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| Der Begriff Neu-/Nachgeschichte bedeutet entweder neuartige historiographische Formen oder aber nachartige (postartige) und darum nicht-historiographische Formen, die den vor-/urgeschichtlichen Formen wieder ziemlich genau entsprechen. Die neu-/nachgeschichtlichen Formen bedeuten also - falls man sie so nennen darf - historiographische Formen in vor-/urkulturellen und zugleich hochzivilisierten Phasen einer Kultur. Die vor-/urkulturellen Zustände bedeuten keine Ausnahme, sondern das Gegenteil: eine Regel. Sie sind so sicher, wie für jedes Leben der Tod sicher ist. Neugeschichte ist Neuanfang, Nachgeschichte die Geschichte nach der Geschichte bzw. die Zeit nach (dem Ende) der Geschichte und also für Geschichtsmenschen bisher eine Wunschgeschichte bzw. Wunschzeit geblieben: das Paradies, die klassenlose Gesellschaft, die rassenlose Gesellschaft, die Universalkultur als Monokultur; in Wahrheit bezieht sich die Nachgeschichte nämlich mehr auf so etwas wie das sogenannte Fellachentum, das hochzivilisiert und dennoch vor-/urkulturell im Weltfrieden dahinvegetiert, zum passiven Krieg gezwungen, weil für den aktiven Krieg zu schwach, und gerade deshalb immer wieder Opfer grausamster Kriege wird. Neu-/Nachgeschichte bezieht sich auf die greisenhaft historiographierende Kultur (i.S.v. Neu-/Nachkultur), auf das winterliche Quartal der historiographierenden Kulturen. Darum folgende neu-/nachgeschichtliche Beispiele: | |||
Beispiel (Kultur) | Stufe der Historiographie | Text zur Kulturgeschichte | ||
Mesopotamien Antike Abendland | Neu-/Nachkultur
(ca. 2070 v.C. bis ) Neu-/Nachkultur (ca. 80 n.C. bis ) Neu-/Nachkultur (ca. 2230 bis ?) | |||
Geschichtsstufe | Historiographische Werkzeuge | Hauptmotive | ||
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(1)
Bildkunst (1) + (2) Schrift (1) + (2) + (3) Hilfsmittel (1) + (2) + (3) + (4) Kritikmittel (1) + (2) + (3) + (4) + (5) Bildkunst |
(1) Religion, Gedenkbild (1) + (2) Ökonomie, Besitz (1) + (2) + (3) Wissenstechnik (1) + (2) + (3) + (4) Markt (1) + (2) + (3) + (4) + (5) Religion | ||
Zu früh gefreut? Oder: Wann kommt das Ende der Geschichte?Worum es geht:
Selten hat ein Zeitschriftenaufsatz so großes Aufsehen erregt wie derjenige von Francis Fukuyama, der im Sommer 1989 in der Zeitschrift »The National Interest« erschien und noch vor Ablauf des Jahres ins Deutsche und andere Sprachen übersetzt wurde. Dieses Aufsehen war eigentlich nicht recht verständlich, denn von der bevorstehenden »Nachgeschichte« war zumal in europäischen Büchern und Zeitungen oft die Rede gewesen, und der Begriff schien geradezu ein fester Bestandteil der »Postmoderne« zu sein. .... Der Autor begründete seine Auffasung durch einen Rückgriff auf Hegel und den Hegelianer Alexandre Kojève. Mit starker Betonung verkündete Fukuyama den »Triumph des Westens, des westlichen Denkens«, der vor allem in der völligen Erschöpfung aller Alternativen zum westlichen Liberalismus bestehe - das 20. Jahrhundert kehre an seinem Ende zu den Überzeugungen seiner Anfänge zurück: nicht eine Konvergenz von Kapitalismus und Sozialismus sei das letzte Wort des Zeitalters, sondern »der klare Triumph des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus.« (Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte?, in: Europäische Rundschau, 1989, S. 3-25, hier: S. 3f.). Sogar in der Sowjetunion und in derVolksrepublik China setze sich die konsum-orientierte westliche Kultur« mehr und mehr durch, und so gelangte Fukuyama gleich zu Anfang seines Aufsatzes zu einer weitreichenden Schlußfolgerung: »Vielleicht sind wir nicht Zeugen der Beendigung des Kalten Krieges oder des Abschlusses einer bestimmten Phase der Nachkriegsgeschichte, sondern des Endes der Geschichte schlechthin, das heißt, des Endes der ideologischen Entwicklung der Menschheit sowie der allgemeinen Einführung der westlichen liberalen Demokratie als finaler Regierungsform.« (Ebd., 1989, S. 6). Offenbar war man auch im Sommer 1989 von der Macht und Dauerhaftigkeit der Sowjetunion trotz aller Nachrichten über unerwartete Wirkungen von »glasnostj« und »perestroika« noch sehr überzeugt und den Wechselfällen des Kalten Krieges so nahe, daß man diese zuversichtliche Siegesmeldung eines Autors, der als der stellvertretende Leiter des Planungsstabes des us-amerikanischen Außenministeriums vorgestellt wurde, mit einer nur von leisen Zweifeln eingeschränkten Hoffnung zur Kenntnis nahm, während die These vom baldigen Ende der Geschichte im allgemeinen nicht akzeptiert wurde. Fremdartig und herausfordernd war ja auch die Bezugnahme auf Kojève, für den schon Napoleon das Zeitalter des auf den Ideen der französischen Revolution beruhenden homogenen Universalstaates heraufgeführt hatte, ein Zeitalter, das nach Kojève seine Verwirklichung in den westeuropäischen Nachkriegsstaaten fand, welche Fukuyama seinerseits als »jene festen wohlhabenden, selbstzufriedenen, nur sich selber sehenden, willensschwachen Staaten« charakterisiert, »deren größtes Vorhaben nichts Heroischeres war als die Schaffung des Gemeinsamen Marktes.« (Ebd., 1989, S. 6). Nicht Despotismus ist also nach Kojève und Fukuyama das Kennzeichende des homogenen Universalstaates, sondern gerade das Aufgehen aller Individuen in dem Bemühen um ökonomisches Wohlergehen, das für Aufschwünge, Ideen und Heroismus keinen Raum läßt. Daher ist ein resignativer Ton nicht zu überhören, wenn Fukuyama schreibt: »Wir können den Inhalt des homgenen Universalstaats definieren als eine liberale Demokratie im politischen Bereich, verbunden mit der mühelosen Beschaffung von Videorekordern und Stereoempfängern im wirtschaftlichen Bereich.« (Ebd., 1989, S. 11). Eben dieser Zustand ist aber in großen Teilen der Welt offensichtlich nicht gegeben. Fukuyama schränkt daher seine These vom »Ende der Geschichte« ein: In der »Dritten Welt« geht die Geschichte weiter und spielen sich noch für unabsehbare Zeit Kriege sowie Bürgerkriege ab, getragen von der Opferbereitschaft oder dem Fanatismus zahlreicher lndividuen, nur in der »westlichen Welt« d. h. in Westeuropa und in Nordamerika, ist die Geschichte an ihr Ende gekommen. Der Rest der Welt ist lediglich nicht imstande, ideologische Ansprüche zu erheben und höhere Formen der menschlichen Gesellschaft repräsentieren zu wollen .... So werden Terrorismus und nationale Befreiungskriege nur noch in den Randbezirken der Welt einen Platz haben. Aber das Ende des Aufsatzes ist auf einen ganz pessimistischen Ton gestimmt, der erkennen läßt, daß Fukuyama der Gesellschaftsordnung, deren definitiven Sieg er verkündet, keineswegs in kritikloser Bewunderung gegenübersteht. »Das Ende der Geschichte wird eine sehr traurige Zeit sein. Der Kampf um Anerkennung, die Bereitschaft, sein Leben für ein völlig abstraktes Ziel einzusetzen, der weltweite ideologische Kampf, der Wagemut, Tapferkeit und Phantasie hervorbrachte, und der ldealismus werden ersetzt durch wirtschaftliche Kalkulationen, endloses Lösen technischer und Umweltprobleme und die Befriedigung ausgefallener Konsumentenwünsche. In der posthistorischen Periode wird es weder Kunst noch Philosophie geben, sondern nur mehr bloß die ständige Pflege des Museums der Menschheitsgeschichte.« (Ebd., 1989, S. 25). Er habe äußerst ambivalente Empfindungen, »in bezug auf die Zivilisation, die ... in Europa geschaffen wurde mitsamt ihren nordatlantischen und asiatischen Ablegern«, und er schließt mit der eigenartigen Vermutung, daß vielleicht gerade die Aussicht auf kommende Jahrhunderte der Langeweile die Geschichte wieder in Gang setzen werde. Fukuyama schreibt also ... Europa ... eine sehr große Bedeutung zu und zählt die USA zu seinen bloßen »Ablegern«. Aber aus einzelnen Nebenbemerkungen, die er in seinem späteren Buch weiter ausführte, geht hervor, daß für ihn die japanisch-ostasiatische Kultur mehr Zukunft hat als die europäisch-amerikanische, weil sie Tugenden aufrechterhalte, die in Nordamerika und Europa vergessen seien oder sogar verächtlich gemacht würden: Fleiß, Disziplin, Respekt vor dem Alter. (Ernst Nolte, Der kausale Nexus - Über Revisionen und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft, 2002, S. 257-259 ). Fukuyama hat - entweder bewußt oder unbewußt - im Grunde die auf Kulturmorpholgie und die daraus über Analogien gewonnenen Vorhersagen Spenglers als richtig bestätigt.Aus all dem läßt sich ein ganz anderes Szenario der Weltentwicklung ableiten, wenn man einige Akzente anders setzt. Europa und die USA erscheinen dann nicht mehr als die siegreiche, aber dekadente Spitze der Weltentwicklung, sondern als ein zwar hochentwickelter, aber bedrängter und in einer Verteidigungsposition befindlicher Teil der Welt; denn andere Teile der Welt formieren sich auf der Basis ihrer uralten Traditionen neu und treten in ein Konkurrenzverhältnis zum »Westen«, insbesondere der Islam entwickelt einen Fundamentalismus, der die alte Idee Mohammeds vom Gegensatz zwischen dem »Kriegsgebiet« und dem islamischen Friedensgebiet wieder aufgreift, und die Welt stellt sich also als ein Konfliktgebiet verschiedener »Kulturen« dar, die in neuzeitlichem Gewande alte historische Kämpfe wiederaufnehmen. Der westlichen Welt kommt zwar ein gewisser Vorrang zu, aber sie hat längst ihre temporäre Suprematie verloren und kann nur durch Mühe und Entschlossenheit die großen Gefahren überwinden, die sogar ihre bloße Selbstbehauptung keineswegs gesichert sein lassen. Ein solches Szenario schlösse natürlich einen Aufruf zur Kampfbereitschaft in sich, und man könnte behaupten, es wandle die Feindschaft zwischen Ideologien, welche die Ära des Kalten Krieges bestimmte, in eine Feindschaft zwischen Kulturen und altüberlieferten Lebensformen um, während Fukuyamas Zukunftsbild gerade den Verlust des Feindes als den neuartigsten, aber durchaus nicht rundum positiven Tatbestand erscheinen lasse. (Ernst Nolte, Der kausale Nexus - Über Revisionen und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft, 2002, S. 259-260 ).Vier Jahre nach dem Erscheinen von Fukuyamas Artikel hat in der Tat ein anderer Zeitschriftenaufsatz dieses entgegengesetzte Geschichtsbild entwickelt und dadurch mindestens ebensoviel Aufsehen erregt, mit dem Unterschied freilich, daß dem Autor nicht bloß viel Kritik, sondern auch ausgeprägte Feindseligkeit begegnete. Es handelt sich um den us-amerikanischen Politikwissenschaftler Samuel Huntington und seinen Aufsatz »The Clash of Civilizations«, der im Sommer 1993 in den »Foreign Affairs« erschien und ebenfalls später zu einem Buch ausgearbeitet wurde. Wie Oswald Spengler und Arnold Toynbee unterscheidet Huntington eine Reihe von »Kulturen«, aber er läßt deren Entwicklung nicht wie Spengler auf einen jeweils gleichartigen Zustand, nämlich die erstarrte und seelenlose »Zivilisation« hinauslaufen, und er sieht sie nicht wie Toynbee auf dem Wege zu einer gemeinsamen und positiven »Weltzivilisation«, sondern er hebt die Differenzen und die Konflikte zwischen ihnen aufs nachdrücklichste hervor. Diese Kulturen sind: die westliche, d.h. westeuropäisch-nordamerikanische, die christlich-orthodoxe Rußlands und einiger Teile Osteuropas, die vom Konfuzianismus bestimmte »sinische«, die davon verschiedene japanische, die hinduistische, die islamische, die afrikanische und die lateinamerikanische. Einen Vorrang der westeuropäisch-nordamerikanischen Kultur sieht er darin, daß sie es war, die erstmals die »Modernisierung« in die Welt brachte, welcher sich heute keine der anderen Kulturen entziehen kann. Aber diese Modernisierung zerstört nicht etwa die Eigenart der anderen Kulturen, sondern bringt neuartige, zur Selbstbehauptung, ja zum Ausgreifen entschlossene Formen dieser Kulturen hervor, die man Fundamentalismen nennt. Als einen anschaulichen Beweis für den Vorrang der Kulturkonflikte führt Huntington das ehemalige Jugoslawien an, wo ... die Grenzlinien zwischen dem westlich-christlichen Abendland, der byzantinisch-orthodoxen Welt und dem Islam ihre geschichtsbestimmende Kraft an den Tag legten. Seine Aufmerksamkeit wendet Huntington vornehmlich dem Islam zu, der in seinen Augen eine besonders aggressive Form des Fundamentalismus entwickelt hat und dem gegenüber die westliche Kultur in einer Verteidigungsposition ist, nicht zuletzt deshalb, weil die islamischen Völker des Maghreb und des Nahen Ostens »junge Völker« sind, die den alternden Völkern des Westens an demographischer Vitalität weit überlegen sind. Für die Zukunft schließt Huntington daher Kriege zwischen den Kulturen nicht aus, anscheinend nicht so sehr Kriege zwischen dem Islam und dem Westen, die ja in der Gegenwart schon seit Jahrzehnten stellvertretend ... geführt wurden und werden, sondern einen Krieg zwischen China und den USA. Huntington teilt also nicht die Meinung Fukuyamas, Kriege seien nur noch in der Dritten Welt möglich und »große Kriege« seien ausgeschlossen, er sieht vielmehr ein langes und durchaus »geschichtliches« Zeitalter der Kulturkonflikte heraufziehen, welches das Zeitalter der nationalen und der ideologischen Konflikte, das 20. Jahrhundert, ablöst und doch in gewisser Weise fortsetzt. (Ernst Nolte, Der kausale Nexus - Über Revisionen und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft, 2002, S. 260-261 ).Die Gedankengänge dieser beiden Denker zeichnen große Linien, aus denen sich ein unterschiedliches, ja gegensätzliches Selbstverständnis gerade der Europäer ergibt, die dieses Selbstverständnis nun nicht mehr, wie während der langen Jahrzehnte des »kurzen 20. Jahrhunderts« zwischen 1914 bzw. 1917 und 1989 bzw. 1991 aus dem Gegensatz von Liberalen System und Totalitarismus, von Kommunismus und Faschismus, von Sozialismus und Kapitalismus herleiten können. (Ernst Nolte, Der kausale Nexus - Über Revisionen und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft, 2002, S. 261-262 ).Wer »Interessen« als individuelle oder kollektive Neigungen versteht, wird niemals eine konsensuelle, nicht-strategische und eben dadurch ethische Übereinstimmung auch nur zwischen einer größeren Zahl von Individuen, geschweige denn zwischen »allen« erzeugen. Die einzige Möglichkeit wäre dann gegeben, wenn alle diese Individuen so sehr gleich wären, daß es zwischen ihnen keine Differenzen der Interessen, Neigungen sowie Überzeugungen und damit keine Herausbildung alter oder neuer Erscheinungsformen von Macht und Autorität gäbe. So muß vor dem Auge derjenigen, welche die Konzeption der Diskursethik zu Ende zu denken versuchen, das Schreckbild einer klonierten Menschheit auftauchen. .... Diskursethiker ... übersehen, daß nicht nur die bisherige Geschichte voller Verkehrungen und Paradoxien war, sondern daß aller Vermutung nach auch die mögliche Nachgeschichte, zu deren Vorkämpfern sie sich machen, davon nicht frei sein wird. (Ernst Nolte, Der kausale Nexus - Über Revisionen und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft, 2002, S. 315-316 ).Es wäre keine größere Ungerechtigkeit, kein schlimmeres Unglück vorstellbar, als ... wenn überall die Weltzivilisation der »Nachgeschichte« im Hochgefühl ihres Triumphes alles fortstieße, was sie für »antimodern« oder »archaisch« erklärt. (Ernst Nolte, Der kausale Nexus - Über Revisionen und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft, 2002, S. 344 ).Die Meinung von Johannes F. Lehmann: Der Mensch, so könnte man Fukuyama verstehen, ist das Tier, das vergleicht. Das, was er ist und kann, vergleicht er mit der Anerkennung, die er dafür bekommt, und sich selbst vergleicht er mit anderen, die er übertreffen will. Diese platonisch-hegelianische Begriffskonstruktion Fukuyamas legt ... auch Sloterdijk (in: Zorn und Zeit, 2006), in allerdings modifizierter Form, seiner gesamten Theorie einer Psychopolitik als eine Grundenergie unter, die den Menschen von »seinem Stolz, seinem Mut, seiner Beherztheit, seinem Geltungsdrang, seinem Verlangen nach Gerechtigkeit, seinem Gefühl für Würde und Ehre, seiner Indignation und seinen kämpferisch-rächerischen Energien« (S. 27f. ) her denkt. Sloterdijks Buch ist im Kern eine (als solche auch deklarierte) mitunter anspielungsreiche Amplifikation jener »gedankenreichen Abschnitte des ungelesenen Bestsellers Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?« (S. 41 ) über den Thymos (vgl. ebd., S. 203-265). Während allerdings Fukuyama den »thymotischen Teil der Seele« (ebd., S. 252) vor allem vom Pol des Wertvergleichs, des Anerkennungsstrebens und seiner Übersteigerungen (»megalothymia«) her denkt, das heißt als ein Verlangen, das als Katalysator in politischen Konflikten immer mitwirksam ist, so stellt Sloterdijk demgegenüber den Pol des Protests und des Widerstands, des Zorns und der Rache ins Zentrum, das heißt einen Affekt, den er als verwertbaren und speicherbaren »Rohstoff« des Politischen zur Geltung bringen will. Sloterdijk substantiviert den »thymotischen Seelenteil« Fukuyamas zum »Thymotischen«. .... Und Sloterdijk greift zur Beschreibung des »Thymotischen« selbst auf die biologische Metaphorik des Organismus und des von seiner Umwelt entkoppelten »Warmblüters« zurück, der sein mentales »Gegenstück in den thymotischen Regungen der Einzelnen wie der Gruppen« (S. 38 ) habe .... Dennoch und bei aller Kritik im einzelnen, die Wiederentdeckung des »Thymotischen« neben dem Erotischen (bzw. Ökonomischen) ist der wohl wichtigste Ertrag des Buches von Sloterdijk, da er eine echte Alternative zum Begriff der Agression darstellt und ermöglicht, die (zumeist völlig unverstandene) Modernität von Ehr- und Wutphänomenen jenseits von Narzißmustheorien (und ihren Zwängen ) und auch jenseits von Destruktionstrieben zu denken. Sloterdijk und insbesondere Fukuyama ist vorbehaltlos darin zuzustimmen, daß politische Prozesse nicht zureichend von einer Anthropologie des Verlangens verstanden werden können. Gerade die jüngste Zeit bietet eine erschlagene Fülle an Beispielen für die Rolle, die Ehre, Anerkennung und Geringschätzung in politischen Konflikten und als Faktor ihrer Eskalation spielen. . .... »Die Zornmassen durchlaufen die Metamorphose von der blinden Verausgabung im Hier und Jetzt bis zum hellsichtig geplanten weltgeschichtlichen Projekt einer Revolution zugunsten der Erniedrigten und Beleidigten.« (S. 96 ). Und das setzt voraus, daß der Zornige seinen Zorn aufschiebt, daß er eintritt in die, wie Sloterdijk in Anlehnung an Heidegger formuliert, »existenzielle Zeit« (S. 97 ), in der das Dasein hingespannt ist auf den Tag des Zorns. In diesem Sinne ist es der Zorn, der als Projektform zur Rache und zur »Bankform der Revolution« wird, der allererst das erzeuge, was wir Geschichte nennen, und was nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zu Ende gegangen sei. .... Die theologische Konstellation von Zorn und Ewigkeit, die durch die Erfindung des Purgatoriums eine Verzeitlichung erfuhr, wird, so Sloterdijk, in der Moderne als Konstellation von Zorn und Zeit zum Inbegriff der Geschichte. Dies geschieht, indem Rache und Immanenz fusionieren: An die Stelle des göttlichen dies irae tritt als das Ende der Geschichte der Zahltag des von der Weltbank des Kommunismus gesammelten Zorns. Diese Geschichte von der »thymotischen Revolution des dritten Kapitels (»Die thymotische Revolution« ) bildet ... den Schwer- und Zielpunkt, gewissermaßen die Achse der Argumentation. Sloterdijks Hauptkapitel folgt damit der von Historikern ... immer wieder gestellten Forderung, die Emotionen bei der politischen Geschichtsschreibung einzubeziehen. Nach dem Tod Gottes ist die Position der Zornsammelstelle als eines Exekutors des Weltgerichts vakant. In diese, so Sloterdijk, rückt nun der Kommunismus ein, der einerseits als Weltbank den Zorn der Unterdrückten sammelt und andererseits auf den Tag der Abrechnung, der Auszahlung, der »thymotischen Rendite« (S. 222 ) und das »letzte Gefecht« (S. 198 ) hinarbeitet. Sloterdijk unterscheidet dabei drei Stile der »Zornbewirtschaftung«, den anarchistischen, den sozialdemokratischen und den kommunistischen und konzediert allein letzterem die Fähigkeit, »mit einem effektiven Weltbankanspruch aufzutreten« (S. 226 ). .... Während der Kommunismus so als die eigentliche Zornsammelstelle, als Weltbank der Rache erscheint, die in der Lage sei, den Zorn der Massen aufzufangen und politisch zu instrumentalisieren, deutet Sloterdijk im Rahmen seiner programmatischen Holocaust-Dezentrierung die im Vergleich zur Kulakenvernichtung quantitativ (viel!) geringere Rassenvernichtung der Nationalsozialisten - ganz im Sinne der Thesen Ernst Noltes () - als Reaktion und (weitgehend) als Nachahmung der, so Sloterdijk, mit Blick auf die Dekrete zum »roten Terror«, initialen kommunistischen Herausforderung. (Johannes F. Lehmann ).Noltes Buch Historische Existenz hat viele Rezensionen hervorgerufen, u.a. auch die von Peter D. Krause (in: Etappe, Nr. 16, Dezember 2001 / Januar 2002)- hier kommentiert von Peter Töpfer: Die Spannung der Rezension ... von Peter D. Krause ... liegt darin, daß Krause die Noltesche »Nachgeschichte« als den »Weltstaat« und die »Weltzivilisation« interpretieren zu müssen scheint, gleichzeitig aber offen läßt, ob für Nolte nicht doch ein anderer Ausgang, ein anderes Ende der Geschichte, eine andere Art »Nachgeschichte« in Betracht kommt, nämlich die Rückkehr zur »Vorgeschichte«, deren eine Etappe etwa ein Räte-Reich im Huchschen Sinne sein könnte. Die »Möglichkeit eines geschichtslos-paradiesischen Endzustandes«, die »seit alters ein spekulatives Faszinosum« sei, läßt sich nämlich auch topisch denken, und nicht nur utopisch-globalistisch. . .... »Wird die Posthistorie die Wirklichkeit des uralten utopischen Traumes sein oder am Ende dessen Gegenteil?«, fragt Krause. Genau so gut kann sie aber auch eine Topisierung, Reloziierung, Dezentralisierung, anthropologische Rückorientierung, eine »wirkliche Erneuerung« und eine Rückkehr zum »Grundwillen des Volkes« (Ricarda Huch) sein bzw. eine »Balkanisierung und Rückverdummung«, wie es die Pogo-Anarchisten sagen, die in ihrem 100-Tage-Programm ein »Deutschland in den Grenzen des Heiligen Römischen Reiches von 1237« fordern. .... Nachgeschichte oder Ausstieg aus der Geschichte heißt nicht ... Aufgabe der eigenen Interessen, sondern im Gegenteil radikalisierte Wahrnehmung derselben. .... Wir als zivilisationsungläubige Zivilisationszwangsteilnehmer verlassen zugunsten einer Kommunikation mit den Zivilisierten und Gebildeten unser Hier & Jetzt und gehen als Paläo- und »Urkonservative« (Ernst Jünger ; vgl. auch: Karlheinz Weißmann, Anarchie von rechts, 1998, S. 39 ) in unserer Beschreibung von Anarchie sowohl zurück in die »Vorgeschichte« als auch als Erzprogressive nach vorn in eine Welt, die sich immer weiter aufklärt bzw. sich wieder- und rückaufklärt. Wir orientieren uns – geschichtlich ausgedrückt – an beiden Extremen .... Warum nicht die Geschichte einfach verlassen ...? Wir Anarchisten knüpfen direkt an die »Vorgeschichte« an, ohne von ihr überhaupt etwas zu wissen. Wir sind ungeschichtlich und lassen folglich auch irgendeine »Nachgeschichte« ausfallen. »So ist zu hoffen, daß das alte Mantra: Erkenne Dich selbst hier (im Wiederaufleben der Vorgeschichte) eine neue Werkstatt und Meisterschule finden wird.« (Ernst Jünger, An der Zeitmauer, in: Gesammelte Werke, S. 495 ). Wobei dem »Erkennen« unbedingt eine transkognitive Bedeutung beigemessen werden muß. Und Nolte weiß: »Eine extreme Form des Selbstbewußtseins (kann) gerade den Ausstieg aus der Geschichte implizieren.« (Ernst Nolte, Historische Existenz, 1998, S. 30 ). Wir sind diese extreme Form und betreiben diesen Ausstieg. Die Geschichte ist eine wirre und eklige Sekunde, ein kurzer sozialer Orkan in der ewigen Zeit, die so schnell und so gründlich wie möglich vergessen sein soll. Ein bißchen »Mut zur Übernahme einer nachgeschichtlichen Existenz« ()!, wie Nolte Oswald Spengler () wiedergibt, der Nolte zufolge »sehr mißverstanden« () worden sei. »Untergang bedeutete für Spengler eben keineswegs Niederlage oder Zusammenbruch, sondern den Übergang in die Nachgeschichte .…« (Ebd., 1998, S. 44 ). (Peter Töpfer, Reich und Anarchie, in: Etappe, Nr. 16, Dezember 2001 / Januar 2002; vgl. Nationalanarchismus).Wenn ich Noltes Historische Existenz richtig verstanden und dabei das für den Untertitel (Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?) so wichtige Fragezeichen im Gedächtnis behalten habe, dann sucht er mit Hilfe historischer Existenzialien eine Antwort auf die Frage, ob die Geschichte zu Ende sein kann oder nicht, genauer: ob die Geschichte im engeren Sinne (!!!) zu Ende sein kann oder nicht. Denn Nolte unterscheidet zwischen Geschichte im engeren Sinne und Geschichte im weiteren Sinne (d.h.: anthropologische Geschichte). Er kann gerade deshalb darüber philosophieren, ob die Geschichte im engeren Sinne zu Ende sein könnte oder nicht, weil die Geschichte im weiteren Sinne auch die Vorgeschichte und die Nachgeschichte umfaßt und darum zumindest im »anthropologischen« Sinne nicht zu Ende sein kann (vgl. ebd., S. 683 ). Die Frage nach dem Ende der Geschichte im engeren Sinne ist nicht eindeutig zu beantworten und wird auch m.E. von Nolte nicht eindeutig beantwortet, schon gar nicht die, ob bereits die Gegenwart Teil der Nachgeschichte sei. Laut Nolte sind zwar einige der historischen Existenzialien bis heute stark verändert worden, aber nicht einmal ein einziges von ihnen ist bis heute verschwunden. Diese Tatsache ist für Nolte ein Indiz dafür, daß die Nachgeschichte noch nicht begonnen hat (vgl. ebd., S. 682 )!Laut Nolte ist es zulässig, einen engeren Begriff der Geschichte von einem weitesten zu unterscheiden und ihm sowohl Vor- wie Nachgeschichte entgegenzustellen, so daß es sinnvoll ist, in dieser Bedeutung nach der historischen Existenz und deren Grundbestimmungen zu fragen. (Ernst Nolte, Historische Existenz, 1998, S. 683 ). Und im Umkreis der Jahrtausendwende, die ja noch bevorstand, als Nolte seine Historische Existenz veröffentlichte (1998), sei ein besonders günstiger Standort gegeben. Von hier aus lassen sich im Rückblick die großen Kämpfe des 20. Jahrhunderts besser und angemessener begreifen, wenn sie als die letzten Kämpfe der Geschichte in dem engeren Sinne verstanden werden, und zwar als Kämpfe um die Geschichte, die von den Protagonisten im Bewußtsein des Ungeheuerlichen des Umbruchs gegen oder für »die historische Existenz« geführt wurden, jedoch so, daß beide Seiten, jeweils mit ihrem Gegenteil behaftet, am Ende scheiterten. (Ebd., S. 683 ). Doch jetzt das ABER! Im Vorblick aber ist keinerlei Sicherheit zu gewinnen: Es mag sein, daß die Menschheit, in Verfolgung der kurzfristigen Interessen der immer zahlreicheren Individuen, am Ende nach Analogie von Naturvorgängen wie des Schicksals der Ziegen auf der Insel Fernando Póo () schließlich den Hungertod (besser den Erstickungstod) erleiden muß; es mag sein, daß sie ganz im Gegenteil in weniger als einem Jahrtausend buchstäblich ausstirbt, weil alle Individuen, nicht nur diejenigen des Okzidents, die »Selbstverwirklichung« der Erfüllung von Gattungsaufgaben vorzuziehen gelernt haben; es mag sein, daß die pragmatische Vernunft sich als stark genug erweist, einer begrenzten Anzahl von Individuen und kulturellen Identitäten ein freundschaftliches, wenngleich schwerlich konfliktfreies Neben- und Miteinander unter strikter Ausschließung aller Vernichtungsforderungen zu ermöglichen (); es mag sein, daß jene unterschiedslose Weltstadt aus puren Individuen Wirklichkeit wird, die in Gestalt einiger Angehöriger oder sogar als ganze eines Tages die Erde für die Dauer verläßt; ein Wissen von dieser Zukunft ist uns verwehrt. (Ebd., S. 683-684 ). Wie gesagt: Auch Nolte findet keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Ende der Geschichte im engeren Sinne, und die Geschichte im weiteren Sinne kann bekanntlich nicht zu Ende sein, denn: Der Mensch, so sagten wir, ist das zur Welt hin geöffnete, das transzendentale Wesen. Als solches kann und muß er Geschichte haben, und in dieser, der anthropologischen Geschichte, bleibt er, solange er existiert. (Ebd., S. 683 ). Fassen wir zusammen: Die Geschichte im weiteren Sinne kann nicht zu Ende sein, solange der Mensch existiert, und die Geschichte im engeren Sinne kann nicht zu Ende sein, solange alle bisherigen historischen Existenzialien existieren. Bis heute ist noch nicht einmal ein historisches Existenzial verschwunden. Schon allein deshalb kann auch die Geschichte im engeren Sinne noch nicht zu Ende sein!Bisher hat es noch kein Mensch vermocht, das Ende der Geschichte im engeren Sinne zu bestimmen. Für manche ist dieses Ende erst der Beginn, für andere liegt es bereits hinter uns. Vielleicht war ja die Geschichte im Sinne Hegels schon mit Hegel an ihr Ziel gekommen, nämlich im Sinne eines Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit (in den 1930er Jahren hatte z.B. Kojéve das Ende der Geschichte auf das Erscheinungsjahr von Hegels Phänomenologie des Geistes datiert: 1807 []). Für Oswald Spengler ist die Nachgeschichte, die er »Zivilisation« nennt und allerdings auf einzelne Kulturen begrenzt, mit negativem Akzent nicht minder ein Thema als mit positiver Betonung für Arnold Toynbee und Karl Jaspers. (Ernst Nolte, Historische Existenz, 1998, S. 597 ). In Spenglers Modell ist nicht vom Ende der Geschichte die Rede, sondern vom jeweiligen Ende der Geschichte der 8 Kulturen (). Laut Spengler endet die je spezifische Geschichte einer Kultur wegen zivilisatorischer Vergreisung - das heißt z.B. für die abendländische Kultur: Geschichtsloses Erstarren ... nach 2200. (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 70 ). Glaubt man Fukuyama, dann könnte die Geschichte im Sinne Hegels bereits 1989 geendet haben (). Peter Sloterdijk sieht in Fukuyamas Werk:Hegelsches Geschichtsbild und platonisch-hegelianische Begriffskonstruktionen, vor allem was eben das Thymotische angeht, sind also die Hauptmerkmale, an denen sich Fukuyama orientiert und aus denen er seine Thesen ableitet, ebenso Sloterdijk in seinem Werk Zorn und Zeit (Untertitel: Politisch-psychologischer Versuch; 2006), und beide, Sloterdijk und Fukuyama, sind auch von Nietzsche, Sloterdijk zusätzlich von Heidegger beeinflußt. Wie Nolte!Ob das Historiker auch so sehen? Obwohl: Viele unserer heutigen Historiker sind doch schon gar keine Historiker mehr, sondern nur noch Prediger - Prediger einer Neu-Religion, die ebenfalls bereits seit 1789 immer mehr dabei ist, sich durchzusetzen. Ob nun die seit 1789 unaufhörlich drohende Revolution oder nur der Kommunismus (der ja eine rein westliche Erfindung und laut Sloterdijk ein säkularisierter Katholizismus, ansonsten aber ganz sicher ein linker Totalitarismus als Antithese [] im Sinne Hegels ist) oder sogar die Geschichte im Sinne Hegels zu Ende gegangen ist oder nicht bzw. aufgehoben () im Sinne Hegels ist oder nicht, und ob heute Hegel selbst so voreilig wie manche heutige Zeitgenossen das Ende der Geschichte als Tatsache behaupten würde, darf ja auch bezweifelt werden. Vieles dabei hängt ja nur von der Definition von Geschichte ab.Einer der phantastischsten Texte der Philosophiegeschichte hat sich als der realistischste erwiesen: Also sprach Zarathustra. Schon die Vorrede inszeniert die »Posthistorie«, also die Zeit nach dem Ende der Geschichte und des Hegelschen Menschen. Nietzsche zeichnet dort den Letzten Menschen als Gegenteil des Übermenschen. »Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern? - so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. Wir haben das Glück erfunden - sagen die letzten Menschen und blinzeln.« (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 13). So steht der Letzte Mensch zwar für das Ende des Menschen, doch dessen Verschwinden in der Spur des toten Gottes hat für Nietzsche nichts Eschatologisches. »Posthistorie« ist als Zeit des Endes der Geschichte kein endgeschichtlicher Begriff. Gerade der Letzte Mensch wird am längsten leben. Seine Arbeit der Nivellierung zielt auf den Insektentypus, den die großen Ameisenbauten der modernen Städte fordern. Diese totale Uniformierung, die Abschleifung zum Sand der Menschheit, hat Nietzsche dem Christentum und der Demokratie zur Last gelegt. Und so sieht er die Menschen der drohenden Zukunft: Alle sehr gleich, sehr klein, sehr rund, sehr verträglich, sehr langweilig. Ein kleines, schwaches, dämmerndes Wohlgefühl über alle gleichmäßig verbreitet, ein verbessertes und auf die Spitze getriebenes Chinesentum.« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke , Band IX, S. 73). Warum betont Nietzsche, daß die Letzten Menschen das Glück nicht gefunden, sondern erfunden haben? Das soll besagen, daß es sich um die Narkose der kleinen Gifte und Rauschmittel handelt. Und diese Drogen betrügen den Menschen um seine letzten Kräfte, nämlich die Sehnsucht und die Verachtung. So charakterisiert Nietzsche den Grundvorgang der Moderne als geistige Versklavung durch die langsam fortschreitende Behaglichkeit des Wohlstands. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 53 ).Um 1900 verbreitete sich der Eindruck, daß die westliche Zivilisation in eine Endphase der Kristallisation eingetreten ist. Ein bloß noch biologisches Auf und Ab ersetzt die Geschichte, die Form erstarrt zur Formel und der Lebensstil versteinert zum Typus. So hat Oswald Spengler den Faust des II. Teils als Herold der traumlosen Erstarrung begrüßt und die Lehre von der Entropie als säkularisierte Götterdämmerung verstanden. Ist die kristalline Zivilisation erst einmal in ihrem Grundriß fertig, so gibt es keine Geschichte mehr, sondern nur noch das Kaleidoskop der »Posthistorie« - eine Welt fortwährender Veränderungen, in der nichts anders wird. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 53-54 ).Auch Alexandre Kojève, der geniale Hegelianer, dem die Nachkriegsintelligenz von Paris zu Füßen saß, hat als Fazit seines Hegelstudiums die »Posthistorie« verkündet: Geschichte im emphatischen Sinn ist zu Ende. Der große Philosoph Hegel hat gedacht, was zu denken war. Und der große Staatsmann Napoleon hat die revolutionären Energien zum Bestand der Welt universalisiert, mit dem nun zu rechnen ist. Von nun an entleert sich das geschichtliche Geschehen bis zum reinen Als-ob. Alles geschieht nur noch, als ob etwas geschehe. Die Fülle der Ereignisse gehorcht einem stabilen Pattern. Jetzt ist der Prestigekampf um Anerkennung gewonnen, die Knechte sind seit der französischen Revolution gleiche Bürger, von denen die Macht ausgeht. Wir entfalten nun die Paradoxie der Demokratie als einer Herrschaft ohne Herrscher und Beherrschte. Es gibt keinen Grund und Ansatzpunkt mehr für »Negativität«. Nun beginnt die »Posthistorie«; der nachgeschichtliche Mensch betritt die Weltbühne. Hören wir Kojève selbst: »Was verschwindet, ist der Mensch im eigentlichen Sinn. Das Ende der menschlichen Zeit oder der Geschichte bedeutet ja ganz einfach das Aufhören des Handelns im eigentlichen Sinn des Wortes. Das heißt praktisch: das Verschwinden der Kriege und blutigen Revolutionen. Und auch das Verschwinden der Philosophie; denn da der Mensch sich nicht mehr wesentlich selbst ändert, gibt es keinen Grund mehr, die Grundsätze zu verändern, die die Basis der Welterkenntnis und Selbsterkenntnis bilden. Aber alles übrige kann sich unbegrenzt erhalten: die Kunst, die Liebe, das Spiel.« (Alexandre Kojève, a.a.O., S. 286f.). So Alexandre Kojeve schon in den frühen 1950er Jahren. Er hat selbst radikale Konsequenzen aus dieser Diagnose gezogen und seine wissenschaftliche Karriere beendet. Denn wenn die Geschichte am Ende ist, endet auch die »große Politik« - und damit ist auch die Philosophie am Ende. Kojève wurde Beamter in der Europäischen Gemeinschaft. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 54 ).In der Grunddiagnose herrscht eine verblüffend große Einigkeit unter den Denkern. Der berühmte Buchtitel Francis Fukuyamas - Das Ende der Geschichte und der Letzte Mensch - faßt ja ganz einfach die Positionen Hegels und Nietzsches zusammen. Diese Welt hat dann Max Weber als »Gehäuse der Hörigkeit« definiert. »Verwaltete Welt« (Theodor W. Adorno), »technischer Staat« (Helmut Schelsky) und das »Gestell« (Martin Heidegger) sind nur verschiedene Namen für das Endprodukt eines spezifisch modernen Prozesses, den Arnold Gehlen auf den Begriff der »kulturellen Kristallisation« gebracht hat. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 54-55 ).Es gibt heute weder Herr und Knecht noch Freund und Feind. »Posthistorie« ist das Weltalter der Langeweile - obwohl doch so unendlich viel geschieht! Ja, es ist gerade die Stabilitätsbedingung dafür, daß wir ertragen, daß sich alles ständig ändert. Und all die Spielereien der »Postmoderne« haben die Theorie der »Posthistorie« seither bestätigt: sei es die operative Magie liturgischer Formen, die Dekonstruktivisten betört, sei es das »Raffinement des Aufregungs - und Betäubungsbedürfnisses« der Vielen, von dem Nietzsche so hellsichtig gesprochen hat. (Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke , Band XII, S. 118). Diese Betäubungsbedürfnis befriedigt gerade auch das Wohlfühlchristentum. Jeder kennt Marxens Formel von der Religion als Opium des Volkes. Aber auch Nietzsche hat von einem »opiatischen Christenthum« gesprochen. (Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke , Band XII, S. 138). Gemeint ist: Nicht Religion selbst ist Opium, sondern die Letzten Menschen machen aus Religion ein Opiat. Sie benutzen das Christentum als Droge, zur Beruhigung der Nerven. Jede Spur der christlichen Erschütterung ist sorgfältig getilgt. Man denke dagegen an Kierkegaard und seine Erfahrung der Unmenschlichkeit Gottes: Gott quält die Menschen - für einen Griechen muß es so aussehen, als würde sich Gott am Leiden der Menschen delektieren. Christlich leben ist die Hölle auf Erden. Gottes Liebe macht den Geliebten unglücklich. Das Subjekt der »Posthistorie« ist der Mensch als Haustier des Menschen. Übersetzt in den politischen Alltag heißt das: Die Letzten Menschen Nietzsches sind die Gutmenschen. Ihr Paradies ist Schweden. Wohlgemerkt geht es hier nicht um das Land Schweden (von dem der Autor dieser Zeilen keine Erfahrung hat), sondern um das sozialdemokratische Vorbild Schweden (dessen Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit vielleicht nur Schweden beurteilen können). Das ist »die Welt des fröhlichen Roboters», von dem Helmut Schelsky gesprochen hat. (Vgl. Helmut Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit, 1979, S. 467). Daß es fröhliche Roboter und glückliche Sklaven gibt, ist kein Huxley-Phantasma, sondern die schlichte Konsequenz eines Utilitarismus, der keinen Sinn für Freiheit hat. Und heute scheint der Schlaf der wohlfahrtsstaatlichen Vernunft das Ungeheuer einer Welt als Kinderkrippe und Altersheim zu gebären. In dieser Welt herrscht das Rentnerideal freiwilliger Knechte, die Nietzsche mit größter Präzision als »die autonome Heerde« beschrieben hat. (Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke , Band V, S. 125). Dann gilt aber: Menschlich ist das, was der Mensch nicht mehr ist. (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 55 ).Für eine derartige Beschreibung der modernen Gesellschaft stand früher ein scharfer diagnostischer Begriff bereit: Dekadenz. Man faßt ihn aus guten Gründen heute nicht mehr gerne an. Denn sein Gegenbegriff lautet Wille zur Macht; so wie der Gegenbegriff zum Letzten Menschen ja der Übermensch ist. Das Potential des Schreckens, das beide Begriffe, Übermensch wie Wille zur Macht, in sich bergen, ist Geschichte geworden. Deshalb kann man auch an ihre Gegenbegriffe schlecht anschließen. Aber es gibt eine katechontische Fassung des Begriffs Dekadenz: Niedergang ist der Preis, den wir für das Aufhalten des Untergangs zahlen müssen. Diese Bereitschaft, den Niedergang zu akzeptieren, um den Untergang hinauszuzögern, scheint heute weit verbreitet zu sein. Dekadenz wird nicht als Not, sondern als lebenskluge Bequemlichkeit erfahren. Und man muß schon Philosophen oder Psychoanalytiker bemühen, um hier überhaupt ein Bewußtsein dafür zu wecken, daß dieses Leben nicht lebt. Die fröhlich konsumierenden Roboter spüren nichts von dem, was Heidegger die »Not der Notlosigkeit« nannte (vgl. Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Band 65, S. 237) - ist es das, was der Begriff Dekadenz einmal meinte? (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 55-56 ).Oswald Spengler () stellte bekanntlich dem langsamen Erlöschen der geistigen und künstlerischen Kräfte des Abendlandes und seiner Ableger die immer noch andauernden schöpferischen Fähigkeiten der faustischen Abendländer im Bereich ihrer modernen Technik entgegen. Hierin werde das Abendland, darin war Spengler überzeugt, noch lange Zeit einen unaufholbaren Vorsprung besitzen. Aber eben nur dann, wenn die Gefahr einer Überwältigung durch die weiße Weltrevolution (), die farbige Weltrevolution (), das Bündnis beider () und einer allzu raschen Aneignung der modernen Technik durch die nichtabendländischen Völker rasch erkannt und mit entschlossen durchgeführten Gegenmaßnahmen bekämpft werde. (Gunnar Heinsohn sagte 2006 im Philosophischen Quartett, Europa habe nur noch die Möglichkeit, sich als Festung zu verteidigen: und ich weiß nicht, ob Europa das kann. ).Spenglers Prophezeiung einer kommenden globalpolitischen Konfrontation, die sich vor allem an der Linie der kulturellen Differenz abspielen werde, ist eingetroffen. Wir wissen heute, daß sich - sogar nach dem Ende der Ost-West-Spaltung und des Kalten Krieges - eben keine »einheitliche« Welt, kein Weltstaat, kein »ewiger Frieden«, auch keine kulturell nivellierte, »amerikanisierte« Einheitswelt herausgebildet hat, trotz aller ökonomischen »Globalisierung«. Das »Ende der Geschichte« (), die Auflösung historischer Existenz im Zuge eines universal agierenden Liberalismus, ist bis heute tatsächlich ausgeblieben. Die von Nietzsche prophezeiten »letzten Menschen«, die »in der Sonne blinzeln« und sagen »Wir haben das Glück erfunden«, sind - obwohl dieser Typus sich in den 1990er Jahren hier und da bereits anzukündigen schien - noch nicht auf der Bildfläche der Gegenwart erschienen. Die fundamentalen kulturellen Differenzen zwischen den verschiedenen Kulturkreisen bestehen weiterhin mit unverminderter Schärfe fort, vor allem zwischen der europäisch geprägten und der islamischen Welt. Und es sieht nicht so aus, als ob sich daran in absehbarer Zukunft etwas ändern sollte. Das bedeutet aber: Der entscheidende Faktor der heutigen Weltpolitik ist und bleibt vorerst die Tatsache der kulturellen Fragmentierung der Welt und der sich daran anschließenden politischen Konflikte. Wie immer man die Ursachen dieser Konflikte auch deuten mag: als Konfrontation eines religiös-kulturellen »Fundamentalismus« mit der »aufgeklärten Welt« des Westens oder doch wohl treffender (und zugleich neutraler) als »Zusammenstoß der Kulturen« () - es handelt sich um ein Faktum, das Spengler ... bereits präzise vorausgesehen und wenigstens in seinen Umrissen beschrieben hat, freilich mit den Begriffen seiner damaligen Gegenwart und unter Bezugnahme auf die seinerzeit unmittelbar drängenden Zeitprobleme. Was man von Spengler auch heute noch lernen kann, was also von seinem politisch-publizistischen Werk bleibt, das ist die Einsicht in die Unhintergehbarkeit und auch in die Unüberwindbarkeit der Konflikthaltigkeit der politischen Existenz des Menschen. Solange Menschen unterschiedlichen Kulturen angehören und sich dessen auch bewußt sind, so lange wird es keine Einheitswelt geben, so lange wird es Konkurrenzkämpfe und in der Regel auch gewaltsame Konflikte zwischen den Angehörigen der verschiedenen, miteinander konkurrierenden Kulturkreise geben. Denn auch das hat Spengler gelehrt: Zwei Kulturen mögen sich noch so sehr annähern - eine letzte, unüberwindbare Schranke bleibt immer bestehen. Das vermeintlich allen gemeinsame »Menschliche« kommt nur dort zum Tragen, wo es um die »Natürlichkeit« des Menschen geht. Kommt die »Kultur« ins Spiel, dann beginnt der Konflikt, weil Kulturen jeweils zeitlich und räumlich gebunden, daher grundsätzlich verschieden sind und letztlich fundamental voneinander differieren. Daraus folgt nun keineswegs zwingend, daß es für alle Zukunft eine agonale, eine »kriegerische« Welt geben muß, daß die Menschen, so lange sie existieren werden, sich immer wieder gegenseitig zu vernichten trachten. Aber daraus folgt, daß es Frieden und Eintracht, wenn überhaupt, nur in der von allen gemeinsam erkannten und bewußt ausgehaltenen, bewußt akzeptierten Differenz geben wird. Hierin liegen die Grenzen des Universalismus und erst recht diejenigen der »Globalisierung«. Und darin liegt auch die Unmöglichkeit des Verzichts auf »Politik«, auch des Verzichts auf »Weltpolitik« in einem durchaus traditionell gemeinten Sinn. Noch für unsere Gegenwart gilt unverändert - vielleicht mehr denn jemals zuvor - die Warnung, die Spengler formulierte: »Der Verzicht auf Weltpolitik schützt nicht vor ihren Folgen« (). (Peter R. Hubert, Kulturtheorie und Kulturkonflikt, in: Sezession-Sonderheft, Mai 2005, S. 18 ).Daß eine Rezeption der Spenglerschen Thesen auch bei einem breiteren us-amerikanischen Publikum existiert, wird schon anhand eines Blicks auf die us-amerikanische Presselandschaft deutlich. Am Rand der großen Debatten treten dort bestimmte Verweise, Diskussionen und direkte Bezüge auf Spengler sporadisch an die Oberfläche. Mit der Leserbriefüberschrift Spengler was right reagierte im September 1996 ein Leser des Spectator auf eine gegen Spengler gerichtete Polemik mit einer genauen Darlegung und Richtigstellung der von Spengler vorgelegten Zeittafeln und ihrer Übereinstimmung mit der eingetretenen Entwicklung. In einem weiteren Leserbrief wurde die Ignoranz gegenüber dem Werk Spenglers angeprangert, der schon vor dem Ersten Weltkrieg die heutige Situation vorausgesagt habe. Spenglers Prophezeiung von der Allianz der Unterklassenanarchie und dem Aufstand der farbigen Völker sei eine exakte Vorwegnahme der gegenwärtigen Bewegung für eine antirassistische und multikulturelle Gesellschaft. In einem langen Artikel der Kansas City Post vom 4. Dezember 2004 wird die christliche Apokalypse (), die im Ideengut der religiösen Rechten einen großen Stellenwert besitzt, in ein Verhältnis gesetzt mit der Gestalt der von Spengler beschriebenen Spätzivilisation. Der Autor sieht in der Gegenwart deutliche Zeichen für die Erfüllung von Spenglers Prophezeiung. Der demographische Niedergang Europas und das Anwachsen muslimischer Minderheiten in Europa werden, Spengler folgend, in Analogie zur Entvölkerung und Neubesiedlung des römischen Territoriums in der Spätantike interpretiert. Nach dem 11. September 2001 konstatierte Oliver Bennett im New Statesman, der Pessimismus sei zur vorherrschenden geistigen Grundhaltung aufgestiegen und hätte die Progressionstheorien der Aufklärung endgültig abgelöst. Diese geistige Depression habe bereits in den 1960er Jahren eingesetzt und seine wichtigsten Vordenker seien Oswald Spengler und Sigmund Freud. Gerade in akademischen Kreisen blühe der intellektuelle Pessimismus in Form der postmodernen Wertekritik, der sich zu einer der mächtigsten Kräfte des herrschenden Zeitgeistes aufgeschwungen habe. Der intellektuelle Optimismus sei in die Defensive geraten. Francis Fukuyama sei mit seiner These vom Ende der Geschichte einer der letzten einflußreichen, gegen den Strom der Degenerationstheoretiker schwimmenden Denker. (). Fukuyama kann man mit Blick auf seine Werke der 1990er Jahre tatsächlich als liberalen Gegenpol zur Spenglerschen Geschichtsbetrachtung ansehen, doch in seinen Arbeiten seit Beginn des 21. Jahrhunderts (wohl nicht zufällig) zeigen sich sogar Parallelen zu Spenglers zyklischer Geschichtsbetrachtung. Der Optimismus von Fukuyama ergibt sich nicht wie unterstellt aus einem einseitig linear-progressiven Geschichtsbild, sondern daraus, daß er von kürzeren Zyklen der kulturellen Degeneration und sittlichen Erneuerung ausgeht. Der Prozeß, der bei Spengler ein Millenium umfaßt, ist bei Fukuyama auf hundert bis hundertfünfzig Jahre verkürzt. In seinem Buch Der Große Aufbruch (2000 ) beschreibt Fukuyama die Dekadenzerscheinungen der westlichen Gesellschaft, den Rückgang der Geburtenraten, den Anstieg der Kriminalität, den Verfall der Familie und den Verlust von Sozialkapital. Eine ähnliche Entwicklung habe sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzogen, die dann durch neue Formen der sozialen Disziplinierung in der Viktorianischen Ära überwunden worden sei. In den 1950er Jahren habe der in den 1920er Jahren erst nur in der Elite einsetzende moralische Bruch langsam die gesamte Gesellschaft erfaßt, die Gegentendenzen seien jedoch schon klar erkennbar und würden in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts quasi zu einem neuen Viktorianischen Zeitalter führen, womit erneut ein kulturhistorischer Zyklus seinen Anfang nehme. Ein von Fukuyamas abweichendes Zyklenmodell legte der Historiker Paul Kennedy in seinem Werk Aufstieg und Fall der großen Mächte dar. Kennedy sieht die Weltgeschichte als ewigen Prozeß des Auf- und Abstiegs von Großmächten, bedingt durch die Spannung zwischen der Begrenztheit ökonomischer Ressourcen und die Anforderungen hegemonialer Expansion. Der Niedergang eines Reiches kann durch geschickte Politik zwar hinausgezögert, jedoch langfristig nicht verhindert werden. Kennedys Argumenten kam in der Abrüstungsdebatte und der Diskussion über die Überforderung des US-Haushalts und der us-amerikanischen Wirtschaft besonders in der Clinton-Ära eine gewisse Bedeutung zu. Neben Vorstellungen von kultureller Degeneration und der Popularität zyklischer Geschichtsbilder gewann noch ein drittes Element des Spenglerschen Denkens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs an Bedeutung. Der Kulturdeterminismus, also die Vorstellung, daß alle politischen, ökonomischen und ideologischen Entwicklungen durch einen kulturellen Rahmen mehr oder weniger vorgegeben sind, korrespondiert dabei mit dem Kulturrelativismus, der Idee nebeneinander existierender Wertesysteme, die nur aus sich selbst heraus verstanden werden dürfen und einen universellen Wertekonsens unmöglich machen.Die neuen Immunitätstechniken (in ihrem institutionellen Zentrum: die Privatversicherungen und Pensionfonds, an ihrer individuellen Peripherie: Diätetik und Biotechnik) empfehlen sich als Existentialstrategien für »Gesellschaften« aus Einzelnen, bei denen der lange Marsch in die Flexibilisierung, die Schwächung der »Objektbeziehungen« und die generelle Lizensierung von untreuen oder reversiblen Verhältnissen zwischen Menschen zum »Ziel« geführt haben - zu dem von Spengler richtig prophezeiten Endstadium jeder Kultur: jenem Zustand, in dem es unmöglich ist zu entscheiden, ob die Einzelnen tüchtig oder dekadent sind (aber tüchtig in welcher Hinsicht und dekadent in bezug auf welche Höhe?). Es ist der Zustand, in dem den Individuen die Fähigkeit zur exemplarischen Fähigkeit zur Weltbildung abhanden gekommen ist. (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 241-242).Der sich auch immer wieder mit dem Ende der Geschichte beschäftigende und dabei auf Hegel, Nietzsche, Spengler und Heidegger beziehende Sloterdijk scheint hin- und hergerissen zu sein, was dieses Thema angeht, denn er befürwortet es und befürwortet es nicht. Wenn er der Nicht-Befürwortung (vgl. den Beispiel-Text ) die Befürwortung vorzieht, dann beispielsweise so: Was den Nutzen der Geschichte für das Leben angeht, besteht er nach 1945 vorrangig darin, die Akten für altfällige Schadenserhebungen zuzsammenzutragen. Die moralisierte Historie nennt Adressen für die Rückkehr der Opfer zum Tatort - wo sie hoffen, die ebenfalls zurückgekehrten Täter zu treffen, ohne zu bedenken, daß die Täter sich nur im Märchen wieder an den Schauplatz des Verbrechens einfinden. Sie bildet eine Welt-Gauck-Behöre, die Einblicke gewährt in die Akten der Belästigung des Menschen durch den Menschen. Ansonsten ist »Geschichte« genau das, was der Volksmund den Schnee von gestern nennt. Wie schnell er schmilzt, davon geben die Entkolonialisierung nach 1945 und das Militärpatt des Kalten Krieges eine Vorstellung. .... 1990 tritt mit dem Kollaps der Sowjetunion die letzte alteuropäische Missionsmacht von der Bühne, ihr Zerfall entläßt die letzten Tributstaaten der Erde in den Kapitalismus oder ins Chaos. Hinsichtlich des Nationalkommunismus der Chinesen ist zu bemerken, daß er kein Weltprojekt in sich trägt - bedeutsam bleibt er aber deswegen, weil er die Trennbarkeit von Kapitalismus und Demokratie im großen Stil unter Beweis stellt - ein Sachverhalt, der Law-and-Order-Politiker auf der ganzen Welt ins Träumen bringt. Daher könnte er zum Paradigma werden für eine sich heute schon abzeichnende Grundlinie des 21. Jahrhunderts: die Wende des Weltsystems in den autoritären Kapitalismus. (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 259-260).Es wäre naiv zu glauben, die hier vorgeschlagene Sicht der Dinge könne sich bei den Historikern und in der Öffentlichkeit ohne weiteres durchsetzen. Der Widerstand des Metiers wird dafür sorgen, daß die Illusion, noch »in der Geschichte« zu leben, lange virulent bleibt. Man kann der Einsicht in den nachgeschichtlichen Charakter des Weltsystems im Global Age mühelos ausweichen, indem man weiterhin, wie in der Zunft üblich, jede Sequenz von Ereignissen im Makro- und im Mikrobereich als Geschichte bezeichnet. Dank dieser terminologischen Festsetzung läßt sich jeder Gegenstand »historisch nehmen« .... (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 260).Der europäische Historismus, den der junge Nietzsche aus anachronistischer heroischer Gesinnung bekämpfte, ist für Sloterdijk nichts anderes als eine Abendröte der terrestrischen Globalisierungsära, die Dämmerung des abendländischen Weltnahme- und Weltstiftungszeitalters! Unter denen, die sein Ende kommen sahen, ragt Oswald Spengler noch immer hervor: Seine Studien zum »Untergang des Abendlandes« sind ein geschichtsmorphologischer Abgesang auf die »faustische« Kultur als die einzige, die den Gedanken der Geschichte zu denken vermochte und die als einzige »Geschichte« im engeren Wortsinn hevorbrachte, erlebte und reflektierte. (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 262).Was das »Ende der Geschichte« angeht, so bin ich als Zeuge für Aspirationen dieses Typs nur bedingt tauglich, weil ich mit Hegelianismen der bisherigen Machart nichts im Sinn habe. Man sollte die Tatsache im Auge behalten, daß dieses Theorem auf Alexandre Kojève zurückgeht, einen Emigranten aus dem revolutionären Rußland, der vor seiner Naturalisierung in Frankreich um 1930 Koschewnikov hieß, bei Jaspers studiert und über russische Theosophie promoviert hatte und in einer undurchsichtigen Beziehung zum KGB stand. Kojève nimmt an, daß in Hegels Phänomenologie des Geistes (1807), wie in der späteren Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817), so etwas wie ein prinzipielles Ende der Geschichte erreicht worden sei - was immer »prinzipiell« hier heißen mag. Als es zum virtuellen »Blickkontakt« zwischen Hegel und Napoleon gekommen war, nach der Schlacht von Jena (1806), war Kojève zufolge die Geschichte in ihrer »Substanz« vollendet. Die französische Gegenwart hatte über die preußische Vergangenheit gesiegt, auch im Denken des Philosophen. Die letzten weltgeschichtlichen Individuen, Napoleon und Hegel, wirkten also auf gleicher Höhe. Ihre Spiegelung hätte gegenseitig sein können, wäre Napoleon auf die Idee gekommen, bei Hegel sein Porträt zu bestellen. Nach diesen beiden Endgestalten der notwendigen Geschichte gibt es nur noch beliebige Subjektivitäten ohne historisches Gewicht, mit einer einzigen Ausnahme, und die meint Kojève entdeckt zu haben. Sie ist natürlich niemand anders als Stalin. Am Verhältnis zwischen Napoleon und Hegel nimmt Kojève Maß, um sein Verhältnis zum Führer der Sowjetunion zu bestimmen. Das Theorem vom Ende der Geschichte ist also in einem sophistischen Stalinismus zu Hause, erst später mutiert es zum Lob des siegreichen Liberalismus. Stalin war in Kojèves Augen das letzte Individuum, das in einem weltgeschichtlichen Skript agierte und darum einen ebenbürtigen Interpreten brauchte. Nach Stalins Tod hat Kojève sein Theorem über die finale universal-homogene Gesellschaftsordnung von der Sowjetunion auf die USA und teilweise auf eine lateinisch dominierte europäische Union verschoben. Fukuyama mußte keinen neuen Gedanken denken. (Peter Sloterdijk, Blickwechsel zwischen Napoleon und Hegel, in: Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 39-40).Man kann der Meinung sein, daß diese fabelhafte Konstruktion eine Anmaßung ausdrückt, wie sie für Berufsmegalomanen typisch ist. Ich glaube trotzdem, daß das Theorem vom Ende der Geschichte suggestive Seiten hat oder, um vorsichtiger zu reden, daß es sich lohnt, es ernst zu nehmen, bis man ganz sicher ist, Besseres zu wissen. (Peter Sloterdijk, Blickwechsel zwischen Napoleon und Hegel, in: Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 40).Der Gedanke, der sich in Kojèves Hegeldeutung artikuliert,
läßt sich in einer sehr freien Umschreibung etwa so wiedergeben:
Die modernen Gesellschaften sind in ein Stadium eingetreten, in dem es
keine grundlegenden Innovationen mehr geben kann, sondern nur noch Steigerungen
oder Variationen innerhalb von gut abgegrenzten und ausgebauten Dimensionen.
Die heutige Weltgesellschaft ist wie ein Feld von Marathonläufern,
die in der Mehrheit unter zwei Stunden dreißig laufen können
und Steigerungsspielraum von ein paar Minuten haben. Aber sie wissen alle,
daß in den nächsten Jahren und Jahrhunderten niemand unter
zwei Stunden laufen wird, es sei denn, genmanipulierte Läufer träten
an den Start, doch selbst wenn das geschähe, würde es hinsichtlich
der Rahmenverhältnisse nichts Grundlegendes ändern. Und weil
alle wissen, daß die anderen es auch wissen, traben sie mehr oder
weniger ordentlich und mehr oder weniger ehrgeizig in der Gruppe dahin.
Die Wahrscheinlichkeit von Ausreißversuchen ist nicht sehr groß,
weil die Kosten zu hoch sind. Die Überanstrengung ist von vorneherein
evident. Dieses Sicheinschwingen der nachgeschichtlichen, vom Gedanken
der Versicherung beherrschten Gesellschaften in stabil gerahmte Grundsituationen
wird mit einem enormen Aufwand an Innovations- und Differenzrhetorik kompensiert.
In Zukunft darf alles revolutionär sein, weil Revolutionen alten
Stils in der dichten Welt unmöglich sind. Alles darf und soll sogar
anders und unterschieden sein, weil Unterschiede letztlich keinen Unterschied
mehr machen. Das Extreme, das Andere und ganz Andere, das sind von jetzt
an nur noch ästhetische Kategorien. Luhmann hat das Einrasten in
Grundsituationen mit dem Ausdruck »Ausdifferenzierung der Teilsysteme«
belegt. Statt Grundsituationen und Subsysteme könnte man auch Ordnung
der Zuständigkeiten sagen. Wer Zahnweh hat, geht zum Dentisten, wer
Fußweh hat, geht zum Orthopäden, wer Weltschmerz hat, geht
zu einem Guru. Wer lernen will, geht auf eine Schule. Wer Geld braucht,
geht zur Bank oder zur Arbeit. Wem die ganze Richtung nicht paßt,
wählt die Opposition oder fährt nach Ibiza. Es gibt kein Bedürfnis,
für das die ausdifferenzierte Gesellschaft keine zuständige
Adresse hätte. Allenfalls die große Liebe ist nicht mehr zustellbar.
Durch die Ausdifferenzierung entsteht eine Lage, in der immer mehr Leute
begreifen, daß man kein Verhältnis zum Ganzen haben kann. Das
Ganze ist keine mögliche Adresse. (Peter Sloterdijk, Blickwechsel
zwischen Napoleon und Hegel, in: Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen
Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 40-41). |
Statistische Vorhersage | Ende der Geschichte | Ende der Menschheit |
Ja (absolut) | 2 Fallbeispiele * | 1 Fallbeispiel * |
Ja, aber nur für einen Kulturkreis | 1 Fallbeispiel * | - |
Vorübergehend und nur für einen Kulturkreis | 1 Fallbeispiel * | - |
Vorübergehend (nicht für einen Kulturkreis) | 2 Fallbeispiele * | 1 Fallbeispiel * |
Vorübergehend (allgemein [Summe]) | 3 Fallbeispiele * | 1 Fallbeispiel * |
Nein (absolut) | 4 Fallbeispiele * | 8 Fallbeispiele * |
Summe der Fallbeispiele mit grauem Hintergrund | 10 Fallbeispiele | 10 Fallbeispiele |
Statistische Vorhersage | Ende der Menschheit | Ende der Geschichte |
Ja (absolut) | 1 Fallbeispiel * | 2 Fallbeispiele * |
Ja, aber nur für einen Kulturkreis | - | 1 Fallbeispiel * |
Vorübergehend und nur für einen Kulturkreis | - | 1 Fallbeispiel * |
Vorübergehend (nicht für einen Kulturkreis) | 1 Fallbeispiel * | 2 Fallbeispiele * |
Vorübergehend (allgemein [Summe]) | 1 Fallbeispiel * | 3 Fallbeispiele * |
Nein (absolut) | 8 Fallbeispiele * | 4 Fallbeispiele * |
Summe der Fallbeispiele mit grauem Hintergrund | 10 Fallbeispiele | 10 Fallbeispiele |
(I) Vorgeschichte | (II) Geschichte | (III) Nachgeschichte (vielleicht zukünftig) |
(1)
Menschen-Kultur (1.2) geschichtlich, d.h. mit Geschichte (siehe: 2) (1.3) vielleicht (zukünftig) nachgeschichtlich, d.h. wieder ohne Geschichte (1.4) vielleicht (zukünftig) neugeschichtlich, d.h. wieder mit Geschichte | (2)
Historien-Kultur (2.2.2.) Ägypten (2.2.3) China (2.2.4) Indien (2.2.5) Antike (2.2.6) Maya / Inka (2.2.7) Morgenland (2.2.8) Abendland |
Geschichte i.e.S. | oder (in meiner Terminologie): | Historien-Kultur (mit unterschiedlichen Historienkulturen) |
Geschichte | oder (in meiner Terminologie): | Historien-Kultur, Menschen-Kultur seit Beginn ihrer Historien Kultur |
Geschichte i.w.S. | oder (in meiner Terminologie): | Menschen-Kultur (anthropologische Geschichte / Evolution) |
Geschichts- bewußtsein | nach
dem Ende der | Deutung |
ja | Geschichte i.e.S. | bei Geschichtsbewußtsein ist kein Ende der Geschichte möglich, nur eine (meist nihilistische) Geschichtsverneinung |
nein | Geschichte i.e.S. | ohne Geschichtsbewußtsein ist eine Geschichte i.e.S. nicht möglich |
ja | Geschichte | bei Geschichtsbewußtsein ist kein Ende der Geschichte möglich, nur eine (meist nihilistische) Geschichtsverneinung |
nein | Geschichte | ohne Geschichtsbewußtsein ist eine Geschichte nicht möglich |
ja: | Geschichte i.w.S. | bei Geschichtsbewußtsein ist kein Ende der Geschichte möglich, nur eine (meist nihilistische) Geschichtsverneinung |
nein | Geschichte i.w.S. | ohne Geschichtsbewußtsein ist eine Geschichte i.w.S. zwar möglich, aber nicht objektivierbar |
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Anmerkungen:
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© Hubert Brune, 2001 ff. (zuletzt aktualisiert: 2014).