt, sind sie lediglich immanent. Während wir
ihnen zu dienen glauben, dienen wir in Wahrheit nur uns selbst. Unsere Haltung
zum Wert ist mit den Worten Sombarts ()
nicht Opfer, sondern Anspruch, wir dienen ihnen nicht, wir nutzen sie für
unseren Machtanspruch. Das ist der Anspruch an unsere Umwelt, uns zu respektieren,
wie wir uns in unseren gesetzten Werten widerspiegeln und in den aus ihnen folgenden
Normen den Anspruch auf soziale Geltung erheben. »Ohne die objektive Evidenz«
eines Wertes »für Andersdenkende auch nur im geringsten zu vermehren«,
führt der normativistische Wertglaube zu nichts als einem »Moment der
Selbstverpanzerung«, einem neuen »Vehikel der Rechthaberei, das den
Kampf nur noch schürt und steigert.« ().
(Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 59-60).Hobbes
hatte unter Würde ganz nüchtern den Wert verstanden, den seine Mitmenschen
dem einzelnen Menschen zumessen: Jeder könne seinen eigenen Wert so hoch
einschätzen wie er wolle; »wirklich bestimmt wird er nur durch das
Urteil anderer.« ().
Auch für Pufendorf folgt die menschliche Würde aus seiner Selbstachtung
und dem Anspruch an seine Mitmenschen, als Mensch geachtet zu werden. ().
Zum Staatsfundamentalwert wird die Menschenwürde unter Geltung der liberalen
Weltanschauung, die jedem Individuum denselben prinzipiell unendlichen Wert beimißt.
Das Metaphysische der Menschenrechte und der Menschenwürde besteht also darin,
daß konkrete Geltungsansprüche und ein bestimmtes Menschenbild transzendiert
werden. So rechtfertigt sich die flapsige Bemerkung des Amerikaners Alasdaire
MacIntyre, wer an sie glaube, könne auch gleich an Hexen und Einhörner
glauben. - Zu Rechten werden die Menschenrechte erst durch einen normstiftenden
Gesetzgeber, der den Anspruch gesetzlich anerkennt und staatliche Durchsetzung
verspricht. Indem der Gesetzgeber den ethischen Wert der Menschenwürde und
die aus ihr folgenden Menschenrechte in das positive Verfassungswerk übernommen
hat, hat er sie erst zum Rechtswert erhoben und zum verbindlichen Gesetz gemacht.
().
Idealtypisch erweist sich das anhand Art.
1 Abs. 1 GG, in dem sich das deutsche Volk zunächst metaphysisch zu transzendenten
»unverletztlichen und unveräußerlichen Menschenrechten bekennt
(!)« und diese erst in Abs.
2 positiviert, indem es sie als Grundrechte zu den Staat bindenden positiven
Gesetzen erklärt. Vor allem anderen steht der individuelle Wille, der sich
in Form eines generalisierenden Befehls an alle kleidet. Dieser Wille des Gesetzgebers
hat sich in der verfassungsmäßigen Wertentscheidung ()
geäußert. Die axiomatischen Grundannahmen einer jeden Weltanschauung
sind nicht hinterfragbar, und ihre Geltung ist subjektiv. »Die höchsten
Zwecke und Werte des Rechts«, so der Kern von Radbruchs Rechtsphilosophie,
»sind nicht nur verschieden nach Maßgabe der sozialen Zustände
der verschiedenen Völker und Zeiten, sie werden auch subjektiv von Mensch
zu Mensch verschieden beurteilt, je nach Rechtsgefühl, Staatsauffassung und
Parteistandpunkt. Die Entscheidung kann nur aus der Tiefe der eigenen Persönlichkeit
geschöpft, kann nur Gewissensentscheidung sein.« ().
Es gibt keine universalisierbare Ethik ohne Metaphysik. Diese kann aber jeder
nur in sich erzeugen, darum ist sie subjektiv und relativ. .... - Der Wertepositivist
befreit den Rechtsbegriff von allem normativistischen Ballast, auch dem legalistischen.
Er wertet damit das Politische als eigenberechtigten Aspekt menschlichen Daseins
auf. Jeder Kampf gegen ein Recht, in dem sich Machtansprüche in moralisierender
Form niederschlagen, ist ein politischer Kampf und kann nur politisch geführt
werden. - Die Gretchenfrage der Rechtstheorie ist immer die nach der Möglichkeit
gesetzlichen Unrechts. (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung,
1995, S. 60-62).
Werttheorie ist innerhalb der Philosophie die zentrale Theorie der Wertlehre und
innerhalb der Wissenschaft die zentrale Theorie der Nationalökonomie, besonders
der klassischen (),
die von der Frage ausgeht, wonach sich das Verhältnis bestimmt, zu dem Waren
ausgetauscht werden, und letztlich 4 Fassungen der Werttheorie unterscheidet:
(1) die konventionell-tautologische Werttheorie,
nach der Angebot und Nachfrage die Tauschverhältnisse bestimmen; (2)
die klassische Kostentheorie (Adam Smith),
nach der sich die Waren zu ihren Werten tauschen, die wiederum durch die Kosten
für Boden, Arbeit, Kapital als die 3 Produktionsfaktoren bestimmt sind, wobei
die 3 Einkommensformen (Grund-)Rente, Lohn, Profit die Wertbestandteile der Waren
bilden; (3) die Arbeitswertlehre (),
nach der sich die Waren zu ihren Werten tauschen, die durch die zu ihrer Produktion
aufgewandte Arbeit bestimmt sind; (4) die subjektive
Werttheorie (auch: Nutzentheorie), nach der sich die Waren gemäß
der Wertschätzung der am Tauschakt Beteilgten tauschen, d.h. nach ihrem jeweiligen
Nutzen.
Axiologie (von altgriech. axios, Wert, und logos, Wort,
Rede, Kunde, Sprache, Logik) ist
Wertlehre als formale Theorie der Werte. Beispielsweise bezeichnet die Wertblindheit
die Unfähigkeit, Werte überhaupt zu empfinden und sie sich im Erleben
zu eigen zu machen. Wertblindheit ist schon an dem Mangel an Ehrfurcht zu erkennen.
Nicht nur beim ästhetischen Wertempfinden (z.B. Musikalität, Sehen des
Naturschönen u.s.w.), sonderm auch beim ethischen und religiösen wird
angenommen, daß Wertblindheit auf mangelnden biogenetischen Anlagen, auf
Unbegabung oder auf dem sozialen Umfeld beruhen kann, daß sie also in nicht
wenigen Fällen durch vorgelebte Wertsituationen und häufiges Miterleben
des Wertgefühls überwunden werden kann. Ein typisch abendländisches
Beispiel ist die Arbeit. Die Wertlehre der Arbeit
ist die ökonomische Wertlehre, nach der sich der Wert eines Gutes nach der
Menge der zur Produktion aufgewandten Arbeit bemißt. Adam Smith ()
entwickelte die Grundkonzeption der klassischen Arbeitswertlehre, eine
weiterführende Deutung gab David Ricardo, als er die Smith noch als wertbestimmend
geltenden Faktoren Boden und Kapital als marktabhängige
Variablen aus der Wertsphäre ausklammerte. Nach Karl Marx ()
ist Arbeit sowohl Wertmaßstab wie Wertschöpfungsfaktor. Sie bestimmt
laut Marx den objektiven Wert der Ware (Wert der in ihr enthaltenen gesellschaftlich
notwendigen Arbeitszeit) und ihren Gebrauchswert. Arbeit als Programm der Ethik
ist ja so etwas wie Einsatz, Aufwand, Drangeben: die Person setzt sich ein,
wendet Kraft auf, gibt ihre Energie dran. Die Arbeit will vollbracht, »geschafft«
sein. Sie stößt nicht nur auf den Widerstand der Sache, sie ringt ihm
auch das Erstrebte erst ab, ringt es ihm auf. Die Tendenz des Menschen geht dahin,
über die Arbeit hinauszuwachsen, ihrer Herr zu werden. Er »erfährt«
also ständig in seiner Arbeit sowohl sich selbst als auch die Sache: sich
selbst in der Spontaneität eingesetzter Energie, der physischen wie der geistigen,
die Sache in ihrem Widerstand gegen diese. Beides ist unaufhebbar aneinander gebunden,
und beides ist Realitätserfahrung. (Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung
der Ontologie, 1935).
Bei der Kombination mit anderen Produktionsfaktoren kann Arbeit einerseits ausführende,
objektbezogene und andererseits planende, kontrollierende und leitende Funktion
haben. In der Volkswirtschaft ist die Dreiteilung in Boden, Arbeit, Kapital (Produktionsfaktoren,
produzierte Produktionsmittel) am verbreitetsten, doch z.T. wird auch allein die
Arbeit als eigentlicher Produktionsfaktor angesehen, z.T. wird als 4. Produktionsfaktor
die unternehmerische Leistung einbezogen. Der Arbeit kommt somit ein hoher Stellenwert
zu, allerdings nur im Christentum und hier besonders im westlichen Christentum,
also im Abendland (vgl. lat. ora et labora, bete und arbeite
(),
als verbindliche Klosterregel seit Benedikt ()
von Nursia (heute: Norcia). Im außerchristlichen Raum ist der Begriff Arbeit
unbekannt; dort gilt die Arbeit, wenn nicht als Fluch, so doch als das, was das
Leben zur Last macht und den Menschen hindert, sich um sich selbst zu kümmern.
Obwohl z.B. China seit Ende des 20. Jahrhunderts ökonomisch kräftig
zugelegt hat und seitdem stolze Wachstumsraten aufzuweisen hat, gilt für
den gesamten chinesischen Kulturkreis eigentlich eine völlig andere Einstellung
zur Arbeit als bei uns im Abendland: Nach chinesischer Auffassung ist der
am kultiviertesten, der auf die klügste und überlegenste Weise müßig
zu gehen versteht. Man empfindet bei uns einen geradezu weltanschaulichen Widerspruch
zwischen angestrengter Tätigkeit und Weisheit. Der Weise ist nie in Schaffenshast,
und der Hastige ist niemals weise. (Lin Yutang, Weisheit des lächelnden
Lebens, 1949). Kulturgeschichtlich ist der Begriff Arbeit, wie wir Abendländer
ihn verstehen, bei uns im Abendland entstanden, auch so nur bei uns im Abendland
gebräuchlich und im ausschließlich positiven Sinne auch nur bei uns
im Abendland gültig. Eine positive Einstellung zur Arbeit wie die der dynamischen
Abendländer ist außerhalb dieses faustischen Kulturkreises nirgendwo
zu finden. Nichtabendländer kennen keinen Arbeitswert und demzufolge auch
keine Arbeitswertlehre, es sei denn zum Zwecke der Negation. Daß wir Abendländer
während unserer Kolonisation bzw. unseres Imperialismus den Nichtabendländern
abendländische Werte und also auch z.B. den Arbeitswert beigebracht haben,
ist wahr, wahr ist aber auch, daß dies zumeist erfolglos geschah. Dank der
abendländischen Moderne sieht man aber, und zwar besonders in Ostasien, daß
die verschiedenen Kulturen ()
auch voneinander lernen können - obwohl solche Lernvorgänge häufig
nur Technik und Wirtschaft betreffen.
Norm bedeutet Richtschnur, Vorschrift, auch Maßstab der Beurteilung und
der Bewertung. Im Gegensatz zum Gesetz, das ein Sein oder Geschehen aussagt, und
zur Regel, die entweder erfüllt wird oder nicht, gibt die Norm an, was auf
jeden Fall sein oder geschehen soll (hierin erkennt man die Nähe zur Ethik).
Im einzelnen lassen sich unterscheiden: sittliche, ästhetische und logische
Normen (weshalb Ethik, Ästhetik, Logik als normative Disziplinen der Philosophie
bezeichnet werden), ferner juristische und technische Normen.Es
ist der Mensch, der normiert. Er determiniert final (),
mißt dem Sein seinen Sinn zu, und diesen gedanklichen Akt der Sinnbestimmung,
der Determination, nennen wir, wenn er sich auf eine normative Ordnung richtet,
Dezision. Der Dezisionist ist sich seiner Zwecksetzungsmacht bewußt,
setzt sich willentlich ex nihilo ein Ziel, bewertet, stiftet einen Sinn
und nimmt alle drei Akte des Finalnexus ()
bewußt vor. Dezision ist Sinnstiftung: Sie allein erzeugt die Normen.
Die menschliche Entscheidung allein normiert. Die Werte und ihr Sittengesetz stellen
keine reale Macht dar: Sie bestimmen uns nicht vorher wie Naturgesetze. Wir finden
im bloß Kausalen ()
keine geistigen Normen vor, keine finalen Ziele. Diese müssen wir uns selbst
schaffen. Wer moralische Werte dagegen für reale Mächte außerhalb
unseres Selbst hält und ihnen die Kraft beimißt, unser Leben zweckgerichtet
zu bestimmen und uns einen Sinn vorzugeben, muß zwangsläufig dem Menschen
jede Freiheit und Verantwortlichkeit absprechen. »Die widerspruchslos
hingenommene Vorstellung von einer von vornherein durchgehend final determinierten
Welt schließt ja zwingend jegliche Freiheit des Menschen aus ()
und beschränkt ihn auf das Verhalten eines Schienenfahrzeuges, das sein Ziel
zwangsläufig erreicht. Diese Vorstellung bedeutet die absolute Verneinung
des Menschen als eines verantwortlichen Wesens.« ().
Gegen die Vorstellung des Menschen, der einem Schienenfahrzeuge ähnlich aus
einprogrammierten Gleisen nicht heraus kann, hat sich auch Eibl-Eibesfeldt immer
wieder ausgesprochen. Er betont die Entlastungsfunktion des Angeborenen, die uns
den Kopf für unser geistiges Leben freihält, und resümiert: »Erst
über die Entlastungsfunktion eröffnen sich uns Freiheiten.« ().
Es ist die Freiheit, uns selbst zu erkennen, zu definieren und uns damit selbst
zum Maßstab unserer Wertentscheidungen zu machen. Es wäre schrecklich
zu denken, als Menschen in dieser Welt die Fähigkeit der Sinnstiftung zu
besitzen und alles Dasein schon sinnerfüllt vorzufinden. Der Normendiener
hingegen sieht sich niemals in der Entscheidungslage, einen normativen Sinn erst
setzen zu müssen: Der ist schon da! Wie im Märchen vom Hasen und vom
Igel ist für das teleologische Denken des Normativisten überall schon
ein letzter Sinn da: ein teloV, ein höchster Wert,
eine nicht mehr hinterfragbare Norm, eine Seinsordnung oder irgendein anderes
transzendentes Etwas. Von Hartmanns Dreischritt ()
verzichtet er auf den entscheidenden ersten Akt: der Dezision. Mit seinem »Verzicht
auf eigene, autonome Sinngebung vernichtet der Mensch sich selbst moralisch und
gibt sich preis.« ().
Dieser Verzicht ist Wesensmerkmal jedes Normativismus. Er versteht die Welt teleologisch
von einer normativen Idee her. Dadurch gelangt er zu einer finalen Vorherbestimmung.
Sein Determinismus stuft den Menschen zu einem dienenden Rädchen im Getriebe
eines final schon festgelegten Weltlaufes herab. (Klaus Kunze, Mut zur
Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 27-28).Normativisten glauben
an die Einordnung des Menschen in einen von einer metaphysischen Ordnung erfüllten
Kosmos, und Dezisionisten sind dagegen Realisten, die sich die geltenden Normen
selbst schaffen. Klaus Kunze ()
meint: Wer für Ordnung eintritt, kann nur zwei philosophische und damit
staatspolitische Richtungen einschlagen: Er kann sich den Normendienern anschließen
oder den Normenbenutzern. .... Während der Normativist an eine nicht hinterfragbare
Ordnung glaubt, der Mensch und Kosmos unterworfen sind und die es allenfalls zu
vollstrecken gilt, muß der Dezisionist erst die Vorfrage entscheiden, ob
er sich und die Welt überhaupt einer Ordnung unterwerfen will. Wer Ordnung
weder schaffen noch sich entschließen kann, sich irgend einer Ordnung zu
unterwerfen, landet in der nackten Beliebigkeit der individuellen Willkür.
Es gibt immer einzelne, die bewußt aus der Abwesenheit jedweder Ordnung
ihren Vorteil zu ziehen suchen. .... Diejenigen Dezisionisten dagegen, die sich
für eine bestimmte Ordnung der menschlichen Verhältnisse entscheiden,
treffen sich mit den Normativisten im Kampf für eine Ordnung gegen das Chaos.
Dabei kann die konkrete Ordnung, für die der Normenbenutzer sich entschieden
hat, dieselbe sein, an die der Normendiener glaubt. Nur handelt jener, mit Worten
Mohlers, immer »im Namen des Ganzen, im Namen der universalen
Ordnung« und dient ihr. ().
Der Normenbenutzer dient niemandem. Auf der Grundlage des ontologischen Nominalismus
hält er nur sich selbst und konkrete Menschengruppen für wirklich existierend.
Alle idealen Ordnungen sind Ausgeburten der Vorstellungskraft. Darum handelt er
bescheiden im eigenen Namen, nicht aber im Namen von Göttern oder Fiktionen
wie Seinsordnungen oder dem Menschen an sich. Ihn entmutigt es durchaus
nicht, allein im Chaos zu stehen und geordnete, geformte Wirklichkeit immer wieder
neu schaffen zu müssen. Gerade aus diesem ewigen Konflikt, der immerwährenden
Aufgabe und Aufforderung zur schöpferischen Gestaltung, bezieht er seine
Zuversicht. .... Der Normendiener hingegen braucht den Glauben an eine menschlichem
Geist prinzipiell erkennbare vorgegebene Seinsordnung. Er wird, so münze
ich Mohlers Worte über den Universalisten und den Nominalisten um, »niemals
begreifen, weshalb der« Dezisionist »durch das Komplexe der Wirklichkeit
keineswegs gelähmt wird. Im Gegenteil: daß er die Wirklichkeit als
Chaos erfährt, reizt ihn, diesem Chaotischen etwas Gestaltetes gegenüberzustellen.
Die Antwort auf das unendliche Chaos ist die übersichtliche, in sich geschlossene
Form.« ().
Das Weltbild von normativistischen und von dezisionistischen Vertretern des Ordnungsdenkens
beruht auf unterschiedlichen Denkstrukturen: Sie beantworten die Frage unterschiedlich,
ob erst das Ei da war oder die Henne. Dem Verhältnis zwischen Ei und Henne
entspricht hier das zwischen einer normativen Ordnung und ihrem Schöpfer.
Für den Dezisionisten muß zum Legen normativer Eier immer eine dezisionistische
Henne da sein, weil es eine Seinsordnung ohne Schöpfer ebensowenig geben
kann wie ein Ei ohne Henne. Für den Normativisten dagegen ist klar, daß
kein Schöpfer eine Ordnung schaffen kann, der nicht zuerst selbst aus einer
unvordenklichen Seinsordnung hervorgegangen ist, geradeso wie auch die Legehenne
zuvor aus einem Ei geschlüpft sein muß. Diese Frage, wer zuerst da
war, läßt sich hinsichtlich des kosmologischen Urgrundes alles Seienden
nicht mit Mitteln der Logik beantworten. Anders im Bereich menschlichen Zusammenlebens:
Wir Menschen und unsere haarigen Vorfahren existieren nachgewiesenermaßen
seit Zeiten, in denen diese gewiß noch keinerlei moralische Bedenken hatten.
So verschieden die Denkstile der Normativisten und der Dezisionisten sind, so
verblüffend oft läuft ihr Denken aber auf dieselben Denkinhalte, also
auf dieselbe konkrete Ordnung hinaus. Nur leiten sie die einen aus metaphysischen,
also jenseitigen Annahmen her, die anderen aus diesseitigen, also physischen Voraussetzungen.
(Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 9, 41-42).Für
Normativisten ist ihre Ordnung etwas Heiliges. .... Die Normativismen behaupten:
Allem Sein liegt eine unvordenkliche, sinnvolle Ordnung zugrunde. Ihr seien wir
unterworfen. Die moderne Naturwissenschaft dagegen lehrt: Am Anfang war das Chaos.
Alles Stoffliche unterliegt nämlich dem Gesetz des Ordnungsverlustes, der
Entropie:
es tendiert immer zum Ungeordneten, Chaotischen. Ihm wohnt keine erkennbare Quelle
sinnvoll ordnender Information inne. Im chaotischen nur Materiellen waltet keine
heilige Ordnung. - Auf dieser Vorstellung baut der Dezisionismus auf: Nur ein
personales Bewußtsein kann Sinn stiften und Ordnung schaffen. .... Dem Zerfall
und der Auflösung entgegen wirkt das Gesetz der Kausalität: Aus dem
kosmischen Urchaos bildeten sich planetarische Systeme, aus dem Urmeer Einzeller
und aus haarigen Höhlenwilden zur Gemeinschaftsbildung fähige homines
sapientes. Es entstanden also immer differenziertere Strukturen, die mehr
auf ihre Umwelt bezogene Informationen enthielten als die ihnen vorangegangenen.
Sie verkörperten damit jeweils die »intelligentere«, geordnetere
Seinsform. »Leben frißt negative Entropie. .... Alle lebenden Systeme
sind so beschaffen, daß sie Energie an sich zu reißen und zu speichern
vermögen.« ().
Sie sind so konstruiert, daß sie »in aktiver Auseinandersetzung mit
ihrer Umwelt eine positive Energiebilanz erwirtschaften.« ().
Wir sind die jüngsten Abkömmlinge, die Spitze dieser Pyramide, und verkörpern
so ein Höchstmaß an Ordnung. Wer Ordnung als Prinzip vertritt, verwirklicht
damit sich selbst: ein Seinsprinzip nämlich, das offenkundig - aufgrund von
Naturgesetzen - in uns ist. .... Das naturwissenschaftliche Weltbild ... zerstört
alle sinnvoll-werthaften Ontogenien, auf denen die normativistische Tradition
beruhen soll: die Werte, die Moral, die Pflichten, Rechte und Verbote. .... -
Nicolai Hartmann hat - Kant folgend ()
- auf die häufige Verwechselung des bloß Zweckmäßigen mit
dem Zwecktätigen hingewiesen. Weil wir Menschen Zwecke setzen und Dinge als
Mittel benutzen, meinen wir überall im Zweckmäßigen das Ergebnis
einer Zwecktätigkeit zu sehen. Das Zweckmäßige kann aber allein
durch blindes Walten der Kausalität entstehen: So war das Organische aus
dem Anorganischen entstanden, und so verlief die ganze biologische Evolution.
Daß es eine Zweckmäßigkeit ohne Zwecktätigkeit gibt, »ist
eine ganz einfache, in sich evidente Einsicht.« ().
Hartmann sieht keinen Grund, warum bei der unübersehbaren Mannigfaltigkeit
dessen, was zufällig zustandekommt, nicht dann und wann auch etwas Zwecktaugliches
entstehen sollte. Das folge einfach aus den Gesetzen der Statistik. Einmal entstanden
hebt sich aber das Zweckmäßige dadurch vom Unzweckmäßigen
ab, daß es längeren Bestand hat. Die Zweckmäßigkeit eines
Gebildes in sich selbst, etwa seiner Teile füreinander, bedeutet eben, daß
es Bestand hat, Gleichgewicht und Stabilität. ().
Die moderne Molekularbiologie und Biochemie führen die Entstehung des Lebens
und seine Evolution auf drei Naturgesetze zurück, durch welche Hartmanns
philosophische Erwägungen bestätigt werden. Sie bilden in ihrem Zusammenwirken
»das kategoriale Novum der organischen Determination«. ().
Sie beruht auf der autonomen Morphogenese, der reproduktiven Invarianz und der
Teleonomie. Die erste: der spontane Aufbau komplexerer Strukturen mit höherem
Informationsgehalt, findet sich auch bei Kristallen und ist eher ein Mechanismus
als eine speziell biologische Fähigkeit. Das Gesetz der Invarianz besagt
für Organismen, daß jede Generation ihren genetischen Code unverändert
an die folgende weitergibt. Teleonomie ist die von Hartmann erkannte Zweckmäßigkeit,
diese Stabilität des Genoms zu erhalten. .... Was am Menschen biologisch
geworden ist, ist höchst zweckmäßig im Sinne Hartmanns, aber nicht
Ergebnis einer zwecktätigen Handlung. Während die Teleonomie als biologischer
Begriff beinhaltet, daß die ihr unterworfenen Evolutionsprozesse rein kausal
ablaufen, behaupten verschiedene Teleologien, die Evolution sei ein finaler Schöpfungsprozeß.
(Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 9, 43-46).
Recht ist im Grunde ein Inbegriff der ethischen Gemeinschaftswerte wie z.B. Gerechtigkeit,
Ordnung, Wahrhaftigkeit, Treue, Zuverlässigkeit - ja überhaupt: Sitte.
Das Recht besteht zwar heute durchweg als Gesamtheit von - sachriftlich niedergelegten
- Gesetzen und Verordnungen sowie aus der sich darauf beziehenden Rechtsprechung,
ist aber zunächst an das Bestehen von Gesetzen usw, in diesem Sinne nicht
gebunden. Auch historisch begegnet Recht zuerst in seiner allgemeinere Bedeutung
als ein System von Verhaltensnormen für das Leben in einer Gemeinschaft.
Insoweit unterschied sich Recht nicht von anderen Normen, die Sitten und Gebräuche
regeln. Ursprünglich beruhte das Recht auf der Idee der Gleichheit: gleichen
Pflichten sollen gleiche Rechte entsprechen. Als kennzeichnend für die das
Recht konstituierenden im Unterschied zu diesen anderen Verhaltensnormen wird
in erster Linie das Bestehen eines organisierten und institutionalisierten Verfahrens,
ihre Einhaltung zu erzwingen bzw. ihre Nichteinhaltung mit bestimmten Sanktionen
zu belegen, angesehen. Die historische Herausbildung eines solchen Erzwingungsverfahrens
ist keineswegs überall abgeschlossen. Schon gar nicht dort, wo es um sehr
wichtige Rechte geht, wie z.B. im sogenannten Völkerrecht oder
im sogenannten Menschenrecht, in dem sogar die Irrwege des Rechts
am deutlichsten zu erkennen sind. Bekanntlich sind der Erzwingbarkeit des Rechts
durch die Staatsgewalt, wenn auch nicht immer und nicht überall, so aber
doch in bestimmten Bereichen und vor allem seit der Moderne der abendländischen
Kultur relativ enge Grenzen gesetzt. In unserem Universum geht es ja
immer primär um Beziehungen. Recht z.B. ist eine Beziehung zwischen Personen.
Zum Recht wird der Normgeltungsanspruch unter Geltung einer Rechtsordnung.
Recht ist die durch den Stifter dieser Ordnung verbürgte Freiheit der einen
Person, auch gegen den Willen der anderen Person etwas bestimmtes zu tun oder
zu unterlassen. Moral- oder Rechtsordnungen sind Inbegriffe von Beziehungen vieler
Personen untereinander. Ordnung ist eine Beziehung, keine Substanz. Dem entspricht
die jedem Juristen geläufige Vorstellung, nach der ein Rechtsanspruch wie
ein imaginäres Band zwischen zwei Personen oder ein dingliches Recht zwischen
einer Person und einer Sache schwebt. Nur hängt dieses Band nicht wie ein
Möbius-Streifen im Unendlichen, sondern es hat immer einer die Leine in der
Hand, und der andere hat sie um den Hals. Bei aller Begrenztheit der Normsetzungsmacht
des einzelnen Menschen sind es aber immer konkrete Menschen und Menschengruppen,
die über andere herrschen oder doch mit ihnen in geordnete Beziehungen treten.
Im sozialen Kampf um die Vorherrschaft sind es konkrete Menschen, die ihre Machtansprüche
vortragen, indem sie ihr persönliches Weltbild durchzusetzen suchen.Die
Durchsetzbarkeit des Rechts setzt allerdings nicht nur das Bestehen einer organisierten
Macht, um seine Einhaltung zu erzwingen, voraus, sondern auch, daß das Recht
den gesellschaftlichen Gegebenheiten, den Interessen und sozialen Machtpositionen
entspricht; denn (merke!): ein Auseinanderklaffen von Recht und gesellschaftlichen
Gegebenheiten kann dazu führen, daß formell noch gültiges Recht
nicht mehr angewandt wird. Die Bedeutung von Gewohnheiten und üblichen Verhaltensweisen
für das, was als Recht gilt, findet weiter ihren Niederschlag in verschiedenen
Rechtsbereichen, z.B. als Verkehrssitten und Handelsbräuche im Handelsrecht.Damit
Recht seiner Bestimmung gemäß als möglichst konfliktfreie Ordnung
menschlichen Zusammenlebens wirken kann, bedarf es der Eindeutigkeit der rechtlichen
Regelungen. Übersichtlichkeit, Klarheit und Verläßlichkeit der
Verhaltensrichtlinien sind Voraussetzungen für Rechtssicherheit. Dabei steht
jede konkrete Ausgestaltung des Rechts vor dem Dilemma, einerseits auf alle denkbaren
Einzelfälle eindeutig anwendbar sein zu sollen, ohne jedoch andererseits
jeden Einzelfall direkt regeln zu können. In diesem Dilemma pflegt die Rechtspraxis
den Mittelweg zu wählen, Ermessens- und Beurteilungsspielräume bei der
Anwendung des Rechts offen zu lassen, oder z.B. auch allgemeine Mißbrauchsverbote
für die Inanspruchnahme subjektiven Rechts und Härteklauseln aufzustellen.Den
Grund und die Erscheinungsformen des Rechts untersucht die Rechtswissenschaft.
Das Schwergewicht rechtswissenschaftlicher Arbeit liegt bei der Rechtsdogmatik
(Lehre vom geltenden Recht), die die Normen des geltenden Rechts, insbesondere
des öffentlichen Rechts, Privatrechts, Kirchenrechts und Völkerrechts
fortlaufend zu interpretieren, in ihren Grundsätzen und systematischen Zusammenhängen
darzustellen und auf ihre juristischen Konsequenzen zu untersuchen hat. Zur Rechtswissenschaft
gehören als Grundlagenwissenschaften die Rechtsgeschichte, die Rechtsvergleichung,
die Rechtssoziologie und die Rechtsphilosophie.Die
Rechtsphilosophie ist ein Teilgebiet der Philosophie und gleichzeitig eine Grundlagendisziplin
der Rechtswissenschaft. Sie beschäftigt sich mit den grundlegenden Fragen
des Rechts und wendet Erkenntnisse und Methoden der allgemeinen Philosophie, insbesondere
der Wissenschaftstheorie, der Logik, aber auch der Sprachwissenschaft und Semiotik
auf das Recht und auf die Rechtswissenschaft an. Ein Beispiel aus neuerer Zeit
ist die Anwendung der Diskurstheorie auf die juristische Argumentation durch Jürgen Habermas und Robert Alexy. Dabei spricht man vermehrt seit einiger Zeit auch von
Rechtstheorie, deren Verhältnis zur Rechtsphilosophie schwer abzugrenzen
ist.In der Rechtsphilosophie bestehen unterschiedliche Auffassungen über
die Art des Zusammenhangs zwischen Recht und gesellschaftlichen Gegebenheiten.
So sieht z.B. die Interessenjurisprudenz die Interessen als Anstoß nicht
nur für Änderung, sondern überhaupt flir die Schaffung von Rechtsnormen
an. Weil bei divergierenden Interessen die Frage entsteht, welche Interessen in
welchem Umfang berücksichtigt werden sollen, kann Recht nicht als bloßes
Produkt von Interessen- und Machtverhältnissen begriffen werden. Die Frage,
nach welchem Kriterium hier eine bestimmte Wahl als richtig anzusehen
sei, ist letzten Endes die Frage, was als Gerechtigkeit anzusehen
ist. Dies ist Gegenstand der Rechtsphilosophie. Rechtsphilosophie ist ein Teilbereich
der allgemeinen Philosophie und erforscht z.B. methodisch-systematisch allgemeinste
Grundlagen(sätze) des Rechts und der Rechtswissenschaft, befaßt sich
also unter Zugrundelegung der Fragestellung nach der Richtigkeit bzw. der Gerechtigkeit
des Rechts mit Herkunft, Sinn, Zweck sowie Wesen und Geltung des Rechts. Hauptproblemstellung
der Rechtsphilosophie sind: (1.) die Frage nach der
Begründung des faktisch geltenden Rechts (in modernen Zeiten also: des positiven
Rechts), welches beansprucht, Handlungsanleitungen für jeden Menschen zu
sein, d.h. die Frage, worauf der Geltungsanspruch des Rechts beruht, ob jedem
beliebigen Inhalt Rechtsgeltung durch den Gesetzgeber verschafft werden kann,
oder ob dem durch die Idee des Rechts, durch das Naturrecht oder das Sittengesetz
Grenzen gesetzt sind; (2.) die Frage nach der Ursache
für die Wirksamkeit, die Seinsweise des positiven Rechts, welches, solange
es anerkannt und befolgt wird, das Verhalten des Menschen und damit die gesellschaftliche
(soziale) Struktur beeinflußt bzw. ob und wie das positive Recht selbst
von der jeweils gegebenen Kultur einer Gesellschaft, ihren sozialen Institutionen
beeinflußt wird, also eine Geschichtlichkeit von Rechtsentstehung und Rechtsgeltung
besteht ();
(3.) die Frage nach der Gerechtigkeit des Rechts,
inwieweit es als eigene Wirklichkeitsform sinnbezogene Werte beinhaltet und welche
dieser Werte im Recht bestimmend hervortreten; (4.)
die Frage nach der Gleichheit im Recht, denn da die Menschen zwar vor dem Gesetz,
nicht aber faktisch gleich sind, muß die objektive Rechtsanwendung hinsichtlich
des einzelnen Menschen notwendig ungleich sein, was für die Rechstphilosophie
eine Auseinandersetzung mit der Kriminologie bedeutet; (5.)
die Frage nach dem Zweck des Rechts, ob es lediglich als Ordnungsfaktor die menschliche
Gesellschaft gewähren bzw. fördern soll, sowie die Frage nach der Verantwortlichkeit
der in einer durch Recht geordneten Gesellschaft lebenden Menschen für das
eigene Handeln, ob etwa auch der einzelne Mensch in einer gegebenen Rechtsordnung
als frei handelndes Subjekt agieren kann.Bis
zum Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert ist die Geschichte der abendländischen
Rechtsphilosophie eng verknüpft mit der Naturrechtslehre. Nach dem Zusammenbruch
des theokratischen Naturrechts tritt an die Stelle Gottes der inhaltlich ungebundene
normsetzende Wille des Staates als einzige Rechtsquelle. Die Eliminierung Gottes
führt das voluntaristische Naturrecht in den Rechtspositivismus (),
das rationalistische Naturrecht in ein abstraktes Vernunftrecht. Während
die Materialisten Rechtsphilosophie als Rechtssoziologie betreiben, trennt Kant
mit der Unterscheidung von Legalität und Moralität das Recht von der
Ethik. Aus der materialen Rechtsethik verlagert er den Schwerpunkt der Rechtsphilosophie
in die subjektive Moralität. Demgegenüber rückt Hegel die materialethischen
Probleme in den Mittelpunkt. Ähnlich wie Hegel betrachtet die Historische
Schule (Rechtsschule) den Staat als Verkörperung des Volksgeistes, betont
jedoch im Gegensatz zu Hegel das Gewohnheitsrecht. Die Historische Schule
leitet Rechtsphilosophie in Rechtspositivismus über, wobei Rechtsphilosophie
zur Rechtstheorie wird, als deren Gegenstand lediglich die Erarbeitung der logischen
Voraussetzungen des Positiven Rechts bestimmt wird.Die Rechtsphilosophie
betrachtet das Recht also unter logischen, erkenntnistheoretischen, historischen,
kulturellen, soziologischen, psychologischen und ethischen Aspekten. Die inhaltlich
verschiedenen Richtungen der Rechtsphilosophie erklären sich aus den verschiedenen
Weltanschauungen und dem geschichtlichen Zustand des Rechts, an dem die philosophische
Besinnung anknüpft. Die bisher wichtigsten Strömungen der Rechtsphilosophie
sind die Naturrechtliche Rechtsschule (vgl. Naturrecht), die Kantische
Rechtsschule (inklusive Neukantische Rechtsschule), die Hegelsche
Rechtsschule, die Historische Rechtsschule (vgl. Positives Recht).Rechtsgeschichte
ist eine Wissenschaftsdiziplin zwischen Rechts- und Geschichtswissenschaft, die
in drei Sparten - (a) germanistisch; (b)
romanistisch; (c) kanonistisch - versucht aufzuhellen,
unter welchen kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen
sich Rechtssätze bilden und entwickeln konnten, und hilft so, das geltende
Recht zu erklären und weiterzuentwickeln. Als eigenständige Wissenschaft
hat sich die Rechtsgeschichte erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt (vgl.
Historische Schule) und zunächst hauptsächlich die Edition von
Rechtsquellen vorangetrieben sowie Interpretationen des geschichtlichen Rechts
geliefert; heute bemüht sie sich hauptsächlich um die Beschäftigung
mit Vergleichen und Interpretationen von Tatsachen. Jedenfalls sagt
sie das.Heute vielfach aufgegriffen,
zitiert und kommentiert wird z.B. das Böckenförde-Theorem
des ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde
(*1930): Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen,
die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das
er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er
einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt,
von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität
der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte
nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen
Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und
auf säkularisierter Ebene in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen,
aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.
(Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976,
S. 60).
Naturrecht bedeutet eine schon im Altertum begründete Auffassung, nach der
das Recht in der Natur, d.h. im Wesen des Menschen begründet ist. Da die
sogenannte Weltvernunft immer mehr zugenommen habe und, so die Schlußfolgerung
(insbesondere aller bisherigen Aufklärer!), in allen Menschen wirksam sei,
sei das Naturrecht für alle gleich, unabhängig von Zeit und Ort und
unbänderlich. Das Naturrecht trat erst unter der Gegnerschaft der Historischen
Rechtsschule ()
zurück.Für den Normendiener gilt immer
nur: eine Vernunft, ein wahres Recht, ein Gott. Wer den Glauben
nicht teilt, ist unvernünftig, ist im Unrecht und ist gottlos. .... Wer alle
Gesetze und Normen als Produkte willentlicher Setzung erkannt hat und zudem an
keine Götter glaubt, hat alle Brücken zu jeder Form eines Naturrechts
hinter sich abgebrochen. Weil Gesetze letztlich Befehle sind, kann es auch kein
natürliches Recht ohne Gesetzgeber geben. Dieser ist für die Naturrechtler
Gott, indem er persönlich diejenigen Gesetze gab, denen alle Obrigkeit unterworfen
ist, oder indem er wenigstens die Natur nebst ihren Gesetzen schuf, aus denen
die Aufklärung das Naturrecht ableitete. Auch das Naturrecht konnte also
erst gelten, nachdem sich jemand für seine Geltung entschieden hat, weil
er will, daß die Vernunft oder die Natur herrscht. Die Norm
aller menschlichen Handlungen könne nichts anderes sein »als der Wille
bzw. das Gesetz Gottes«, und Hauptzweck seien der Ruhm des Schöpfers
selbst und seine Sichtbarmachung. Nebenzweck sei die menschliche Glückseligkeit.
().
Die Naturrechtslehre sah als »notwendige Voraussetzung« ihrer »vernünftigen«,
«der Natur und Veranlagung des Menschen« entsprechenden Gesetze, »daß
es einen Gott gibt, der ... den Menschen die Verpflichtung auferlegt hat,«
diese Gebote zu befolgen. ().
Grotius hielt sein Naturrecht zwar für so vernünftig, daß es selbst
dann gelten müsse, wenn es keinen Gott gebe; aber gerade das sei für
Gott der Grund, es zu gebieten! Ein Gesetz ohne Gesetzgeber? Das kam auch den
Naturrechtlern nie in den Sinn, jedenfalls nicht offiziell. Wer das Naturrecht
als ohne Gott bestehend auffaßt und ein Gesetz ohne Gesetzgeber annimmt,
schneidet ihm nach Meinung von Heineccius den Lebensnerv durch. ().
Bis heute steht hinter allem Naturrecht bis hinein in Urteile der höchsten
Bundesgerichte nach dem Eingeständnis des ersten BGH-Präsidenten »unausgesprochen
die Vorstellung, das schlechthin Verbindliche der Ordnung der Werte und des daraus
entspringenden naturrechtlichen Sollens beruhe auf göttlicher Setzung.«
().
Wer an einen göttlichen Normsetzer glaubt, mag mit dem Naturrecht selig werden.
Für die Ungläubigen aber gilt: Immer sind es konkrete Menschen, die
sich, ihr Sein und ihr Selbst in positiven Werten definieren. Wem es gelingt,
diese Wertsetzungen in Form staatlicher Normen zu allgemeinen Gesetzen zu erheben,
hat seinem Machtanspruch erfolgreich Geltung verschafft. Dieser richtet sich auf
die allgemeine Durchsetzung dessen, was der Einzelne jeweils für Gottes Willen,
der menschlichen Natur entsprechend oder sonst für recht und billig hält.
Ohne Macht setzt niemand seine Moral durch: Man muß Macht haben, um moralisch
handeln zu können. Wer auf sie verzichtet, liefert die Welt den Bösewichtern
aus. ().
Selbst diejenigen, welche am lautesten die Humanität predigen, wissen sehr
wohl, daß die Gewalt ihnen nötig wäre, und jedermann weiß,
daß sie bei Gelegenheit auch davon Gebrauch machen. Konkretes Recht schafft,
wer ein sinndeutendes Weltbild entwirft und die Macht hat, dieses Weltbild als
staatliches Recht zu setzen - nicht umgekehrt. Rechtsetzung und -anwendung stellt
als Gleich- oder Ungleichsetzung von nur teilweise Gleichem und Ungleichem
immer einen »Akt der Macht« ()
dar, einen verallgemeinernden Befehl. .... Wer die Macht hat, macht das Recht.
(Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 62-64).Naturrecht
ist eine Metaphysik, die aus einer behaupteten immanenten Seinsordnung (der
menschlichen Natur) die Forderung ableitet, alle Menschen sollten den rational
erschlossenen Prinzipien dieser Natur gehorchen. (Klaus Kunze, Mut zur
Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 233).
Positives Recht formuliert die Urrechte des Menschen (z.B. das Recht
auf Leben und auf das zur Erhaltung und Fortpflanzung des Lebens Notwendige) und
die weit verzweigten, aus ihnen hervorgehenden Rechte. Zugleich gibt das Positive
Recht an, was geschehen soll, wenn die Rechte mehrerer Personen in Widerstreit
geraten; es wird so zum Inbegriff der Regeln, die die menschlichen Lebensverhältnisse
ordnen. Das Positive Recht verpflichtet den Einzelnen sittlich, sofern es seinem
Wertgefühl (Rechtsgefühl) entspricht. Die Übereinstimmung zwischen
Positivem Recht und Rechtsgefühl einer möglichst großen Zahl von
Staatsbürgern herzustellen und aufrechtzuerhalten ist Aufgabe einerseits
der Gesetzgebung, anererseits der Erziehung. Historische
Rechtsschule bedeutet vor allem die am Ende des 18. Jahrhunderts zuerst in der
Rechtswissenschaft vertretene Lehrmeinung, das Recht könne nicht wie gemäß
Naturrecht aus allgemein gültigen abstrakten Prinzipien deduziert werden,
das Recht entstehe als Produkt des kollektiven Unbewußten in einem historischen
Prozeß (Volksgeist) und könne daher nur historisch verstanden
werden. Als Wegbereiter der Historischen Rechtsschule gelten vor allem Johann
Gottfried Herder ()
und Gustav von Hugo ().
Also ist das Positives Recht das von der Historischen Schule einzig anerkannte
Recht, nämlich als das in Gesetzen niedergelegte, geltende Recht.
Gesetz bedeutet: (a) im wissenschaftlichen Sinne
einen Satz, der irgendeinen allgemeinen Sachverhalt ausdrückt, eine Aussage
darüber, wie etwas notwendig ist oder geschieht, laut Kant ()
eine Regel notwendigen Daseins, eine Notwendigkeitsregel, denn die
Ausnahme ist nur mit der Regel und also nicht mit dem Gesetz vereinbar; (b)
eine Anordnung für das menschliche Verhalten in der Gemeinschaft, somit eine
Vorschrift darüber, wie etwas notwendig ist oder geschieht.
Das wissenschaftliche Gesetz (a) ist von Menschen
begrifflich formulierte Erkenntnis, die jedoch in der Natur (im objektiven Sein)
ihren Grund hat. Die aus der Erfahrung gewonnenen (empirischen) Gesetze haben
nur relative Bedeutung, insofern sie nur unter gewissen Bedingungen gültig
sind und immer nur dann, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Die Möglichkeit,
Gesetze festzustellen, d.h. gesetzesmäßige Beziehungen aufzufinden,
ist größer in den sogenannten Naturwissenschaften (und hier
größer in der Physik und Chemie als in der Biologie) als in den sogenannten
Geisteswissenschaften, weil die ein Geschehnis oder einen Zustand bewirkenden
Faktoren, die Bedingungszusammenhänge, in den Naturwissenschaften
leichter und vollständiger zu übersehen sind als in den Geisteswissenschaften.
Dagegen gilt für das auf die menschliche Gemeinschaft bezogene Gesetz (b)
als die von Menschen formulierte Vorschrift, daß, was die Wissenschaftler
betrifft, die Möglichkeit, Gesetze aufzustellen (herzustellen), größer
für Geisteswissenschaftler (und hier für Rechtswissenschaftler
am größten) ist als für Naturwissenschaftler, wobei man
nicht vergessen darf, daß logischerweise die Wissenschaft für das wissenschaftliche
Gesetz (a) wichtiger ist als für das auf die
menschliche Gemeinschaft bezogene Gesetz (b).Kausalität!
Freier Wille! Probleme? Determinismus und teleologisches Denken:
Das logische Scheinhindernis, den freien Willen zu bejahen, hatte
im Determinismus bestanden. Die Kausalität war eine der ganz großen
geistigen Entdeckungen gewesen: Keine Wirkung, so belehrt uns die empirische Beobachtung,
geschieht ohne Grund. Dieser Grund muß selbst wieder einen Grund haben.
So können wir die Kausalität bis in alle Ewigkeit zurückverfolgen.
Die Logik läßt nämlich - anders als die Scholastik glaubte und
Gott zu beweisen suchte - keine prima causa zu. Während der Blick
zurück für alles einen Grund sucht, scheint in umgekehrter Blickrichtung
alles von einem Grunde vorherbestimmt zu sein - auch der menschliche Wille! »Gibt
es« nämlich, erkannte schon Augustinus, »eine feste Ordnung der
Ursachen, wodurch alles und jedes bewirkt wird, dann geschieht auch alles und
jedes schicksalhaft. Ist das aber der Fall, so ist nichts in unserer Macht, und
es gibt keine Willensfreiheit. ().
Dieser deterministischen Täuschung war auch Schopenhauer erlegen und hatte
die Willensfreiheit verneint: Unter Voraussetzung der Willensfreiheit sei jede
menschliche Handlung ein Wunder: eine Wirkung ohne Ursache nämlich. Niemand
könne alles Beliebige wollen. Wollen könne er immer nur dasjenige, was
gerade als stärkste Regung auf ihn einwirke. Er sei gleichermaßen kausal
determiniert durch äußere Reize und charakterlich festgelegte innere
Antriebe: »Ich vermag nicht, es zu wollen, weil die entgegenstehenden Motive
viel zu viel Gewalt über mich haben, als daß ich es könnte.«
().
Diese Meinung setzt schon voraus, daß alle Ereignisse Wirkungen sind und
nichts sonst: In der empirischen Realität folge »aus dem für Vorstellungen
a priori sichern Gesetz der Kausalität«: Keine Wirkung ohne
Ursache. ().
Wer aber voraussetzt, daß alle Ereignisse Wirkungen sind, und daraus schließt,
es gebe keine Freiheit, weil alles determiniert sei, schließt im Zirkel,
»beweist«, was in seiner Voraussetzung schon enthalten war: Es liegt
bereits im Wesen der Wirkung begründet, daß sie durch eine Ursache
erzeugt wurde, so daß ihrem Eintreten keine Freiheit zugrunde gelegen haben
kann. Ein Ereignis kann auch mehrere Ursachen haben: notwendige und hinreichende.
Der menschliche Willensentschluß beruht zwar kausal notwendig auf gewissen
Voraussetzungen - etwa daß ich körperlich existieren muß -, die
seinen Inhalt aber nicht hinreichend determinieren. Schopenhauer wollte sich nicht
vorstellen, daß es Ereignisse ohne Ursachen gibt: Ex nihilo nihil fit.
Wahr daran ist, daß es keine Wirkung ohne Ursache gibt. Es gibt aber auch
freies Spiel der Kräfte mit unvorhersehbaren Folgen: Ereignisse nämlich,
die zwar bestimmte notwendige Bedingungen ihres Eintretens zu Ursachen haben,
deren Eintritt durch diese notwendigen Bedingungen aber nicht hinreichend determiniert
ist. Sie treten trotz der eingetretenen notwendigen Bedingung vielleicht ein,
vielleicht auch nicht, vielleicht treten sie auch in einer anderen Art und Weise
ein, deren genaue Umstände nicht determiniert sind: Zufall mag man das nennen
oder auch Chaos. (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung,
1995, S. 23-24). Wenn ein Ereignis aus den Eigengesetzmäßigkeiten eines
höheren Systems hervorgegangen ist, dann ist es gegenüber jedem niedrigeren
System unabhängiger, leichter, freier;
wenn es z.B. aus den Eigengesetzmäßigkeiten des für uns immer
noch höchsten Systems, nämlich des geistigen, hervorgegangen ist, dann
nennen wir es dessen Freiheit.
Schichtenlehre
laut N. Hartmann |
|
(0)
Hyle () |
Schichtenlehre
laut Aristoteles |
| Aristoteles unterschied 5 Schichten. Die Seinsschichten sind
dadurch charakterisiert, daß die jeweils höhere (und leichtere) von
der niederen (und stärkeren) getragen wird, der niederen gegenüber aber
frei ist (soweit die Freiheit nicht durch das Getragenwerden beschränkt ist),
besonders weil sie im Vergleich zu dieser neue Eigenschaften aufweist. Jede
Seinsschicht hat ihren eigenen Kategorialkomplex, und zu jedem solchen gehört
ein eigener Determinationstyp. Und wie die Kategorien jeder niederen Schicht in
der höheren abgewandelt und um ein spezifisches Novum verstärkt wiederkehren,
so natürlich auch die niederen Determinationstypen in den höheren.
(Nicolai Hartmann, Ethik, 1925).
So gibt es z.B. die Schicht des Anorganischen (1)
mit einem um den Begriff der Materie gruppierten Kategorienkomplex und mit dem
Determinationstypus Kausalität. Von dieser Schicht wird die des Organischen
(2)
getragen, in der die Kategorien der Materie und die Determiniertheit durch Kausalität
wiederkehren, aber abgewandelt durch das spezifische Novum der Kategorie des Lebendigen;
der den Determinationstyp der niederen Schicht überlagernde ist hier der
der Finalität ().
Die Schicht des Anorganischen (1)
ist viel stärker, viel mächtiger und viel dauerhafter als die des Organischen
(2),
trotzdem ist die des Organischen (2),
besonders wegen der neuen Kategorie des Lebendigen, der des Anorganischen (1)
gegenüber f r e i ; die Pflanze z.B. wählt
aus dem Boden die Stoffe zu ihrer Ernährung aus, lenkt die Wurzeln nach dem
Wasser, wendet die Blüte der Sonne zu u.s.w.. Die s i t t l i c h e
F r e i h e i t des Menschen z.B. kann
als Spezialfall dieser kategorialen Freiheit betrachtet werden, die
jede höhere Schicht gegenüber der niederen besitzt, hier also (beim
Beispiel der s i t t l i c h e n
F r e i h e i t des Menschen)
die Schicht des Geistigen (4)
gegenüber der Schicht des Seelischen (3)
u.s.w.. Das kategoriale Gesetz der Wiederkehr besagt: Den Eigengesetzlichkeiten
der jeweils niedrigeren Seinsstufe sind die höheren unterworfen, nie aber
umgekehrt. ().
Kategorien und Determinationstypen der niedrigeren Schicht kehren in den höheren
Schichten wieder, aber nicht umgekehrt. Innerhalb
der menschlichen Gesamtpersönlichkeit steht der Verstand für das Ordnende,
Determinierte: Die Vernunft unterliegt nämlich den determinierenden Denkgesetzen.
Bei ihrer Anwendung muß das Ergebnis einer Verstandesoperation von vornherein
feststehen. Wäre der Mensch reiner Verstand und nichts sonst, könnte
er nicht frei sein. Das hatte schon Duns gegen Thomas vorgebracht: Wäre der
Wille »der Vernunft untergeordnet, so wäre Freiheit unmöglich.
Denn jede Vernunftseinsicht ist von ihrem Grunde wie von einer Ursache determiniert.«
().
Nur
der Wille ist das Freie im Menschen. Darum betont seit der Antike jeder Philosoph,
der sich von einer Theologie oder Ideologie befreien wollte, den Willen und hielt
ihn für das Wesen des Menschen. Für alle jene hingegen, deren Argumente
jemanden in ein weltanschauliches System einbinden sollten, war immer klar: das
Wesen des Menschen ist der Verstand. - Wir aber dürfen so frei sein, beides
zu benutzen. - Unser freier Wille ist der Kern des Dezisionismus, und der Nachweis
dieser Freiheit ist seine Lebensfrage. Nicolai Hartmann hat diesen Nachweis mit
seiner Schichtenlehre
und der Analyse des Finalnexus erbracht. Hartmann geht von verschiedenen Seinskategorien
aus: dem Anorganischen (1),
dem Organischen (2),
dem Seelischen (3)
und dem Geistigen (4).
Jeder Seinsstufe kommen spezifische Eigengesetzlichkeiten zu. Das kategoriale
Gesetz der Wiederkehr besagt: Den Eigengesetzlichkeiten der jeweils niedrigeren
Seinsstufe sind die höheren unterworfen, nie aber umgekehrt. ().
Die »höhere Idee,« hatte schon Schopenhauer vorweggenommen, »überwältigt«
die vorher dagewesenen, »jedoch so, daß sie das Wesen derselben auf
eine untergeordnete Weise bestehen läßt, indem sie ein Analogon davon
in sich aufnimmt.« ()
Das geistige Leben unterliegt allen Gesetzmäßigkeiten des Anorganischen
und des Organischen - ohne Chemie hätten wir schließlich keinen Körper,
und ohne dessen Lebendigkeit könnten wir mit unserem Gehirn nicht denken
-, aber mit chemischen und biologischen Denkkategorien allein läßt
sich geistiges Leben nicht erklären. Es gehorcht eigenen Gesetzen. Hartmanns
Kausalanalyse besagt nun, daß wir nur insoweit kausal determiniert sind,
als wir den Naturgesetzen des Anorganischen und des Organischen unterliegen. Kein
Mensch kann sich der Kausalität entziehen, die ihn stofflich geboren werden
und biologisch leben läßt, mit allen notwendigen und unabänderlichen
Konsequenzen. Nicht so unser geistiges Sein! Es ist nicht übertrieben zu
sagen, daß das geistige Leben des Menschen eine neue Art von Leben sei.
().
Seine Wesensmerkmale sind die Selbstreflexion unseres Denkens, das sich letzte
Ziele setzen kann und uns final handeln läßt. Der freie Wille und seine
Kraft sind von den Gesetzlichkeiten der niedrigeren Seinskategorien kausal abhängig,
im übrigen aber akausal, weil sie eine Seinskategorie höherer Art verkörpern.
Unser zielgerichtetes Handeln vermag Kausalfolgen niederer Seinskategorie in Gang
zu setzen und das blinde Gesetz der bloßen Kausalität auszunutzen.
Unsere Willensentschließung selbst ist der erste und einzige aufweisbare
finale Akt in der realen Welt. Es ist unstatthaft, auf ihn die Kausalgesetze der
niederen Seinsordnungen wie die des Anorganischen oder der Biologie anzuwenden.
»Ein einfacher Kausaldeterminismus ist vollkommen neutral gegen das Einsetzen
höherer Determination« ():
nämlich durch den menschlichen Willensakt. Es ist prinzipiell nicht kausal
vorhersehbar, welchen konkreten Inhalt ein menschlicher Wille haben wird - auch
wenn Herrn Schopenhauer »der Verstand stille steht« bei der Vorstellung,
hier das »absolut Zufällige« am Werke zu sehen. Diese höhere
Determination ist die vorausschauende, ziel- und zweckgerichtete Benutzung des
bloß Kausalen durch ein Bewußtsein. Nur ein Bewußtsein kann
sich ein vorher nicht existentes Geschehen vorstellen und sich zum Ziel setzen.
Es kann eine Ursachenkette ersinnen, deren Sinn es sein soll, das gesetzte Ziel
in der Wirklichkeit zu realisieren. Hartmann formulierte die evidente Einsicht:
Nur ein Bewußtsein hat die erstaunliche Freiheit, das noch Unwirkliche beliebig
weit voraus denken zu können. Final
auf ein gesetztes Ziel hin zu handeln erfordert immer drei Akte: Das Bewußtsein
setzt den Zweck, indem es den Zeitfluß überspringt und das Künftige
vorausnimmt. Es wählt dann die notwendigen Mittel aus, dieses Ziel zu erreichen,
indem es die Kausalfolge rückwärts von der Wirkung zu ihren möglichen
Ursachen denkt. Schließlich wendet es diese Mittel an: Es erzeugt real eine
kausale Ursachenfolge, wobei der Sinn der angewandten Mittel ist, das vorgestellte
Ziel zu erreichen. ().
Finales Handeln bedient sich also immer bewußt der Kausalität, die
ansonsten blind ist. (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung,
1995, S. 25-26).
Regel bezeichnet im objektiven Sinne die begrifflich formulierte, aber nicht als
gesetzlich notwenidg erkannte Gleichförmigkeit eines Seins oder Geschehens,
im subjektiven Sinne soviel wie Vorschrift (z.B. Ordensregel). Mit der Regel ist
die Ausnahme vereinbar, mit dem Gesetz nicht.
Pflicht ist die verbindliche Pflege, für etwas zu sorgen. Diese als inneres
Erlebnis auftretende Nötigung muß Kant ()
gesehen haben, um den von ethischen Werten ausgehenden Forderungen entsprechen
und das eigene Dasein diesen Forderungen gemäß gestalten zu können.
Kant kam in seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) zu einer autonomen
Pflicht-Ethik, die als eine bedeutende philosophische Leistung gelten kann. Kants
Gedankengang ist in etwa folgender: Der Vernunft ist es zwar unmöglich, Gegenstände
rein apriori, d.h. ohne Erfahrung theoretisch zu erkennen, wohl aber den
Willen des Menschen und sein praktisches Verhalten zu bestimmen. Seinem empirischen
Charakter nach, d.h. als Person, steht der Mensch unter dem Naturgesetz, folgt
er den Einflüssen der Außenwelt, ist er unfrei. Seinem intelligiblen
Charakter gemäß, d.h. als Persönlichkeit, ist er frei und
nur nach seiner (praktischen) Vernunft ausgerichtet. Das Sittengesetz, dem er
dabei folgt, ist ein kategorischer Imperativ.
Nicht auf äußere Güter gerichtetes Streben nach Glück, nicht
Liebe oder Neigung machen ein Tun moralisch, sondern allein die Achtung vor dem
Sittengesetz und die Befolgung der Pflicht. Getragen ist diese Ethik der Pflicht
von der nicht theoretischen, sondern praktischen Überzeugung von der Freiheit
des sittlichen Tuns, von der Unsterblichkeit des sittlich Handelnden, da dieser
in diesem Leben den Lohn seiner Sittlichkeit zu ernten nicht befugt ist, von Gott
als dem Bürgen der Sittlichkeit und ihres Lohnes. Diese drei Überzeugungen
sind nach Kant die praktischen Postulate von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit.
Von religiöser Heteronomie - Fremdbestimmung u.s.w. - ist nach Kant die Sittlichkeit
frei, weil sie autonom ist. In diesem Zusammenhang sah Kant seine Auffassungen
über Recht, Staat, Politik und Geschichte, deren Wirklichkeit er sehr skeptisch
gegenüberstand, besonders der des von ihm als ethisch-politisches Ideal anerkannten
Ewigen Friedens. Man darf nicht vergessen, daß trotz Kants großartiger
Pflichtübung seine Auffasung von Pflicht, aber insbesondere sein kategorischer
Imperativ auch kritisiert wurde, z.B. besonders von Nietzsche (),
der zwar eigentlich das Du sollst von sich werfen wollte und doch
ein neues Du sollst lehrte: Du sollst den Augenblick so leben, daß
er dir ohne Grauen wiederkehren kann. Man soll jeden Augenblick so leben, daß
man ihm zurufen kann: Da capo! Du solltest Herr über dich werden, Herr
auch über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren; aber
sie dürfen nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest
Gewalt über dein Für und Wider bekommen und es verstehen lernen, sie
aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. Du solltest
das Perspektivische in jeder Wertschätzung begreifen lernen. ().
Also ist Nietzsches Sei-du-selbst-Imperativ formal wie Kants kategorischer
Imperativ als eine Pflicht zu verstehen, inhaltlich aber als das Gegenteil.Der
Wille ist immer da, die Willensfreiheit (doch nicht vergessen [!]: der Mensch
verfügt lediglich über einen bedingten freien Willen),
auch, doch sie ist immer ein Wagnis. Aber nicht unsere Wertschätzung
der Freiheit ist ausschlaggebend, sondern die evidente Erfahrung, daß wir
die Entscheidungsfreiheit tatsächlich haben. Schon Ockham sah die Freiheit
als eine durch Vernunftgründe nicht beweisbare Erfahrungstatsache an. Es
gibt keine Beobachtungen, mit denen diese Erfahrung widerlegt werden könnte.
Der Wille ist der nicht kausal aus sich selbst ableitbare Kern jedes »Voluntarismus«.
Nietzsche hat das dichterisch hübsch einmal so ausgedrückt, »wir
freien Geister« hätten einen »Überschuß an freiem
Willen« (Nr. 44),
aufgrund dessen wir uns unsere Normen selbst schaffen. Als postulierter Kern seines
Denkens ist der freie Wille dem Dezisionisten selbst unmittelbar evident. Einem
Lamettrie, der die Menschen für Maschinen hielt, unfähig zum freien
Willen und ihren Trieben unterworfen, würde er nur kühl antworten: »Daß
du keinen freien Willen hast, glaube ich dir gern, aber zweifele bitte nicht an
meinem.« So gesehen sind wir nicht nur zur freien Entscheidung berechtigt;
sondern auch »verurteilt«: Das Wertbewußtsein determiniert den
Menschen nicht, »sondern läßt ihm Spielraum, für oder gegen
den gefühlten Wert zu entscheiden. Hier also liegt der Punkt seiner Freiheit,
und zugleich die Begrenzung seiner Freiheit. Er ist zur Entscheidung gezwungen;
es ist nicht für ihn entschieden. Er muß entscheiden.« ().
Es ist müßig, wenn Moralisten über die Sündhaftigkeit räsonieren
oder die Entscheidungsfreiheit theoretisch anerkennen - der Würde wegen -
sie aber mit einem spitzfindigen Taschenspielertrick gleich wieder in der Versenkung
verschwinden lassen: »Sicher kannst du dich frei entscheiden, aber angesichts
der schlimmen Erfahrungen, wohin das alles führen kann, sollst du
dich natürlich für ein Leben entscheiden, daß ich für moralisch
oder gottgefällig halte.« So versteht der naturrechtliche Normativist
unter sittlicher Autonomie ausdrücklich nicht, der Mensch dürfe »das
sittlich und rechtlich Seinsollende selbst (autonom) setzen.« Er soll sich
vielmehr »in freier Selbstverantwortung« zu einem Gesollten entschließen,
»das ihm in den Grundzügen vorgegeben ist.« ().
Soll das Freiheit sein? »Alles, was Sollenscharakter hat, kann ebendeswegen
nicht Freiheitscharakter tragen.« ().
Auch Schopenhauer hat es als »handgreiflichen Widerspruch« durchschaut,
»den Willen frei zu nennen und doch ihm Gesetze vorzuschreiben, nach denen
er wollen soll: - »wollen soll!« - hölzernes Eisen!«
().
Nein, es gibt nur eine Freiheit, und das ist die ungeteilte ganze. Wer sie will,
kann sie sich nehmen, und wer sie verschmäht, besitzt sie dennoch.
(Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 30-31).
Rolle ist in Analogie zur Sprache der Theaterdramaturgie die Summe der gesellschaftlichen
Erwartungen ()
an das Verhalten eines Inhabers einer (welcher auch immer) sozialen Position -
dabei wird unter sozialer Position die Stellung eines Einzelnen im Gemeinschaftsgefüge
verstanden, die den Einzelnen bestzimmten Verhaltenserwartungen aussetzt. Diese
Erwartungen stellen sich für jeden Rollenträger als ein Bündel
von Normen dar, deren Verbindlichkeit unterschiedlich streng ist (man unterscheidet
zwischen Kann-, Soll-, und Mußnormen). Die den einzelnen Rollen zugrunde
liegenden Verhaltensmuster sind weder angeboren noch können sie beliebig
angenommen oder abgelegt werden, sondern werden während der Sozialisation
gelernt. Dies gilt besonders für die während der primären Sozialisation
gelernten Rollen (Primärrollen), in der dem Einzelwesen wegen bestimmter
Merkmale, denen es sich nicht entziehen kann, bestimmte Rollen zugeteilt werden
(z.B. Alters-, Familien-, Geschlechts-, Schichtzugehörigkeitsrollen); von
den Primärrollen sind die Sekundärrollen (z.B. Berufsrollen) zu unterscheiden,
die leichter austauschbar sind.Erwartung
bezeichnet - als Grundbegriff der soziologischen Rollentheorie - den jeder sozialen
Beziehung zugrunde liegenden Tatbestand, daß aus den sozialen Rollen der
betreffenden Handelnden bzw. aus den mit der Rollenübernahme verbundenen
Ansprüchen oder Einstellungen bestimmte Aktionsformen bzw. Reaktionsformen
der Beteiligten untereinander abgeleitet werden können. Wenn es Erwartungen
gibt, dann gibt es auch Erwartungen der Erwartungen und Erwartungen der Erwartungen
der Erwartungen ... u.s.w.. Ein Erwartungswert ist die prognostische Aussage über
das mögliche Eintreffen eines Ereignisses bzw. Zustandes nach Maßgabe
entweder (a) eines statistisch berechneten Wahrscheinlichkeitswertes oder (b)
eines subjektiven Gefühls der Sicherheit oder Unsicherheit (Hoffnungswert).
Daß dem sozialen Handeln Erwartungen der Verhaltenspartner zugrunde liegen,
umschrieb mit anderen Worten bereits Max Weber, der soziales Handeln definierte
als ein seinem Siinngehalt nach aufeinander eingestelltes und dadurch orientiertes
Sichverhalten mehrerer. Wenn sich Erwartungen von den Sozialbeziehungen
der Einzelnen, d.h. von bestimmten Verhaltenspartnern lösen und (gebündelt)
sich zu sozialen Rollen bzw. Positionen verfestigen, spricht die Soziologie
von Prozessen der Institutionalisierung. Die Theorie der abweichenden Verhaltens
analysiert die Beziehungen zwischen normativ gegenseitig erwartetem und tatsächlichem
Verhalten.
Nihilismus
Nihilismius ist absolute Verneinung und wurde als Terminus schon von Friedrich
Heinrich Jacobi ()
in seinem Sendschreiben an Fichte (1799) eingeführt. Der theoretische
Nihilismus verneint die Möglichkeit einer Erkenntnis der Wahrheit (wie der
Agnostizismus die Erkennbarkeit des wahren Seins), der ethische die Werte und
Normen des Handelns, der politische jede irgendwie geartete Gesellschaftsordnung.
Vielfach ist der Nihilismus nur ein radikaler Skeptizismus,
z.B. bei Schopenhauer (),
Nietzsche (),
Sloterdijk ()
u.a.. Man muß sich nur bestimmte Namen (z.B. Platon, Aristoteles, Kant,
Hegel u.a.) in Erinnerung rufen, wenn man feststellen möchte, daß es
natürlich kein Zufall ist, wenn der Nihilismus in allen Kulturen in der Phase
des Idealismus
entsteht. Er stellt eine Reaktion auf die klassische (auch klassizistisch
genannte), auf die (napoleonisch)
unumschränkt herrschende idealistische Allmacht dar. Er entwickelt sich also
als unmittelbare Folge auf den Idealismus und erreicht seinen Höhepunkt -
eher sollte man von Tiefpunkt sprechen -, wenn die Klassiker
endgültig von der Bühne abgetreten sind und sich das Gefühl durchsetzt,
daß die obersten Werte sich entwerten, jene Werte, die allem Tun und Leiden
der Menschen erst Sinn geben, daß es nichts mehr gibt, wofür es sich
zu leben oder zu sterben lohnt, daß das Bewußtsein aufkommt, es sei
alles umsonst. Als Pauschalkennzeichnung eines sich auf die Gottes- und Werterkenntnis
beziehenden Skeptizsismus ist der Nihilismus aber noch zu harmlos umschrieben.
Denn es bedeutet mehr, wenn Gott tot ist, die obersten Werte entwertet sind, alles
Sittliche (Moral, Ethik, Tugend u.s.w.) zerstört ist, alle dafür zuständigen
Institutionen machtlos geworden sind. Wenn alles verneint wird, was vorher bejaht
wurde, dann ist das Ergebnis: Null! Nichts! Wenn die Kultur zur Zivilisation
geworden ist, gelingt es ihr nicht mehr, den Nihilismus erfolgreich abzuwehren.
Zivilisation will etwas anderes, als Kultur will: vielleicht etwas Umgekehrtes,
so Nietzsche ().
Die Kultur dient der Immunität. Eine Kultur, die zivilisiert ist, ist eine
Kultur, die immunschwach ist. Zivilisation bedeutet Immunschwäche der Kultur.
Da hilft nur noch ein Kulturarzt. Oder ist der etwa auch tot? Daß
Gott tot ist, die Werte entwertet sind u.s.w., dies war also z.B. im Abendland
schon Ende des 18. / Anfang des 19. Jahrhunderts eine Tatsache.Der Nihilismus
begleitet eine Kultur also zwar von Anfang an, aber er dominiert die Kultur erst
ab der Zeit, ab der sie modern, zivilisiert geworden ist. Also auch das System
des Liberalismus,
eine die Freiheit zwar betreffende, praktisch aber ins Gegenteil laufende Gesinnung,
die sich von Überlieferungen, Gewohnheiten, Dogmen u.s.w. zwar befreien und
auf eigenen Füßen stehen will, es aber besonders wegen eines Dilemmas
nicht kann, denn: Ihr Dilemma besteht darin, daß der Liberale gegenüber
konkurrierenden Ideologen wehrlos dastünde, wenn er ihnen, getreu seiner
Selbstrechtfertigung, nur liberal gegenübertreten und sich selbst kritisch-rationalistisch
betrachten würde. Tatsächlich sieht er alle anderen Weltanschauungen
mit kritisch-rationalistischen, aufgeklärten Augen, nur sich selbst nicht.
().
Dem Liberalismus zugeneigt sind der Individualismus,
der Humanitarismus,
der Kosmopolitismus,
der Eudämonismus,
der Solipsismus.
Liberalismus
| Zivilglaube
des Liberalismus: | Zivilreligion
des Liberalismus: | Ziviltheologie
des Liberalismus: | Zivilwissenschaft / -philosophie
des Liberalismus: | Individualismus | Humanitarismus | Kosmopolitismus | Eudämonismus
/ Solipsismus | Weitere
Stichwörter: | Weitere
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Stichwörter: | Weitere
Stichwörter: | Subjektivismus
(extrem), Egoismus (extrem), Solipsismus (extrem), Ich-Eudämonismus (extrem),
Ich-Utilitarismus (extrem), Psychologismus (extrem), Hedonismus (extrem), Egozentrismus,
Autismus, Ich-Designismus, Singleismus, Gemeinschaftsfeindlichkeit, Familienfeindlichkeit,
Ehefeindlichkeit, Kinderfeindlichkeit | Pseudo-Humanismus, Moderne-Christentum, Pazifismus
(extrem), Kritizismus (extrem), Feminismus (extrem), Pseudo-Emanzipation, Pseudo-Kosmopolitismus, Pseudo-Pluralismus, Pseudo-Psychologismus, Pseudo-Egalitarismus, Pseudo-Fraternitarismus, Pseudo-Altruismus,
Pseudo-Sozialismus, Pseudo-Soziologismus, Pseudo-Ökologismus, Pseudo-Intellektualismus, Pseudo-Demokratismus,
Parlamentarismus (extrem), Parteienstaat (extrem) | Universal(kultural)ismus,
Mulktikulturalismus, Internationalsozialismus (Internazismus), Unismus, Pazifismus
(extrem), Pseudo-Emanzipation, Pseudo-Humanitarismus, Pseudo-Pluralismus, Pseudo-Psychologismus, Pseudo-Egalitarismus, Pseudo-Fraternitarismus, Pseudo-Altruismus,
Pseudo-Sozialismus, Pseudo-Soziologismus, Pseudo-Ökologismus, Pseudo-Intellektualismus, Pseudo-Demokratismus,
Parlamentarismus (extrem), Parteienstaat (extrem) | Masseneudämonismus,
Sozialeudämonismus, Utilitarismus (extrem), Kapitalismus (extrem), Konsumismus
(extrem), Subventionismus (extrem), Mediokratismus (extrem), Xenokratismus
(extrem), Viktimologismus (extrem), Psychologismus (extrem), Sozialismus
(extrem), Soziologismus (extrem), Demo-/Pluto-/Zeusiokratismus, Parlamentarismus
(extrem), Parteienstaat (extrem) / Subjektivismus
(extrem), Egoismus (extrem), Individualismus (extrem) | Individualismus
* | Pseudo-Humanitarismus | Pseudo-Kosmopolitismus | Solipsismus
* /
Eudämonismus * |
Fazit: Anarchismus ()
! | Fazit:
Anarchismus ()
! | Fazit:
Anarchismus ()
! | Fazit:
Anarchismus ()
! | Der
Liberalismus verneint sich selbst auf totalitäre und also auch total intolerante
Weise. Er ist die Ursache für seine eigene Aufhebung. |
Nihilismus |
Die
Tabelle ()
verdeutlicht, daß der Liberalismus
durch sein von ihm selbst beanspruchtes System von Zivilglauben (Individualismus),
Zivilreligion (Humanitarismus),
Ziviltheologie (Kosmopolitismus),
Zivilwissenschaft (Eudämonismus)
bzw. Zivilphilosophie (Solipsismus)
sich selbst ebenso widerspricht wie die einzelnen Teile (Subsysteme) seines Systems.
Das kann auch gar nicht anders sein: Liberales System in dieser Quintessenz ist
ein System zunehmend paradoxer Widersprüche. Der Liberalismus muß sich
auf sein System von Zivilglauben, Zivilreligion, Ziviltheologie,
Zivilwissenschaft / Zivilphilosophie mitsamt deren aller
Dienerschaft ()
verlassen können. Wer nun meint, der Liberalismus hätte das nicht nötig,
denn sonst sei er ja nicht liberal, liegt zwar einserseits mit der Vermutung richtig,
doch andererseits völlig falsch, weil auch der Liberalismus auf seine Selbstrechtfertigung
nicht verzichten kann. Also braucht auch der Liberalismus so etwas wie Glaube,
Religion, Theologie, Wissenschaft / Philosophie, kurz gesagt: ein Glaube-bis-Wissen/Denken-System.
Deswegen muß der Liberalismus auch manche Überschneidungen mit anderen
Ideologien (Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus u.a.) haben - Parteipolitiker
würden sagen: Themen besetzen, um sie bald ganz, total (totalitär)
zu besitzen!Eine
Variante teleologischen Denkens ist die Vorstellung einer Heterogonie
der Zwecke. .... Auch der Liberalismus
kommt nicht ohne die Denkfigur der Heterogonie der Zwecke aus: Selbst wenn ein
Diskutant noch so sehr irrt, führt doch die Quersumme der in die Debatte
geworfenen Meinungen aller zur richtigen Erkenntnis. Die Diskussion stellt sich
der Liberale nicht als ergebnisoffenen, blinden oder gar chaotischen Kausalprozeß
vor. Vielmehr ist die Wahrheit schon im Diskurs selbst teleologisch angelegt.
Wie von unsichtbarer Hand gelenkt, kommt sie bei Ausbalancierung aller Meinungen
ans Licht. Auch das Gemeinwohl ergibt sich liberaler Idee nach ganz von selbst
daraus, daß jeder Einzelne seinem Eigennutzen freien Lauf läßt:
Selbst wenn sich alle bewußt eigensüchtig verhalten, gedeihen die egoistischen
Handlungen, wie von unsichtbarer Hand gelenkt, in ihrer Quersumme zum Besten des
Ganzen. Weil der Liberalismus nämlich dem ökonomischen Bedürfnis
derjenigen Menschen entsprungen war, die ihr Interesse mit der Abwesenheit staatlicher
und geistiger Anordnung verbanden, muß er sich zu der absurden Behauptung
versteigen: Die normative Ordnung eines Gemeinwohls gehe aus dem bloß kausalen
Fortwirken aller Kräfte von allein und selbst dann hervor, wenn diese Kräfte
ihr Gegenteil bezwecken. (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung,
1995, S. 28-29).Es kann nur der Nihilismus im Machtspiel des Liberalismus
wie des Anarchismus sein, wenn sie ex nihilio, also aus dem Nichts eine
Ordnung herbeizaubern wollen ()
und dabei trotzdem jede Ordnung ablehnen bis auf die, die sie angeblich über
die Konkurrenz, den sprachlichen Kampf, den Streit, die Kommunikation, den Diskurs
der Individuen (noch so eine Unmöglichkeit!) herbeizaubern wollen.
Weil das für Menschen zu wenig ist und in der menschlichen
Wirklichkeit zu nur noch mehr Nihilismus führt, ist die Behauptung
richtig, daß die Menschen einfach nicht in der Lage sind, aus dem Nichts
einen Kosmos ()
zu schöpfen. Wenn Menschen dies versuchen, führt das zu nichts - ins
Nichts. Und wenn als einzige Sitte nur noch gilt, daß keine Sitte mehr gilt;
wenn als einzige Norm nur noch gilt, daß keine Norm mehr gilt; wenn als
einziger Wert nur noch gilt, daß kein Wert mehr gilt; wenn nur noch gilt,
daß nichts mehr gilt, wenn also nur noch der Nihilismus gilt, dann ist der
Liberalismus als Anarchismus an sein Ende gekommen: Untergang seiner sogenannten
Individuen im Chaos!Die liberale
Philosophie beruht auf dem Gedanken der Balance. Sie kann nur in ihrer polemischen
Funktion richtig verstanden werden, also in ihrer dem Zentralwert Ego dienenden
Funktion. Diese besteht darin, systematisch alle anderen Wertträger, insbesondere
eigenberechtigte Gemeinschaften, zugunsten des Individuums lahmzulegen und aufzulösen.
So erhofft sich das absolute Ego größtmögliche Freiheit. Liberaler
Meinung nach stellt gesellschaftliche Ordnung sich selbst her und braucht nicht
von Menschen hergestellt zu werden. Allenfalls die Bedingungen dafür sind
vom Staat zu schaffen. Mit dem Anarchisten gemeinsam ist ihm der Wunsch nach möglichst
ungezügelter, prinzipiell unbegrenzter Freiheit, gegen dessen Gefährdung
sich alles liberale Pathos richtet. ().
Auch Radbruch sah den Liberalismus folgerichtig in der Anarchie enden. Treffend
formulierte den gemeinsamen Ausgangspunkt Proudhon: »Alle Menschen sind
gleich und frei: Die Gesellschaft ist also, sowohl durch ihre Natur wie durch
die Funktion, für die sie bestimmt ist, autonom, was soviel heißen
will wie unregierbar. Die Sphäre der Aktivität jedes Bürgers ist
zum einen das Ergebnis der natürlichen Arbeitsteilung und zum anderen das
der Berufswahl, die er trifft; die sozialen Funktionen sind auf solche Weise eingerichtet,
daß sie eine harmonische Wirkung erzeugen, die Ordnung ist das Ergebnis
der freien Aktivität aller; hieraus ergibt sich die absolute Negation jeder
Regierung: Jeder, der seine Hand auf mich legt, um mich zu regieren, ist ein Tyrann
und Usurpator; ich erkläre ihn zu meinem Feind.« ().
Es handelt sich bei Proudhons Formulierung um die »klassisch-liberalistische
Doktrin« ()
des autonomen, jede Einwirkung von außen ablehnenden Individualismus. Sie
führt geradewegs zum Gedanken der Anarchie. »Logischerweise würde
ein aus Rand und Band geratener Liberaler ein Anarchist, nie aber ein Sozialist
werden.« ().
Diesen Weg ging konsequent Proudhon, und sein Epigone Habermas möchte ihn
auch gehen, wenn er verschämt zugibt: »Jedes System entfesselter kommunikativer
Freiheiten enthält einen anarchischen Kern.« ().
(Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 105-106). Anarchismus
und Liberalismus sind nicht nur eng verwandt. Sie gehen auf dieselben Ideen zurück,
nur werden diese von wohlhabenden Vertretern dieser Ideen aus naheliegenden Gründen
nicht absolut durchgeführt: Liberale nennen sich diejenigen Anarchisten,
die Angst um ihr Eigentum haben und darum ein Minimum an staatlichen Funktionen
beibehalten möchten. Doch »die revolutionäre Richtung dieser ökonomischen
Schule«, erkannte Comte schon 1830 scharfsinnig, »ist nicht zu bezweifeln,
denn sie heiligt den Geist der Vereinzelung und den regierungslosen Zustand.«
().
Während die Angst vor der Ordnung den Liberalen nach einem Bilde Carl Schmitts
erst vom Staate wegtreibt, treibt ihn schnell die Angst vor dem Sozialismus wieder
ein Stück weit zum Staate hin. »So schwankt er zwischen seinen beiden
Feinden und möchte beide betrügen.« ().
Der Liberalismus gehört zu den Konstruktionen, die den Menschen als an sich
gut voraussetzen, ohne konsequent anarchistisch zu sein. »Beim offenen Anarchismus
ist es ohne weiteres deutlich, wie eng der Glaube an die natürliche
Güte mit der radikalen Verneinung des Staates zusammenhängt, das
eine aus dem anderen folgt und sich gegenseitig stützt. Für die Liberalen
dagegen bedeutet die Güte des Menschen weiter nichts als ein Argument, mit
dessen Hilfe der Staat in den Dienst der Gesellschaft gestellt wird
und nur ihr mißtrauisch kontrollierter, an genaue Grenzen gebundener Untergebener
ist.« ().
(Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 106).Wenn
der Staat den Anspruch aufgibt, ein nicht nur ökonomisch verstandenes Gemeinwohl
zu formulieren und durchzusetzen, führt dies zum Rückzug des Staates
aus der Politik überhaupt. Er hofiert und bedient nur noch die jeweils stärksten
Einzelgruppen und fragt nicht mehr danach, »ob und wie sich aus der Vielfalt
der Interessen irgendeine Harmonie ergibt.« ().
Diese Gedanken des Liberalen zeugen nicht unbedingt von gefühliger Harmoniebedürftigkeit,
sondern entspringen realistischer Einschätzung der größtmöglichen
gesellschaftlichen Chancen des ökonomisch Starken in einer Gesellschaft,
die nur dem ökonomischen Gesetz des freien Spiels der Geldmacht unterliegt.
(Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 107). Festhalten
müssen wir nur, daß der Liberalismus mit seiner politischen Form: dem
Parlamentarismus, seinem eigenen Selbstverständnis nach nicht funktionieren
kann, wo nicht Meinungsfreiheit umfassend garantiert ist. Für dogmatische
Liberale gilt es daher die Meinungsfreiheit universal zu installieren mit dem
Ziel, das Ende der Geschichte in einer weilweiten Kommunikationsgemeinschaft herbeizuführen,
in der die verschiedenen Überzeugungen sich zum Wohle aller vernünftig
ausbalancieren. Der Selbstwiderspruch in der reinen Lehre des Liberalismus besteht
darin, daß er einerseits aus ideologischen Gründen eine Vielfalt von
Meinungen benötigt; andererseits seine eigene Weltdeutung: nur Meinungsvielfalt
führe zur Wahrheit, notfalls durchsetzen muß wie alle anderen auch:
durchsetzen nämlich gegen seine Feinde, die nur ihre eigene Meinung gelten
lassen möchten. Das liberale Dilemma besteht heute in diesem Spagat: Theoretisch
möchte er, daß alles gesagt werden werden darf, praktisch muß
er dann erlauben, daß Linke nach Tabus und Zensur gegen Rechts rufen oder
Moslems gegen Schriftsteller wie Salman Rushdie. Würde der Liberale die Meinungsfreiheit
Rechter verteidigen, die er doch überhaupt nicht liebt, dann sähe er
sich selbst Moralkeulen schwingenden Angriffen ausgesetzt. In dieser doppelten
Frontstellung weichen seit Jahren die liberalen Grundüberzeugungen auf. Es
rächt sich die Paradoxie, die in der unerfüllbaren liberalen Forderung
liegt, alle Ansichten hätten das Recht auf Gehör. Sie besteht darin,
daß der Liberalismus auch die Freiheit verteidigen müßte, seine
eigene Abschaffung zu fordern. (Klaus Kunze, Geheimsache Politprozesse,
1998, S. 246-247).Der heutige Linksliberalismus verzichtet lieber
auf eine logisch haltbare »reine Lehre« zugunsten eines moralinsauren
Gutmenschentums mit einem nur noch äußerlich liberalen Anstrich: Untereinannder
sind die Linksliberalen liberal, ihren Gegnern gegenüber aber möchten
sie gar nicht mehr liberal sein. Damit sind sie in Richtung umfassender Freiheit
für alle kein Stück weiter, als es die Nationalsozialisten und die Kommunisten
auch schon waren: Jeder Nationalsozialist und jeder Kommunist durfte im Dritten
Reich bzw. in der DDR frei alles sagen, nur alle anderen durften das nicht. Daß
heute der herrschende Linksliberalismus völlige Freiheit für alle Linksliberalen
erlaubt, überrascht nicht. »Keine Freiheit den Feinden der Freiheit
!« riefen die Nationalsozialisten auch schon, doch der Zusatz lautete:
»Wer Feind der Freiheit ist, bestimmen wir!« Damals wie heute
kommt es eben darauf an, wer bestimmt; was ein »Feind der Freiheit«
ist. »Die Freiheit« gibt es nämlich nicht, sondern immer
nur: eure Freiheit - oder unsere Freiheit! (Klaus Kunze, Geheimsache
Politprozesse, 1998, S. 247). Der Liberalismus liegt im Sterben.
Wenn Liberalismus nur als etwas, das auch verteidigt wird, möglich ist, dann
ist er heute, da ihm sogar seine Selbstverteidigung egal geworden ist, nicht mehr
liberal, sondern nur noch anarchisch, chaotisch, d.h. in seiner letzten,
dekadenten Form: extremistisch, radikal, totalitär. ().
Es ist die westliche Kultur, die den Liberalismus predigt und dem Rest
der Welt aufzwingt, es sind die Bevölkerungen der westlichen Kultur
und die der von ihr bereits infizierten Staaten, die schrumpfen (!),
und trotzdem maßen die aussterbenden Liberalisten des Westens sich an, den
nichtwestlichen Bevölkerungen, die mindestens 80% ()
ausmachen und wachsen (!),
ihren aussterbenden Liberalismus einzuimpfen. Als Liberaler durfte
man noch sagen, daß man anderen Menschen auch den Liberalismus nichts vorschreiben
darf, doch als Liberalist muß man bereits sagen,
daß man alles und jeden tolerieren muß, was aber
in der Schlußfolgerung bedeutet, daß auch die riesengroße Mehrheit
toleriert werden muß, die Gegner oder Feind dieses Liberalismus ist. Also
ist der Liberalismus selbst der Grund für sein Verschwinden!Es
ist ein Witz und dennoch mehr eine Regel oder sogar ein Gesetz, daß ausgerechnet
eine kleine Minderheit - obendrein dabei, noch schneller auszusterben als die
Bevölkerung der Kultur, zu der sie gehört - einer riesigen Mehrheit
ein System aufzwingt, unter dem diese riesige Mehrheit zu leiden hat, während
jene kleine Minderheit davon profitiert (und das auch nur für eine relativ
kurze Zeit). All das ist dieser Minderheit bekannt, sie weiß es. Der Grund
dafür, weshalb das System Liberalismus mit all seinen Subsystemen ()
durchgedrückt wird, ist - wie immer - die Macht; der Wille zur Macht ist
bei allen Lebewesen, also auch bei Liberalisten zwar nicht ganz so wichtig wie
z.B. das Atmen, das Trinken, das Essen, das Schlafen, aber eben doch genauso wichtig
wie z.B. das Fortpflanzen, der Sex u.s.w., folglich stärker als z.B. das
Sozialverhalten und viel stärker als z.B. die Vernunft oder der Diskurs.
Die riesige Mehrheit wird beherrscht von einer sehr kleinen Minderheit der westlichen
Kultur, und diese kleine Minderheit ist eine diktatorische Oligarchie (mit deutlich
erkennbarer Tendenz zur Autokratie): Herrschende und ihr Bürokratie-Apparat
von Beamten und Funktionären in Staat, Parteien, Medien, Justiz, Militär
u.ä.; Reiche (v.a. Superreiche) bzw. Kapitalisten (v.a. Superkapitalisten),
Finanziers (v.a. Großfinanziers), Unternehmer (v.a. Großunternehmer)
und andere sehr einflußreiche Lobbyisten; Lobby-Ausländer im Ausland
und im Inland (z.B. Zentralrat der Juden, Zentralrat der Muslime
u.ä.), Lobby-Frauen (Feministinnen, Emanzen u.ä.), Gewerkschaftler,
Wissenschaftler, Kirchenvertreter und andere einflußreiche Lobbyisten; Intellektuelle;
Singles. ().
Diese sehr kleine, vom Aussterben bedrohte Minderheit will einer sehr großen,
immer noch beschleunigt wachsenden Mehrheit auf unserem Globus mehr vorschreiben
als jeder Diktator vor ihr. Der Untergang des Abendlandes ist dann besiegelt,
wenn es sich nicht mehr verteidigen kann, wie es jene kleine Minderheit fordert,
weil sie selbst nur herrschen, ihre Macht weiter ausbauen will, dazu ihr Geld
und ihren Reichtum nur von ihren bis an die Zähne bewaffneten engsten Vertrauten
beschützen lassen und die zu beruhigende riesige Mehrheit der Bevölkerung
propagandistisch verführen, ihr einreden muß, an den Liberalismus auch
dann noch zu glauben, wenn er extremistischer geworden ist als alle anderen Extremismen
vor ihm. Der kleinen herrschenden Minderheit, die sich auf den Liberalismus beruft,
ist eigentlich der Liberalismus egal. Und in seiner letzten Phase ist sogar selbst
dem Liberalismus der Liberalismus egal. Das ist nur die Konsequenz, denn der Liberalismus
muß gemäß seines Selbstverständnisses auch tolerant gegenüber
denjenigen sein, die ihn abschaffen. Letztlich ist Liberalismus nur noch Anarchismus.
().
Wie gesagt: Der Liberalismus ist der Grund für sein Verschwinden!
Die unsittlichen Gründe der Sitte! Die
unethischen Gründe der Ethik! Die unmoralischen Gründe der Moral
!
Die Geschichte der Moral ist nicht moralisch, und in den moralischen Empfindungen
rührt sich nicht das Gute im Menschen, sondern es macht sich darin eine ganz
lange Geschichte kultureller Gewohnheiten und Einprägungen bemerkbar. Auch
Physiologisches spielt eine Rolle. Wer moralisch handelt, mag sich zwar moralisch
vorkommen, aber in Wirklichkeit, erklärt Nietzsche, »handelt«
in uns diese Geschichte des Leibes und der Kultur. Wie »handelt« sie
? Zunächst einmal so, daß sie den Menschen zerspaltet. Moral,
so schreibt er in »Menschliches, Allzumenschliches«, setzt die Fähigkeit
zur »Selbstzertheilung« (2,76)
voraus. Etwas in uns gibt einem anderen Etwas in uns Befehle. Es gibt das Gewissen
und eine unaufhörliche Selbstkommentierung und Selbstbewertung. Und doch
spricht eine mächtige Tradition vom »Individuum«, also von dem
unteilbaren Kern des Menschen; Nietzsche aber hat über
die Kernspaltung des Individuums nachgedacht, sein Hauptsatz dazu lautet: »In
der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum«
(2,76).
Weil das Individuum keine Einheit ist, kann es auch zum Schauplatz einer inneren
Weltgeschichte werden, und wer es erforscht, wird vielleicht zum »Abenteurer
und Weltumsegler jener inneren Welt, die Mensch heisst« (2,21).
Wie Nietzsche. (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 185-186).
Das Thema Moral war die lebenslange Obsession Nietzsches. Beim
Nachdenken darüber enthüllte sich ihm das menschliche Grundverhältnis
als ein Selbstverhältnis. Der Mensch - das Dividuum - kann und muß
sich zu sich selbst verhalten. Er ist kein einstimmiges, sondern ein mehrstimmiges
Wesen, das dazu verurteilt ist und zugleich die Chance hat, mit sich selbst Versuche
anzustellen. Das individuelle Leben wie auch das Leben der Kulturen ist darum
eine Abfolge von Selbstversuchen. Der Mensch ist das »nicht festgestellte
Thier« (5,81).
Wenn man sich nicht feststellen kann, so kommt alles darauf an, wie man mit sich
umgeht. Nietzsches Denken antwortet auf die Zumutung der Freiheit, die er doch
zugleich wegerklärt. Indes ist er mit der inneren Mehrstimmigkeit vertraut,
die den Menschen vor die Wahl stellt, welcher der Stimmen er Bestimmungskraft
verleihen will. Wir sind geneigt, die Mehrstimmigkeit als Reichtum anzusehen.
Aber könnte es nicht auch anders sein? Vielleicht hat es ursprünglich
nur die Schwachen und die Starken gegeben, die sich nach der Einhelligkeit und
damit der Stärke des Willens unterschieden. Der starke Wille konnte den schwächeren
unter sich beugen. Er konnte befehlen. Die Schwächeren gehorchten, die Befehlsstachel
aber blieben in ihnen zurück - als Fremdkörper. Sie wurden überwachsen,
einverleibt. Sie wurden zum Gewissen. Vielleicht entstand so das Dividuum,
ein von Befehlsstacheln verwundetes, zerspaltenes Wesen, das mühsam lernt,
die Passion des Gehorchens in die Obsession des Befehlens zu verwandeln, dabei
aber geplagt bleibt vom schlechten Gewissen. Man hat gelernt zu gehorchen, jetzt
soll man befehlen lernen vor allem sich selbst befehlen. Dazu müßte
man aber vor sich selbst Achtung haben können und in sich den Herrn entdecken.
Wer das Gehorchen zu gut gelernt hat, wird vergeblich in sich selbst nach einer
Instanz suchen, die kühn genug ist, Befehle geben zu können. Die verinnerlichten
Befehle zerspalteten nicht nur das Individuum, sondern wecken auch das Selbstmißtrauen.
In dieser komplizierten Geschichte ist schließlich das entstanden, was spätere
Jahrhunderte die Seelentiefe nennen werden, dieses ganze innere Labyrinth aus
Hintersinn, Tiefsinn und Unsinn. (Rüdiger Safranski, Nietzsche,
2000, S. 186-187). Nietzsche weiß, daß die »dividuale«
Existenzweise inzwischen unhintergehbar ist. Der Rückweg in die vorhistorische
Einstimmigkeit in den menschlichen Innenverhältnissen - sollte es sie überhaupt
einmal gegeben haben - ist versperrt. Der Bruch, die inneren Zerklüftungen
gehören mittlerweile zur conditio humana. (Rüdiger Safranski,
Nietzsche, 2000, S. 187). Und doch wird Nietzsche immer
wieder fordern, man solle »aus sich eine ganze Person machen« (2,92).
Solches Ganzsein aber bedeutet nicht die unmögliche Überwindung der
dividualen Existenzweise, sondern wirkungsvolle Selbstgestaltung und Selbstinstrumentierung.
Man soll zum Regisseur seiner Lebensimpulse werden, soll über seinen Zerklüftungen
balancieren können und zum Dirigenten seines Stimmengewirrs werden. Der ominöse
»Wille zur Macht« - in den späteren Jahren
zum kosmischen
Erklärungsprinzip und zur Direktive der großen Politik emporgewuchtet
- ist bei Nietzsche immer auch auf einen Kammerton gestimmt und bedeutet dann:
Macht über sich selbst gewinnen. Nietzsches Werke insgesamt sind eine einzige
Chronik der verwickelten Ereignisse beim Versuch dieser Machtergreifung über
sich selbst. Noch einmal sei Nietzsches moralischer Imperativ zitiert: »Du
solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden.
Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge neben
andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen
und es verstehen lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem
höheren Zwecke. Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung
begreifen lernen« (2,20).
Das Selbstverhältnis, das hier anvisiert wird, ist das einer Souveränität,
bei der die »bürgerliche Moral nicht mehr mitredet«, denn sie
verlangt Verläßlichkeit, Stetigkeit, Berechenbarkeit. Sich zu einer
»ganzen Person zu machen«, bezeichnet Nietzsche als die höchste
Aufgabe, die jeder einzelne in der Spanne seines Lebens erfüllen kann. Diese
Aufgabenstellung ergibt sich indes nicht aus der Geschichte der Moral, in der
es offenbar auf nichts weniger »abgesehen« ist, als daß der
Einzelne zu einer ganzen Person werde. Im Gegenteil: diese Geschichte ist ein
blutiger Irrsinn, es sind Menschen darin verbraucht worden. Wer aus sich eine
»ganze Person« gemacht hat, dem ist dies gelungen trotz der Geschichte.
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 187-188). Die
erste Skizze einer solchen desillusionierenden Moralgeschichte findet sich in
»Menschliches, Allzumenschliches«; sie wird fortgeführt in der
»Morgenröthe«, und in der »Genealogie der Moral«
wird die Analyse der nichtmoralischen Geschichte der Moral dann zum Abschluß
gebracht. (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 188). Bereits
in »Menschliches, Allzumenschliches« erprobt Nietzsche eine These,
die in seinem Werk noch eine steile Karriere machen wird. Sie lautet: hinter der
moralischen Unterscheidung zwischen Gut und Böse verbirgt sich die ältere
Unterscheidung zwischen »vornehm« und »niedrig« (2,67).
Was ist vornehm? Nietzsches Antwort: vornehm ist, wer stark, entschlossen
und angstfrei genug ist, um »Vergeltung zu üben«, wenn ihm etwas
angetan wurde. Vornehm ist, wer für sich einstehen kann und sich selbst zu
schützen und zu rächen weiß. Was der Vornehme tut, ist gut, eben
weil er selbst von guter Art ist. »Schlecht« ist der Niedrige. Er
ist es, weil er für sich selbst nicht genügend Wertschätzung empfindet,
um sich wehren zu wollen, mit wie beschränkten Mitteln auch immer. »Vornehm«
und »niedrig« sind also Bezeichnungen für das unterschiedliche
Maß der Selbstachtung. Aus der Perspektive des Vornehmen ist der schlechte
Mensch der nichtige Mensch, von dem man nichts zu befürchten hat, weil er
noch nicht einmal sich selbst achtet. (Rüdiger Safranski, Nietzsche,
2000, S. 188-189). Aber die nichtigen Menschen können - aus
der Perspektive des Vornehmen - doch gefährlich werden, wenn sie, ihre Schwäche
durch Zusammenrottung kompensierend, zum Angriff übergehen, sei es körperlich
im wirklichen Sklavenaufstand, sei es geistig, indem sie die Rangordnung der Werte
und Tugenden umkehren und die herrischen Tugenden durch eine Moral der Duldung
und Demut ersetzen. Nietzsche deutet in »Menschliches, Allzumenschliches«
bereits seine Kritik des Ressentiments in der Moral an. Er beginnt auch damit,
die Schopenhauersche Mitleidmoral zu zerpflücken, indem er den Akzent von
der Empfindung des Mitleids auf den Akt der Erregung des Mitleids verlagert. Jemanden
zum Mitleid zu bewegen, deutet er als eine Waffe der Schwachen. Sie finden die
Schwäche der Starken heraus, nämlich die Fähigkeit, Mitleid zu
empfinden; und die Schwachen benutzen nun diese Schwäche der Starken. Es
ist die Macht der Schwachen, Mitleid erregen zu können. Damit hat der Leidende
ein Mittel gefunden, anderen »wehe zu thun« (2,71).
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 189). Nietzsche
will die Dialektik des Mitleids - der Leidende tut dem anderen weh, indem er in
ihm das Mitleid erregt - ihrer sentimentalen Hülle entkleiden, auf daß
sich darunter der Machtkampf zeige. Die Dialektik des Mitleids gehört für
Nietzsche zum Kampf zwischen Herr und Knecht. Wer Mitleid erregt, dessen »Einbildung
erhebt sich, er ist immer noch wichtig genug, um der Welt Schmerzen zu machen«
(2,71).
Wer aber Mitleid empfindet, fühlt sich ins Unrecht gesetzt und gefesselt,
mag er auch sonst den Herrn spielen. (Rüdiger Safranski, Nietzsche,
2000, S. 189). Ein anderes Beispiel dafür, wie wenig moralisch
es zugeht in der Moral und wieviel unterirdischer Kampf im Spiel bleibt, ist die
Dankbarkeit. Sie ist, so Nietzsches provozierende These, eine milde Art der Rache.
Man hat etwas empfangen und damit die Macht des anderen zu spüren bekommen,
wohltuend in diesem Falle, aber doch nicht wohltuend genug. Denn man fühlt
sich jetzt in der Schuld des anderen. Man zeigt sich dankbar und gibt zurück,
vielleicht sogar über das Maß des Empfangenen hinaus. Man will wieder
frei werden, indem man das Schuldnerverhältnis umkehrt. Nietzsche erinnert
in diesem Zusammenhang an den Ausspruch von Swift, »dass Menschen in dem
selben Verhältniss dankbar sind, wie sie Rache hegen« (2,67).
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 189-190). Nietzsches
Analyse der Moral folgt der geradezu obsessiven Tendenz, die in der Moral maskierte
primäre Grausamkeit aufzudecken. Deshalb ist für ihn die offene Grausamkeit
der Augenblick der Wahrheit. Die Urgeschichte der Verfeindung kommt zum Vorschein.
Das Elementare durchbricht die Kruste der Zivilisation. »Die Menschen, welche
jetzt grausam sind, müssen uns als Stufen f r ü h e r e r
C u l t u r e n gelten, welche
übriggeblieben sind: das Gebirge der Menschheit zeigt hier einmal die tieferen
Formationen, welche sonst versteckt liegen, offen« (2,66).
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 190).In der
»Morgenröthe« treibt Nietzsche die Analyse der die menschlichen
Beziehungen fundierenden Grausamkeit weiter voran. Er beschreibt, wie eine »veifeinerte
Grausamkeit« (3,40)
zur anerkannten Tugend werden kann. Wenn jemand auf sonst löbliche Weise
bestrebt ist, sich auszuzeichnen, will er damit den anderen nicht auch »wehe
tun« durch den Anblick seiner herausgehobenen Stellung, will er nicht den
Neid, den er erregt, genießen? Gehört zur Schaffenseuphorie beim
Künstler nicht auch die »vorempfundene Wollust« (3,40), den künstlerischen
Nebenbuhler aus dem Felde schlagen zu können? Ist der agonale Charakter
der Kultur nicht insgesamt eine Sublimierung grausamer Kampfbereitschaft?
Welche geheimen Genüsse wirken in der Keuschheit der Nonne? »Mit
welchen strafenden Augen sieht sie in das Gesicht anderslebender Frauen! wie viel
Lust der Rache ist in diesen Augen!« (3,40).
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 190).Nietzsche
findet in der Religion reichliche Belege für seine These von der Grausamkeit
als schöpferischem Ursprung der Zivilisation. In vielen Kulturkreisen stellte
man sich die Götter grausam vor. Sie müssen durch Opfer versöhnt
werden. Offenbar dachte man sich die Götter als Wesen, denen der Anblick
der Qual und des Abschlachtens Freude bereitet. Noch der christliche Gott muß
durch das Opfer seines Sohnes befriedigt werden. Wer den Göttern Lust machen
will, muß ihnen ein Fest der Grausamkeit bereiten. Die Lust der Götter
ist die menschliche Lust in vergrößertem Maßstab, deshalb gilt:
»Die Grausamkeit gehört zur ältesten Festfreude der Menschheit«
(3,30).
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 190-191).Wenn
Nietzsche die Geschichte der moralischen Empfindungen die Geschichte eines »Irrthums«
(2,63)
nennt, bestreitet er doch nicht, daß dieser Irrtum eine kulturbildende Funktion
hatte und immer noch hat. Zwar ist die moralische Empfindung im Irrtum, sofern
sie sich als Organ der Wahrheit und als Auskunft über die eigentliche Bestimmung
des Menschen versteht. Doch gerade in diesem Selbstmißverständnis gehört
sie zu den notwendigen Illusionen, die den Menschen die kulturelle Selbstmodeliierung
erlauben. Das moralische Gesetz, wie bedrückend es auch sein mag, bewirkt
zugleich eine eigenartige Selbsterhöhung. Da gibt es beispielsweise das Inzesttabu.
Man kann dagegen verstoßen, der Trieb und die Physiologie, die Natur also,
hindern einen nicht daran. Es ist keine physische, sondern eine moralische Grenze,
die das Ansichhalten fordert: aus Gehorsam wird schließlich Selbstbeherrschung,
die unentbehrlich ist für die Kultur. Nur wer sich selbst beherrschen kann,
lernt die Selbstachtung. (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000,
S. 191).Zahlreiche kulturelle Gebote und Verbote dienen praktischen
Zwecken, eugenischen, ökonomischen, gesundheitlichen, politischen. Aber Nietzsche
warnt davor, die Nützlichkeit, die sich häufig erst im Laufe der Zeit
herausstellt, als intendierten Zweck in den Anfang zu projizieren. Das gilt auch
für den Gesichtspunkt der Selbstbeherrschung. Auch sie war kaum als pädagogisches
Programm intendiert, sondern eine subjektive Folge aus den Geboten der objektiven
Sittlichkeit. Die Sitte galt nicht, damit ein einzelnes Individuum seinen Vorteil
dabei haben kann. An den Einzelnen ist nicht gedacht, sondern es geht um die Erhaltung
und Entwicklung eines ganzen kulturellen Menschengeflechtes. Wem geht es darum
? Nicht dem Einzelnen, auch nicht dem herrschenden Einzelnen, sondern dem
subjektlosen »Subjekt« des kulturellen Prozesses. Dieses subjektlose
Subjekt verkörpert sich im System der Sitten und Tabus. Dieses System fordert
Achtung, unabhängig davon, ob man die Nützlichkeit einsieht. So erklären
sich jene rätselhaften Verbote, die gänzlich sinnlos und unpraktisch
zu sein scheinen und die Nietzsche zu der Überlegung veranlassen: »Bei
rohen Völkern giebt es eine Gattung von Sitten, deren Absicht die Sitte überhaupt
zu sein scheint« (3,29).
Nietzsche erwähnt als Beispiel einen mongolischen Stamm, die Kamtschadalen,
denen es angeblich bei Strafe des Todes verboten ist, mit dem Messer Schnee von
den Schuhen abzuschaben, eine Kohle mit dem Messer zu spießen oder Eisen
ins Feuer zu legen. Solche Tabus haben offenbar nur den Zweck, »die fortwährende
Nähe der Sitte, den unausgesetzten Zwang, Sitte zu üben, fortwährend
im Bewusstsein (zu) erhalten: zur Bekräftigung des grossen Satzes, mit dem
die Civilisation beginnt: jede Sitte ist besser, als keine Sitte« (3,29).
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 191-192).Die
Sitte wirkt als System der Triebmodellierung. Derselbe Trieb kann unter dem Druck
bestimmter Sitten als peinliches Gefühl der Feigheit erfahren werden oder
sich zum angenehmen »Gefühl der D e m u t h« (3,45)
entwickeln, wenn er beispielsweise von der christlichen Moral den Menschen ans
Herz gelegt wird. Der Trieb selbst hat zunächst keinen moralischen Charakter.
Dieser wächst ihm erst zu als »seine zweite Natur« (3,45).
Eine agonale Kultur wie die antik-griechische hat den Neid anders bewertet als
Kulturen, die auf Gleichheit setzen. Für die Griechen hatte es nichts Anstößiges,
die Götter mit Gefühlen des Neides auszustatten, und im alten Israel
galt der Zorn als Beweis der größten Lebenskraft, und darum war der
heilige Zorn eine bevorzugte Eigenschaft des jüdischen Gottes. (Rüdiger
Safranski, Nietzsche, 2000, S. 192).Die Sittlichkeit wird
in den jeweiligen Kulturen nicht nur als System der Unterscheidung von Gut und
Böse, sondern auch von Wahr und Unwahr verstanden. Die Moralsysteme sind,
nach Nietzsche, mit einer offenen oder impliziten Metaphysik der Selbstlegitimierung
verbunden. Im Kulturvergleich aber läßt sich der jeweilige metaphysische
Wahrheitsanspruch nicht mehr aufrechterhalten. Die großen Wahrheiten zersplittern
in die Vielzahl der Kulturtechniken, die es offenbar gibt. Diese Relativierung
durch Berührung mit fremden Kulturen hatte, daran erinnert Nietzsche, bereits
in der griechischen Antike die Aufklärung begründet. Die völkerkundlichen
Forschungen eines Herodot haben dazu beigetragen, den mythisch geschlossenen griechischen
Kulturkreis zu sprengen. In der Neuzeit war es vor allem Montaigne, der den Kulturvergleich
nutzte, um eine Abrüstung bei den Wahrheitsansprüchen zu bewirken. In
diese Tradition stellt sich Nietzsche. Es liegt ihm fern, das Prinzip der Sittlichkeit
preiszugeben, nur weil ihre implizite Metaphysik hinfällig wird. Denn Moral
und Sittlichkeit bleiben notwendig. Er schätzt die Kraft der Moral zur Triebmodellierung
und Schaffung einer zweiten Natur hoch ein und kann deshalb behaupten: »Ohne
die lrlthümer, welche in den Annahmen der Moralliegen, wäre der Mensch
Thier geblieben« (2,64).
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 192-193).Nietzsches
Kritik der metaphysischen und religiösen Selbstlegitimierung der Moral will
das Werk der Triebmodellierung und die Errungenschaften der zweiten Natur unangetastet
lassen. Nur soll es in Zukunft aufgeklärter gehandhabt und in bewußte
Regie überführt werden. Das System der Sittlichkeit soll von einem heißen,
dumpfen zu einem kalten, klaren Projekt werden. Gewiß wird manchem »bei
dem Anhauche einer solchen Betrachtungsartgar zu winterlich zu Muthe« (2,61)
werden. Doch das darf einen nicht hindern, die Kultur über sich selbst aufzuklären
ohne Scheu davor, an Betriebsgeheimnisse zu rühren. In einer Kultur, die
sich gegen Selbstaufklärung abdichtet, steigt die Innentemperatur. Man kann
das Nestwärme nennen. Wenn die Angst vor der Freiheit und der metaphysischen
Obdachlosigkeit Panikgefühle wachruft, dann kann das warme Nest zum Siedekessel
werden. Deshalb Nietzsches Aufforderung an die »geistigeren Menschen eines
Zeitalters, welches ersichtlich immer mehr in Brand geräth« (2,62),
die Wissenschaften als »löschende und kühlende Mittel« zu
nutzen und sie gegenüber der Zeitstimmung als »Spiegel und Selbstbesinnung«
(2,62)
zu gebrauchen. (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 193).In
»Menschliches, Allzumenschliches« setzt Nietzsche in solche »Selbstbesinnung«
große Hoffnungen nicht nur im Blick auf den Einzelnen. Er erwägt die
Möglichkeit, daß eine ganze Zivilisation, indem sie sich selbst durchschaut
und vom alten religiösen Schicksalsglauben Abschied nimmt, vielleicht auch
imstande sein könnte, sich »ökumenische, die ganze Erde umspannende
Ziele« zu setzen. Wenn die Menschheit sich durch eine solche »bewusste
Gesammtregierung« nicht zugrunde richten soll, müßte »eine
alle bisherigen Grade übersteigende Kenntniss der Bedingungen der Cultur,
als wissenschaftlicher Maasstab für ökumenische Ziele« (2,46)
gefunden sein. (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 193-194).Hier
nähert sich Nietzsche der von Max Weber später betonten Differenz zwischen
Wertentscheidung einerseits und rationaler Erkenntnis der Mittel ihrer Verwirklichung
andererseits. Die Wissenschaft kann die Wertentscheidung nicht treffen; indem
sie aber das Funktionsgeflecht der Kultur erklärt, stellt sie dem Handeln
Kriterien zur Verfügung, welche die Zweckdienlichkeit der Mittel zu beurteilen
erlauben. Ebenso verspricht sich auch Nietzsche von der Wissenschaft eine Einsicht
in die »Bedingungen der Cultur«, mit deren Hilfe man beurteilen kann,
ob die »ökumenischen« Ziele sich überhaupt verwirklichen
lassen. Was diese Ziele selbst betrifft, so hat Nietzsche von seinen Visionen
der Tragödienbuch-Periode keineswegs Abschied genommen. Immer noch gilt sein
Grundsatz der Anthropodizee, wonach Menschheit und Geschichte nur gerechtfertigt
sind durch die Geburt des Genius. Der Sinn der Geschichte ist die »Verzückungsspitze«
im großen Individuum und im großen Werk. (Rüdiger Safranski,
Nietzsche, 2000, S. 194).Wenn die wissenschaftliche Betrachtungsart
den metaphysischen Wahrheitsgrund untergräbt, dann betrifft das zum einen
die Moral; doch es betrifft selbstverständlich auch die Religion und schließlich
auch die Kunst. Was die Religion angeht, so versteht sie Nietzsche in »Menschliches,
Allzumenschliches« und in der »Morgenröthe« zunächst
als Metaphysik fürs Volk - ganz im Stil der aufgeklärten Religionskritik
seiner Epoche. Er experimentiert mit der schlichten These, die Religion diene
der »Narkotisierung« (2,107)
bei den Übeln, die sich anders nicht beseitigen lassen. Wenn die Erkenntnis
der Natur voranschreitet und statt der »phantastischen Causalitäten«
(3,24)
die wirklichen Kausalitäten entdeckt werden, braucht man beispielsweise die
Krankheiten nicht mehr als Gottesgericht anzusehen und nimmt, statt zu beten und
zu opfern, die passende Medizin. Die Macht des Schicksals - der Ansatzpunkt von
religiösen Phantasien aller Art - wird zwar nicht gebrochen, aber eingeschränkt.
Das beeinträchtigt die Macht der »Priester« und der »Tragödiendichter«
(2,107).
Ein Leiden, das sich zur Not kurieren läßt, verliert sein dunkles,
bedeutungsschweres Pathos. (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000,
S. 194-195).Mit einer Religion, die lediglich Kompensation für
nicht zu beseitigendes Übel und magische Naturbeherrschung ist, wäre
die Kritik schnell fertig. Doch das religiöse Empfinden hat noch andere Aspekte,
die Nietzsche zu denken geben. Ehe er sich darauf einläßt, hält
er, wie zur Selbstvergewisserung, kompromißlos und schroff das für
ihn verbindliche Ergebnis der aufgeklärten Religionskritik fest. »Noch
nie hat eine Religion, weder mittelbar; noch unmittelbar; weder als Dogma, noch
als Gleichniss, eine Wahrheit enthalten« (2,110; MA). Man soll sich auch
nicht durch das »Theologenkunststück« der Vermischung von wissenschaftlicher
Erkenntnis und erbaulicher Spekulation verwirren lassen, Und umgekehrt ist die
Wissenschaft zu kritisieren, wenn sie »einen religiösen Kometenschweif
in die Dunkelheit ihrer letzten Aussichten hinaus erglänzen lässt«
(2,111).
Religion soll sich nicht wissenschaftlich drapieren, und Wissenschaft soll nicht
religiös raunen, wo sie nicht mehr argumentieren kann. Nietzsche plädiert
für klare Verhältnisse. Jedoch weiß er, daß religiöses
Empfinden nicht ausgeschöpft ist, wenn darin nur Irrtümer entdeckt werden.
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 195).Was gibt
es im religiösen Empfinden noch anderes zu entdecken? Da ist, insbesondere
im Christentum, die Bereitschaft, sich sündig zu fühlen. Woher kommt
dieses Gefühl, was steckt darin? Es ist doch erstaunlich, wenn der
Mensch sich »schwärzer und böser nimmt, als es thatsächlich
der Fall ist« (2,121).
Die antike griechische Religion hatte dem Menschen diese Einschwärzung der
Selbstwahrnehmung nicht zugemutet. Im Gegenteil. Indem die Götter mit den
Menschen ihre Tugenden und Laster teilten, konnte sich jeder entlastet fühlen.
Die Menschen ließen sich die dunkle Seite ihres Wesens sogar von ihren Göttern
zurückspiegeln. Auf die Frage nach der Herkunft des Sündengefühls
gibt »Menschliches, Allzumenschliches« eine Antwort, die in Nietzsches
späterem Werk vielfach variiert wird. Sie lautet: das Christentum war ursprünglich
die Religion von Leuten, die gedrückt und elend lebten, die nicht vornehm
waren und deshalb auch nicht vornehm von sich dachten. Eine Religion der geringen
Selbstachtung. Das Christentum versenkte die Menschen vollends in dem »tiefen
Schlamm« (2,118),
worin sie bereits steckten. (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000,
S. 195-196).Diese Erklärung befriedigt nicht, auch nicht Nietzsche
selbst, denn der Hinweis auf den Zusammenhang zwischen sozialem Elend und geringer
Selbstachtung ist doch ziemlich trivial. Und deshalb erwägt Nietzsche den
Gedanken, ob es nicht vielleicht die Erschlaffung der römischen Spätkultur
war, die auf das Sündengefühl wie auf einen Reiz oder eine Droge ansprach,
besonders da in diese Zerknirschung dann der »Glanz eines göttlichen
Erbarmens hineinleuchten« konnte. War es diese Lust an der Peripetie, an
der Dramatik der Bekehrung, war es dieser »Excess des Gefühls«
(2,118),
den man genießen wollte? Das römische Reich hatte sich so unermeßlich
weit ausgedehnt und umfaßte einen ganzen Weltkreis, worin sich die Verhältnisse
und Menschen immer ähnlicher wurden, die geschichtlichen Dramen hatten sich
an die fernen Grenzen verlagert - war unter solchen Umständen das innere
Bekehrungsdrama nicht ein unschätzbarer Zugewinn an Intensität?
War der Extremismus des frühen Christentums eine Kur gegen die grassierende
Langeweile? Wenn eine Kultur alt wird, und der »Kreis aller natürlichen
Empfindungen« (2,137)
unzählige Male durchlaufen worden ist, kommt es darauf an, eine »neue
Gattung von Lebensreizen« zu finden. Vielleicht war das Christentum dieser
neue Lebensreiz. Den Bekehrten bot es das Seelendrama aus Sünde und Erlösung.
Und die anderen fanden bei den Auftritten der Märtyrer, Asketen und Säulenheiligen
ihr Vergnügen, nachdem man inzwischen »gegen den Anblick von Thier-
und Menschenkämpfen stumpf geworden war« ( 2,137).
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 196).Doch auch
mit dieser Erklärung bleibt man in der historischen Genealogie des Christentums
stecken, seine Karriere in den Gefühlen der Menschen bis zur Gegenwart ist
damit noch nicht verstanden. Um hier weiter zu kommen, vertieft sich Nietzsche
in die Psychologie der Heiligen, Märtyrer und Asketen, bei denen das seltsame
Gewächs religiöser Empfindungen besonders üppig wuchert. An diesen
Religionsvirtuosen zeigt sich, welche ungeheure Macht der Selbststeigerung, welche
ekstatische Energie im religiösen Empfinden am Werke sind. Da kann von einer
niedrigen, gedrückten Stimmung, von Demut und Bescheidenheit überhaupt
nicht mehr die Rede sein. Diese Heiligen und Asketen bekämpfen etwas in sich,
das sie für niedrig und gemein ansehen. Sie kämpfen aber auf beiden
Seiten: sie sind das Erbärmliche und sie sind der Triumph darüber, das
Niedrige und das Erhabene, die Ohnmacht und die Macht. Der innerlich reiche Mensch
lebt in einem Spiegelkabinett. Indem er einerseits in den »hellen Spiegel«
seines Gottesbildes blickt, erscheint ihm sein eigenes Wesen »so trübe,
so ungewöhnlich verzerrt« (2,126).
In seinen verschwiegensten Augenblicken aber weiß er, daß jener »helle
Spiegel« nichts anderes ist als ein vergrößertes Selbst, daß
er im Gottesspiegel seine besseren Möglichkeiten erblickt, von denen er sich
zugleich emporgehoben und gedemütigt fühlt. Auch diese Spiegelungen
gehören zur »Selbstzertheilung«, durch die der Mensch nicht nur
ein moralisches, sondern eben auch ein religiöses Wesen wird. Die religiöse
»Selbstzertheilung« kann sich zum Selbstopfer radikalisieren. Das
geschieht dadurch, daß »der Mensch Etwas von sich, einen Gedanken,
ein Verlangen, ein Erzeugniss mehr liebt, als etwas Anderes von sich, dass er
also sein Wesen zertheilt und dem einen Theil den anderen zum Opfer bringt«
(2,76).
So triumphiert der Asket, der Heilige, der Märtyrer, indem er sich erniedrigt,
und ist voller Stolz in seiner Demut. »Dieses Zerbrechen seiner selbst,
dieser Spott über die eigene Natur (
), aus dem die Religionen so viel
gemacht haben, ist eigentlich ein sehr hoher Grad der Eitelkeit. Die ganze Moral
der Bergpredigt gehört hierher: der Mensch hat eine wahre Wollust darin,
sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch
fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu vergöttern. In jeder asketischen
Moral betet der Mensch einen Theil von sich als Gott an und hat dazu nöthig,
den übrigen Theil zu diabolisiren.« (2,131).
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 196-197).Der
religiöse Mensch in seinen großen Augenblicken will dasselbe, was auch
der Künstler will: die »gewaltige Emotion«. Beide sind unbescheiden
genug, das »Ungeheure« (2,132)
zu berühren, selbst wenn sie sich dadurch vernichtet fühlen. Diese Art
Untergang ist für sie die »Verzückungsspitze der Welt« (7,200).
Weil diese Hingabe ans Ungeheure eine gemeinsame Obsession von Religion und Kunst
ist, läßt Nietzsche in »Menschliches, Allzumenschliches«
auf das Kapitel über das »Religiöse Leben« das Kapitel »Aus
der Seele der Künstler und Schriftsteller« folgen. (Rüdiger
Safranski, Nietzsche, 2000, S. 198).Die »gewaltige
Emotion« in der religiösen Empfindung und in der Kunst ist selbstverständlich
etwas Außerordentliches, eine Intensität, eine Anspannung und zugleich
Gelöstheit, auch eine Entfesselung schöpferischer Kräfte, eine
Euphorie des Gelingens, ein Einströmen und Ausströmen von Kraft, ein
gesteigerter Zustand, aber - und das ist Nietzsches kalte Antithese - es gibt
darin keine höhere Wahrheit. Man darf den gesteigerten religiösen und
künstlerischen Zustand nicht so verstehen, wie die religiösen und künstlerischen
Ekstatiker sich selbst verstehen: als Medien verborgener, großer Wahrheiten.
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 198).Nietzsches
Lehre besteht ja aus 3 großen Lehrstücken:
(1) Übermensch; (2)
ewige Wiederkunft des Gleichen; (3) Wille zur Macht.Nietzsche
wird in seinen letzten Schriften Hemmungen ablegen, die Gleichnisrede durchbrechen
und auf offener Bühne einige Konsequenzen ziehen, die vom Übermenschen-Denken
nichts Gutes erahnen lassen. »Die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer
einzelnen s t ä r k e r e n
Species Mensch geopfert - das wäre ein Fortschritt« (5,315),
schreibt er in »Zur Genealogie der Moral«, und in »Ecce homo«
findet man dann jene berüchtigten Sätze über die Aufgaben der »künftigen
Parte des Lebens«. Wir gehen einem »tragischen Zeitalter« entgegen,
schreibt er. Warum »tragisch«? Das Ja zum Leben wird sich mit einem
grausamen Nein gegen alles, was das Leben mindert und in sein Haustierwesen verwandelt,
bewaffnen müssen. »Werfen wir einen Blick ein Jahrhundert voraus, setzen
wir den Fall, dass mein Attentat auf zwei Jahrtausende Widernatur und Menschenschändung
gelingt. Jene neue Partei des Lebens, welche die grösste aller Aufgaben,
die Höherzüchtung der Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet
die schonungslose Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen, wird jenes
Z u v i e l v o n L e b e n
auf Erden wieder möglich machen, aus dem auch der dionysische Zustand wieder
erwachsen muss.« (6,313).
Diese »Zuviel von Leben« zu schaffen gelingt nur, wenn die »Allzuvielen«
an der Fortpflanzung gehindert oder gar beseitigt werden - diese wahrhaft mörderischen
Gednken kommen für Nietzsche aus dem »dionysischen Zustand«.
Weshalb bringt Nietzsche das Dionysische in den Zusammenhang mit seinen Visionen
der menschenvernichtung im großen Stil? Nietzsches Antwort: wenn man das
dionysisch-tragische Weltgefühl nur tief genung erlebt, wird man bemerken,
daß es schon in der griechischen Tragödie darum gegangen war, »die
eige Lust des Werdens s e l b s t z u
s e i n , jene Lust, die auch noch die L u s t
a m V e r n i c h t e n
in sich schliesst.« (6,312). (Rüdiger Safranski, Nietzsche,
2000, S. 277-278).Die mit dem Bild des Übermenschen verknüpften
Vernichtungsphantasien haben zwei Wurzeln: eine Gedankenkonstruktion und eine
existenzielle Problemkonstellation. Was die glückliche Konsequnez betrifft,
so handelt es sich um eine Zuspitzung der bereits im Tragödienbuch (»Die
Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, 1872)
entwickelten These von der Rechtfertigung der Kultur durch das große Werk
und den großen Menschen. Wenn die Menschheit nicht »ihrer selbst wegn
da ist«, wenn vielleicht gilt: nur »in ihren Spitzen, in den großen
Einzelnen, den Heiligen und den Künstlern liegt das Ziel«,
dann ist es auch erlaubt die Menschheit als Material für die Erzeugung eines
Genius, eines genialen Werkes oder eben: des Übermenschen zu gebrauchen.
Und wenn die Masse dabei eher hinderlich ist, so muß eben Platz geschaffen
werden - notfalls durch Beseitigung des »Entartenden«. Aber Nietzsche
bleibt auch in Vernichtungsphantasien eine zartbesaitete Seele, und darum ist
ihm die Vorstellung sympathischer, daß bei den »Mißrathenen
die Gesinnung aufkommen könnte, sich freiwillig zu opfern.« Was die
existentielle Konstellation betrifft, so wirken in Nietzsches Vernichtungsphantasien
die schlimmen Kränkungen von seiten einer Umwelt, die ihn verkleinern und
demütigen wollte. Nietzsche hatte sich durch das Denken eine »zweite
Natur« schaffen wollen, die größer, freier, souveräner sein
wollte als seine erste Natur, von der er sgate: »ich bin eine Pflanze nahe
dem Gottesacker geboren.« Sein Denken galt ihm als ein Versuch, sich gleichsam
a posteriori eine Vergangenheit zu geben, »aus der man stammen möchte,
im Gegensatz zu der, aus der man stammt« (1,270).
Offenbar mußte Nietzsche, der sich so machtvoll zu seiner »zweiten
Natur« emporgereckt hatte, immer mehr Macht aufwenden, um die Wiederkehr
der ersten Natur zu verhindern. (Rüdiger Safranski, Nietzsche,
2000, S. 278-279).An
der Verknüpfung der drei Lehrstücke
vom Übermenschen (1),
von der ewigen Wiederkehr (2)
und vom Willen zur Macht (3)
wird er weiter arbeiten mit dem Bewußtsein, das Entscheidende immer
noch nicht zureichend getroffen und formuliert zu haben. (Rüdiger Safranski,
Nietzsche, 2000, S. 286).Im Sommer 1881, zur Zeit der Inspiration
am Surlei-Felsen (Anfang August 1881 nahe Surlei am See
von Silvaplana [nahe Sils-Maria = Sils im Engadin, Kanton Graubünden], wo
Nietzsche den Gedanken der ewigen Wiederkehr als ein Inspirationserlebnis hatte),
notierte sich Nietzsche für die Darstellung der Lehre von der Wiederkunft
des Gleichen das folgende Gliederungsprinzip: »Erst am Ende wird dann die
L e h r e von der Wiederholung alles Dagewesenen
vorgetragen, nachdem die Tendenz zuerst eingepflanzt ist, etwas zu schaffen, welches
unter dem Sonnenschein dieser Lehre hundertfach kräftiger gedeihen kann!«
Die ursprünglich geplante Abfolge für den »Zarathustra«
(»Also sprach Zarathustra«, 1883-1885)
war demnach: zuerst sollten die Umrisse einer Lebenskunst skizziert werden, wodurch
das Lebens- und Liebenswerte des Daseins evident würde. Zarathustra will,
wie die Sonne, Licht und Freude bringen. Er tritt auf als Mensch mit überfließendem
Wohlwollen. Aber was als Lehre der Lebenslust leicht und beschwingt klingt, ist
schwer, wenn nicht unmöglich zu verwirklichen: die wiederhergestellte Spontaneität
des Kindes oder, philosophisch gesprochen, die vermittelte Unmittelbarkeit. Zarathustra
findet in der Rede »Von den drei Verwandlungen« (ebd., S. 25-27)
plastische Bilder dafür: Man ist zuerst »Kameel«, beladen mit
lauter »Du sollst«. Das Kamel verwandelt sich in einen »Löwen.
Der kämpft gegen diese ganze Welt des »Du sollst«. Er kämpft,
weil er sein »Ich will« entdeckt hat. Doch weil er kämpft, bleibt
er negativ ans »Du sollst« gefesselt. Sein Seinkönnen verbraucht
sich im Zwang zur Rebellion. In diesem »Ich will« ist noch zuviel
Trotz und Selbstversteifung, hier gibt es noch nicht die wahrhafte Gelöstheit
des schöpferischen Wollens, noch ist man nicht bei sich selbst, bei seinem
Lebensreichtum angekommen. Das gelingt erst, wenn man zum Kind wird, auf neuer
Stufe die erste Spontaneität des Lebendigen wieder erreicht: »Unschuld
ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes
Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.« (ebd., S. 27).
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 287).Übrigens:
Nietzsche nannte sein wohl bekanntestes Werk deshalb nach Zarathustra, weil dieser
als erster im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im
Getriebe der Dinge gesehen habe. (Vgl. Erster Monotheismus bzw. Henotheismus:
die Religion der Perser [Parsen]).
In der von Zarathustra gestifteten Glaubenslehre der alten Iranier wurde also
zunächst der weise Herr (Ahura Mazda oder Ormuzd,
bzw. Ormazd) verehrt, dem dann später der böse Geist (Ahriman
bzw. Angromainyu) gegenübergestellt wurde. Jenem stehen als 6 gute
Geister Weisheit, Wahrhaftigkeit, Herrschaft, Gesundheit, gute Gesinnung und Langlebigkeit
zur Seite, diesem Trug und Zorn. Die Aufgabe des Menschen ist, Ahura Mazda
im Kampf gegen Ahriman bezustehen, wobei der Einzelne für Zarathustra
die Verantwortung für sein Tun, d.h. für den richtigen Gebrauch der
genannten 6 Tugenden, allein trägt, daher jederzeit Unheil abwenden könne.
Die »Menschheit«, schrieb Nietzsche im Vorentwurf zur
»Geburt der Tragödie« (»Die Geburt
der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, 1872),
ist nicht um ihrer selbst willen da, »sondern in ihren Spitzen, in den großen
Einzelnen, den Heiligen und den Künstlern liegt das Ziel«.
Es handelt sich um ein Vorspiel des Gedankens vom Willen zur Macht, wenn der junge
Nietzsche in diesem frühen Text schreibt: »Es giebt keine höhere
Kulturtendenz als die Vorbereitung und Erzeugung des Genius«. Der Genius
ist die höchste Verkörperung der Macht auf dem Boden des kulturellen
Machtkampfes. Auf dem menschlichen, allzumenschlichen und übermenschlichen
Boden gelingt es Nietzsche, das Theater des Willens zur Macht anschaulich werden
zu lassen. Hier sind die Machtkämpfe evident. Das gilt also nicht nur für
die Kultur im engeren Sinne, sondern für den Organismus der Gesellschaft
insgesamt. In der Gesellschaft ist das Menschengeschehen in seinem Element. Daß
kalte Gesellschaften ein Gleichgewicht der Mächte repräsentieren und
heiße Gesellschaften solche sind, die infolge einer Verschiebung des Gleichgewichtes
in Bewegung geraten und anch einem neuen Gleichgewicht suchen und darum kämpfen
- diesen Gedanken einer Morphologie der gesellschaftlichen Mächte hatte Nietzsche
in Menschliches, Allzumenschliches entwickelt. Das »Gleichgewicht«
der Mächte, schreibt er dort, »ist die Basis der Gerechtigkeit«
(2,556).
Der Gerechtigkeitssinn entspringt keiner höheren Moral über den kämpfenden
Parteien, sondern ist die Folge von Gleichgewichtsverhältnissen. Verändern
sich diese, ändert sich auch die Moral. Ein soeben noch als gerecht angesehener
Herrscher gilt plötzlich als Verbrecher - und umgekehrt. In den Revolutionen,
wenn also die Gleichgewichte sich dramatisch verschieben, wird die Wahrheit der
Moral offenkundig. Sie ist Klassen- und Parteimoral. (Rüdiger
Safranski, Nietzsche, 2000, S. 298-299).Als Nietzsche Mitte
der 1880er Jahre beginnt, verbissen um sein systematisches Hauptwerk (»Der
Wille zur Macht«) zu kämpfen, gerät er in die Gefahr, seine
»grosse Befreiung« zu verspielen. Er will eine Theorie aus einem Guß,
die alles erklärt, alles verstehbar macht, die den Schlüssel des Weltgeheimnisses
in die Hand bekommt. Mit einer ungeheuren Theorie soll dem Ungeheuren zu Leibe
gerückt werden. Aus dem Willen zur Macht, zunächst verstanden als Prinzip
der freien Selbstgestaltung und - steigerung, als magische Verwandlungskraft der
Kunst, als innere Dynamik des Gesellschaftslebens, wird schließlich auch
ein biologistisches und naturalistisches Prinzip, und damit gerät Nietzsche
eben doch unter die Gewalt einer causa prima. (Rüdiger Safranski,
Nietzsche, 2000, S. 301).Was der Glaube an historische Gesetzmäßigkeiten,
die Hypostasierung metaphysischer Wesenheiten, was die religiöse Lebenseinstellung
und die aus ihr hervorgehende Moral an Lebensentwertung bewirkt haben mögen,
ist wahrscheinlich harmlos im Vergleich zur naturalistischen Entzauberung des
Lebendigen, das sich in physikalische, chemische, triebökonomische Prozesse
auflöst. Und Nietzsche schreibt keine unzeitgemäße Betrachtung
unter dem Titel »Vom Nutzen und Nachteil der Naturwissenschaft für
das Leben« (aber: »Vom
Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, 1874).
Der Kritiker der metaphysischen Hinterwelt läßt sich von den naturwissenschaftlichen
Hinterwelten verführen. Er läßt sich auf Sichtweise ein, die den
Menschen verdinglichen, die mit der Formel operieren: »der Mensch ist nichts
anderes als ...«. Der Mensch gilt nunmehr als Schauplatz von gehirnphysiologischen
Vorgängen, von triebdynamischen Spannungen, von chemischen Prozessen. ....
Nietzsche
läuft, versuchsweise und spielerisch, auf die andere Seite
über und stimmt
sein Loblied auf die Physik an: »Wir (müssen)
die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt
werden: wir müssen P h y s i k e r
sein, um, in jenem Sinne, S c h ö p f e r
sein zu können, - während bisher alle Werthschätzungen und Ideale
auf U n k e n n t n i s
der Physik oder im W i d e r s p r u c h
mit ihr aufgebaut waren. Und darum: Hoch die Physik! Und höher noch das,
was uns zu ihr z w i n g t , -
unsere Redlichkeit.« (3,563f.).
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 302).In »Jenseits
von Gut und Böse«, einem Werk, das im Winter 1985/1986 entsteht und
in das auch Materialien der Arbeit am »Willen zur Macht« eingegangen
sind, schreibt er: »Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesamtes
Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu
erklären - nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist -; gesetzt,
dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen
könne
, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende
Kraft eindeutig zu bestimmen als: W i l l e z u r
M a c h t . Die Welt von innenen gesehen
wäre eben Wille zur Macht und nichts ausserdem.« (5,55).
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 303).Nun läßt
sich das Naturgeschehen statt als mörderischer »Kampf« ebenso
als das »Spiel« der Kräfte ansehen. Es kommt, wie wir gerade
durch Neitzsche wissen, auf die wertsetzende Perspektive an. Keine ist zwingend,
aber wichtig ist: es ist ein und dieselbe Grenzüberschreitung, die das eine
Mal das Leben als ein von Macht beherrschtes Kampfgetümmel, da andere mal
als Spiel erscheinen läßt - es ist eine Grenzüberschreitung hin
zu einer Gesamtvision des Lebens. Der späte Nietzsche lebt in der zerreißenden
Spannung zwischen zwei solchen Visionen, der des großen Weltspiels und der
der Macht als causa prima. Der Unterschied dieser beiden Visionen: das
große Spiel ermuntert zur ironischen Selbstrelativierung; der Wille zur
Macht als »causa-prima-Theorem« indes erlaubt ihm die imaginäre
Rache für die erlittenen Demütigungen und Kränkungen, er überläßt
sich Phantasmen der Gewalt, die ihm jene ungeheuren Sätze aus »Ecce
homo« eingeben, wo von der »Partei des Lebens« die Rede ist,
»welche die grösste aller Aufgaben, die Höherzüchtung der
Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose Vernichtung
alles Entarteten und Parasitischen.« (6,313).
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 304).In einer
»Der europäische Nihilismus« überschriebenen Skizze vom
10. Juni 1887 - eine wichtige Vorabeit für den »Willen zur Macht«
- hat Nietzsche das wirkliche Grauen vor der Natur beschrieben. Es betrifft ihre
ungeheure Ungerechtigkeit und Rücksichtslosigkeit. Sie bringt Schwache und
Starke hervor, Begünstigte und weniger Begünstigte. Es gibt hier keine
Vorsehung, keine gerechte Verteilung der Lebens-Chancen. Vor diesem Hintergrund
läßt sich Moral definieren als Versuch, die »Ungerechtigkeit«
der Natur auszugleichen, Gegengewichte zu schaffen. Es soll der Macht der natürlichen
Schicksale gebrochen werden. (Rüdiger Safranski, Nietzsche,
2000, S. 307).Ein besonders genialer Versuch in diesem Sinne war
- für Nietzsche - das Christentum. Es hat den »Schlechtweggekommenen«
drei Vorteile geboten: Es verlieh dem Menschen einen »absoluten Werth, im
Gegensatz zur Kleinheit und Zufälligkeit im Strom des Werdens und Vergehens«
(12,211);
zum zweiten wurden Leid und und Übel erträglich gemacht, indem ihnen
ein »Sinn« gegeben wurde; und zum dritten wurde im Schöpfungsglauben
die Welt als vom Geist durchwirkte und darum erkennbare und wertvolle verstanden..
So hat das Christentum verhütet, daß der von der Natur benachteiligte
Mensch sich »als Menschen verachtete, daß er gegen das Leben Partei
nahm« (12,211).
Die christliche Weltdeutung hat die Grausamkeit der Natur gedämpft und Menschen
zum Leben ermuntert und darin festgehalten, die sonst vielleicht verzweifelt wären.
Sie hat, mit einem Wort, »die Schlechtweggekommenen vor Nihilismus«
(12,215)
bewahrt. Wenn man es als Gebot der Menschlichkeit ansieht, dem natürlichen
Schicksal nicht einfach seinen Lauf zu lassen, sondern für möglichst
viele eine lebbare Ordnung herzustellen, dann müßte man eigentlich
dem Christentum dafür, daß es seine »Moral-Hypothese« in
die Welt eingeführt hat, dankbar sein. Nietzsche spricht voller Anerkennung
von der wertschaffenden Kraft des Christentums, aber er ist dafür nicht dankbar.
Warum nicht? Weil die Rücksichtnahme auf die Schwachen, die Moral des
Ausgleichs in seinen Augen die Entwicklung und Entfaltung eines höheren Menschentums
behindern. Das höhere Menschentum konnte er sich
nur vorstellen als
Aufgipfelung der Kultur in ihren »Verzückungsspitzen«, in den
gelungenen Einzelmenschen und Werken. Der Wille zur Macht entfesselt auf der einen
Seite diese Dynamik der Aufgipfelung, und es ist ebenfalls der Wille zur Macht,
der sich auf der anderen Seite der Schwachen zur moralischen »Partei«
formiert, welche diese Aufgipfelung verhindert und schließlich, so Nietzsches
Diagnose, zur allgemeinen Nivellierung und Degeneration führt. Diese »Partei«,
die aus der »christlichen Moral-Hypothese« die modernsten Konsequenzen
zieht, ist die Demokratie und der Sozialismus, die deshalb von Nietzsche so energisch
bekämpft werden. Denn für Nietzsche ist nicht das Glück und Wohlergehen
der größtmöglichen Zahl, sondern das Gelingen des Lebens in einzelnen
Fällen der Sinn der Weltgeschichte. Demokratie und Sozialismus sind für
ihn eine Angelegenheit der verächtlich so genannten »letzten Menschen«
(Nihilisten; HB). Nietzsche wirft die sozialstaatliche
Ethik der allgemeinen Wohlfahrt über Bord, weil sie für ihn hinderlich
ist bei der Selbstgestaltung eines großen Einzelmenschen (bis
hin zum Übermenschen; HB). Wenn aber die großen Persönlichkeiten
verschwinden, geht auch der einzige noch verliebene Sinn der Geschichte verloren.
Indem Nietzsche diesen Restsinn in der Geschichte verteidigt, greift er die Demokratie
an und verkündet, es komme darauf an, die »gänzliche Vergutmüthigung
des demokratischen Heerdenthiers« wenigstens zu »verzögern«
(11,587).
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 307-308).Der
Kritiker des Christentums hätte an einem entscheidenden Punkt von ihm lernen
können: Das Genie des Christentums bestand nämlich über Jahrhunderte
darin, auf eine raffinierte Weise beide Optionen, die der Solidarität und
der Selbststeigerung miteinander verbunden zu haben. Der Gottesbezug, wenn man
ihn nicht nur moralisch verstand, bedeutete eine ungeheure Ausweitung des Seelischen,
die spirituelle Verfeinerung erlaubte eine Selbststeigerung, die auf gesellschaftlicher
Ebene solidarisch bleiben konnte. Denn diese Steigerungen und Aufschwünge
wurden nicht als eigene Leistung, sondern als Gnade verstanden, was den Stolz
der Abgrenzung minderte. Außerdem war die Selbststeigerung in den Zusammenhang
der zwei Welten eingelassen: der civitas dei und der civitas civilis.
Dort konnte man groß, und hier klein sein. Wer in diesen beiden Welten zu
leben versteht, hat weniger Schwierigkeiten, das Prinzip der Selbststeigerung
und der Solidarität miteinander zu verbinden. Nietzsche, der auch zur Zeit
von »Menschliches, Allzumenschliches« an eine Art »Zweikammersystem«
der Kultur dachte - wo auf der einen Seite genialisch eingeheizt und auf der anderen
Seite nach Prinzipien des Common sense abgekühlt und im Sinne kollektiver
Lebensdienlichkeit ausgeglichen wird -, wollte zuletzt doch die eine Welt und
verwarf die raffinierte Zwei-Weltentheorie eines Augustin und Luther. Und so hat
er sich gegen das demokratische und nach dem Prinzip der Wohlfahrt organisierte
Leben entschieden. Für ihn bedeutete eine solche Welt den Triumph des menschlichen
Herdentiers. Er aber wollte vor allem den Unterschied zwischen sich und den vielen
Anderen festhalten. Sein Werk ist die große Konfession dieses Bemühens.
Es dokumentiert sich darin die lebenslange Anstrengung, aus sich selbst einen
großen Einzelmenschen (bis hin zum Übermenschen;
HB) zu machen. (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000,
S. 309).Es gibt aber auch den 1888 von Nietzsche selbst bei seinen Lesern
eingeforderten ironischen Widerstand: Es ist durchaus n i c h t
nöthig, nicht einmal e r w ü n s c h t ,
Partei für mich zu nehmen: im Gegentheil, eine Dosis Neugierde, wie
von einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstande, schiene mir
eine unvergleichlich i n t e l l i g e n t e r e
Stellung zu mir. (Friedrich Nietzsche, Brief vom 29. Juli 1888)
.Was Nietzsche im Jahr 1888 von seiner »Götzendämmerung«
(»Götzen-Dämmerung«, 1889)
sagen wird, daß er darin seine »wesentlichen philosophischen Heterodoxien«
(Brief vom 12. August 1888)
vorgetrgen habe, gilt bereits für »Jenseits von Gut und Böse«
(1886).
Er durchmustert die Reihe der metaphysischen Fiktionen, mit denen der abendländische
Geist die imaginäre Welt der Haltbarkeit, Einheit und Dauer gegen den Heraklitischen
»absoluten Fluss« des Werdens und Vergehens entworfen hat. Es gibt
keine »dialektischen« Gegensätze, sondern nur gleitende Übergänge,
es gibt überhaupt keine historischen Gesetzmäßigkeiten. Die (Kantschen)
Ideen von den Aprioritäten unserer vernunft sind nichts anderes als religiöse
Restbestände, es sind liebgewonnene Vorstellungen von den kleinen Ewigkeiten
im endlichen Menschenverstand. Überhaupt ist das »Ich« eine Funktion.
Es gibt, auch beim Menschen, nur Ereignisse, taten, und weil man die Dynamik des
anonymen Geschehens nicht aushält, findet man zu den Taten einen Täter
hinzu. Das »Ich« ist eine solche Hinzufindung. Mit wenigen Sätzen
wird Descartes »Cogito ergo sum« von der Bühne gefegt.
Gerade beim Denken zeigt sich, daß es erst der Akt des Denkens ist, das
den Akteur hervorbringt. Es ist nicht das Ich, das denkt, sondern es ist das Denken,
das mich »Ich« sagen läßt. In einer subtilen Analyse des
Willens zeigt Nietzsche, daß man viel zu grobschlächtig darüber
nachgedacht hat. Der Wille ist nicht, wie Schopenhauer (Nietzsches
Erzieher) will, eine dynamische Einheit, sondern ein Gewimmel von unterschiedlichen
Strebungen, ein Kampfplatz von Energien, die um die Macht kämpfen.
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 311-312).In
einem inspirierten Kapitel untersucht Nietzsche die Macht der Religion. Es kommt
ihm dabei besonders auf den Gedanken an, daß die christliche Religion mit
ihrer Moral-Hypothese zwar die Schlechtweggekommenen vor der Grausamkeit der ungerechten
Natur und damit vor dem Nihilismus schützt, daß sie aber gerade deshalb
auch ein Ausdruck des Willens zur Macht ist. Denn das Christentum hat eine ganze
spirituelle Lebenswelt hervorgebracht, die der antiken Welt ein Ende bereitet
hat, der Siegeszug des Christentums ist also der lebendige Beweis dafür,
daß die Umwertung der Werte möglich ist. Aus dieser Perspektive spricht
er voll Bewunderung von den religiösen Genies wie Paulus, Augustin oder Ignatius
von Loyola; sie haben den gesamten Weltkreis mit ihren Obsessionen infiziert,
sie haben die geschichtliche Bühne gedreht und eine Lebenswelt geschaffen,
in denen Menschen geistig gewirkt und geatmet haben. Im Vergleich zu diesen religiösen
Athleten ist der gewöhnliche Mensch im Zeitalter der entzauberten Moderne
und des Nihilismus ein phantasieloses Arbeitstier, eine arme Kreatur: »es
scheint, dass sie gar keine Zeit für die Religion übrig haben, zumal
es ihnen unklar bleibt, ob es sich dabei um ein neues Geschäft oder ein neues
Vergnügen handelt« (5,76).
Die nihilistische Kultur kennt nur Geschäft oder Vergnügen. Gegen diese
nihilistische Lebens-Verelendung in der Moderne verteidigt Nietzsche sogar die
frühere religiöse Kultur: Die ungeheure Wucht, mit der sie Werte geschaffen
und durchgesetzt hat, ermuntert ihn, eine künftige Umwertung der Werte, wofür
er sich zuständig fühlt, als möglich und als aussichtsreich anzusehen.
(Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 312).Die Schrift
»Zur Genealogie der Moral« (1887)
trägt die in früheren Werken bereits entwickelte Moral-Analyse und Kritik
in knapper und grandioser Geschlossenheit vor. Es wird schon seine Richtigkeit
haben, wenn Nietzsche in dem zitierten Brief an Meta von Salis über dieses
Buch schreibt: »ich muß damals in einem Zustande von fast ununterbrochener
Inspiration gewesen sein, daß diese Schrift wie die natürlichste Sache
von der Welt dahinläuft. Man merkt ihr keine Mühsal an (Brief vom 22.
August 1888).
Die »Genealogie« ist nach der »Geburt der Tragödie«
(1872)
und den »Unzeitgemäßen Betrachtungen« (1873-1876)
zum ersten Mal wieder eine in sich geschlossene große Abhandlung, in drei
Kapitel gegliedert über »Gut und Böse«, über »Schuld«
und »Schlechtes Gewissen« und über die Frage »Was bedeuten
asketische Ideale?«. Dem Grundsatz folgend, daß die Grundlagen der
Moral selbst nicht moralisch sind, sondern Kampf- und Stärkeverhältnisse
widerspiegeln, trägt Nietzsche im ersten Kapitel seine bereits in der »Morgenröthe«
(1881)
angedeuteten berühmten Gedanken von der Geburt der Moral aus dem Geist des
Ressentiments als in sich geschlossene Theorie vor: der Wertung »gut und
böse« liegt die andere, ältere zugrunde: »vornehm und schlecht«.
Seine These: es waren die Schwachen, Schutzbedürftigen, die den bedrohlich
Starken »böse« genannt haben; sie selbst aber galten aus der
Perspektive der Starken als die »Schlechten« im Sinne von gewöhnlich,
niedrig. Das ganze moralische Universum entsteht aus diesen perspektivischen Zuschreibungen
und Bewertungen. Die vom Leben Benachteiligten können sich nur dadurch gegen
die Übermacht der Starken schützen, daß sie sich erstens zusammenrotten
und zweitens die Werte umwerten, also die Tugenden der Starken wie Rücksichtslosigkeit,
Stolz, Kühnheit, Verschwendungslust, Müßiggang u.s.w. als Untugenden
definieren und umgekehrt die habituellen Folgen ihrer Schwächen wie Demut,
Mitleid, Fleiß, Gehorsam zu Tugenden erklären: »Der Sklavenaufstand
in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird
und Werthe gebiert; das R e s s e n t i m e n t
solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich
nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten« (5,270).
Die Etablierung ihrer Moral ist die imaginäre Rache, die dann erfolgreich
ist, wenn die Starken nicht mehr anders können, als sich selbst aus der Perspektive
der Schwachen zu beurteilen. Die Starken sind besiegt, wenn sie sich von der imaginären
Welt der Ressentimentmoral einhüllen lassen. Der Kampf in der Moral geht
um die Definitionsmacht: wer läßt sich durch wen beurteilen. Der Kampf
um die Definitionsmacht führt in das Spiegelkabinett der Selbstbewertungen.
Wie definiert man sich selbst. Wer ist das »Ich« der Bewertung und
wer das »sich«? Im zweiten Kapitel deutet Nietzsche auf den unermeßlichen
Bereich der vorhistorischen Arbeit, durch die das Menschengeschlecht sich selbst
erst hervorgebracht hat. Sich in eine Beständigkeit, gar Berechenbarkeit
hineinzuzwingen, die Affekte zu mäßigen und zu modellieren, ein Netzwerk
von Ritualen und Verhaltensweisen zu knüpfen, dem Trieb ein Gewissen zu machen
und das Begehren im Mitwissen sich brechen zu lassen - wie das alles über
Jahrtausende zustande kam und wie es dabei zugegangen ist, das wissen wir kaum,
es versinkt im Dämmer der Vorgeschichte. Wie, so lautet Nietzsches Frage,
gelang es, den Menschen als ein »Thier heranzuzüchten, das v e r s p r e c h e n
darf« (5,29I)?
Es geht um die lange Geschichte, worin der Mensch zum Individuum wurde
dadurch, daß er sich als Dividuum, also als geteiltes Wesen, als
ein lebendiges Selbstverhältnis erfuhr. Wie kam es dazu, daß der Mensch
zur schmerzenden Wunde wurde, daß etwas in ihm lebt und etwas anderes in
ihm denkt, daß es Neigungen in ihm gibt und ein widersprechendes Gewissen,
etwas in ihm, das befiehlt und etwas, das gehorcht? In dieser langen Geschichte
ist das Christentum allerdings nur eine kurze, wenn auch die einstweilen letzte
Episode. (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 312-314).Das
Christentum mit seiner Moral von Nächstenliebe, Demut und Gehorsam bedeutet
für Nietzsche insgesamt einen Sieg der »Sklavenmoral« mit der
Folge, daß die starken Naturen, die es natürlich auch weiterhin gibt,
zu allen möglichen Kompromissen, Überformungen, Verhüllungen und
Indirektheiten im Auslassen ihrer Stärke gezwungen werden. Das dritte Kapitel,
wo Genese und Verkörperungen der asketischen Ideale beschrieben werden, ist
ein ausgeführtes Beispiel für die Maskierung der Stärke in einer
religiösen Demutskultur. Denn der priesterliche Asket ist ein verkappter
Machtmensch. In ihm vollzieht sich eine Inversion der Macht. Der asketische Priester
- wie auch der Asketismus allgemein - zeigt seine Herrschernatur, indem er gegen
den eigenen Leib und die Vielfalt der sinnlichen Bedürfnisse eine rigorose
Herrschaft aufrichtet. Der Asket ist der Virtuose des Nein-Sagens. Er ist ein
machtvoller Anti-Dionysos. Der Asket verkörpert das Leben als Geist, der
ins Leben schneidet. Nietzsche spricht nicht ohne Bewunderung davon, denn es wird
ihm bewußt, daß er selbst, trotz dionysischem Ja-Sagen, eher eine
asketische Natur ist. Die Dynamik dieses letzten Kapitels hängt genau damit
zusammen: Nietzsche merkt, daß er selbst ein Teil des Problems ist, das
er eigentlich mit dem »Pathos der Distanz« (5,259)
beschreiben wollte. Er hat sein Leben dem Erkennen gewidmet, der Wille zur Wahrheit
war sein stärkster Trieb. Aber ist der Wille zur Wahrheit, der sich gegen
die spontane Lebenstendenz, gegen wohltätige Illusionen und lebensdienliche
Horizontbeschränkungen richtet, ist dieser Wille zur Wahrheit nicht selbst
asketischer Geist, der ins Leben schneidet? Wenn am Ende dieses Willens zur Wahrheit
der Mensch und seine Welt aus dem Mittelpunkt rückt, wenn die Wissenschaften
an der »Selbstverkleinerung des Menschen« (5,404)
im Kosmos arbeiten, wenn der Wille zur Wahrheit den redlichen Atheismus heraufführt
- dann ist das »die Ehrfurcht gebietende K a t a s t r o p h e
einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die
L ü g e i m G l a u b e n
a n G o t t verbietet« (5,409).
Diese »Zucht zur Wahrheit« aber ist christlicher Asketismus. Und Nietzsche
selbst weiß, daß er ein später Erbe dieser Zucht ist. So kommt
Nietzsche am Ende der »Genealogie der Moral« bei sich selbst an: »welchen
Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, dass in uns jener Wille zur
Wahrheit sich selbst a l s P r o b l e m
zum Bewusstsein gekommen wäre?« (5,410).
Es ist der Sommer 1887 in Sils-Maria, wo Nietzsche die »Genealogie«
wie im Fluge niederschreibt. Schon im August beginnt es zu schneien. Weiß
und still wird alles um ihn herum, die Gäste in den Hotels reisen nach und
nach ab. Nietzsche, der alleine zurückbleibt - was ist er anderes als ein
Asket des Willens zur Wahrheit. Am 30. August schreibt er an Peter Gast: »Trotzdem
eine Art Zufriedenheit und Fortschritt, in jeder Hinsicht, vor allem ein guter
Wille, n i c h t s N e u e s
mehr zu erleben, dem Außen etwas strenger aus dem Weg zu gehen,
und das zu t h u n , wozu man da ist.« (Brief
vom 30. August 1887).
Aber wozu ist man da? (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000,
S. 314-316). | Gesetz
wider das Christenthum. | Gegeben
am Tage des Heils, am ersten Tage des Jahres Eins (- am 30. September 1888 der
falschen Zeitrechnung) | Todkrieg
gegen das Laster: das Laster ist das Christenthum | E r s t e r
S a t z . - Lasterhaft ist jede Art Widernatur.
Die lasterhafteste Art Mensch ist der Priester: er l e h r t
die Widernatur. Gegen den Priester hat man nicht Gründe, man hat das Zuchthaus. | Z w e i t e r
S a t z . - Jede Theilnahme an einem Gottesdienste
ist ein Attentat auf die öffentliche Sittlichkeit. Man soll härter gegen
Protestanten als gegen Katholiken sein, härter gegen liberale Protestanten
als gegen strenggläubige. Das Verbrecherische im Christ-sein nimmt in dem
Maasse zu, als man sich der Wissenschaft nähert. Der Verbrecher der Verbrecher
ist folglich der P h i l o s o p h . | D r i t t e r
S a t z . - Die fluchwürdige Stätte,
auf der das Christenthum seine Basilisken-Eier gebrütet hat, soll dem Erdboden
gleich gemacht werden und als v e r r u c h t e
Stelle der Erde der Schrecken aller Nachwelt sein. Man soll giftige Schlangen
auf ihr züchten. | V i e r t e r
S a t z . - Die Predigt der Keuschheit ist eine
öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen
Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff »unrein« ist
die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens. | F ü n f t e r
S a t z . - Mit einem Priester an Einem Tisch
essen stößt aus: man excommunicirt sich damit aus der rechtschaffnen
Gesellschaft. Der Priester ist u n s e r Tschandala,
- man soll ihn verfehmen, aushungern, in jede Art Wüste treiben. | S e c h s t e r
S a t z . - Man soll die »heilige«
Geschichte mit dem Namen nennen, den sie verdient, als v e r f l u c h t e
Geschichte; man soll die Worte »Gott«, »Heiland«, »Erlöser«,
»Heiliger« zu Schimpfworten, zu Verbrecher-Abzeichen benutzen. | S i e b e n t e r
S a t z . - Der Rest folgt daraus. | Der
Antichrist | (Friedrich
Nietzsche, Der Antichrist, 1889 ) | |
Mit
meiner Verurtheilung des Christenthums möchte ich kein Unrecht gegen eine
verwandte Religion begangen haben, die der Zahl der Bekenner nach sogar überwiegt,
gegen den B u d d h i s m u s .
Beide gehören als nihilistische Religionen zusammen - sie sind decadence-Religionen
-, beide sind von einander in der merkwürdigsten Weise getrennt. Dass man
sie jetzt v e r g l e i c h e n
kann, dafür ist der Kritiker des Christenthums den indischen Gelehrten tief
dankbar. - Der Buddhismus ist hundert Mal realistischer als das Christenthum,
- er hat die Erbschaft des objektiven und kühlen Probleme-Stellens im Leibe,
er kommt n a c h einer Hunderte von Jahren dauernden
philosophischen Bewegung, der Begriff »Gott« ist bereits abgethan,
als er kommt. Der Buddhismus ist die einzige eigentlich p o s i t i v i s t i s c h e
Religion, die uns die Geschichte zeigt, auch noch in seiner Erkenntnisstheorie
(einem strengen Phänomenalismus -), er sagt nicht mehr »Kampf gegen
S ü n d e « , sondern, ganz der
Wirklichkeit das Recht gebend, »Kampf gegen das L e i d e n « .
Er hat - dies unterscheidet ihn tief vom Christenthum - die Selbst-Betrügerei
der Moral-Begriffe bereits hinter sich, - er steht, in meiner Sprache geredet,
j e n s e i t s von Gut und Böse.
- Die z w e i physiologischen Thatsachen, auf denen
er ruht und die er ins Auge fasst, sind: einmal eine übergrosse Reizbarkeit
der Sensibilität, welche sich als raffinirte Schmerzfähigkeit ausdrückt,
s o d a n n eine Übergeistigung, ein allzulanges
Leben in Begriffen und logischen Prozeduren, unter dem der Person-Instinkt zum
Vortheil des »Unpersönlichen« Schaden genommen hat (- Beides
Zustände, die wenigstens Einige meiner Leser, die »Objektiven«,
gleich mir selbst, aus Erfahrung kennen werden) Auf Grund dieser physiologischen
Bedingungen ist eine D e p r e s s i o n
entstanden: gegen diese geht Buddha hygienisch vor. Er wendet dagegen das Leben
im Freien an, das Wanderleben, die Mässigung und die Wahl in der Kost; die
Vorsicht gegen alle Spirituosa; die Vorsicht insgleichen gegen alle Affekte, die
Galle machen, die das Blut machen, die das Blut erhitzen; keine S o r g e ,
weder für sich, noch für Andre. Er fordert Vorstellungen, die entweder
Ruhe geben oder erheitern - er erfindet Mittel, die andren sich abzugewöhnen.
Er versteht die Güte, das Gütig-sein als gesundheitfördernd.
G e b e t ist ausgeschlossen, ebenso wie die A s k e s e
; kein kategorischer Imperativ, kein Z w a n g
überhaupt, selbst nicht innerhalb der Klostergemeinschaft (- man kann wieder
hinaus -) Das Alles wären Mittel, um jene übergrosse Reizbarkeit zu
verstärken. Eben darum fordert er auch keinen Kampf) gegen Andersdenkende;
seine Lehre wehrt sich gegen nichts mehr als gegen das Gefühl der Rache,
der Abneigung, des ressentiment (- »nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft
zu Ende«: der rührende Refrain des ganzen Buddhismus.
) Und das
mit Recht: gerade diese Affekte wären vollkommen u n g e s u n d
in Hinsicht auf die diätetische Hauptabsicht. Die geistige Ermüdung,
die er vorfindet, und die sich in einer allzugrossen »Objektivität«
(das heisst Schwächung des Individual-Interesses, Verlust an Schwergewicht,
an »Egoismus«) ausdrückt, bekämpft (er) mit einer strengen
Zurückführung auch der geistigsten Interessen auf die P e r s o n .
In der Lehre Buddha's wird der Egoismus Pflicht: das »Eins ist Noth«,
das »wie kommst du vom Leiden los« regulirt und begrenzt die ganze
geistige Diät (- man darf sich vielleicht an jenen Athener erinnern, der
der reinen »Wissenschaftlichkeit« gleichfalls den Krieg machte, an
Sokrates, der den Personal-Egoismus auch im Reich der Probleme zur Moral erhob.)
(Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, S. 22-23).Letzter
Wille. So sterben wie ich einst sterben sah , den Freund,
der Blitze und Blicke göttlich in meine dunkle Judend warf. Muthwillig
und tief, in der Schlacht ein Tänzer , unter Kriegern
der Heiterste, unter Siegern der Schwerste, auf seinem Schicksal ein Schicksal
stehend, hart, nachdenklich, vordenklich : erzitternd darob,
d a s s er siegte, jauchzend darüber, dass er
s t e r b e n d siegte : befehlend,
indem er starb und er befahl, dass man v e r n i c h t e
So sterben, wie ich ihn einst sterben sah: siegend,
v e r n i c h t e n d
(Friedrich Nietzsche, Dionysos-Dithyramben,
1889, S. 14 ). | | Das
Feuerzeichen. Hier, wo zwischen Meeren die Insel wuchs, ein Opferstein
jäh hinaufgethürmt, hier zündet sich unter schwarzem Himmel Zarathustra
seine Höhenfeuer an, Feuerzeichen für verschlagne Schiffer, Fragezeichen
für Solche, die Antwort haben.
Diese Flamme mit weissgrauem
Bauche in kalte Fernen züngelt ihre Gier, nach immer reineren
Höhn biegt sie den Hals eine Schlange gerad aufgerichtet
vor Ungeduld: dieses Zeichen stellte ich vor mich hin. Meine Seele
selber ist diese Flamme, unersättlich nach neuen Fernen lodert aufwärts,
aufwärts ihre stille Gluth. Was floh Zarathustra vor Thier und Menschen? Was
entlief er jäh allem festen Lande? S e c h s
Einsamkeiten kennt er schon -, aber das Meer selbst war nicht genug ihm einsam, die
Insel liess ihn steigen, auf dem Berg wurde er zur Flamme, nach einer s i e b e n t e n
Einsamkeit wirft er suchend jetzt die Angel über sein Haupt. Verschlagne
Schiffer! Trümmer alter Sterne! Ihr Meere der Zukunft! Unausgeforschte
Himmel! nach allem Einsamen werfe ich jetzt die Angel: gebt Antwort auf
die Ungeduld der Flamme, fangt mir, dem Fischer auf hohen Bergen, meine
siebente l e t z t e Einsamkeit! (Friedrich
Nietzsche, Dionysos-Dithyramben, 1889, S. 19-20 ). |
Die
erste Kirche kämpfte ja, wie bekannt, g e g e n
die »Intelligenten« zu Gunsten der »Armen des Geistes«;
wie dürfte man von ihr einen intelligenten Krieg gegen die Passion erwarten
? - Die Kirche bekämpft die Leidenschaft mit Ausschneidung in jedem
Sinne: ihre Praktik, ihre »Kur« ist der C a s t r a t i s m u s .
Sie fregte nie: »wie vergeistigt, verschönt, vergöttlicht man
eine Begierde?« - sie hat zu allen Zeiten den Nachdruck der Disciplin
auf die Ausrottung (der Sinnlichkeit, des Stolzes, der Herrschaft, der Habsucht,
der Rachsucht) gelegt. - Aber die Leidenschaften an der Wurzel angreifen heisst
das Leben an der Wurzel angreifen: die Praxis der Kirche ist l e b e n s f e i n d l i c h
(Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, S.
28-29).Das
Christenthum, aus jüdischer Wurzel und nur verständlich als Gewächs
dieses Bodens, stellt die G e g e n b e w e g u n g
gegen jede Moral der Züchtung, der Rasse, des Privilegiums dar: - es ist
die a n t i a r i s c h e
Religion par excellence: das Christenthum die Umwerthung aller arischen Werthe,
der Sieg der Taschandala-Werthe, das Evangelium den Armen, den Niedrigen gepredigt,
der Gesammt-Aufstand alles Niedergetretenen, Elenden, Missrathenen, Schlechtweggekommenen
gegen die »Rasse«, - die unsterbliche Tschandala-Rache als R e l i g i o n
d e r L i e b e
(Friedrich
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, S. 47-48).Die
Moral der Z ü c h t u n g
und die Moral der Z ä h m u n g
sind in den Mitteln, sich durchzusetzen, vollkommen einander würdig; wir
dürfen als obersten Satz hinstellen, dass, um Moral zu m a c h e n ,
man den unbedingten Willen zum Gegentheil haben muss. Dies ist das grosse, das
u n h e i m l i c h e
Problem, dem ich am längsten nachgegangen bin: die Psychologie der »Verbesserer«
der Menschheit. Eine kleine und im Grunde bescheidne Thatsache, die der sogenannten
pia fraus, gab mir den ersten Zugang zu diesem Problem: die pia fraus, das Erbgut
aller Philosophen und Priester, die die Menschheit »verbesserten«.
Weder Manu, noch Plato, noch Confuzius, noch die jüdischen und christlichen
Lehrer haben je an ihrem R e c h t zur Lüge
gezweifelt. Sie haben a n g a n z a n d r e n
R e c h t e n nicht gezweifelt. .... In Formel
ausgedrückt dürfte man sagen: a l l e Mittel,
wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund
auf u n m o r a l i s c h .
(Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, S. 48).Der
f r e i g e w o r d n e
Mensch, um wie viel mehr der freigewordne G e i s t ,
tritt mit Füssen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von dem
Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andere Demokraten
träumen. Der freie Mensch ist K r i e g e r .
(Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, S. 85-86).Ich
kenne mein Loos, es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures
anknüpfen, - an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision,
an eine Entscheidung, heraufbeschworen g e g e n
Alles, was bis dahin geglaubt und geheiligt war. Ich bin kein Mensch, ich bin
Dynamit. - Und mit Alledem ist Nichts in mir von einem Religionsstifter - Religionen
sind Pöbel-Affairen, ich habe nöthig, mir die Hände nach der Berührung
mit religiösen Menschen zu waschen. .... Ich w i l l
keine »Gläubigen«, ich denke, ich bin zu boshaft dazu, um an
mich selbst zu glauben, ich rede niemals zu Massen. .... Ich habe eine schreckliche
Angst davor, dass man mich eines Tages h e i l i g
spricht: man wird errathen, weshalb ich dies Buch v o r h e r
herausgebe, es soll verhüten, dass man Unfug mit mir treibt. .... Ich will
kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst. .... Vielleicht bin ich ein Hanswurst.
Und trotzdem oder vielmehr n i c h t trotzdem
- denn es gab nichts Verlogeneres als Heilige - redet aus mir die Wahrheit. -
Aber meine Wahrheit ist f u r c h t b a r :
denn man hiess bisher die Lüge Wahrheit. - U m w e r t h u n g
a l l e r W e r t h e :
das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit,
der in mir Fleisch und Genie geworden ist. Mein Loos will, dass ich mich gegen
die Verlogenheit von Jahrtausenden im Gegensatz weiss. .... Ich erst habe die
Wahrheit entdeckt, dadruch dass ich zuerst die Lüge als Lüge empfand
- roch. .... Mein Genie ist in meinen Nüstern. .... Ich widerspreche, wie
nie widersprochen worden ist und bin trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden
Geistes. Ich bin ein f r o h e r B o t s c h a f t e r ,
wie es keinen gab. Ich kenne Aufgaben von einer Höhe, dass der Begriff dafür
bisher gefehlt hat; erst von mir an giebt es wieder Hoffnungen. Mit Alledem bin
ich nothwendig auch der Mensch des Verhängnisses. Denn wenn die Wahrheit
mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen
haben, einen Kampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Thal, wie dergleichen
nie geträumt worden ist. Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen
Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die
Luft gesprengt - sie ruhen allesamt auf der Lüge: es wird Kriege geben, wie
es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an giebtes auf Erden g r o s s e
P o l i t i k . - Will man eine Formel
für ein solches Schicksal, d a s M e n s c h
w i r d ? - Sie steht in meinem Zarathustra.
U n d w e r e i n
S c h ö p f e r s e i n
w i l l i m G u t e n
w i e i m B ö s e n ,
d e r m u s s e i n
V e r n i c h t e r e r s t
s e i n u n d W e r t h e
z e r b r e c h e n . A l s o
g e h ö r t d a s h ö c h s t e
B ö s e z u r h ö c h s t e n
G ü t e : d i e s e
a b e r i s t d i e
s c h ö p f e r i s c h s t e . | Ich
bin bei weitem der furchtbarste Mensch, den es bisher gegeben hat; dies schliesst
nicht aus, dass ich der wohltätigste sein werde. Ich kenne die Lust am
V e r n i c h t e n in
einem Grade, die meiner Kraft zum vernichten gemäss ist, - in Beidem gehorche
ich neiner dionysischen Natur, welche das Neinthun und das Jasagen zu trennen
weiss. Ich bin der erste I m m o r a l i s t :
damit bin ich der erste V e r n i c h t e r
par excellence. - (Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S.
111-112).Die E n t d e c k u n g
der christlichen Moral ist ein Ereigniss, das nicht seines Gleichen hat, ein wirkliche
Katastrophe. Wer über sie aufklärt, ist
ein Schicksal, - er bricht
die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke. Man lebt v o r
ihm, man lebt n a c h ihm. .... Der Blitz der Wahrheit
traf gerade das, was bisher am Höchsten stand: wer begreift, w a s
da vernichtet wurde, mag zusehn, ob er überhaupt noch Etwas in den Händen
hat. Alles, was bisher »Wahrheit« hiess, ist als die schädlichste,
tückischste, unter irdischste Form der Lüge erkannt; der heilige Vorwand,
die Menschheit zu »verbessern« als die List, das Leben selbst
a u s z u s a u g e n ,
blutarm zu machen. Moral als V a m p y r i s m u s .
.... Wer die Moral entdeckt, hat den Unwerth aller Werthe mit entdeckt, an die
man glaubt oder geglaubt hat; er sieht in der verehrtesten, in den selbst
h e i l ig gesprochnen Typen des Menschen nichts Ehrwürdiges
mehr, er sieht die verhängnissvollste Art von Missgeburten darin, verhängnissvoll,
w e i l s i e f a s c i n i r t e n
.... Der Begriff »Gott« erfunden als Gegensatz-Begriff zum Leben,
- in ihm alles Schädliche, Vergiftende, Verleumderische, die ganze Todfeindschaft
gegen das Leben in eine entsetzliche Einheit gebracht! Der Begriff »Jenseits«,
»wahre Welt« erfunden, um die e i n z i g e
Welt zu entwerthen, die es giebt, - um kein Ziel, keine Vernunft, keine Aufgabe
für unsre Erden-Realität übrig zu behalten! Der Begriff »Seele«,
»Geist«, zuletzt gar noch »unsterbliche Seele«, erfunden,
um den Leib zu verachten, um ihn krank - »heilig« - zu machen, um
allen Dingen, die Ernst im Leben verdienen, den Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger
Diät, Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Wetter, einen schauerlichen Leichtsinn
entgegenzubringen! Statt der Gesundheit das »Heil der Seele« - will
sagen eine folie circulaire zwischen Busskrampf und Erlösungs-Hysterie! Der
Begriff »Sünde« erfunden sammt dem zugehörigen Folter-Instrument,
dem Begriff »freier Wille«, um die Instinkte zu verwirren, um das
Misstrauen gegen die Instinkte zur zweiten Natur zu machen! Im Begriff des »Selbstlosen«,
des »Sich-selbst-Verleugnenden« das eigentliche decadence-Abzeichen,
das G e l o c k t-werden vom Schädlichen,
das Seinen-Nutzen-nicht-mehr-finden-k ö n n e n ,
die Selbst-Zerstörung zum Werthzeichen überhaupt gemacht, zur »Pflicht«,
zur »Heiligkeit«, zum »Göttlichen« im Menschen! Endlich
- es ist das Furchtbarste - im Begriff des g u t e n
Menschen die Partei alles Schwachen, Kranken, Missrathnen, An-sich-selber-Leidenden
genommen, alles dessen, w a s z u G r u n d e
g e h n s o l l -, das Gesetz
der S e l e k t i o n gekreuzt,
ein Ideal aus dem Widerspruch gegen den stolzen und wohlgerathenen, gegen den
jasagenden, gegen den zukunftsgewissen, zukunftverbürgenden Menschen gemacht
- dieser heisst nunmehr d e r B ö s e
.... Und das Alles wurde geglaubt als Moral! (Friedrich Nietzsche,
Ecce homo, 1889, S. 119-120). Hat man mich verstanden?
D i o n y s o s g e g e n
d e n G e k r e u z i g t e n
. (Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 120).
Sitte und Übersitte! Ethik und Hyperethik
! Moral und Hypermoral!
Das Buch Moral und Hypermoral (1969) von Arnold Gehlens zieht einen
ethischen Pluralismus ans Licht, d.h. es behandelt die Tatsache, daß
es mehrere voneinander funktionell wie genetisch unabhängige und letzte sozialregulative
Instanzen im Menschen gibt. Eine
Ethik »aus einem Guß« ist immer eine kulturelle Stilisierung
des Denkens, Fühlens und Verhaltens gewesen, plausibel aus einer kulturellen
und politischen lage heraus, eine überspannte Metapher der Wirklichkeit,
wie die Kunst. Im gegenwärtigen Zeitpunkz ist, wenigstens in der westlichen
Welt, davon keine Rede, der Pluralismus mitsamt den darin mitgeborenen Krisen
und Reibungen tritt deutlich ans Licht. Soziologisch gesehen gibt es daher miteinander
streitende und moralische Gruppierungen, darunter laute und stumme, mit gedruckten
und ungedruckten Katechismen, offiziell akzeptierte und totgeschgwiegene, dennoch
lebende, mit allen Alltagskompromissen und den gelegentlichen Zusammenstößen,
die die Stimme der wahrheit sind, nämlich des Pluralismus. (Arnold
Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 10).Normalerweise
leben die Menschen in einem Durcheinander »mittlerer Tugendhaftigkeit«,
von durchschnittlicher Redlichkeit bei einiger Toleranzbreite; auch mit sehr verschiedenen
Graden der Verhärtung, und so werden sie den Situationen teils gerecht, teils
gehen sie sie gewohnheitsmäßig durch, teils bleiben sie stumpf. Eine
verschärfte Grundsätzlichkeit und Konzentration wird im Leben der Individuen
und Völker nur unter seltenen Bedingungen herausgefordert, so etwa angesichts
ungewöhnlicher Risiken und Bedrohungen oder dann, wenn in Zeiten des Umbruchs
einei ieologie dazu dient, ein Spannungsgefälle aufrecht zu erhalten, so
daß der Gegner greifbar bleibt; auch gibt es Zeiten, da plötzliche
oder chronische Erschütterungen die Reflexion aufjagen, die sich dann immer
bis in die extremsten Positionen entfaltet. .... Es gibt mehrere Fundamente der
Moral, mehrere Quellen des Sollens, die durchaus unabhängig, ja sogar miteinander
unverträglich sind; dies stellt sich erst dann heraus, wenn Situationen eintreten,
die extreme Lösungen erfordern, so daß sich das Ethos radikalisiert.
So führte bekanntlich eine verschärfte, radikalisierte Jenseits- und
Erlösungsreligion in der Regel zur kategorischen Verwermg bestimmter innerweltlicher
Verhaltensweisen, einschließlich des dazugehörigen Ethos, z.B. der
Familiengründung oder des Kriegsdienstes. Es gibt somit ethische Impulse,
die in Realrepugnanz stehen, in sachlichem Widerstreit, aber diese Intoleranzen
treten erst unter bestimmten Bedingungen hervor. (Arnold Gehlen, Moral
und Hypermoral, 1969, S. 26).Wenn eine Gesellschaft tolerant
ist, d.h. in ethischen Grundfragen Diskordanzen als erträglich proklamiert,
dann muß sie entweder in sich oder außer sich keine Feinde mehr haben
oder ihre Beschwichtigungsformeln für ausreichend halten; sie mag auch von
der Verharmlosung benommen sein, oder vielleicht hat sie bereits einen Tempel
der Alleinherrschaft errichtet, in dessen Schatten alle anderen Werte bagatellisiert
werden, wahrscheinlich dem Gotte Plutos, der übrigens den Alten als unmündig
galt und als Kind dargestellt wurde. Der Übergang von der Torleranz in den
Nihilismus des Geltenlassens von schlechthin Allem läßt sich schwer
abgrenzen, diese friedliche Tugend ist daher im öffentlichen Bereich ungewöhnlich
zweideutig, so daß D. H. Lawrence die Toleranz als eine »heimtückische
moderne Krankheit« (Die gefiederte Schlange) beschreiben konnte.
(Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 40).Von der Moral
Robespierres sagte Hegel, daß Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend
zu machen heiße, die Wirklichkeit zerstören; der Fanatismus der Freiheit,
dem Volke in die Hand gegeben, sei fürchterlich geworden (Vorlesungen
über die Geschichte der Philosophie der Weltgeschichte, XV, S. 552).
Schon aus den Beobachtungen, die man an den Kynikern und Stoikern anstellen kann,
folgt das Gesetz der Freisetzung von Aggression durch die Radikalisierung der
Moral. (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 41).Das
Kernstück des ethischen Wandels der Neuzeit besteht nun, wie der Soziologe
Götz Briefs schon im Jahre 1926 ausführte, in der Ethisierung
des Ideals des Wohllebens (Das gewerbliche Proletariat, in: Grundriß
der Sozialökonomik, IX, S. 1).
Nicht die bloße Abweisung von Not und Leiden, sondern das Erfüllungsglück
selbst, das Wohlhaben werden hier zu Sollforderungen erhoben, und für jede
Beeinträchtigung solcher Forderungen finden sich zurechenbare, haltbare Instanzen,
die mit Empörung gemißbilligt werden. Der Zustand der Entbehrung oder
gar des Leidens an ihr soll nicht sein und darf nicht sein. Da nun alle diese
physiologischen und auch die vitalen Zustände von außen her durch die
Andienung von Gütern in hohem Grade lenkbar und steigerbar sind, und da ferner
die modernen Industriegesellschaften über die entsprechende Kapazität
für Produktion und Verteilung verfügen, wird der Staat zum Adressaten
der Erfüllungswünsche und die Politik der Idee nach zu einer Technik
des Glücks. Damit ist der Sieg der Moral der Aufklärung vollendet, denn
sie hatte diesen Weg eingeschlagen. (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral,
1969, S. 61).
Die innere Verbindung der Lusterlebnisse mit dem Rationalismus
ist von Bentham (1789) nur definitorisch begriffen worden, wenn er den
Nutzen als diejenige Eigenschaft in beliebigen Objekten definierte, wodurch
die Lust, Wert oder Glück hervorbringen oder umgekehrt das Eintreten
von Unglück, Schmerz und Übeln verhindern. Weit tiefer sah Max
Scheler (Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik,
1913, S. 349): »Aller praktische Eudaimonismus, jedes ethische Verhalten,
in dem Lustgefühle Ziele und Zwecke des Strebens und Wollens darstellen,
muß notwendig die Tendenz annehmen, alle in ihm enthaltene Willenstätigkeit
auf die bloße Vermehrung der sinnlichen Lust zu richten, d.h. also
hedonistisches Verhalten zu werden. Der Grund dafür ist, daß
nur die Ursachen der sinnlichen Lust unmittelbar praktisch lenkbar sind.«
Wir wollen hier einen Moment verweilen und feststellen, daß der
Liberalismus von Anfang an in optimistisch-verharmlosender Form den Individualismus
Aller zu einem kollektiven Glück zusammenspielte - eine vorpolitische
Gutmütigkeit. Für Morelly ist die Eigenliebe von Natur aus unlösbar
mit dem Instinkt des Wohlwollens verknüpft, so spielt sie in der
Sphäre der gesellschaftlichen Beziehungen dieselbe Rolle wie Newtons
Gravitationsgesetz in der physischen Welt. Dies entspricht der Idee einer
gleichmäßigen Glücksverteilung, und nach Helvetius und
Holbach hat es die Natur so eingerichtet, daß der Mensch nicht glücklich
sein kann ohne das Glück anderer - zu pädagogisch, um wahr zu
sein. Doch ließ sich diese Ideologie politisch umsetzen, und den
Übergang zu einem egalitären Glückssozialismus findet man
schon bei Babeuf: »Garantiert jedem einzelnen Bürger einen
Zustand des beständigen Glücks, die Befriedigung der Bedürfnisse
Aller, ein unveränderliches Auskommen, unabhängig von der Unfähigkeit,
der Unmoral und dem schlechten Willen der Machthaber!« In
dieser politischen Hinsicht konnte Saint-Just sagen: »Das Glück
ist eine neue Idee in Europa«. Wenn die Daseinsnot am schlechten
Willen der Regierenden liegt, kann man wie ein Provinzanwalt das große,
keinesegs menschenfreundliche Schicksal auf Personen ablenken und diese
haftbar machen. (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969,
S. 63-64).
Der Haß gegen den
Luxus der Feudalen
haben nun gerade bei den logisch konsequentesten, d.h.
blutigsten Fortschrittlern den Gedanken an Glücksmaximierung ausgeschlossen:
Robespierre, Sain-Just und Babeuf verkündeten einhellig: »le bonheur
de médiocrite« - das Kleingärtnerglück. »Wir bieten
euch das Glück, das aus der Freude entsteht, wenn man das Notwendige ohne
Überfluß genießt; das Glück, frei und geruhsam nur zu leben,
sich in Frieden an den Sitten und Erfolgen der Revolution zu erbauen und zur Natur
zurückzukehren
, ein Pflug, ein Feld und ein Häuschen, fern von
der Gier des Räubers, dort ist das Glück.« (Jakob L. Talmon, Die
Ursprünge der totalitären Demokratie, 1961, S. 28)). Nach Saint-Just
von Robespierre gebilligten Programm sollte es keine Dienstboten mehr geben, keine
goldenen oder silbernen Geräte, und Kinder unter 16 Jahren sollten gar kein
Fleisch essen, Erwachsene nur alle drei Tage. In Paris verteilte man eine Zeitlang
nur eine Brotsorte, das Gleichheitsbrot (Wilhelm Roscher). (Arnold Gehlen,
Moral und Hypermoral, 1969, S. 64).
Daß der Humanitarismus oder die zur ethischen Pflicht
gemachte unterschiedslose Menschenliebe von dem Masseneudaimonismus zu
unterscheiden ist, auch wenn beide sich heute aufs engste verbunden haben,
geht schon aus seiner antiken Herkunft hervor. Dagegen kam der Masseneudaimonismus
als Idee, noch nicht als lebensfähige Realität, erst in der
Aufklärungszeit zutage und fand damals schon die Amalgamierung mit
Vorstellungen von allgemeiner Gleichheit. Der Humanitarismus kann mit
und ohne Begleitung religiöser Motive auftreten, er ist
auf
Weltverkehr und Großimperien bezogen und durchaus politisch, wenn
seine Demut als Herrschaftsmittel kluger Minderheiten brauchbar ist, die
vorhandene Exklusivrechte unterlaufen, die Oberklassen moralisch entwaffnen
oder den präsumtiven Weltherrn sich andienen wollen. Für großimperiale
Ambitionen ist er deshalb bis zu einem gewissen Grade bündnisfähig.
(Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 79-80).Das
Aufkommen des Humanitarismus läßt sich in der Spätantike
gut beobachten. Nach endlosen, mit äußerster Grausamkeit geführten
Kämpfen und Ausrottungen, nach dem Aufstieg und Niederbruch immer
neuer Reiche und Herrschaften, nach wechselseitigen Abschlachtungen, bei
denen Staaten- und Bürgerkriege ununterscheidbar wurden, hatte sich
im 4. Jahrhundert (v. Chr.; HB) die Friedenssehnsucht
ausgebreitet, den großen Handelsräumen folgend. Das Alexanderreich
setzte die An- und Ausgleichung von Hellenen und Barbaren im Lösungsmittel
der griechischen Kultur ins Werk, den neuen Gottkönigen und Weltherrschern
konnte eine zugleich apolitische, pazifistische und überall kursfähige
Ideologie nur genehm sein; derselbe Vorgang wiederholte sich später
noch einmal, als es darum ging, das römische Imperium mit dem gleichen
Geist zu imprägnieren. Arnold A. T. Ehrhardt (Politische Metaphysik
von Solon bis Augustin, 1959) sagt deshalb, die mittlere Stoa zur
römischen Zeit habe den politischen Fühern der damaligen zivilisierten
Welt die Aufgabe zugewiesen, das Licht der hellenischen Zivilisation über
die ganze Erde zu verbreiten. Licht der hellenischen Zivilisation bedeutet
natürlich: die Ethik und Ideologie ihrer Wortführer. Diese aber
hätten sich kaum so durchdringend zur Geltung gebracht, wäre
ihnen nicht die Mentalität großer Teile der Bevölkerung
entgegengekommen. Das brachte die Realität in die Theorie. Schon
im eigentlich griechischen Raum wurde im 4. Jahrhundert (v.
Chr.; HB) die Kriegführung humaner, Städtezerstörungen
und Massakers seltener, man ließ Gefangene auch ohne Lösegeld
frei. Parallel mit dieser Änderung stieg der Einfluß der Frauen,
in Athen konnten sie ohne Anwalt vor Gericht plädieren, die Schuldhaft
wurde abgebaut. Das Alexanderreich sah wachsenden Reichtum, Banken, Mietshäuser,
Theater breiteten sich bis in die kleinsten Städte aus, der Hafenzoll
zu Rhodos warf eine Million Drachmen ab. Der nach Alexandrien geflüchtete
Kleomenes von Sparta erhielt eine Pension von 144000 Drachmen - zweihundertfünfzig
Jahre vorher hatte man den Pausanias noch im Tempel eingemauert und verhungern
lassen. Alle denkbaren Wissenschaften wurden betrieben, die Emanzipation
begann: Damen ließen ihre Wagen in Olympia laufen, in Ägypten
wie in Sparta waren sie Grundbesitzerinnen, sie schrieben Bücher
und gründeten Clubs. So hält sich im Umkreis erst der hellenistischen
Kultur, dann des römischen Reiches das Ideal der Menschenfreundlichkeit
als öffentliche Meinung, zur Zeit Domitians ist Dio Chrysostomos
»ganz durchdrungen von dem Humanitätsgedanken, wie die Kyniker
und Stoiker hält er die Unterschiede der Menschen mit Ausnahme der
sittlichen für nichtig: das ganze Menschengeschlecht ist achtenswert
und gleich vornehm« (v. Arnim). Unter dem Einfluß der stoischen
Ethik drangen philanthropische Tendenzen vor, das Leben des Sklaven, die
Ehre der Sklavin wurden durch immer neue Gesetze geschützt; der Staat
begann sich sozial zu betätigen, indem er arme Kinder verpflegte,
bei Bankrotten und Konfiskationen schonte man das Existenzminimum der
Angehörigen, ein ungemeiner Fortschritt im Vergleich zu der eisernen
Härte des alten Schuldrechts. Trajan wünschte, daß man
den Christen nicht besonders nachspüren solle, so verdächtig
sie seien, und keinen unterschriftslosen Anzeigen nachgehen. Ulrich Kahrstedt
(Geschichte des griechisch-römischen Altertums, 1948) beschreibt
uns, wie vom Philosophenkaiser Marc Aurel abwärts aus allen Schichten
derselbe Ton klingt: Milde, Mäßigung und Frömmigkeit tun
not, niemand ist frei von Sünde, niemand werfe einen Stein auf den
Nächsten. Die Eroberer und Feldherren waren Verirrungen auf dem Wege
zum wahrhaft Guten - hundert Jahre später allerdings mußte
Aurelian gegen die Barbaren schon die Hauptstadt selber ummauern, und
von geordneten Finanzen war keine Rede mehr, der einfache Zugriff auf
Sachwerte ersetzte sie. Aber die Liebe zur stummen Kreatur klang auf,
die Tempelverwaltungen verlegten Prozessionsstraßen, deren Steilheit
für die Zugtiere eine Qual war. Im Jahre 1961 wurde ein Taxifahrer
in Köln wegen Tierquälerei zu 70 DM Geldstrafe verurteilt, weil
er mit seinem Wagen in einen Taubenschwarm geraten war und drei getötet
hatte. Auf ihr Verhalten hätte er sich einstellen müssen, sagte
der Richter (vgl. Der Spiegel, 7 / 1961). (Arnold Gehlen,
Moral und Hypermoral, 1969, S. 80-81).
Ist die moderne Moral nur noch Konsumentenmoral? Jedenfalls ist
das humanitäre Ethos unter die Merkmale der Dekadenz zu zählen,
wobei das schwer definierbare, aber unentbehrliche Wort Dekadenz etwas
wie den inneren und äußeren Kontaktverlust mit der Geschichte
bezeichnen würde, wobei sich biologische Kategorien, meist incognito,
im Bewußtsein durchsetzen. Die ideologischen Autoren wie Arnold
Toynbee strahlen dann einen Optimismus aus, den sie im Grunde gar nicht
aus geistigen Quellen beziehen: »Ich glaube immer noch, daß
nicht allein bei uns (!) sich der moralische Standard während der
letzten zweihundert Jahre gewaltig verbessert hat ..., tatsächlich
glaube ich, ganz entgegen der Mode, an moralischen Fortschritt, das ist
eine zunehmende und aktive Anerkennung der Tatsache, daß andere
menschliche Wesen genauso menschlich sind wie man selbst« (FAZ,
28. 12.1962). Diese Anerkennung vollzieht sich jenseits von Phrasen und
allein überzeugend im biologischen Bereich. Wenn Toynbee übrigens
seine Überzeugungen als gegen die Mode gerichtet empfand, dann täuschte
er sich, sie blieb ganz auf seiner Seite, denn diese Ethik ächtet
im Herrschaftsbereich der Massenmedien, zumal in der Bundesrepublik, und
im Zusammenhang mit dem Sozialeudaimonismus so erfolgreich jede andere
Auffassung menschlicher Beziehungen, daß man mit Don Quijote rivalisieren
muß, um auch nur Einschränkungen anzumelden. »Es gibt
heute, sagte Pareto, eine humanitäre Religion, die den Gedankenausdruck
der Menschen reguliert, und wenn sich zufällig einer dem entzieht,
dann erscheint er als Ungeheuer, wie jemand im Mittelalter als Ungeheuer
erschienen wäre, der die Göttlichkeit Jesu geleugnet hätte«
(dazu Cours de Soc. Gén., § 1172, I). Es ist allerdings
auch diesem großen Geist nicht gelungen, den Humanitarismus abzuleiten,
so daß er in den Interpretationen wechselte. Im § 1139 des
Hauptwerks begriff er ihn als entstanden aus dem sozialen Ressentiment,
in § 2471 aus der Abschwächung haltender Instinkte, dann §
2474 als eine Krankheit der Energielosen, in § 1143 aus der instinktiven
Abwehr des Leidens, die sich als Symptom bei den Eliten in Dekadenz finde.
Aber das alles ist zu psychologisch gedacht, es handelt sich im Grunde
um eine »Erweiterung«, wie wir sie schon am Anfang des Kapitels
5 ()
feststellten, als von der Erweiterung ursprünglich instinktnaher
Regulationen die Rede war. Jetzt haben wir einen neuen Fall dieses anthropologisch
sehr bedeutenden Prozesses der Elargierung von Instinktresiduen, die sich
wie Gummi ausdehnen können und dann sehr große Bereiche einbeziehen.
Hier handelt es sich nämlich um die Ausdehnung und Entdifferenzierung
des ursprünglichen Sippen-Ethos oder von Verhaltensregulationen innerhalb
der Großfamilie. Dies sind von Grund aus antistaatliche, pazifistische
und generative Einstellungen. Im Bunde mit dem Masseneudaimonismus wird
die Unwiderstehlichkeit dieses Ethos verständlich, das mit der Hebung
des Lebensstandards aller Menschen und mit ihrer gegenseitigen friedlichen
Anerkennung zugleich auf eine globale Endogamie zusteuert, so daß
man zu der Überzeugung kommt, wir hätten hier den Ausdruck oder
die Ideologie der steilen Zunahme der Weltbevölkerung vor uns - die
rasende Multiplikation des Vermehrungsprozesses gibt sich damit moralisch
selbst grünes Licht. »Eine Menschheit«, sagt Friedrich
Jonas (Die Institutionslehre Arnold Gehlens, 1966, S. 104) »die
sich nicht mehr steigern kann, weil sie sich selbst zum Thema gemacht
hat und entschlossen ist, nur noch auf ihre eigene Bedürftigkeit
loszugehen, eine solche Menschheit hat sich in das Fatum verwandelt, das
zu übersteigen bislang ihr Thema war.« (Arnold Gehlen,
Moral und Hypermoral, 1969, S. 82-83).
Der Falke mit schlechtem Gewissen findet sich in der politischen
Zoologie in der Nähe der mörderischen Taube. In diesen Siutuationen
können sich die Verantwortlichen, denen die Sicherheit des Gemeinwesens
anvertraut ist, von außen wie von innen gefährdet fühlen.
Manche Unterdrückungsmaßnahmen der spätrömsichen
Kaiser erklären sich so, die von der Ausbreitung des Christentums
und der stoischen Intellektuellenmoral sich in ihrer Hauptaufgabe bedroht
fühlen mußten, wie die Feuerwehr von einem Brandherd an der
Grenze des Riesenreichs zum anderen zu eilen. Denn schon immer muß
eine greifbare Konsequenz des Humanitarismus, war er religiös oder
nicht, fühlbar gewesen sein: Wer jeden Menschen schlechthin in seiner
bloßen Menschlichkeit akzeptiert und ihm schon in dieser Daseinsqualität
den höchsten Wertrang zuspricht, kann die Ausbreitung diese Akzeptierens
nicht mehr begrenzen, denn auf dieser Bahn gibt es keinen Halt. Die Handlungen
und Gedanken der Menschen, ihre Bosheiten, Tugenden und Laster, Künste
und Spiele, Klugheiten und Narrheiten - nichts wird von der Geltung ausgenommen,
außer allein die Behauptung und Haltung, die erkennen läßt,
daß irgendetwas nicht gelten soll - wer das sagt, hat »Vorurteile«
und kommt nicht in Betracht. Der politische Nutzen dieses Ethos ist eklatant,
er besteht in der Chance, vom künftigen Sieger verschont zu werden,
wenn man es ihm beibringen kann; über den unmittelbaren Kassennutzen
braucht man kein Wort zu verlieren. (Arnold Gehlen, Moral und
Hypermoral, 1969, S. 143-144).
Jetzt gilt es, eine soziologische Lokalisierung der Moralhypertrophie
mit der Frage vorzunehmen, wo eigentlich die in dieser Hinsicht produkttiven
Gruppen zu suchen sind. Da hatte zuerst Nietzsche im Zusammenhang mit
seinem Kampf gegen das Christentum die pazifistischen Tugenden mit soziologischen
Kategorien zu begreifen gesucht, wenn er in »Jenseits von Gut und
Böse« (1885/6) den Begriff der »Sklaven-Moral«
für Eigenschaften entwarf, die den Leidenden das Dasein erleichtern
und insofern für sie zweckmäßig sind. »Hier kommt
das Mitleiden, die gefällige hilfsbereite Hand, das warme Herz, die
Geduld, der Fleiß, die Demut, die Freundlichkeit zu Ehren. ....
Hier ist der Herd für die Entstehung jenes berühmten Gegensatzes
gut und böse« - wobei gedacht ist, die von jenen Tugenden unterschiedene
Herren-Moral werde von unten her und aus Lebensneid als böse qualifiziert.
Das waren grobe Vereinfachungen, und vor allem bemerkte Nietzschie nicht,
daß seine sogenannten Sklaven-Tugenden ganz allgemein die im Umkreis
der Familie entwickelten sind. Er kam überhaupt mit dem Pluralismus
der ethischen Instanzen nicht zurecht, denn nebenher gingen Versuche,
die Moral überhaupt und als solche zu biologisieren, zuerst mit einer
Interpretation von Schuld und schlechtem Gewissen als nach innen gewendeter
Aggression, es handele sich um einen »eingekerkerten und zuletzt
nur an sich selbst noch sich entladenden und auslassenden Instinkt der
Freiheit« (Zur Genealogie der Moral, 1887, S. 17); und dann
noch drastischer mit der Behauptung, alle Tugenden seien physiologische
Zustände: »Mitleid und Liebe zur Menschheit als Entwicklung
des Geschlechtstriebes. Gerechtigkeit als Entwicklung des Rachetriebes,
Tugend als Lust am Widerstande« u.s.w. (Der Wille zur Macht,
S. 255). Seine Radikalisierung zu einer bloßen biologischen Instinkttheorie
hin endete folgerichtig mit dem Satz: »Es gibt keine moralischen
Phänomene, sondern nur eine moralische Interpretation derselben«
(S. 258), betrieben von den »Schlechtweggekommenen«, den vital
Gebrochenen oder, um mit Benn zu sprechen, den Hustern und Henkelohren.
(Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 147-148).
So war Nietzsche von einer soziologischen Auslegung zu einer abstrakt
biologischen, ja medizinischen gekommen und hatte dabei das Phänomen,
um das es ging, nämlich die Humanitärtugenden, überhaupt
preisgegeben. Wir ergreifen hier die Gelegenheit, um in wenigen Worten
die eigene Theorie in Erinnerung zu bringen: Das Humanitärethos ist
das erweiterte Ethos der Großfamilie, es enthält also von vornherein
sowohl biologische, sogar feminine, als auch institutionelle Einschüsse,
und in dieser letzten Hinsicht hängt es ins Leere, wenn es nicht
durch weiträumige Institutionen wie Kirchen oder Logen gehalten wird.
Zu hypertrophem Anspruch kommt es in der Verbindung mit dem Ethos des
Massenlebenswertes und vor allem dann, wenn die entgegenhaltenden eigentlich
politischen Staatstugenden wegfallen, weil der Staat ruiniert oder selbst
zum Wohlstandsapparat geworden ist. Damit ist aber die oben aufgeworfene
Frage nach dem soziologischen Nährboden noch nicht beantwortet, die
nun Max Weber und Hannah Arendt in der Richtung von Nietzsches Sklavenmoral
aufnahmen. Arendt nahm ebenfalls an, daß Güte, Menschlichkeit
und Vorurteilslosigkeit Privilegien der Parias, also negativ privilegierter
Schichten seien (Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft,
1938, S. 109). (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969,
S. 148-149).
Hiermit
sind wir im Bereich der »Gesinnungsethik« angekommen, d.h. der Lehre
einer unbedingten Vorranggeltung eines bestimmten Ethos mit Ablehnung der Alltagskompromisse
auch zwischen verschiedenen ethischen Instanzen. Der gesinnungsethische Humanitäre
verwirft z.B. den Wehrdienst und dessen Tugenden, der gesinnungsethische Patriot
umgekehrt den Humanitarismus. Auch das Gesinnungsethos entstand in der Antike;
als Plinius Statthalter in Bithynien war, etwa im Jahre 112, wurde das Bekenntnis
zu Christus mit dem Tode bestraft auch ohne Nachweis des Kultes, und umgekehrt
behauptete der gleichzeitig lebende Justinus, ein Diener Christi sei schon seiner
ganzen Natur nach frei von aller Schuld - die Gesinnung kompromittierte oder qualifizierte
also unabhängig vom Verhalten, mithin absolut. (Arnold Gehlen, Moral
und Hypermoral, 1969, S. 149).Nun aber zurück zu der soziologischen
Frage. Die Beziehung einer humanitär-masseneudaimonistischen Gesinnungsmoral
auf den Paria scheint uns nur gewisse Fälle zu treffen, die These war im
19. Jahrhundert, im Zeitalter des »Proletariats« simer zutreffender
als heute. Es gilt auch, den unübersehbar femininen Einschlag richtig zu
verstehen. Der Pazifismus, der Hang zur Sicherheit und zum Komfort, das unmittelbare
Interesse am mitfühlbaren menschlichen Detail, die Staatswurstigkeit, die
Bereitschaft zur Hinnahme und Akzeptanz der Dinge und Menschen wie es so kommt
- das sind doch Qualitäten, die ihren ursprünglichen und legitimen Ort
im Schoße der Familie haben, und in denen folglich der Feminismus seine
starke Farbe dazutut, denn die Frau trägt instinktiv in alle Wertungen die
Interessen der Kinder hinein, die Sorge für Nestwärme, für verringertes
Risiko und Wohlstand. Hier liegen die Vorbedingungen zu einer endlosen Erweiterung
des Humanitarismus und Eudaimonismus, wenn die Gegengewichte, die im Staatsethos
liegen, kompromittiert, verboten oder verfault sind. (Arnold Gehlen, Moral
und Hypermoral, 1969, S. 149).Unsere soziologische Verortung
der Moralhypertrophie, die Frage nach den Trägerschichten, zielt keineswegs
auf den Ersatz der Paria-Theorie durch den Feminismus hin, der vielmehr nur eine
Zutat zu dem ganzen Komplex ist. Es bietet sich vielmehr eine einfache und plausible
Lösung der Frage an, welche Kreise am der Propagierung dieses Ethos und an
der Detaildurchführung ein Interesse haben und darüber hinaus in der
Lage sind, es auch in voller Verve und Ausschließlichkeit auszuzlen, einschließlich
der Aggressivität, die jedesmal von der »Reindarstellung« einer
einzelnen Ethosform enthemmt wird. Und das sind gerade nicht die
Parias,
sondern privilegierte Klassen, nämlich solche, die faktisch oder gar rechtlich
von den unlösbaren ethischen Konflikten freigestellt sind, die auf jedem
denkenden Menschen liegen, der in aktive, dauernde Kämpfe verwickelt ist,
seien sie politischer oder wirtschaftlicher Art. Privilegierte Kreise sind auch
solche, die die Folgen ihrer Agitation nicht zu verantworten haben, wiel sie diese
mangels Realkontakt gar nicht ermessen oder sich alles erlauben können. ....
Mit einem Wort, es handelt sich um die »Intellektuellen« und hier
insbesondere um die Kernbestände derer, die nicht in der Wirtschafts- und
Verwaltungspraxis tätig sind, wie Richter, Anwälte, Politiker, Volkswirtschaftler
u.s.w.. »Intellektuelle«, sagt Schumpeter (Kapitalismus, Sozialismus
und Demokratie, 1942, S. 237), »sind in der Tat Leute, die die Macht
des gesprochenen und des geschriebenen Wortes handhaben; und eine Eigentümlichkeit,
die sie von anderen Leuten, die das gleiche tun, unterscheidet, ist das Fehlen
einer direkten Verantwortung für die praktischen Dinge.« (Arnold
Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 150-151).Das Wort
Verantwortung hat nur da einen deutlichen Sinn, wo jemand die Folgens eines Handelns
öffentlich abgerechnet bekommt, und das weiß .
Wo eine solche
Instanz nicht zu sehen ist oder ausdrücklich verpönt, wie im Artikel
5 (»Meinungs- und Pressefreiheit, Freiheit der Kunst und der Wissenschaft«)
des Grundgesetzes
die Zensur, dort ist man von der Verantwortung entlastet und kann sich mit vollem
Herzen der Moral der Anderen annehmen (und also das Grundgesetz
untergraben und also auch durch Zensur herrschen! HB).
(Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 151).
Dieser Individualismus des Menschen, der in die Vereinzelung geschoben
wird, ist nicht mit dem früherer Jahrhunderte zu verwechseln, wie
er unter Bedingungen von Feudalgesellschaften ausgeformt und stilisiert
wurde. Jacob Burckhardt beschrieb bekanntlich den Früh-Individualismus
der Renaissance-Zeit, den man soziologisch als ein Oberklassenphänomen
des Spätfeudalismus und des aufsteigenden Bürgertums interpretieren
muß, die sich zuerst in Italien vermischten. Persönlichkeit
zu sein, mit einem Normanspruch der Eigenrichtigkeit, mit einer letzten
Kompetenz-Arrogation, das erwies sich als eine Formel, die nach beiden
Seiten hin wirksam werden konnte - in Richtung einer aristokratischen
Unabhängigkeit oder in Richtung des schnell sich ausdehnenden Unternehmer-Kapitalismus.
Den sozialen Zusammenhang sicherten noch für lange Zeit die engen
Horizonte, die gleichmäßigen Lebensbedingungen und die in den
Volksmassen unverbrauchte Kirchlichkeit, schließlich auch das Disziplintraining
durch die allgegenwärtige Verwaltung absolutistischer Fürsten.
Indem Persönlichkeit zu sein selbst eine Rolle wurde, erwies diese
sich als erstaunlich sozialisierbar, der Individualismus wurde im 19.
Jahrhundert populär, ist es noch. »Die Wirtschaft«, so
sagt das Grundsatzprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes vom November
1963, »hat der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung der
Persönlichkeit innerhalb der menschlichen Gemeinschaft zu dienen«
- ein interessanter Satz, auch in Hinsicht des unvermittelten Nebeneinanders
von Individuum und Menschheit, man vermißt die Zwischeninstanzen,
offenbar ist bei uns die Persönlichkeit schon plausibler als die
Nation. (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 156-157).
Der
selbstreflektierte, überreizte Individualismus heißt Subjektivismus,
in ihm rast der Zerstörungsvorgang der geistigen Halte und Inhalte zu Ende,
sie werden aus der unbewußten Verbindlichkeit in die Erlebnisverarbeitung,
Reflexion und »Aussage« heraufgepumpt und dann ausgekaut. Es liegt
in der Natur der Dinge, daß sich in den künstlerischen, literarischen
und redaktionellen Bereichen dieser Sachverhalt greifbarer darstellt als anderswo,
aber er läßt sich verallgemeinern. .... Heutzutage ist die Haut wichtig,
sie hält die vielen Seelen zusammen, und folglich trägt man sie nicht
gern zu Markte. R. Hinton Thomas (The Commitment of German Studies, 1965)
hat in wenigen Worten diesen Wahrheiten Ausdruck gegeben: Man muß, sagt
er, den Glauben aufgeben, daß das Individuum in irgendeinem beachtlichen
Grade in seiner Erfahrung eine Ganzheit und Einheit erfassen kann, die früheren,
geschichtlich ausgefüllteren Generationen noch gegeben waren. Und wenn die
Erfahrungen ihrerseits den Menschen nicht mehr vereinheitlichen, wenn eine pluralistische
Gesellschaft das Individuum gleichzeitig mit widersprechenden Forderungen und
auseinanderlaufenden Chancen bestürmt, dann folgt als Tatsache die »pluralistische
Persönlichkeit«. (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral,
1969, S. 157-158).Dem in krisenhaften Zeiten ohnehin halsbrecherischen
Ideal der autonomen Persönlichkeit stellt die industrielle Epoche nicht mehr
die geeignete Umwelt zur Verfügung, denn die Unübersehbarkeit der Superstrukturen
macht es sinnlos, die im kleinen Individualbereich gemachten Erfahrungen auf die
großen Verhältnisse zu übertragen, man muß sich da mit Meinungen
und Gefühlsstößen begnügen, auf die man von den Massenmedien
eingeübt wird, deren langfristig gesehen enorme Indoktrinationskraft nur
von ihnen selbst bestritten wird. Die Fiktion, frei zu sein, läßt sich
leichter als jede andere durchhalten, weil man adoptierte Meinungen und Gesinnungen
als eigene erlebt und in die Tagesgeschäfte des Privatalltags einbaut, wobei
Politisches nur insoweit wahrgenommen wird, als es in Erlebnisbegriffe des Alltags
und Berufs übersetzbar ist. Eben deshalb wird es von vornherein moralisierend
dargeboten, und es ist gar nicht leicht zu durchschauen, daß die heutzutage
geübte Allgegenwart der Politik dieser Art auf eine Entpolitisierung von
innen her herauskommt. So ergibt sich ein neuer Typus des Individualismus oder
Subjektivismus: Leistungswille geht mit Ichbetonung und Empfindlichkeit gegenüber
Geltungsansprüchen Anderer zusammen, und die Forderung auf Akzeptanz so,
wie man ist, mit einer sozusagen provisorischen Einstellung zur Umwelt. Im Grunde
ist das eine ganz vernünftige Einpassungs-Mischung der vielen Atome in die
großen unübersehbaren und unlenkbaren Aufund Abmärsche der Ereignisse.
So entfaltet sich das Persönliche in dieser Aufbereitung gerade deswegen
ungehindert, weil es nichts Wirkliches mehr verändern kann, denn das »Umfunktionieren«
ist ja doch nur eine Umschreibung für Zerstörungsakte. (Arnold
Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 158).Das Selbstgefühl,
das in der von Gehlen beschriebenen Privatisierung erreichbar ist, kann nur
prekär ausfallen, denn Familienvater zu sein ist zwar ehrenwert, aber kaum
besonders ruhmvoll, zumal die neuen Lebensbedingungen mit ihren nervösen
und moralischen Belastungen der stärkeren Vitalität der Frau und ihren
ebenso guten, aber problemloseren Gehirnen ein merkbares Übergewicht zuteilen.
Hier liegt wohl eine der Wurzeln des modernen Feminismus. (Arnold Gehlen,
Moral und Hypermoral, 1969, S. 161-162).
»Die Präponderanz der Moralhaftigkeit«, sagt
Herbert Krüger (Die öffentliche Massenmedien als notwendige
Ergänzung der privaten Massenmedien, 1965, S. 15), »wird
von den Publizisten selber als die Notwendigkeit erkannt, Meinungen und
Vorgänge so zu transformeiren, daß sie Jedermann zugänglich
und eingänglich werden.« Da wird deutlich, wie die Transformation
ins Moralisieren als Erkenntnisersatz nützlich ist. Als zur allgemeinen
Überraschung, die unter den Informierten wie Nichtinformierten gleichgroß
war, im Frühsommer 1967 der kurze Nahostkrieg ausbrach, konnte man
die letzte Möglichkeit der Reaktion, die noch blieb, die moralisierende,
gut beobachten, denn durchschaut und verstanden hatte man nichts, und
so komplizierte Völkerrechtsfragen wie die den Golf von Akaba betreffenden
gab sich niemand Mühe zu erlären. So wurde wieder einmal wahr,
was David Hume im Jahre 1739 schrieb: »Das Äußerste,
was Politiker zustande bringen können, besteht in einer Erweiterung
der natürlichen Gefühle über ihre natürlichen Grenzen
hinaus« (Abhandlung über die menschliche Natur, III/II/2).
(Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 163).
Dieses vielleicht etwas ermüdende Hin und Her sollte das
Janusgesicht der Tugenden aufzeigen und etwas von dem spüren lassen,
was wir wirklich um uns herum wahrnehmen. Nietzsche beschrieb zuerst den
»Gesamt-Anblick des zukünftigen Europäers - ein kosmopolitisches
Affekt- und Intelligenzen-Chaos« (aus: Der Wille zur Macht).
Die Schilderung der wechselnden psychomoralischen Stand- und Fluchtpunkte
geht fast über die Möglichkeiten der Formulierung hinaus, und
hierüber soll noch einiges gesagt werden. Wir leben aus objektiven
Gründen in einem Zustand der Sprachverarmung, der differenzierte
Gedankengänge seltener macht und sie an den Rand des Tagesbewußtseins
schiebt. Damit steigt die Neigung zu moralisierenden Argumenten, um den
Verständigungsprozeß abzukürzen. Diese Verarmung der Sprache
erfolgt aus mehreren Gründen: Die Massenbildung bewirkt selbst schon
eine Simplifizierung des Denkens, die Massenmedien arbeiten in dieselbe
Richtung, und: die Politik setzt oft ganze Bedeutungsfelder unter Druck.
In dieser Hinsicht gibt es heute Beutebegriffe wie »Diskussion«,
«Demokratisierung« oder »autoritär«, die
sofort jeden Sachwiderspruch zum Schweigen bringen. Sehr merkwürdig
ist dabei, daß die zweifellos zunehmende und in die Breite wachsende
Zahl von Unterrichteten, bei hektischem Ausbau der Hochschulen, die Sprachverarmung
nicht verhindert. George Steiner erwähnt in seinem Aufsatz »Der
Rückzug vom Wort« (in: Merkur, 172, 1962) eine Schätzung
McKnights, dahingehend, daß 50% der modernen Umgangssprache in England
und Nordamerika auf 34 Grundwörter zurückgingen. »Der
heutige Autor«, sagt Steiner, »neigt dazu, viel weniger und
einfachere Wörter zu verwenden, sowohl weil die Massenkultur die
Fähigkeit des Lesens und Schreibens verwässert hat, als auch
weil die Anzahl der Realitäten, über die Wörter in notwendiger
und genügender Weise Rechenschaft ablegen können, sich drastisch
verringert hat« (S. 513f.). Heute stehe dem Halbgebildeten der Zugang
zur wirtschaftlichen und politischen Macht offen, das habe eine drastische
Minderung des Reichtums und der Würde des sprachlichen Ausdrucks
mit sich gebracht. (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral,
1969, S. 177-178).
Nietzsche hat versucht, zwei große Gegensätz zu konstruieren
und sie auf geradezu medizinisch definierte Gruppen zu verteilen, die
Starken und Gesunden gegen die Schwachen und Angekränkelten. Bergson
trennt offene und geschlossene Gesellschaften und die zugeordneten Moralen
der Autorotät und des Fortschritts. Wir dagegen nehmen einen pluralistischen
Ansatz und stellen in Rechnung, daß Staat und Gesellschaft sich
ineinanderschieben, freidliche und latent explosive Zustände in Mischformen
eingehen. Dadurch wird der problemlose Alltag durchzogen von halbartikulierten,
chronischen Konflikten, und die moralisierende Aggression ist eine der
Reaktionen auf diesen bedrückend-extremen Zustand. Andere Reaktionen,
wie der Zynismus, die stagnierende Zerstreutheit, der alberne Unernst
oder die Rebarbarisierung in Kriminalität oder Pornokratie blieben
hier unerörtert. (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral,
1969, S. 181).
In der Bundesrepublik dieser Tage gilt der öffentlichen
Meinung der abstrakte Humanitarismus als selbstverständliche Leitmoral. Die
anthropologische Ableitung dieses Ethos ist uns im Kapitel 6 ()
gelungen, es handelt sich um eine »Erweiterung« des primären
Ethos der Großfamilie und ihrer Brüderlichkeit, wobei »Erweiterung«
eine Kategorie darstellt, wir fanden noch andere Anwendungsfälle des Begriffs.
Wie wir ebenfalls im Kapitel 6 ()
sahen, ist diese Ethos von dem Humanismus der kommunistischen Gesellschaften zu
unterscheiden, die nicht bereit sind, vom Klassenkampf zu abstrahieren. Ebenso
steht auch der Humanismus im klassischen Sinne für sich, und zwar als eine
sehr spezielle kulturelle Differenzierung. (Arnold Gehlen, Moral und
Hypermoral, 1969, S. 181).
Der Humanitarismus liefert nun nicht nur eine solche (Aggressivität
der guten Sache; HB), sondern er verlangt auch nichts, weder Steuern
noch Wehrdienst, und er geht dazu noch mit allen wünschbaren Dingen
zusammen, mit dem Vorrang der privaten Interessen des Familienlebens (oder
sogar des Singlelebens; HB), mit der ethischen Auszeichnung des
Wohlstandes, der endlich nach langer Einspruchszeit des askesegeneigten
Christentums sein gutes Gewissen bekommen hat, und mit dem gerade bei
uns verbreiteteten abstrakt egalitären Sozialismus .... Aber damit
nicht genug. Das humanitaristische Ethos, zur Alleinherrschaft oder letzten
Instanz erhoben, vermag von den Widersprüchen zu entlasten, die wir
im vorigen Kapitel ()
skizziert haben, und es befreit wirklich das Gewissen, nämlich dadurch,
daß es die Gegenposition politisch-staatlicher Wachsamkeit bagatellisiert.
Je mehr der Staat sich auf eine Rolle als Exekutive von Verbandskompromissen
und Auszahlungskasse beschränkt, desto mehr kommt er diesen Tendenzen
entgegen. Diese Entlastungsleistung ethischer Art, wie sie eben angedeutet
wurde, hat aber eine sehr große soziologische Bedeutung. In früheren
Zeiten des Absolutismus und noch der konstitutionell begrenzten, aber
tätigen Königsmacht haben sehr kleine Kreise die Entscheidungen
erwogen und getroffen, und zwar in erster Linie solche, die traditionell
dazu berufen waren. Die Gewissensprobleme der Machtausübung, wie
sie z.B. noch den alten Kaiser angesichts des Rückversicherungsvertrages
beunruhigten, die stets verwendeten unsagbaren Mittel, die Listen und
Gewalttaten bewegten nur eine hauchdünne Schicht, die an solche Probleme
seit Generationen gewöhnt war. Mit der Demokratie wird jedermann
zur Politik herangezogen, und er wird von Großereignissen im Gewissen
betroffen, zu denen er nur mit einem Zettel beitrug - man denke an die
(us-)amerikanische Vietnam-Opposition. Francis
Osborn, ein Freund von Hobbes, glaubte daher, »that the common man
was made to feel guilty«, daß der gewöhnliche Bürger
dazu da war, sich schuldig zu fühlen (Irene Coltman, a.a.O., S. 227),
während der Dichter Thomas Flatman ihm den Rat gab, »silently
to creep away«, sich stillschweigend zu verdrücken (ebd., S.
231). Vor der Konfrontation mit solchen Fragen schützt die Moralhypertrophie,
weil sie erlaubt, so gut wie jedes Ansinnen konkreter Politik an Idealen
auflaufen zu lassen, indem man noch mehr Gleichheit, noch mehr Freiheit
und noch weniger Autorität fordert, als irgendein praktischer Zustand
hergibt. Als Deutscher kann man dazu noch der Frage nach dem verlorenen
Vaterland aus dem Wege gehen, wenn man die Zwischeninstanzen zwischen
Familie und Menschheit moralisch preisgibt. Da die Moralhypertrophie sich
gegenüber den noch funktionierenden Autoritäten kritisch verhält,
gibt sie die Aufstiegsleiter für die neue Gegenaristokratie (gemeint
sind die Intellektuellen; HB) der von Verantwortung nicht betroffenen
Idealisten her, deren Wirkungschance ja im Angriff liegt. (Arnold
Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 182-183).
Worin besteht eigentlich
das Böse? In seinem berühmten Buche »Das sogenannte Böse«
(1963) sagt Konrad Lorenz, für die modernen Kulturverhältnisse mit ihrem
technischen Vernichtungspotential sei der Mensch, in seiner Instinktausstattung
gesehen, nicht »gut genug«, d.h. die Hemmungsmechanismen seiner Aggressivität,
die gegenüber persönlich Bekannten in der Regel ganz zuverlässig
sind, funktionieren nicht mehr, wenn es um Ferntötung geht. Der Ausdruck
das »sogenannte« Böse weist also auf eine Disharmonie in der
Antriebsstruktur hin, sofern mit der Auftürmung der Technik die Aggressivität
keineswegs umgekehrt reduziert wurde. Man kann dieser Interpretation beitreten,
allerdings mit dem Vorbehalt, daß Menschen einander auch Schlimmeres zufügen
können als den Tod. Ein Kampf auf Leben und Tod zwischen Einzelnen, etwa
im Kriege, ist ja moralisch keineswegs verwerflich, wenn die Chancen ungefähr
gleich sind, aber was wir ohne weiteres verwerfen, ist die Tötung von Wehrlosen,
und sie ist ja in dem Beispiel der technischen Ferntötung gemeint.
(Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 183-184).Von
der Lüge bis zur Diffamierung geht die Kunst, jemanden geistig wehrlos zu
machen. Die internationale Konvention über die Verhinderung und Unterdrückung
des Verbrechens des Völkermordes vom 09.12.1948 hat daher einen geistigen
Völkermord anerkannt und in Artikel II den Begriff »Genozid«
unter b) wie folgt definiert:
schwerer Angriff auf die physische oder
geistige Integrität einer Gruppe. Dieser Begriff umfaßt natürlich
die Traditionen und Überlieferungen eines Verbandes ebenso wie seine Ehre,
und ein Volk gewaltsam von seiner Geschichte abzutrennen oder zu entehren bedeutet
dasselbe, wie es zu töten. .... Und zuletzt: teuflisch ist, wer das Reich
der Lüge aufrichtet und andere Menschen zwingt, in ihm zu leben. .... Der
Teufel ist nicht der Töter, er ist Diabolos, der Verleumder, ist der Gott,
in dem die Lüge nicht Feigheit ist, wie im Menschen, sondern Herrschaft.
Er verschüttet den letzten Ausweg der Verzweiflung, die Erkenntnis, er stiftet
das Reich der Verrücktheit, denn es ist Wahnsinn, sich in der Lüge einzurichten.
(Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 185).In
einer gewissen Anspannung zu der Annahme, daß die Überraschungslosigkeit
der kristalliiserten Gesellschaft zu ihrer Stabilität beitrage
, stand
von Anfang an die Befürchtung Gehlens, daß das, was er die »Entlastung
vom Negativen« nannte
, in der entwickelten Zivilisation zu einem
»Luxurieren« des Trieblebens führen könne, zu einem Zustand
der Dekadenz also, immer vorausgesetzt, daß Dekadenz sowieso der wahrscheinlichste
Weg der historischen Entwicklung war: »wieder ein Schritt vorwärts
auf dem Wege der Enthemmung einer fürchterlichen Natürlichkeit«
().
Gehlen glaubte, daß der Prophet dieser »fürchterlichen Natürlichkeit«
Rousseau gewesen sei, und ohne einen »Gegen-Rousseau«, der an Stelle
der seichten Lehre des »Zurück-zur-Natur« eine »Philosophie
des Pessimismus und des Lebensernstes« ()
setze, sah er schwerwiegende negative Auswirkungen auf die bestehenden Verhältnisse
ab. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man behauptet, daß Gehlen sich selbst
gern als diesen »Gegen-Rousseau« gesehen hätte, aber im Vergleich
zu jenem fehlte ihm doch die Breitenwirkung, ein Mangel an Popularität, der
angesichts der gebotenen Lehre nichtverwundern kann. Es war dieser Sachverhalt
besonders deutlich an dem letzten Buch Gehlens zu bemerken, das noch am ehesten
als Aufruf zu einer Gegenbewegung geeignet gewesen wäre und das 1969 unter
dem Titel Moral und Hypermoral ()
erschien. Moral und Hypermoral zeigte ein glänzendes polemisches Talent,
aber es war mehr als eine Kampfschrift, Gehlen betrachtete es in mancher Hinsicht
als dritten Teil von Der Mensch ([]).
Der Band trug den Untertitel Eine pluralistische Ethik, und es ging dem
Verfasser um den Nachweis, »
daß es mehrere voneinander funktionell
wie genetisch unabhängige und letzte sozialregulative Instanzen im Menschen
gibt. Eine Ethik aus einem Guß ist immer eine kulturelle Stilisierung
des Denkens, Fühlens und Verhaltens gewesen,
eine überspannte
Metapher der Wirklichkeit« ().
(Karlheinz Weißmann, Arnold Gehlen, 2004, S. 79-80).Gehlen
hat sich für seine Forderung nach einer »pluralistischen Ethik«
auf das Vorbild aller differenzierten Gesellschaften berufen, die immer verschiedene
Tugenden für verschiedene Lebensbereiche kannten, etwa die Weisheit für
den Lehrstand, die Tapferkeit für den Wehrstand, den Fleiß für
den Nährstand. Gehlen seinerseits identifizierte vier Quellen der Moral:
das Prinzip des do ut des - »gib, dann wird dir gegeben«, das
im ökonomischen und juristischen Bereich eine gewisse Geltung bis in die
Gegenwart beansprucht, die biologische Ethik, etwa die selbstverständliche
Zuwendung zu allem, was durch das Kindchen-Schema ausgezeichnet ist, dann die
Familienmoral und schließlich die Ethik der Institutionen, vor allem des
Staates. Unter aktuellen Gesichtspunkten ging es Gehlen aber vor allem um das
Widerspiel zweier Moralen: der Familienmoral und der politischen Moral. Gehlen
erkannte der Ethik der intimen Kleingruppe durchaus ihr Recht zu, den Grundsätzen
der Liebe und gegenseitigen Achtung, der Ehrlichkeit und der Fürsorge, aber
er bestritt ganz entschieden das moralische Recht, diese Prinzipien auf die Welt
im großen zu überragen. Dort, wo Staaten sich gegenübertreten
und Parteien ihre Interessen durchzusetzen suchen, sei es unsittlich, nach dem
Gebot der Nächstenliebe oder auch nur der Goldenen Regel zu handeln.
(Karlheinz Weißmann, Arnold Gehlen, 2004, S. 81-82).Gehlen
wandte erheblichen Scharfsinn auf, um den ganzen Unsinn des »Humanitarismus«
nachzuweisen, jener Utopie, die sich seit dem Anfang der 1960er Jahre nicht nur
in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in der ganzen westlichen Welt ausgebreitet
hatte und jede auf Erhaltung der staatlichen Ordnung, ja der Institutionen überhaupt,
gerichtete Bemühung unterlief. Individualismus und Universalismus wurden
in einen direkten Zusammenhang gebracht, die »überdehnte Hausmoral«
()
zum Maßstab jeder Handlung und eben auch der staatlichen gemacht. Demgegenüber
hielt Gehlen fest: »Man muß Macht haben, um überhaupt handeln
zu können, zumal in der moralischen Sphäre. Man hat gewaltig zu sein,
um Gutes zu tun, und stark, um Schutz zu bieten. Das Gute zu suchen und dabei
die Macht zu verwerfen kommt auf die seichte und eigensinnige Vorstellung heraus,
daß das Leben keine Bedingungen haben sollte.« ().
Vieles erinnert hier an ältere und klassisch-moderne Staatsanschauungen,
angefangen mit der Unterscheidung von civitas dei und civitas terrena
bei Augustinus über Martin Luthers Lehre von den beiden Reichen bis hin zu
Max Webers Differenzierung von »Gesinnungsethik« und »Verantwortungsethik«.
Aber Gehlens Lage war mit derjenigen dieser Autoren kaum vergleichbar. Jeder Staat
der Vergangenheit hat sofort oder doch in absehbarer Frist einen hohen Preis gezahlt,
wenn er die Gefahr der Selbstzerstörung durch Aufgabe des politischen Ethos
verkannte. Im 20. Jahrhundert schien es so, als ob zumindest die europäische
und die nordamerikanische Menschheit in einem Ausnahmezustand lebten, in dem so
etwas wie der »Ernstfall« nicht mehr vorkam. In einer Welt, in der
Krieg und Knappheit unwahrscheinlich wurden, waren »quiritische Tugenden«
- um einen Begriff Sorels zu gebrauchen - kaum noch plausibel zu machen. Daß
die »Treuepflicht zu außerrationalen Werten« ()
vollständig zu verschwinden schien, erfüllte Gehlen mit Verzweiflung.
Das erklärt wohl auch, warum er zwei bis dahin strikt verteidigte Positionen
aufgab oder doch an entscheidender Stelle korrigierte: die Annahme, daß
es im Grunde keine »Natur« des Menschen gebe und die Aversion gegen
die Kulturkritik der deutschen Tradition, vor allem soweit sie durch Nietzsche
und Spengler verkörpert war. Im Hinblick auf den ersten Punkt ist aufschlußreich,
daß Gehlen jetzt bestimmte Vorstellungen von Instinktgebundenheit
Territorialität, Aggression, Sexualität - und gleichzeitig die damit
verbundene Degenerationsbereitschaft - das, was Konrad Lorenz die »Verhausschweinung«
des Menschen nannte als Interpretament für die von ihm konstatierten
Verfallsmomente akzeptierte. Was den zweiten Zusammenhang angeht, so muß
man feststellen, daß Gehlen nicht nur die »große Parallele«
zwischen dem Untergang Roms und der eigenen Gegenwart beschwor, sich scharf gegen
die Aufklärung wandte (»Die Aufklärung ist, kurz gesagt, die Emanzipation
des Geistes von den Institutionen.« []),
sondern auch Nietzsches Kritik des »Ressentiments« aufnahm und als
Argumentationshilfe verwandte. (Karlheinz Weißmann, Arnold Gehlen,
2004, S. 81-82).
Individualismus als Zivilglaube
des Liberalismus! Humanitarismus als Zivilreligion des Liberalismus! Kosmopolitismus
als Ziviltheologie des Liberalismus! Solipsismus und Eudämonismus als
Zivilphilosophie und Zivilwissenschaft des Liberalismus!
Der Liberalismus
wird weltanschaulich totalitär. Wir brauchen eine Aufklärung, die uns
über die erste und ihr mißratenes liberales Kind aufklärt und
ins postideologische Zeitalter führt. Vorläufig herrscht die institutionalisierte
Toleranz so intolerant wie jede hypertrophierte Moral, hinter der mit unermüdlichem
Eifer das Richtschwert wandelt. Heute wird medial hingerichtet, nicht mehr körperlich.
Die Stelle inquisitorischer Instrumente wie der kirchlichen Disziplin und
der Exkommunikation nehmen heute der moralische Terror und der soziale
Boykott ein. (Vgl. Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas
Hobbes, 1938, S. 65). Die besondere Gefährlichkeit des Parteienstaates
beruht auf seiner ideologischen Homogenität und dem von Parteien über
die Medien ausgeübten Gesinnungsdruck. Nach Kelsen möchte die liberale
Demokratie gern »der Ausdruck eines politischen Relativismus und einer wunder-
und dogmenbefreiten, auf den menschlichen Verstand und den Zweifel der Kritik
gegründeten Wissenschaftlichkeit« sein. In einem säkularisierten,
weltanschaulich neutralen Staat dürfte es liberaler Ansicht nach keine freiheitliche
demokratische Staatsreligion geben. Es gibt sie dennoch. (Klaus Kunze, Mut
zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 169).Die liberale
Selbsteinschätzung als kritisch, rationalistisch und aufgeklärt ist
... brüchig. Ihr Dilemma besteht darin, daß der Liberale gegenüber
konkurrierenden Ideologen wehrlos dastünde, wenn er ihnen, getreu seiner
Selbstrechtfertigung, nur liberal gegenübertreten und sich selbst kritisch-rationalistisch
betrachten würde. Tatsächlich sieht er alle anderen Weltanschauungen
mit kritisch-rationalistischen, aufgeklärten Augen, nur sich selbst nicht.
Wie jedes Herrschaftssystem würde der Liberalismus untergehen, wenn
er die geistigen Grundlagen seiner Macht nicht mit Gesinnungsdruck verteidigen,
würde, wo sie angegriffen werden. Die weltliche Macht über die Menschen
behält man nur durch die spirituelle Kontrolle über ihren Glauben. Trotz
liberal-aufklärerischer Attitüde muß auch der Liberalismus an
sich selbst glauben, weil sich die liberale Ratio nicht mit sich selbst begründen
kann. Darum muß er mit seinen eigenen Prämissen brechen und sich mit
quasi-religiöser Inbrunst verteidigen, sobald er grundsätzlich in Frage
gestellt wird. Diese Prämissen bilden heute mit humanitaristischen Moralforderungen
ein Amalgam, eine zäh-klebrige Masse unreflektierter Versatzstücke aus
dem Glauben an das Gute im Menschen, anti-staatlichen Affekten und anti-autoritären
Ressentiments. Überdies ist der Liberalismus in Deutschland eine Liebesehe
eingegangen mit dem Betroffenheitskult und einer Vergangenheitsbewältigung,
deren moralisierende Imperative seiner senilen Leere eine neue Seele einbliesen.
(Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 170).Liberalismus
und Sozialismus sind Kinder der Aufklärung. Deren Dilemma besteht darin,
daß sie den Menschen von Vorurteilen und der auf ihnen beruhenden Herrschaft
befreien wollte. Das kritische Hinterfragen von Wert-Vorurteilen geht aber Hand
in Hand mit einer allgemeinen Relativierung, die am Ende das Befreiungspathos
selbst verschlingen muß. So steht der Aufgeklärte schließlich
vor der Frage, auf Grund welcher Werte er eigentlich aufgeklärt sein soll
und wo er bei allem Aufgeklärtsein noch die Letztrechtfertigung für
tugendhaftes Handeln herleiten soll. Der Zwiespalt der liberalen Spielart der
Aufklärung besteht also darin, daß sie gern freiheitlich und pluralistisch
sein möchte, »liberal« eben, so daß moralische oder religiöse
Dogmen quer zu ihrer kritisch-rationalistischen Eigenrechtfertigung zu liegen
scheinen; daß die Einlösung ihres Pluralismusversprechens aber zu ihrer
faktischen Selbstaufgabe führen würde. (Klaus Kunze, Mut zur
Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 170-171).An
dieser Wegscheide kann der aufgeklärte Liberale drei Wege einschlagen: (1)
Der logisch sauberste weist auf die Vollendung der Aufklärung im Nihilismus
und führt alle Werte, einschließlich der eigenen, auf bloße Konvention
zurück. (2) Den zweiten hatte der bürgerliche
Liberalismus eingeschlagen. Er bestand - typisch liberal - im Ausweichen vor der
Entscheidung: Von seinen monarchischen, sozialistischen und anderen unreinen Geistern
suchte man den Menschen zu befreien, bürdete ihm zugleich aber einen Sack
liberaler Moralbegriffe auf. (3) Der dritte Weg stand
unter demokratischem Vorzeichen. Er hob die Aufklärung kurzerhand wieder
auf, indem er seine Werte für heilig und ewig erklärte und sie damit
zum Gegenstand religiöser Verehrung machte. Als zentraler Wertbegriff trat
der Mensch an die Stelle Gottes, und zwar nicht irgendein wirklicher Einzelmensch
oder viele bestimmte Einzelmenschen, sondern eine abstrakte Idee vom Wert des
Menschen an sich. (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung,
1995, S. 171).»Weil diese zur Menschlichkeit vollendete
Sittlichkeit mit der Religion, aus der sie geschichtlich hervorgegangen, sich
völlig auseinandergesetzt hat,« formulierte Stirner, »so hinderte
sie nichts, auf eigene Hand Religion zu werden.« Dazu komme es, wenn dem
Menschen der Mensch das höchste Wesen sei: »Hat man da nicht wieder
den Pfaffen? Wer ist sein Gott? Der Mensch? Was ist das Göttliche?
Das Menschliche!« Am Ende des Zeitalters der Massendemokratie hat
der Liberalismus seine politischen Gegner aus dem Feld geschlagen. Nachdem er
keine Gegner mehr hat, sondern nur noch Untertanen, mußte er zu seiner
Selbstbehauptung Religion werden. »Diese Religion soll jetzt« - 1844
- »zur allgemein üblichen erhoben
werden. Man kann sie die Staatsreligion,
die Religion des freien Staates nennen,« für welche er
»von jedem der Seinigen« zu »fordern nicht nur berechtigt, sondern
genötigt ist.« (Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum,
1844, S. 61f., S. 192f.). Weil der Humanitarismus zur Religion geworden ist, gibt
er sich nicht damit zufrieden, uns ein gesetzestreues Verhalten aufzuerlegen.
Er versucht uns vorschreiben, wen wir lieben müssen und wen wir nicht hassen
dürfen. (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995,
S. 171). Parallel zu eben diesem humanitaristischen Moralkodex
erhob ein wütender Fundamentalismus das Grundgesetz
in den Rang einer heiligen Offenbarung. Der »liberal-konstitutionelle Verfassungs-Normativismus«
folgte aus dem liberalen Gesetzesdenken des 19. Jahrhunderts, das die Herrschaft
des rex durch die des lex ersetzen wollte. (Vgl. Carl Schmitt, Über
die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 10, 15). »Von
Erdenballast entlastet, kann der Verfassungspatriotismus,« mit den Worten
Isensees, »alle irdischen Unterscheidungen zwischen Völkern und Staaten
hinter sich lassen, aufsteigen zur Höhe der reinen Normen und weiter zu den
Ideen von diesen Normen.« Tendenziell wachse die Neigung, »aus dem
Grundgesetz, seiner Selbstbescheidung zum Trotz, ganzheitliche Programme für
Kultur, Wirtschaft, Erziehung, Moral abzuleiten, seine demokratischen, sozialen
und grundrechtlichen Normen religiös zu überhöhen und die Verfassung
als säkulares Glaubensbekenntnis zu deuten.« (Josef Isensee, Staatsrepräsentation
und Verfassungspatriotismus, 1992, S. 273). Es ist sinnlos, gegen diesen Brei
aus inquisitorisch guter Gesinnung zu argumentieren. Fanatiker können
allenfalls bekehrt, nie aber überzeugt werden. (Eric Hoffer, Der Fanatiker,
1965, S. 73). (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995,
S. 171-172).Wie sich der real existierende Liberalismus aus dem
ihm eigentlich verhaßten Arsenal seiner ideologischen Gegner bewaffnet,
zeigt sich bereits in seinem äußeren Alltag. Die Hypertrophie seiner
verabsolutierten Moral hat sakrale Formen angenommen. »Es gibt heute«,
sagte Pareto, »eine humanitäre Religion, die den Gedankenausdruck der
Menschen reguliert, und wenn sich zufällig einer dem entzieht, dann erscheint
er als Ungeheuer, wie jemand im Mittelalter als Ungeheuer erschienen wäre,
der die Göttlichkeit Jesu geleugnet hätte.« (Vilfredo Pareto,
Cours de Soc. Gén., § 1172, I, zit. n.: Arnold Gehlen, Moral und
Hypermoral, 1969, S. 82). Politische Reden werden »wie ein moralisch-rhetorisches
Hochamt begangen«, in dem »die Liturgie vom guten Menschen zelebriert
wird« (M. Jeismann, Ende des Hochamts, FAZ, 28.05.1994). Nicht zufällig
entfernt sich der deutsche Alltag seit einigen Jahren wieder von jener nüchternen
Nachkriegszeit. Damals hatten die vom NS-System noch wirklich Betroffenen von
Pathos und Aufmärschen, Fahnen, Schwüren, Hymnen und Fackelzügen
die Nase voll. Die nachgeborenen Betroffenen ahmen in steigendem Maße wieder
die äußeren Formen religiöser Kulthandlungen nach, wie sich auch
bereits die Aufmärsche und Feierstunden der Nationalsozialisten und der Kommunisten
bewußt der äußeren Formen religiöser Kulthandlungen bedient
hatten. So ist es kein Zufall, wenn wir evangelische Pastoren an der Spitze von
Lichterketten marschieren sehen. Diese gehören zur Familie der Fackelzüge
und Bußprozessionen und gehen letztlich auf vorchristlich-archaische Kulthandlungen
zurück. Es ist auch kein Zufall, wenn CDU-Strategen die »Stigmatisierung«
politischer Gegner anstreben. In diesen Zusammenhang gehören die gebetsmühlenartig
wiederholten Betroffenheitslitaneien ebenso wie der gesellschaftliche Bann für
Ungläubige. Jede Herrschaftsrechtfertigung ist eben in ihrem Kern Religion.
»Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre
sind säkularisierte theologische Begriffe,« denn jede große politische
Frage birgt eine große theologische Frage in sich. (Vgl. Carl Schmitt, Politische
Tehologie, 1922, S. 49). Daher ist jedes System nur im Kern seiner metaphysischen
Letztrechtfertigung erfolgreich angreifbar. Diese wird es mit quasireligiöser
Inbrunst verteidigen und dabei mit den Waffen der Ketzerverfolgung zurückschlagen
müssen, oder es wird untergehen. Es genügt nicht, die Handlungen des
Abweichlers zu verbieten. Auf Dauer läßt sich ein System nur verteidigen,
wenn es alle Taten und die Gesinnung desjenigen verflucht, der es abschaffen will.
(Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 172-173).Der
Humanitarismus ist die Zivilreligion des Liberalismus. Der angeblich aufgeklärte,
säkularisierte Abendländer ist ebenso anfällig für das Problem
der dominanten humanitaristischen Zivilreligion wie sein Vorfahre für das
der christlichen Religion. (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung,
1995, S. 173).Jedes Zeitalter hat seine
eigenen Mythen. Heute erfüllt der Glaube, daß alle Gewalt vom Volk
komme, eine ähnliche Funktion wie früher der Glaube, alle obrigkeitliche
Gewalt komme von Gott. (Vgl. Carl, Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage
des heutigen Parlamentarismus, 1923, S. 41). .... Zu den Dogmen der humanitaristischen
Zivilreligion gehören neben der Souveränität des transzendent aufgefaßten
Volkes ein metaphysisches Verständnis der Menschenrechte und ähnliche
Gedankenkonstrukte.
Wer einen Gott braucht, braucht auch einen Teufel.
Wie die Hohepriester aller Religionen Sündenböcke suchen, benötigt
der liberale Staat den seinen. Wer mit profaner Hand an die vergötterte Demokratie
rührt oder sie gar anzweifelt, stößt sich selbst aus der Gemeinschaft
der Guten so sicher aus wie jeder Ketzer in irgend einem Zeitalter. Wer das nicht
glaubt, kann ja einmal öffentlich bekennen, kein Demokrat oder nicht betroffen
zu sein, und warten, was dann passiert: er (oder sie)
zieht unweigerlich die soziale Reaktion des Mobbing auf sich: die Gruppenhatz.
Ein rigider moralisierender Kollektivismus läßt ihn schnell erfahren,
was das Wort Sündenbock eigentlich bedeutet und was es heute heißt,
einer zu sein: Wie in allen Zeiten der Sündenbock rituell geschlachtet wurde,
um symbolisch die Sünden der Gemeinschaft der Rechtgläubigen auf sich
zu ziehen und jene zu erlösen, fühlt sich der moderne Betroffene gleich
besser, wenn in einer Talkschau, der Mitternachtsmette der liberalen Diskursgesellschaft,
mit gehörig betroffener Miene der Neonazi beschworen, verdammt und ausgetrieben
wurde. Oh Herr, ich danke dir, daß ich nicht so scheußlich bin wie
jener! In Sodom und Gomorrha soll es leider keinen Gerechten mehr gegeben haben.
Im Liberalismus gibt es nur Gerechte: Pharisäer - Selbstgerechte - sagte
man früher. - Die totale Moralisierung des öffentlichen Lebens nimmt
uns ins Gebet, um uns nie wieder daraus zu entlassen. Sie gängelt uns mit
angeblichen Sünden unserer Großväter und trichtert ihr Gegengift
bis zum Erbrechen den Enkeln ein, ohne zu merken, daß ihr Patient schon
lange tot ist. Der moralische Bewältigungsrausch sucht sich seine Opfer,
und wo keine leibhaftigen Bösewichter mehr aufzutreiben sind, muß er
seine Wut in sinnlosem Leerlauf an Unschuldigen abarbeiten. So kommt es zu dem
von Marquard als Übertribunalisierung bezeichneten Phänomen: Während
der sündige Christ noch auf göttliche Gnade hoffen durfte, wird der
säkularisierte Sünder zum »absoluten Angeklagten« vor einem
moralischen »Dauertribunal, dessen Ankläger und Richter der Mensch
selber ist« und »unter absoluten Rechtfertigungsdruck, unter absoluten
Legitimationszwang gerät.« .... Der »totale Rechtfertigungsdruck«
ist nach Marquard »menschlich unaushaltbar und unlebbar.« (Odo Marquard,
Abschied vom Prinzipiellen, 1981, S. 49, 50). (Klaus Kunze, Mut
zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 173, 174-175).Jede
Theorie, welche die einfachen, aber unangenehmen Wahrheiten durchschaut und die
kommunikativen Spinnweben zerreißt, »ohne dies mit der Verheißung
der Emanzipation zu verkuppeln, wird von Habermas und seinen Anhängern nicht
als hinzunehmende geistige Konkurrenz betrachtet, sondern als bösartiger
Feind aufs äußerste bekämpft. .... Die absolute Moral duldet neben
sich kein autonomes, noch nicht moralindurchtränktes Sachgebiet. Alles nicht
Moralische erklärt sie für »böse, ebenso dann, wenn
es falsch, wie auch dann, wenn es« aus moralischer Sicht überflüssig
oder gar kontraproduktiv ist. Denn was nicht für die moralische »Kritik
ist, ist gegen die Kritik und also Sünde. So werden bei diesem bacchantischen
Taumel, an dem kein Glied nicht trunken sein darf, gerade jene exkommuniziert,
die nüchtern bleiben.« (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit
- Ruf zur Ordnung, 1995, S. 175-176).Der
Liberalismus mußte zwangsläufig totalitär werden, sobald eine
wachsende und nicht mehr ohne weiteres beherrschbare Zahl seiner Untertanen mit
ihren Interessen in Konflikt zu den Interessen derjenigen kam, welche durch den
liberalen Status quo bevorzugt werden. Die liberale Auffassung vom Staat
als großem Betrieb führt zur Öffnung der Grenzen und zur Privatisierung
wichtiger Lebensbereiche wie demjenigen der öffentlichen Sicherheit. Sie
widerspricht aber den Bedürfnissen vieler Bürger. Die Beispiele ließen
sich beliebig vermehren. Dem Pochen von immer mehr Bürgern auf gegen den
Liberalismus gerichteten persönlichen und nationalen Interessen kann dieser
nur noch damit begegnen, daß er es als ketzerisch brandmarkt, seine Abweichler
stigmatisiert oder als Neonazis dämonisiert. Der Kultus der Staatsreligion
Liberalismus mit seinen von Pastoren angeführten Lichterketten und Betroffenheitsriten,
seinen Tabuzonen und Exorzismen wird sich allerdings nur halten können, wenn
es dem Liberalismus gelingt, die Anzahl seiner Gegner rechtzeitig durch Masseneinwanderung
in die Minderheit zu drängen und weiterhin sozial und politisch auszuschalten.
(Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 176).Gegenwärtig
ist kein Ende in Sicht. Die Tabuwaffe und mit ihr die tabuisierten Ideologeme
werden gnadenlos mißbraucht. Ilmar Tammelo stellte bedauernd fest, sogar
ihre bloße Erwähnung rufe Feindseligkeit hervor. Eines der heikelsten
Probleme sei das der ethnischen Unversehrtheit: »Tabuartige Haltungen sind
verbunden sowohl mit der Forderung nach ethnischer Trennung als auch mit dem angeblich
aus der Idee der Menschenwürde stammenden Gebot, daß diese Trennung
zu verurteilen sei. So prallen hier antagonistische Tabus aufeinander. Für
die Philosophie steht nicht von vornherein fest, welcher Forderung vom Gerechtigkeitsstandpunkt
aus stattzugeben sei. Sowohl die Einheit als auch die Gliederung und Vielfalt
der Menschen sind Werte.« Nicht nur bei diesem Wertestreit entsteigen Götter
ihren Gräbern, wenn man Werte transzendiert und mit Tabus umgibt. Weitere
Tabus seien die bei der Sterbehilfe fragliche Heiligkeit des Menschenlebens und
die Demokratie. Über diese, »die Gerechtigkeit zutiefst berührenden
Probleme ist sehr schwer, ja gefährlich zu sprechen, weil man auf diese Weise
auf zähe Vorurteile prallt.« (Ilar Tammelo, Zensur durch die Toten,
1978, S. 77f.). (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung,
1995, S. 176-177).Jede Herrschaftsideologie umgibt ihre Arcana
mit Tabus. Deren Funktion besteht darin, den Beherrschten eine Ethik zu verordnen,
unter deren Geltung nicht nur die Herrschenden weiter herrschen und die Beherrschten
weiter beherrscht bleiben, sondern sich darüber hinaus des Beherrschtwerdens
erfreuen und es als ethisch anstößig empfinden, überhaupt die
Frage nach der Legitimation der Herrschaft aufzuwerfen oder gar gegen sie anzukämpfen.
Dem juristischen Verbot des weiteren Kampfes um die Macht folgt das moralische:
Der Unterlegene soll mit der Moral des Siegers dessen Status quo akzeptieren
und eine Wiederaufnahme des Kampfes noch nicht einmal mehr denken dürfen.
Der endgültigen Durchsetzung der etablierten Macht folgt die Moralisierung
des Politischen. Dem Unterlegenen wird eingeredet, daß es moralisch böse
und ethisch anstößig sei, um Macht zu kämpfen, ja daß es
überhaupt keine existentielle Feindschaft gibt, die das Kämpfen lohnen
würde. Das Friedlichkeitsgebot ist die Waffe des Siegers, und die Wiederaufnahme
des Kampfes wird zum Gedankenverbrechen; schließlich zum Tabu. Dieses kann
unter den Bedingungen des Medienstaates errichtet, durchgesetzt und instrumentalisiert
werden. (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S.
177).Wie gezielt ein Altlinker die Tabuwaffe zu führen weiß,
schildert Schrenck-Notzing: »Unbefangen schildert Adler, wie er dann an
der FU in Berlin beim SDS lernte, die Waffe selbst zu verwenden: Ich konnte
es genießen, wenn ich sah, wie ganz normale liberale Leute in einer Diskussion
den Kürzeren zogen, wenn jemand das Wort faschistisch gebrauchte,
evtl. verstärkt durch die Andeutung der KZs mit entsprechendem Tabu-Gesichtsausdruck,
drohend ernst, Stirn in Falten, Augen ins Unendliche .... Wem dies noch zu abstrakt
war, dem wurden die Gaskammern vor Augen geführt, womit jeder sehen konnte,
wohin das führte, wenn man so dachte. Das Wort Tabu-Gesichtsausdruck
ist kein Zufall: Meinhard Adler ist in der Tat der Ansicht, daß es beim
Bewältigungs-Ritus um ein methodisches Aufrichten von Tabus geht. Die angebliche
Tabubefreiung in unserer Gesellschaft ist für ihn bloße Rhetorik:
Es hat lediglich eine Tabugebietsverschiebung stattgefunden. War es früher
bei Ächtung verboten, die Kraft der Erektion und der Sinnlichkeit öffentlich
nachzuempfinden, so ist es heute bei gleicher Ächtung verboten, die faszinative
Kraft von Ordnung, Autorität und Kampf zu empfinden.« (Caspar
von Schrenck-Notzing, in: Criticón, 207, 1991). (Klaus Kunze, Mut
zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 177-178).Die innere
Logik des Liberalismus vollendet sich, wo die Betroffenheit zum Geschäft
wird und hauptberufliche Prediger des Bewältigungskultes ihre Pfründe
daraus ziehen. Als die Moral in Person und darum moralisch unangreifbar sind sie
in jedem öffentlich-rechtlichen Sender die heimlichen Herrscher, die Seele
des Betriebs. Die geschicktesten Berufsbewältiger wie die einst als Edith
Rohs geborene evangelische Berlinerin schlüpfen sogar durch Namensänderung
in die Opferrolle, so daß sie als »Lea Rosh« NDR-Intendantin
werden durfte. Während man im Dritten Reich Ahnenforschung zur Auffindung
der arischen Großmutter betrieb, erklärte sie stolz: »Rosh ist
mein Mädchenname. Richtig ist, daß ein Großelternteil jüdischen
Glaubens war. Insofern mußte ich keine jüdische Identität annehmen.«
(Leserbrief an die FAZ, 03.11.1995, S. 17). So erweist sich die liberale Zivilreligion
als rundherum einträglich und nützlich, jedenfalls für ihre Diener:
»Ohne Zweifel wird man die Religion für die beste halten, die ihre
Diener am meisten mit Reichtum und Ehren überhäuft hat und die mit den
wirksamsten Mitteln ausgestattet ist, ihre Schafe zu scheren und doch in Gehorsam
zu halten.« (Samuel von Pufendorf, De statu Imperii Germanici, 1667,
S. 261). (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995,
S. 178).Auch die humanitaristische Zivilreligion kann nur durch
untergründige Maulwurfstätigkeit von innen ausgehöhlt werden. Diese
Tätigkeit muß damit beginnen, ihren ideologischen Charakter zu beleuchten,
lustvoll an den Tabus und Sprachregelungen zu kitzeln und diese der Lächerlichkeit
preiszugeben. Die zentralen Ideologeme der Political correctness zu zerstören,
ist vordringliche Aufgabe einer geistigen Partisanentätigkeit. »Der
Betroffenheits-Besoffenheit kann man nur mit Subversion begegnen. .... «
(Gunnar Sohn, Dandies, Anarchos, Partisanen, in: Criticòn, 1993,
S. 128). In ihm werden wir uns einer Ideologie nur noch bedienen, uns aber nicht
mehr von ihr beherrschen lassen. Wir werden die alte ... Unart ablegen, Dinge
um ihrer selbst willen zu tun, und pragmatisch werden. Wir werden kaltlächelnd
national-eigennützig denken, aber nicht davon sprechen. Dabei werden wir
uns nicht mehr zuvor dreimal bekreuzigen wie die Kosmopoliten und nicht der ganzen
Welt das nationale Denken aufdrängen wollen wie die Nationalisten. Diese
Ideologie mit ihrem heutigen Hauptvertreter Eichberg geht auf Herder zurück.
Sie möchte nicht ruhen noch rasten, bis die ganze Welt in niedliche kleine
Reservate ethnischer Natiönchen parzelliert ist. Eichberg möchte etwas
für uns Richtiges universalisieren und exportieren. Wir dagegen werden am
deutschen Wesen und seiner neuesten Idee: dem Ethnopluralismus, nicht mehr die
Welt genesen lassen wollen. National denken bedeutet dann: tun, was wir in unserem
Interesse für richtig halten, und: unser Interesse selbst definieren.
(Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 186-187).Was
dezisionistische Philosophie vom idealen Sollen schon immer wußte, bestätigt
uns der Konstanzer Biologe Markl für das reale Sein: Wir werden »allesamt
ungleich geboren, was immer uns die politisch korrekte Unkorrektheit darüber
anderes sagen will. Die wirklich fundamentale genetische Botschaft ist jedoch,
daß es für die Spezies Mensch wie für jede andere Spezies keine
genetisch definierbare Norm oder keinen Idealtyp gibt.« (Hubert Markl, Evolutionäre
Perspektive der Medizin, in: FAZ, 03.01.1996, S. N1). (Klaus Kunze,
Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 193). Zitate aus der 2. Auflage
(1998).Wenn wir so etwas wie eine Moral nicht
aus einer metaphysischen Natur des Menschen ableiten können und jedes kategorische
Sollen mit Schopenhauer als theologisch ablehnen, bleibt nur der Rückgriff
auf die empirische Natur des Menschen: nämlich die rein deskriptive Frage,
wie Moral sich bildet, was ihr Inhalt ist und auf welchen menschlichen Eigenheiten
sie beruht. Jeder mag sich dann für oder gegen sie entscheiden. Schopenhauer
fährt über die empirisch festgestellten moralischen Handlungen fort:
»Diese sind sodann als ein gegebenes Phänomen zu betrachten, welches
wir richtig zu erklären, d.h. auf seine wahren Gründe zurückzuführen,
mithin die jedenfalls eigentümliche Triebfeder nachzuweisen haben, welche
den Menschen zu Handlungen dieser von jeder andern spezifisch verschiedenen Art
bewegt. Diese Triebfeder, nebst der Empfänglichkeit für sie, wird der
letzte Grund der Moralität und die Kenntnis derselben das Fundament der Moral
sein.« (Arthur Schopenhauer, Über das Fundament der Moral, in:
D , 1841, § 13, S. 221). (Klaus
Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 195). Diese
Triebfedern sind der Freiheitsdrang des Menschen und seine Gemeinschaftsbezogenheit,
oder mit den Worten Schopenhauers: sein Egoismus und seine Menschenliebe. Wir
nehmen diese Eigenschaften als Fakten zur Kenntnis, ohne den Anspruch zu erheben,
alle Menschen sollten freiheitsliebend und sollten gemeinschaftsliebend
sein. Wir stellen nur lapidar fest: Diese Gefühle sind vorhandene, aber widersprüchliche
Grundmöglichkeiten menschlichen Seins. Wenn wir sie für uns für
nützlich halten, nennen wir sie unsere Tugenden. Als ein Sollen empfehlen
wir sie nur in aller diesseitigen Bescheidenheit, und nur unseren Freunden. Sie
sind somit keine metaphysischen Werte im Sinne überkommener Moral, sondern
sozial erwünschte Verhaltensweisen. (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit
- Ruf zur Ordnung, 1995, S. 195). Es kommt auf unsere Entscheidung
an: Wer die menschliche Gemeinschaft willentlich akzeptiert, in die er unwillentlich
hineingeboren wurde, wird bestimmte Tugenden als Pflichten gegenüber dieser
sozialen Gemeinschaft für notwendig anerkennen müssen. »Daran
hat er ein egoistisches Interesse«, meldet sich unser Nützlichkeitssinn.
Wir müssen darum ein »System von öffentlichen und privaten Gewohnheiten
einzurichten« suchen, die »geeignet sind, das Gefühl für
die soziale Gemeinschaft zu entwickeln.« Solche Konventionen wollen aber
keine Offenbarungen sein, sondern bleiben sich ihrer Relativität stets bewußt.
(Vgl. Augsute Comte, Die Soziologie, 1830, S. 426f., 428). Comte meinte
mit derartigen Systemen konventioneller Gewohnheiten die traditionell überlieferten,
konkreten gesellschaftlichen Ordnungen in ihrer historischen Mannigfaltigkeit.
Diese beruhen auf sozialen Institutionen wie der Familie, die für ihren Bestand
wieder Wertsetzungen und die allgemeine Anerkennung ihres Wertes als Norm erfordern.
Kraft Entscheidung werden die Institution und ihr immanenter Wert zum Normalfall
erklärt. Solches nominalistische Denken in konkreten, nicht universalierten
Ordnungen (vgl. Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen
Denkens, 1934, S. 10f.) ist also bei näherer Betrachtung ein dezisionistisches
mit nur sekundärer normativer Komponente. (Klaus Kunze, Mut zur
Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 195-196).Die beiden Grundmöglichkeiten,
wie wir uns Mitmenschen gegenüber in angeborener Weise verhalten können,
sind das sogenannte freundlich-affiliative und das aggressiv-agonale Verhalten.
(Vgl. Irenäus Eibl Eibesfeld, Der Mensch, das riskierte Wesen, 1988,
S. 98ff.). Wie die Stachelschweine in Schopenhauers lustigem Bilde mögen
unsere Ahnen frierend in einer Höhle gesessen und sich aneinandergekuschelt
haben, bis sie sich auf die Nerven gingen und Abstand hielten - der Stacheln wegen.
Distanz oder Annäherung: zwischen diesen beiden Polen spielt sich soziales
Verhalten ab. Das Agonale, Widerstreitende schafft einzelgängerische Distanz
und strebt nach - im Ernstfall auch gewaltsamer - Dominanz. Das Affiliative, also
das Liebevolle, »Mitmenschliche« dagegen hat seine stammesgeschichtlichen
Wurzeln im Brutpflegetrieb. Sein sozialer Ort ist die Familie, und darum ist sein
spezifisches Ethos das familiäre. Hier liegt die Wurzel aller Bereitschaft
zur Selbstaufopferung für einen »Nächsten«. Die Familienbindung
erfordert den Verzicht auf individuelle Freiheit. Es setzt weitgehende materielle
Gleichheit voraus: Niemand am Tisch darf hungrig bleiben. Mindestens innerhalb
der engen Familienbindung sind wir Menschen »von Natur aus auch freundliche,
gesellige Wesen.« Der Mensch entwickelt im vertrauten Kleinverband jene
Werthaltungen, die es ihm »schließlich erlauben, selbst in ihm fremden
Personen Brüder und Schwestern zu sehen. Letztlich basiert das Staatsethos
auf einer Erweiterung des biologisch begründeten Familien- und Sippenethos.
.... Die Fähigkeit zum engagierten Einsatz für die größere
Gruppe setzt die Fähigkeit zu Liebe und Vertrauen voraus, und beide sind
familiares Erbe. Verkümmert diese Basis, dann läßt sich auch kein
Sinn für die größere Gemeinschaft entwickeln.« (Irenäus
Eibl Eibesfeld, Der Mensch, das riskierte Wesen, 1988, S. 122f.). Die ideellen
Grundlagen des demokratischen Gedankens und der Gleichheitsforderung bauten sich
um die wirkliche Urzelle menschlicher Gemeinschaftsbildung auf: Wie in einer einzigen,
großen Familie sollen alle gleich satt und glücklich sein. (Klaus
Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 196).Beide
Geschlechter, Männer und Frauen, verhalten sich je nach Situation entweder
agonal oder affiliativ. Vorwiegend jedoch begegnet der Mann der Welt agonal, nämlich
- mit den Worten der Linguistin Tannen - wie einem »Wettkampf, bei dem es
um die Bewahrung von Unabhängigkeit und die Vermeidung von Niederlagen geht.«
(Deborah Tannen, Du kannst mich einfach nicht verstehen - Warum Männer
und Frauen aneinander vorbeireden, 1991, S. 20). In einer solchen Welt sind
Gespräche »Verhandlungen, bei denen man die Oberhand gewinnen und behalten
will und sich gegen andere verteidigt, die einen herabsetzen und herumschubsen
wollen.« - Frauen dagegen nähern sich der Welt »als Individuum
in einem Netzwerk zwischenmenschlicher Beziehungen«, in der »Gespräche
Verhandlungen über Nähe« sind, »bei denen man Bestätigung
und Unterstützung geben und erhalten möchte und Übereinstimmung
erzielen will. Man will sich davor schützen, von anderen weggestoßen
zu werden. So gesehen ist das Leben eine Gemeinschaft, ein Kampf um die Bewahrung
der Intimität und die Vermeidung von Isolation.« Die typisch weibliche
Sehnsucht nach Nähe, Intimität und Gemeinschaft bietet vorwiegend familiäre,
affiliative Strategien auf; die männliche Auffassung von Sieg und Dominanz
faßt die Welt als Leistungshierarchie auf und begegnet jedem Konkurrenten
agonal. (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S.
196-197).Um die beiden menschlichen Grundmöglichkeiten:
die agonale und die affiliative, ranken sich alle politischen Theorien. Die üblich
gewordene Gleichsetzung der Phänomene Demokratie und Liberalismus
versperrt die Sicht darauf, daß sie antagonistischen Grundgedanken entspringen.
Es besteht ein in der Tiefe unüberwindlicher Gegensatz (vgl. Carl Schmitt,
Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1923, S.
23) zwischen liberalem Einzelmensch-Bewußtsein und demokratischem Gedankengut.
Gedanklich sauber herauspräpariert läßt der Gegensatz sich folgerichtig
ableiten aus den beiden Grundmöglichkeiten sozialer Distanz oder Annäherung:
Das agonale Handlungsmuster sieht den Menschen in Auseinandersetzung gegen
andere. Seine Liebe ist Eigenliebe. Es setzt den konkreten Einzelnen absolut und
mißt ihm potentiell unendlichen Persönlichkeitswert zu. Es erlaubt
dem Individuum, sich gegen andere durchzusetzen. Ob diese anderen eine Mehrheit
bilden, spielt keine Rolle. Es hält darum Abstand vom anderen und betrachtet
ihn als potentiellen Gegner. Wer diese innere Haltung einnimmt, gelangt zum Egoismus,
Anarchismus oder - wenn Besitzende so denken - zum Liberalismus. Seine Idealvorstellung
ist die individualistische Distanz zu den als ungeliebte Masse empfundenen Mitmenschen.
Er sucht daher vornehmlich die persönliche Freiheit. .... Es kann aber nicht
alles menschliche Handeln auf persönliches Interesse zurückgeführt
werden. Es gibt auch uninteressierte, rein wohlwollende Neigungen: Das affiliative
Handlungsmuster sieht den Menschen in friedlichem Miteinander mit anderen.
Seine Liebe ist Nächstenliebe. Es setzt das Miteinander absolut und mißt
der Gemeinschaft potentiell unendlichen Wert bei. Es fordert vom Individuum, sich
mit anderen freundlich zu arrangieren. Im Zweifel hat es sich in die Anschauungen
und Belange der Mehrheit einzufügen. Es läßt die Menschen sich
annähern und betrachtet sie als potentielle Familienangehörige. Wer
diese innere Haltung einnimmt, gelangt gefühlsmäßig zur Vaterlandsliebe
oder gar zur allumfassenden Menschheitsliebe; politisch zur Demokratie. Sein Ideal
bildet das völlige Aufgehen des Individuums im Kollektiv geliebter Mitmenschen
und deren umfassende Übereinstimmung. Er sucht daher vornehmlich die Gleichheit
im Kollektiv. (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995,
S. 197-198).Eibl-Eibesfeldt ordnet die Tugenden nach ihrer Funktion
in die agonalen, die affiliativen und »schließlich die zivilisierenden
Tugenden der Selbstbeherrschung und Mäßigung.« (Irenäus
Eibl Eibesfeld, Der Mensch, das riskierte Wesen, 1988, S. 178). Als drittes
sittliches Gut schlechthin neben der Freiheit des Einzelnen und der überindividuellen
Gemeinschaft sah auch Radbruch »die Gemeinschaft kultureller Wertschöpfung«
an, die er sich »in Form einer Bauhütte« vorstellte, »in
der die Bauleute nicht unmittelbar von Mensch zu Mensch, sondern mittelbar durch
ihr gemeinsames Werk verbunden sind.« (Gustav Radbruch, Vorschule der
Rechtsphilosophie, 1948, in: GRGA, 3. Band, S. 145). Ein solches Werk, eine
immerwährende Aufgabe zur tätigen Verbindung von Menschen ist auch das
politisch verfaßte Staatswesen. Wer an seiner Freiheit hängt, wird
sich weder für die liberale Verabsolutierung des Individuums noch für
eine kollektivistische Verabsolutierung entscheiden. Er wird vielmehr diese Werte
in ihrem Zusammenwirken den Inhalt des Rechts gestalten lassen. (Vgl. Arthur Kaufmann,
Grundprobleme der Rechtsphilosophie, 1994, S. 155). Dieses sichert die
auf das Gemeinwesen gerichtete republikanische Tugend. Sie verbindet die Menschen
und ihren Eigensinn als Bürger in ihrem gemeinsamen Werk: dem freiheitlichen
Staate. (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S.
199).Die vorgefundene Gemeinschaft,
in die jeder von uns hineingeboren wurde, ist die Grundlage unserer aller Existenz.
Man kann nicht wie Habermas die Wirklichkeit neu erschaffen und so tun wollen,
als stünden wir uns in einem gedachten Moment als autarke Einzelwesen gegenüber,
die nichts miteinander zu tun haben und die zunächst einmal einen Gesellschaftsvertrag
miteinander schließen müssen. Diese Idee braucht nur, wer die Wirklichkeit
völlig umkrempeln möchte und wem die vorgefundene Wirklichkeit dabei
im Wege sieht. Er schließt vor ihr die Augen, um wie auf einem Reißbrett
den Neuentwurf einer ganz anderen Wirklichkeit zu wagen, und zwar einer, in der
er selbst als berufener Interpret dessen eine besondere Rolle spielt, was er selbst
zuvor für vernünftig erklärt hat. Es ist aber völlig abwegig,
im Menschen nur das reine Subjekt der Logik zu sehen, das in sozialethisch ganz
indifferenten Beziehungen zu ebenso beschaffenen anderen Subjekten steht. (Vgl.
Theodor Maunz / Günter Dürig / Roman Herzog, Kommentar zum GG, Art.
1, Rdn. 1, in: Grundgesetz - Kommentar, 1958). Genau das aber ist der
Kern von Habermas Theorie der kommunikativen Vernunft. Als Wertsetzung steht
sie in unauflöslichem Widerspruch zu einem Bild vom Menschen als verantwortlichem
Mitglied einer vorgefundenen Gemeinschaft. Die Wertentscheidung für die gemeinschaftsgebundene
Persönlichkeit ist übrigens die des Bonner Grundgesetzes (vgl. ebd.,
Rdn. 46, 49), und jeder sollte sie für sich nachvollziehen, der sein eigenes
Wohl und Wehe vom Bestand seines Volkes abhängen sieht. Das Bundesverfassungsgericht
hat dazu ausgeführt: »Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht
das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr
die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und
Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.«
(Urteil vom 20.07.1954, BVG, E 4, 7 [15f.]). (Klaus Kunze, Mut
zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 208).Dem Glauben an
die sozialen Tugenden entgegen steht die Aufklärung über ihre Beliebigkeit.
Eine Aufklärung über die Aufklärung muß das destruktive Angriffspotential
der Aufklärung auf sie selbst richten und sie zerstören. Das Dilemma
der Aufklärung hat Jan Roß mit den Worten zusammengefaßt: »Wenn
freilich am Ende das kalte und abstrakte Denken alle hergebrachten Normen als
bloße Vorurteile beseitigt hat, ist jede Untat erlaubt und die Rationalität
zur Barbarei geworden. .... Befreiung schlägt in Knechtschaft um, vollkommene
Befreiung in totale Knechtschaft. Diese tödliche Falle ist die Dialektik
der Aufklärung.« (Jan Roß, Dialektik der Aufklärung,
in: FAZ, 24.05.1994). Ihr entkommen wir nur, wenn wir die sozialen Tugenden wie
reale Gegebenheiten anwenden und unsere konkreten, historisch gewachsenen Ordnungsideen
respektieren. Wer sich gegen sie entscheidet, darf unseres philosophischen Wohlwollens
sicher sein, muß sich aber gefallen lassen, nach Maßgabe der Gesetze
eingesperrt zu werden. Wer als Robinson, als Verbrecher oder Autonomer seine Tage
fristen will, hat die Entscheidungsfreiheit, gegen alle diese Regeln zu leben,
ohne Moralvorwürfe hören zu müssen. Die sozialen Ausfallerscheinungen
und psychischen Störungen der Massengesellschaft haben tatsächlich bei
vielen gesamtschulgeschädigten kleinen Rambos die unabdingbare Grundlage
für alles gemeinschaftsbezogene Ethos zerstört: die Liebesfähigkeit.
Krankhafter Selbsthaß kann die unbefangene Eigenliebe jedes geistig Gesunden
zerstören, und solche Psychopathen sind auch unfähig, ihre nächsten
Angehörigen oder ihr Volk zu lieben. (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit
- Ruf zur Ordnung, 1995, S. 208-209).Ein Mensch allein, schrieb
Konrad Lorenz, ist - für sich genommen - gar kein Mensch; »Nur als
Mitglied einer geistigen Gruppe kann er voll Mensch sein. Geistiges Leben ist
grundsätzlich überindividuelles Leben; die individuelle konkrete Verwirklichung
geistiger Gemeinsamkeit nennen wir Kultur.« (Konrad Lorenz, Der Abbau
des Menschlichen, 1983, S. 70). Der Verhaltensforscher hatte schon vor Jahren
weitsichtig formuliert: »Wir müssen lernen, einsichtsvolle Humanität
dem Individuum gegenüber mit der Berücksichtigung dessen zu verbinden,
was der menschlichen Gemeinschaft not tut. Der Einzelmensch, der mit dem Ausfall
bestimmter sozialer Verhaltensweisen und dem gleichzeitigen Ausfall der Fähigkeit
zu den sie begleitenden Gefühlen geschlagen ist, ist tatsächlich ein
armer Kranker, der unser volles Mitgefühl verdient. Der Ausfall selbst aber
ist das Böse schlechthin. Er ist nicht nur die Negation und Rückgängigmachung
des Schöpfungsvorganges, durch den ein Tier zum Menschen wurde, sondern etwas
viel Schlimmeres, ja Unheimliches. In irgendeiner geheimnisvollen Weise führt
die Störung moralischen Verhaltens nämlich oft nicht zu einem einfachen
Fehlen alles dessen, was wir als gut und anständig empfinden, sondern zu
einer aktiven Feindschaft dagegen.« (Ebd., 122f.). - Hiergegen bieten sich
diejenigen ethische Werte und Grundhaltungen an, die seit undenklichen Zeiten
den Bestand menschlicher Gemeinschaften stützten. (Klaus Kunze,
Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 209).Weder
eine imaginierte Transzendenz noch genetische Prädisposition beseitigen die
Notwendigkeit der freien Entscheidung für oder gegen die sozialen Wertvorgaben.
Herkömmliche Moral und moderne Humangenetik zeigen aber deutlich auf, daß
menschliche Gemeinschaften offenbar der dauerhaften Bindungswirkung sozialer Imperative
bedürfen. Diese müssen wir durch Entscheidung der Diskussion entziehen
und in Form einer konkreten staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung bewahren
und verteidigen, wenn uns am Bestand derjenigen menschlichen Gemeinschaft etwas
liegt, der wir angehören. Das gilt gerade in einer Zeit pluralistischer Beliebigkeit,
in der zunehmend mehr Menschen ihre Entscheidungsfreiheit so benutzen, daß
sie im Endeffekt nur noch für ihren individuellen Lustgewinn und die Unlustvermeidung
leben, in der die Respektierung von gemeinschaftlichen Werten also eine Mühe
und einen Verzicht bedeuten kann. (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf
zur Ordnung, 1995, S. 210). Wenn wir aus der modernen Anthropologie
Erkenntnisse für politische Zwecke unmittelbar nutzbar machen wollen, dann
sind es die der vergleichenden Verhaltensforschung. Sie decken sich völlig
mit dem, was jedem Laien unmittelbar evident ist und seinem täglichen Gefühlsleben
entspricht: Nicht nur die Aggression, auch die Fähigkeit zu freundlichen
Gefühlen ist uns unmittelbar angeboren. Wir kommen mit einem Instinktrepertoire
auf die Welt, das, je nach Situation, bestimmte Verhaltensprogramme ablaufen läßt
- wenn - ja wenn! - wir sie ablaufen lassen. Denn daß wir trotz Hungers
nicht essen müssen, trotz Wut nicht losschlagen müssen und uns im allgemeinen
gegenüber anziehenden Artgenossinnen nicht benehmen wie unsere peinlichen
Verwandten im Zoo; daß unser freier Wille also über allen diesen Verhaltensprogrammen
steht, ist natürlich auch eine anthropologische Binsenwahrheit. Leider wurde
und wird sie von manchen Nur-Geisteswissenschaftlern nicht verstanden. Sie meinen,
die Biologie habe seit Darwin, der Affen für unsere Vorfahren hielt, oder
seit dem Arzt Lamettrie nichts dazugelernt, der uns Menschen für nichts als
organische Maschinen gehalten und ihnen die Willensfreiheit abgesprochen hatte.
So möchte Zippelius die Naturwissenschaften vom Menschen abtun: Die Soziobiologie
könne keine Hilfe sein, weil menschliches Verhalten nicht allein auf angeborenen
Dispositionen beruht, sondern eben auf Weltanschauungen, die soziale Integrationsfunktionen
besitzen und Orientierungsgewißheiten vermitteln. (Vgl. Reinhold Zippelius,
Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 1994, S. 96-101, 147-170).
- Aber gerade das ist doch die zentrale Einsicht aller Forschung über das
menschliche Verhalten seit Konrad Lorenz! Ersichtlich behauptet kein Naturwissenschaftler
heute, Menschen seien willenlos ihren Instinkten unterworfen - im Gegenteil! Je
mehr wir dazugelernt haben über angeborene Instinkte und Reize, über
Hormonausschüttungen unseres Gehirns und genetische Veranlagung zum »Wertfühlen«,
desto sicherer wurden wir: Unser Verstand kann sich darüber erheben, wenn
er nur will. Der Mensch ist, mit den Worten Gehlens, von Natur aus ein Kulturwesen.
(Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch - Seine Natur und seine Sellung in der Welt,
1940; ders., Moral und Hypermoral, 1969, S. 9). (Klaus Kunze, Mut
zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 210-211). Inwieweit
angeborene Verhaltensdispositionen unser Verhalten beeinflussen, weil wir sie
uns nicht bewußt machen oder weil wir sie bewußt bejahen und »ablaufen«
lassen, ist aber eine Frage, der sich die politische Theorie nicht verschließen
darf. Schließlich muß sie auch einkalkulieren, daß wir Menschen
gerade in unserem Verhalten gegenüber Mitmenschen stammesgeschichtlich vorgeprägt
sind. Auf genetischen Programmen beruhen nicht nur der Apparat unserer Sinneswahrnehmungen
und die Fähigkeit zu logischem Denken; auf ihnen beruhen nach Lorenz «auch
die komplizierten Gefühle, die unser zwischenmenschliches Verhalten bestimmen.
Besonders unser soziales Verhalten ist von uraltem Erbe arteigener Aktions- und
Reaktionsmuster beherrscht.« (Konrad Lorenz, Der Abbau des Menschlichen,
1983, S. 100). Den in unzähligen Generationen des Lebens im sozialen Kleinstverband
erworbenen Verhaltensstrategien entsprechen in auffälliger Weise kulturell
überlieferte Werthaltungen: So ist die zum »instinktmäßigen
Ethogramm« (ebd., S. 113) gehörende Freundestreue, also der Antrieb,
sich und nächste Angehörige bei einem Angriff gemeinsam zu verteidigen,
zweifellos stammesgeschichtlich erworben, bildet aber auch in allen bekannten
Kulturen einen Wert. Niemand muß sich entscheiden, diesen für sein
persönliches Leben als verbindlich zu akzeptieren, aber seine Existenz bei
den meisten Menschen und seine zweckgerichtete Funktion muß bedacht werden.
Wer nämlich die hinter dem Phänomen Freundestreue stehende teleonome
Wirkung erreichen möchte, wird sie als Wert benötigen und sie unter
den Tugenden seiner Weltanschauung nicht missen wollen. (Klaus Kunze, Mut
zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995, S. 211-212).Wir Menschen
verfügen nach Konrad Lorenz über ein hochdifferenziertes System von
Verhaltensweisen, das in durchaus analoger Weise wie das System der Antikörperbildung
im Zellenstaat der Ausmerzung gemeinschaftsgefährdender Parasiten dient.
(Vgl. Konrad Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit,
1973, S. 54). (Klaus Kunze, Mut zur Freiheit - Ruf zur Ordnung, 1995,
S. 213-214). GLOSSARIndividualismus
ist diejenige Richtung, die das Sondersein des Einzelnen für wichtiger hält
als das Sein der Gemeinschaft, nicht selten sogar nur die Wirklichkeit des Individuellen
(aber: gibt es das?) bzw. des eigenen Bewußtseins (aber: ist das ein eigenes
?) bzw. des Ich (vgl. Solipsismus)
anerkennt. Doch der Mensch war und ist kein Individuum, sondern ein Dividuum,
und wenn er in ferner Zukunft doch noch den Sprung vom Homo sapiens sapiens
über die neue Unterart Homo sapiens autisticus zu der neuen Art Homo
autisticus schaffen würde, dann würde er vielleicht (vielleicht
!) Individuum sein, aber dann interessiert das wirklich überhaupt keinen
mehr, denn jeder andere Mensch würde dann ja auch ein Individuum sein. Wir
würden dann eher das sein, was wir heute noch als abnorm ansehen: Autisten
! Nur ein Beispiel: Kriminelle sind geschützt, ja immunisiert durch unser
Individualrecht, und ihre verbrecherischen Akte bestehen somit also auch darin,
dieses Individualrecht zu mißbrauchen. Verbrecher und deren Anwälte
bedienen sich dabei einer individualistischen Viktimologie, z.B. mit dem Argument:
Das war ich nicht, das war mein Gehirn .... Ich bin unschuldig, meine
Hirnlappen sind schuldig, weil nicht normal .... Das waren meine Nerven .... Das
waren meine Eltern mit ihrer Erziehung ... u.s.w.; d.h. unserer Justiz kann
wegen der von ihr selbst begründeten individualistisch-viktimologischen Gesetze
die Kriminellen kaum mehr als Täter verurteilen, sondern immer mehr
nur als Opfer verstehen, und neigt darum immer mehr dazu, die von Kriminellen
getöteten, verletzten und mißbrauchten Opfer als nicht-existent oder
sogar als Täter anzusehen. Man glaubt es kaum! Das Soll kann darum
nur sein, daß das Individualrecht in ein Dividualrecht, das u.a. auch die
Viktimologie reduziert, umgewandelt werden muß. Doch in unserem modernen
abendländischen Recht herrschen aber eben nur noch die Rechte des Individuums
als ein Soll. Bürgerliche Rechte als moderne Rechte, zivilisierte
Rechte, sollen Rechte des Individuums sein - und alle internationalen Rechtsformulierungen
beginnen mit one (entweder every one oder no one
- das one soll also das Subjekt des Rechts sein, und das ist anthropologisch
falsch!), mit dem Einen als Einzelnen, als Selbst, als Individuum - und, z.B.
mit Hilfe euphemistischer Begriffe, den Individualismus und den Solipsismus als
sittlich gut erscheinen lassen, können aber nicht die Frage beantworten,
was eigentlich so unteilbar, so individuell, so atomar an diesen Einzelnen sei,
denn seit Planck (),
Hahn ()
und Heisenberg ()
wissen wir: Ein Atom ist nicht unteilbar (griech. átomos). Ein Atom
ist teilbar, ein Individuum ist teilbar! Ein Individuum ist kein Individuum, weil
nicht individuell (unteilbar) sondern ein Dividuum, weil dividuell (teilbar).
Teilbarkeit und Teilhaberschaft - darum geht es. Das Selbst muß also als
Teilhaber definiert werden. Individuen gibt es nicht, es gibt nur Beziehungen.
Humanitarismus
ist diejenige Gesinnung, die die zur ethischen Verpflichtung gemachte unterschiedslose
Menschenliebe will, sich dabei auf den Humanismus zwar beruft, aber völlig
verdrängt hat, was und wie der Mensch ist, und also in Wirklichkeit einen
Pseudo-Humanismus pflegt. Der Humanitarist zwingt jeden Menschen, also auch die
von ihm als Antihumanitaristen klassifizierten, zum Humanitarismus, weil der totalitäre
Liberalismus, dessen Zivilreligion der Humanitarismus ist, es so diktiert. Der
Humanitarist merkt nicht oder will nicht merken, daß er sich so selbst als
Antihumanist zu erkennen gibt; denn auch der Liberalist, der ja sein Zivilpapst
und somit auch Chefideologe ist, merkt nicht oder will nicht merken, daß
er, wenn er jeden Menschen, also auch die von ihm als Antiliberalisten klassifizierten,
zum Liberalismus zwingt, sich so selbst als Antiliberaler zu erkennen gibt. Mit
diesem Widerspruch sind Sichwidersprechende auch deswegen so erfolgreich, weil
der Widerspruch so uralt ist. Der Wiederholungszwang setzt sich durch. Das bedeutet
z.B., daß der aufgeklärte, säkularisierte Abendländer ebenso
anfällig für das Problem der dominanten humanitaristischen Zivilreligion
ist, wie es sein Vorfahre für das der dominanten christlichen Religion war.
Humanitarismus und Kosmopolitismus haben viele Gemeinsamkeiten: beide berufen
sich auf tradierte Formen, pflegen aber nur Pseudo-Formen. Dazu kommt auch noch,
daß sie sich dabei derart unterstützen, daß der Humanitarismus
den Pseudo-Kosmopolitismus benutzt, um seine eigene Wirksamkeit als Pseudo-Humanitarismus
noch besser kaschieren und verleugnen zu können, und der Kosmopolitismus
den Pseudo-Humanitarismus benutzt, um seine eigene Wirksamkeit als Pseudo-Kosmopolitismus
noch besser kaschieren und verleugnen zu können. Der Humanitarismus
ist ein Weltreichsethos. .... Solange es allerdings keine Weltgesellschaft in
einem Weltstaat gibt, ist die Alleinherrschaft dieses Ethos auch eine Gefahr.
(Günter Schulte, Moralphilosophie, 2000 ).
Kosmopolitismus ist die weltbürgerliche Gesinnung,
die nur eine menschliche Weltgemeinschaft will. Der Kosmopolitismus,
kann man sagen, ist der Provinzialismus der Verwöhnten. Man hat die
weltbürgerliche Gesinnung auch als »Parochialismus auf Reisen«
bezeichnet. Sie gibt dem kapitalistischen Weltinnenraum sein Flair von Offenheit
für alles, was gegen Geld zu haben ist. (Peter Sloterdijk, Im
Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 306-307).
Daß die Herrschaft des Volkes nicht in den Kosmopolitismus,
sondern in den Provinzialismus führt, hat Samuel Huntington als das
demokratische Paradoxon bezeichnet. (Norbert Bolz, Das konsumistische
Manifest, 2002, S. 30).
Demokratie ist inhärent ein provinzialisierender, kein kosmopolitischer
Vorgang. (Samuel Huntington, Kampf der Kulturen, 1996, S. 141).
Kosmopolitismus und Humanitarismus haben viele Gemeinsamkeiten: beide berufen
sich auf tradierte Formen, pflegen aber nur Pseudo-Formen. Dazu kommt auch
noch, daß sie sich dabei derart unterstützen, daß der Kosmopolitismus
den Pseudo-Humanitarismus benutzt, um seine eigene Wirksamkeit als Pseudo-Kosmopolitismus
noch besser kaschieren und verleugnen zu können, und der Humanitarismus
den Pseudo-Kosmopolitismus benutzt, um seine eigene Wirksamkeit als Pseudo-Humanitarismus
noch besser kaschieren und verleugnen zu können. Hinter dem
Kosmopolitismus und dem ihm übergeordneten Liberalismus lauert der
Nihilismus bzw. die Entwertung der Werte. Der Kosmopolitismus könnte
durch folgenden Syllogismus wiedergegeben werden. Die Prämisse ist:
alle Kulturen sind gleichermaßen wahr, keine ist es mehr als die andere.
Daraus folgt, daß der totale Mensch die Summe der früher aufgespaltenen
Kulturen sein muß. Schlußfolgerung: alle Kulturen sind eine
einzige Kultur, folglich ist keine Kultur an sich beachtlicher als eine
andere, denn sie sind alle nur Probestücke der Weltzivilisation. Das
Resultat ist das Gegenteil dessen, was die Prämissen aussagten ....
Der Kult der Differenz mündet in quietistischer Gleichgültigkeit:
wenn alles gleichviel wert ist, zerstören und widerlegen sich die Weltanschauungen
gegenseitig .... Wir sind alle gleich, weil ihr mir alle gleichgültig
seid. (Robert Hepp, Multa non multum: Kulturkritische Anmerkungen
zur multikulturellen Gesellschaft, 1997, S. 10 ).
Vgl. dazu auch: Universalkultur-Wahn,
Multi-Kulti-Wahn,
und Multi-Kulti-Terror.
Eudämonismus
(auch: Eudaimonismus) ist eine die Glückseligkeit als Motiv und Ziel alles
Strebens betrachtende Ethik. Er wird schnell zum Phänomen der Massen (Masseneudämonismus)
und also auch des Sozialen (Sozialeudämonismus), d.h. er erstrebt sehr rasch
mit Notwendigkeit das größtmögliche Glück der größtmöglichen
Zahl, wie Bentham ()
das nannte. Nur im Zusammenhag mit diesem Streben seien alle Tugenden des Einzelnen
sinnvoll. Auch der Staat, alle seine Einrichtungen, Maßnahmen und Gesetze
seien Mittel dieses Zweckes. Der Eudämonismus wird also - ebenfalls sehr
rasch - zum sozialen Utilitarismus. Bentham, der wohl einflußreichste Vertreter
des Utilitarismus, bestimmte Moral wie Gesetzgebung als die Kunst, die menschlichen
Handlungen so zu regeln, daß sie die möglichst größte Summe
von Glück (the greatest possible quantity of happiness) hervorbringen.
Das höchste Ziel menschlichen Handelns sei das größtmögliche
Glück der größtmöglichen Zahl. Bentham führte
auch den Begriff international in die Literatur ein. - Der Utilitarismus
ist ein Nützlichkeitsdenken, in der Ethik diejenige Richtung, die den Zweck
des menschlichen Handelns in dem Nutzen, der Wohlfahrt - sei es des Einzelnen,
sei es der Gesamtheit - erkennt; auch den Ursprung des Sittlichen erklärt
der Utilitarismus größtenteils mit der Nützlichkeit. Der Begründer
des Utilitarismus als eines pseudoethischen, auf die Gleichsetzung von gut und
nützlich beruhenden Systems ist Bentham, laut dem das größtmögliche
Glück der größtmöglichen Zahl erstrebt werden muß
(muß!). Also tatsächlich: mit Notwendigkeit! Wenn es auch stimmt, daß
wir (wer genau?), indem wir (wer genau?) das Wohl der Gemeinschaft (welcher genau?)
fördern, auch uns (wen genau?) fördern; doch es gibt trotzdem auch hierbei
Probleme, die unter Umständen sogar sehr rasch wachsen können. Und je
moderner eine Gesellschaft, desto mehr verwechselt sie das größtmögliche
Glück der größtmöglichen Zahl mit Demokratie. Ein fataler
Fehler!Solipsismus
ist ein theoretischer Egoismus bzw. ein Egoismus im übertriebenen, ungesunden
Sinne, eine philosophische Meinung, die das subjektive Ich mit seinem Bewußtsein
für das einzige Seiende hält - und das, obwohl noch nicht einmal geklärt
ist, ob das Bewußtsein nur zum Ich oder mehr zwischen Ich und Nicht-Ich
gehört, d.h. ein Dazwischen ist, denn laut Nietzsche ist das
Bewußtsein ... die Sphäre des Dazwischen (),
und laut Schopenhauer gehören Vertreter des radikalen Solipsismus ins Tollhaus.
Doch gibt es auch einen gemäßigten Solipsismus, der ein überindividuelles
Ich überhaupt als Träger der Bewußtseinsinhalte annimmt, und einen
methodischen Solipsismus, der wie bei Descartes ()
u.a. mit dem Solipsismus beginnt, um von da aus zur außer dem Ich bestehenden
Wirklichkeit vorzustoßen. Als Subjektivismus bezeichnet man auch die durch
Descartes eingeleitete Wendung zum Subjekt, d.h. die Lehre, daß
das Bewußtsein das primär Gegebene sei, alles andere aber Inhalt, Form
oder Schöpfung des Bewußtseins. Den Höhepunkt dieses Subjektivismus
stellt der Idealismus Berkeleys ()
dar. Berkeley lehrte, daß eine vom Wahrnehmen und Denken unabhängige
Außenwelt nicht existiere. Das Sein der Dinge bestehe nur in ihrem Wahrgenommenwerden
(esse = percipi), und real existiere überhaupt nichts außer
der Substanz des Geistes, der Seele und des Ich. Die (durch den göttlichen
Geist uns eingeprägten) Vorstellungen seien für uns die Wirklichkeit,
soweit es sich nicht um Phantasien, Träume u.s.w. handele. Als gemäßigter
Subjektivismus dieser Art kann der Kantianismus ()
betrachtet werden (als gemäßigter aber nur!). Auch manche Spielarten
des Positivismus neigen zu diesem Subjektivismus (manche aber nur!). Im eigentlichen
Sinne ist Subjektivismus die Lehre von der durchgängigen Subjektivität
der intellektuellen Wahrheit, auch der sittlichen (moralischen und ethischen)
Werte, die Leugnung absoluter Geltungen (vgl. Homo-mensura-Satz - Mensch-Maß-Satz
-, d.h. Satz des Protagoras []:
Der Mensch, und zwar jeder einzelne, ist das Maß aller Dinge, der seienden,
daß sie sind oder nicht sind und wie sie sind). Im Extrem führt dieser
Subjektivismus zum Solipsismus, ethisch zum Egoismus, und - wiederum im Extrem
- führen diese beiden ins Irrenhaus. |